Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Alas, poor Yorick!
Am 21. April seines siebenunddreißigsten Lebensjahres, um zehn Uhr morgens, betrat Florian die oberste Klasse des vornehmen Instituts, wo er den jungen Aristokratinnen über die deutsche Dichtung Unterhaltendes sowie Belehrendes vorzuplaudern hatte.
Da es die erste Stunde war, die er erteilte, kannte er die Mädchen noch nicht. Er erbat sich also ihre Namen und schrieb sie in sein Notizbuch, während die Schülerinnen flüsternd beplauderten, welche Möglichkeiten für Spott oder Schwärmerei der neue Lehrer mit dem ausnahmsweise bedeutenden Gesicht, dem geradeheraus unanständigen Namen und dem unglaublich vernachlässigten Anzug bot.
Als Letzte erhob sich auf der hinteren Bank in hoher, schmaler Schlankheit eine seidig Blonde von merkwürdigem Reiz. Über dem Gesicht, in dem die dünne, leichte Vogelnase wie in fortwährender Erregung zitterte, lag eine allzufrühe, anmaßliche Müdigkeit. Dennoch sprühten aus dieser Müdigkeit die leuchtenden, blauen Augen Keckheit und Feuer. Der weiche Mund aber lockte dunkelrot. Das Mädchen atmete die berauschende Schönheit der lässigen Kraft, des verhaltenen Schwelens, das ein Funke in verzehrenden Brand fachen kann.
Mit der Feinheit seiner seelischen Witterung spürte Florian, daß ihn von der Unbekannten her irgend etwas bedrohte, das er noch nicht benennen konnte. Er musterte sie, da sie seinen vorläufig aus Berechnung dräuend gemachten Blick gelassen aushielt, mit einigem Unbehagen. Vermutlich würde sie schwieriger zu behandeln sein als der ungezogenste Junge.
Endlich, als sich die anderen Mädchen bereits umwandten und sich kichernd anstießen, ermannte sich Florian: »Und wie ist Ihr Name, bitte?«
Da schleuderte sie ihm überlaut entgegen: »Jutta-Marie von Droste.«
Mit einem Versuch, überlegen zu wirken, erwiderte Florian: »Ah so! Droste-Hülshoff?«
»Nein! Nur Droste! Nicht Hülshoff! Das denken immer alle. Die Hülshoffs stammen, wie schon ihr Name besagt, von Bauerndrosten aus dem zwölften Jahrhundert, wir dagegen, gemäß der Überlieferung unseres Geschlechts, von Athelstan von Droste, der bereits im neunten Jahrhundert in einer Chronik erwähnt wird. Unser Name leitet sich von einer altgermanischen Wurzel her, die soviel wie kühn, wagemutig bedeutet!«
Alle Mädchen beobachteten mit spitzbübisch erwartungsvollen Gesichtern Florians Miene. Er hatte Mühe, nicht aus der Fassung zu geraten, da Jutta-Maries Worte im Tonfall einer ärgerlichen Zurechtweisung vorgebracht wurden. Hilflos lächelte er trotz seiner Empörung lieb und sagte nur mit höflicher Kühle: »Tja, das ist in der Tat sehr interessant, was Sie da vorbringen. Verzeihen Sie, bitte, meinen Irrtum! Aber ich besuchte mit einem Freiherrn von Droste-Hülshoff die Fürstenschule in Mirbach. Daher meine falsche Assoziation!«
Jutta-Marie murmelte leise, aber noch laut genug, während sie sich hinsetzte: »Bitte, bitte, lieber Mann! Gern geschehen!«
Florian fuhr in gewaltig ausschwenkendem Streichen über sein Haar.
Die Mädchenaugen alle weideten sich an dem seltsamen Gebaren des Absonderlichen auf dem Katheder. Dennoch herrschte am Schluß der Stunde nur die ungeteilte Meinung: Dr. Windmacher war als Mann unmöglich, abgesehen von seiner reizvollen Stimme. Aber trotz komischer Bewegungen und unverständlicher Worte versprach sein Unterricht, wenn er so blieb wie heute, fesselnd zu werden.
Florian, der aus seiner Pädagogenpraxis wußte, daß man kritisch veranlagte Schüler am leichtesten zähmte, indem man sie anregte, gab sich große Mühe mit seiner Vorbereitung und war dementsprechend erfolgreich.
*
Eines Morgens, als er sich verspätet hatte und in seinem bekannten Schritt dahinwehte, hörte er längere Zeit hinter sich das schnelle, schlanke Trippeln leichter Frauenfüße. Überrascht, daß eine Frau mit ihm Schritt hielt, wandte er den Kopf ein wenig. Da war das Trippeln schon neben ihm, und eine frische Stimme begrüßte ihn mit übermütiger Betonung: »Guten Morgen, Herr Windmacher!«
Florian war viel zu arglos, um zu merken, daß seine Schülerin ihm mit Absicht seinen ehrlich erworbenen Titel versagte, um voll Genuß den unmöglich dünkenden Namen wieder einmal anbringen zu dürfen. Er zog den Hut und mahnte väterlich: »So spät, Jutta-Marie?«
»Jawohl! Nicht eine Minute früher als Sie!«
»Müssen Sie denn nicht wie alle anderen um acht in der Schule sein?«
»Nein! Die meisten übrigen Stunden langweilen mich!«
»Sehr schmeichelhaft für mich.«
»O bitte! In Ihren Stunden kann man wenigstens über die Gesichter, die Sie schneiden, lachen!«
»Man ist nicht nur zum Lachen da!«
»Doch! Lehrer sind nur zum Lachen da!«
Von soviel Schlagfertigkeit vorübergehend außer Gefecht gesetzt, betrachtete Florian sie verwundert. Er hatte sie noch nie aus solcher Nähe angesehen. Wenn er nicht gewußt hätte, daß Jutta-Marie aus höchst achtbarer Familie stammte, würde er sie ihrem Aussehen nach einer zweifelhafteren Welt zugeteilt haben. Es lag über dem jugendlichen Gesicht ein unfaßbarer Puder von früher Müdigkeit, der zusammen mit der sprühenden Kraft des Blickes einen unanfechtbaren Reiz ergab. Wären für Florians erotische Wahl nicht nur reife, hochgeistige Frauen in Betracht gekommen, er hätte vielleicht mit dem Gedanken gespielt, Jutta-Marie näherzutreten. So aber hielt er sie nur für ein drolliges Kind, dessen ungebändigten Übermut er väterlich über sich ergehen ließ.
Nachdem sie seinen prüfenden Blick gut ausgehalten hatte, nahm er wieder auf: »Sollte nicht Ihre übertriebene Lachlust – denn um albern zu sein, machen Sie wiederum einen zu reifen Eindruck – auf irgendeine geheime Unstimmigkeit in Ihrem Leben zurückzuführen sein?«
»Wie können Sie das wissen?« Sie runzelte finster die Stirn.
»Tja,« lächelte Florian geschmeichelt, »mit Analytikern muß man sich vorsehen!«
»Was heißt das, Analytiker?«
Florian erklärte es ihr.
Sie bat: »Können Sie mir diese Kunst des Seelenlesens nicht beibringen?«
»Die läßt sich nicht beibringen! Die muß durch Arbeit, Alter und Erfahrung erworben werden!«
»Wie langweilig!«
»Das Leben ist eben nicht nur amüsant!«
»Ich will mich aber amüsieren! Wie soll man das abscheuliche Leben anders aushalten, als indem man es vertanzt, verflirtet und verlacht!«
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Jutta-Marie?«
»Bitte! Eben siebzehn geworden.«
»Und finden das Leben schon abscheulich? Was werden Sie mit siebenunddreißig sagen!«
»Was habe ich denn vom Leben! Immer von den Eltern gegängelt und bewacht. Nie Herrin meiner Zeit! Nur wenn ich Vaters Jagdhund Wate ausführe, läßt man mich allein gehen. Natürlich! Weil Mama sich schämen würde, zuzusehen, wie Wate bei jedem Baum stehenbleibt!«
Florian lachte fröhlich. Sie war von entzückender Unbefangenheit.
»Nun lachen Sie mich aus wie alle anderen!« schmollte sie kokett.
Florian hielt ihr Spiel für Ernst und entgegnete würdig: »Verzeihen Sie, Jutta-Marie! Es ist wider meine Überzeugung, jemand zu verlachen. Ich verstehe Ihren Zustand besser, als Sie glauben! Aber was für einen Inhalt würden Sie denn Ihrem Leben außer Tanzen, Lachen und Flirten geben, wenn Sie frei wären?«
Sie mußte erst überlegen: »Ich möchte lernen, viel lernen!« Prüfend wartete sie den Erfolg ihrer geschickten Antwort ab. Richtig schwoll sofort Florians Mitgefühl. Er witterte in Jutta-Maries Gemütsverfassung günstiges Wirkungsfeld für okkult-pädagogische Betätigung. Außerdem fühlte er sich als Lehrer wie als Mann durch ihr Vertrauen geschmeichelt.
Sie waren mittlerweile vor der Schule angelangt.
»Ich will Ihnen gern helfen, Jutta-Marie! Warten Sie nach der Stunde auf mich – da wir ja beide denselben Weg haben.«
So kam es, daß er sich Jutta-Maries annahm und sie durch Zuspruch vom okkulten Standpunkt aus stärkte.
Sie aber, die, von allen Kobolden geritten, noch keinem Mann begegnet war, dem sie nach dem schönen Wort des Dichters Nießnutzer »nicht das innere Gleichgewicht zerstört« hätte, stellte ihm aus Zeitvertreib mit ausgesuchtestem Geschick nach. Denn erstens war es bequem, da sie Florian mühelos täglich sehen konnte, und ungefährlich, da ihre Eltern in Anbetracht von Florians Lehrerberuf niemals Argwohn schöpfen würden. Zweitens reizte sie seine aus ganz anderen Planen stammende Gedankenwelt. Endlich fand sie es unerhört, daß es einen Mann gab, der ihr widerstand.
Trotz ihrer Jugend aus Veranlagung mit erdenklichster, weiblicher List begabt, wußte sie sich bald so in Florians Anteilnahme zu schmeicheln, daß er sie zu einem Leseabend in Juans Atelier einlud, wo der befreundete Dichter Trüber eine seiner ebenso kurzweiligen wie vollendeten Legenden las, in denen sich mittelalterliche Glut des Wunderglaubens mit zeitgenössischer Gewähltheit des Fühlens auf das glücklichste vermählte.
Jutta-Marie, die eine ähnliche Veranstaltung noch nie mitgemacht hatte, war sehr neugierig, namentlich auf die Bohemiens, die sie dort treffen würde und von denen man in ihrer Welt Schauermären erzählte. Ihre größte Sorge war, was sie anziehen sollte. Die Mutter, der sie fürsorglich gestanden hatte, der Abend fände bei Florian statt, riet ihr zu einem kleinen Abendkleid. Sie wählte eines ihrer kürzesten Teekleider und erregte bei den anwesenden Frauen und Mädchen Befremden, bei den Männern Entzücken. Denn über den langen, edlen Beinen und den festen, schlanken Hüften leuchteten aus dem dunklen Grün des Ausschnittes ein unerhört schmaler, weißer Hals und sanfte, volle Schultern.
Florian saß während der ganzen Vorlesung etwas überhöht hinter Jutta-Marie und schaute immerfort auf ihren Hals. Wo hatte er nur bisher seine Augen gehabt?
Obwohl ihm nun, solchermaßen beschäftigt, fast nichts von dem, was der Dichter Trüber Herzbewegendes vorlas, bewußt wurde, griff er, um vor Jutta-Marie die Stellung des überlegenen Mentors zu behaupten, führend in die kritische Debatte ein, die sich, einer freimütigen Sitte gemäß, unter dem Freundeskreis entspann. Er kannte aus Trübers eigenem Munde längst den ungefähren Inhalt des Werkes. Im übrigen hätte man ohnehin seiner Aufmerksamkeit nicht zumuten dürfen, anderthalb Stunden hindurch Prosa zu apperzipieren.
Juan, der von Florian hier und da etwas über Jutta-Marie gehört hatte, beobachtete erstaunt, wie das Mädchen, das ihm wie selten eines gefiel, jedesmal, wenn Florian sprach, scheinbar gläubig zu ihm aufschaute. Dabei lag ein Gemisch von Interesse und Spott auf dem reizenden Gesicht.
Am anderen Tage fragte ihn Florian: »Wie hat dir Jutta-Marie gefallen?«
»Ganz ausnahmsweise gut! Übrigens: das Mädchen liebt dich!«
»Unsinn! Wieso denn?« Florian lächelte ungläubig, wenn auch geschmeichelt.
»Sie wandte kein Auge von dir, sooft du sprachst.«
»Tatsächlich? Du willst mir das nur einreden, um mich wie gewöhnlich aufzuziehen!«
»Was hätte ich wohl davon! Gefällt doch Jutta-Marie mir selber sehr gut.«
»Nein, alter Junge! Hände weg! Denk an meine Verantwortung als Lehrer!«
Er beschäftigte sich nachdenklich mit seiner Nase. »Also du findest sie wirklich schön?«
Juan schlug ihm derb auf die Finger. »Ja, seltsam reizvoll und gefährlich zugleich. Aber laß doch deine Nase in Ruh! Sie gehört nicht unbedingt zu diesem Gespräch!«
Florian lächelte lieb. »Ich danke dir, lieber Freund, daß du mich daran erinnerst!«
Juan fuhr mit einigem Feuer fort: »Sie sieht aus wie aus dem Dixhuitième und müßte von Boucher gemalt sein!«
»Wirklich? Da müßte ich doch mal – –«
»Was denn?«
»Ich meine, du verstehst doch mehr von Frauenschönheit als ich.«
»Ach so, ich begreife! Nun dir meine Worte und Beobachtungen die Unsicherheit beseitigt haben, meinst du, deine Verantwortung als Lehrer vertrüge es ganz gut, wenn du selbst dich der Entzückenden annähmest?«
Florian lächelte verbrecherisch und schwieg.
*
Bereits nach einer Woche begriff Juan, was er mit seinen obenhin gemeinten Worten angerichtet hatte. Florian kam binnen acht Tagen nicht einmal zu ihm, während er für gewöhnlich täglich auf kurze Zeit bei ihm vorsprach.
Nun stand er heute atemlos vor ihm. »Ich habe nur einen Augenblick Zeit! Jutta-Marie hat mir neulich abend ganz schlicht gesagt, daß sie mich liebt! Und seitdem du mir die Augen geöffnet hast, weiß auch ich auf einmal, daß ich sie vom ersten Sehen ab geliebt habe. Du brauchst dir nicht etwa vorzuwerfen, daß du mir diese Liebe eingeredet hast, sondern da spielen natürlich karmische Zusammenhänge mit! Ich spüre seit ihrem Geständnis eine magnetisch-astralische Verbundenheit mit ihr, wie selbst damals bei Cordula nicht! Luziferischer Taumel reißt mich zur Maya. Sobald ich die Augen schließe, ist Jutta-Marie in mir, und ich bin in ihr! Es ist, um rasend zu werden!«
Er sprudelte diese Sätze mit einer Schnelligkeit heraus, deren nur er fähig war.
»Hast du bedacht, daß du zwanzig Jahre älter bist als das Mädchen?«
»Natürlich sprechen da bei mir okkulte Hütergefühle mit, die dir selbstverständlich ewig unbegreiflich bleiben werden. Aber seit ich von ihrer Liebe weiß, hat in mir eine bemerkenswerte Rückentwicklung nach der kindlichen und jugendlichen Seite hin stattgefunden. Ich bilde mir zuzeiten ein, daß ich fliegen kann. Neuralgien, Niederbrüche und Leiden unter Cordula scheinen nur noch böse Träume aus einer anderen Inkarnation! Außerdem denkt Jutta-Marie reifer, als es ihren Jahren gemäß wäre.«
»Hast du dir die gesellschaftlichen Abgründe klargemacht, die euch trennen?«
»Jutta-Marie ist adelsstolz und mit Recht! Denn ihr Geschlecht ist eins der ältesten in Deutschland! Aber du kennst ja meine Schwäche für adlige Kreise. Im übrigen bin ich seit frühester Jugend daran gewöhnt, mit dem Hochadel zu verkehren, so daß ich mich als vollkommen ebenbürtig fühle.«
Juan lächelte in vorschauender Qual, als er die mächtigen Überkappungen der beginnenden Liebeskristallisation sah.
Florian, durch des Freundes Schweigen aufgebracht, kniff die langen, dünnen Altweiberlippen ein. »Mein Junge, dein Warnen nützt dir nichts! Wahrscheinlich möchtest du selbst gern ein bißchen im trüben fischen? Aber du vermagst das Abrollen des Karma nicht aufzuhalten!«
»Lieber Florian« – Juan sagte dies schmerzlich –, »Jutta-Marie ist mir heilig von dem Augenblick ab, wo du mir verkündetest, du liebtest sie!«
»Verzeih, Juan, daß ich dir mißtraute! Aber ich weiß ja aus vielfacher Erfahrung, daß du aus Einfachheit anständig bist. Bei komplexeren Charakteren, wie ich einer bin, schiebt sich alles leichter durcheinander!«
»Um Ausflüchte bist du nie verlegen!«
Florian fuhr selbstgefällig fort: »Wenn ich dir meinen Zustand schildern könnte! In mir ist ein Gelockertsein, ein Heben, ein Quellen! Aus allen verschütteten Schächten rauscht ein weiter Strom des Werdens. Schon nehme ich die Blüte, allerdings noch undeutlich, wahr. Ich werde getrieben und weiß nicht wohin. Gewiß ist nur das eine: Ich werde durch diese Liebe irgend etwas Furchtbares erleiden oder vielleicht etwas ganz Großes schaffen!«
Juan blieb stumm. Er hatte Gleiches schon allzuoft vernommen.
Plötzlich begann Florian in ganz anderem Ton: »Denk mal, Juan, Jutta-Marie erwägt ernsthaft die Möglichkeit, daß wir uns heiraten könnten!«
»Aber Florian! Seit zwei Tagen hat sie dir ihre Liebe gestanden, und schon denkt sie an Heirat? Und du alter Narr glaubst ihr das?«
»Entschuldige mal, warum denn nicht? Wenn sie davon anfängt?«
»Und Cordula und Pitti?«
»Ich hänge zwar sehr an Pitti, wie du weißt. Aber du sollst mich kennenlernen! Ich gehe über Leichen, wenn es sein muß! Ich will diesen Rausch bis zur Neige kosten! Einmal in meinem Leben ein unüberschattetes Glück in rasenden Zügen schlürfen!«
»Es ist undankbar, einen Berauschten zu warnen. Aber höre mich wenigstens an! Du bist größer im Geistigen, ich bin stärker im Instinkt! Auch ohne mit Jutta-Marie gesprochen zu haben, habe ich sie sofort durchschaut! Ich bin einmal an einer ihresgleichen gescheitert! Und du bist zerbrechlicher als ich! Sieh, Gott hat Feindschaft gesetzt zwischen den Töchtern der großen Welt und uns. Eine kleine Weile lassen sie sich von uns belustigen, und aber über ein kleines verlassen sie uns und verraten den Geist an das Geld!«
»Du kennst eben Jutta-Marie nicht! Das ist ja alles längst zwischen uns besprochen. Sie hält fest zu mir!«
»Tu, was du nicht lassen kannst! Aber denk an diese Unterredung!«
»Leb wohl! Ich muß mich beeilen.«
Florian stürmte davon.
*
Und nun hub Florians Leidensweg an. Erfüllt von mächtigem Überschwang, gepeinigt von Sehnsucht, raste er von seiner Wohnung unter Jutta-Maries Fenster, hoffend, ihr Bild oder ihren Schatten zu haschen. Es blieben nur die kargen Minuten des gemeinsamen Weges und die, ach, allzu kurzen Deutschstunden, in die hinein er all sein Glück pressen mußte. Oh, welch süßes Leiden, an sich zu halten und nicht die aufgerissenen Augen die allmächtige Leidenschaft verraten zu lassen, die sie über die anderen Mädchenköpfe hinweg immer wieder zu dem lockend blühenden Gesicht, zu den leuchtenden Augen, zu dem schimmernden Blaßgold des Haares der Geliebten zwingen wollte. Trunken von Reiz und Gefahr, fand er solche Worte, daß die Mädchen verwundert und hingerissen dem Vortrag des bacchischen Schwärmers lauschten.
Sprach er nun Verse der Romantiker, Hymnen des Novalis und letzte, müde Rhythmen Hölderlins, so sank sein Haupt verzückter noch als sonst hintenüber, und aus seinen Lippen, schwelgerischen Wohllauts voll, quollen, hierophantisch getragen, heilige Schauer. Nicht länger lachten die Mädchen des Rasenden! Sein Ruf sprach sich herum. Er wurde gebeten, in der Aula vor weiterem Kreise zu sprechen. Er tat es! Und was nichts in der Welt vermocht hatte, vermochte Jutta-Marie: Weil sie neben ihrer Mutter dort auf der ersten Bank saß, arbeitete er von nun an seine Vorträge mit größerer Sorgfalt aus und las dünnere Bücher wohl auch ganz durch.
Doch Jutta-Marie, weislich behütet, hatte nie Zeit. War mit vieler Kunst eine Abrede getroffen, harrte Florian bis zu zwei Stunden umsonst. Außer sich vor Erniedrigung, Tränen in den Augen, nahm er für sein letztes Geld ein Auto und jagte irgendwohin hinaus ins Freie. Nur rasen, Sehnsucht, Wut und Schmerz verrasen! Draußen lehnte er an einem Stamm und biß in die Rinde. Er warf sich zu Boden und krallte sich in die barmherzige Erde.
Fortwährend war er unterwegs, um irgendwo auf Jutta-Marie zu warten. Man sah ihn in diesen Tagen, wie er im letzten Augenblick auf fahrende Straßenbahnen sprang oder in geschlossenen Droschken an irgendwelchen Ecken harrte.
Er stand eine ganze Nacht vor einem Hause, in dem, wie er wußte, Jutta-Marie tanzte. Er starrte nach den erleuchteten Fenstern, hinter deren Vorhängen die Silhouetten der Tanzenden schatteten. Gegen fünf Uhr morgens trat Jutta-Marie mit einem Schwarm von geschniegelten jungen Leuten aus dem Tor, die sie nicht, wie verabredet, abweisen konnte.
Er belästigte sämtliche unverheiratete Bekannte, indem er sich Zimmer, Ateliers, ganze Wohnungen für kurze Stunden des Alleinseins erbat, die nie zustande kamen.
Er magerte ab. Die Klüfte seiner Wangen vertieften sich. Die mächtige Nase ragte geierhafter denn je. Nur seine Augen beglänzten mit fieberischem Licht die traurige Landschaft des Gesichts.
Es wurde jetzt unmöglich, längere Zeit mit ihm allein zu sein. Hatte er vordem alle Welt in Strömen von nicht angeforderter Lyrik ertränkt, so ermüdete er jetzt aller Ohren, indem er, sooft es anging, die vergötterten vier Silben des einzigartigen Namens der Geliebten, der ihr Wesen so treffend wiedergab, aussprach. Da war keins ihrer Worte, kein Blick, kein allergeringstes Ereignis, das nicht Gelegenheit zu unendlicher Auslegung, Vermutung und Verknüpfung bot. Und so verschwiegen er im Ernstfall sein konnte, jetzt lief der Bronnen seiner Vertrauensseligkeit mit Allgewalt über die Ränder der weitausladenden Schalen seiner Liebe.
*
Als Cordula sah, daß trotz aller Abgezehrtheit in Florians Antlitz immer unverkennbarer eine überwältigende Seligkeit leuchtete, ahnte sie bald, daß etwas gar Köstliches in ihn gefahren sein müsse. Sie begann also dementsprechend, ihn zu quälen und zu hänseln, bis er, um nur Ruhe zu haben und ungestört seinen Träumen nachhängen zu können, sein Geheimnis auch ihr preisgab. Sie hatte Jutta-Marie auf jenem Leseabend in Juans Atelier bemerkt, und das aus Unsicherheit übertrieben hochmütige Benehmen des eleganten Mädchens hatte ihr wie auch den andern Frauen mißfallen.
»Begreifst du nicht,« stach Cordula, »daß du mich und dich lächerlich machst, wenn du dich als zwanzig Jahre älterer Mann an dieses eingebildete, ungeistige, dumme Ding wegwirfst? Alle unsere Freunde sind empört! Selbst Juan, der sonst immer zu dir hält, ist ausnahmsweise meiner Ansicht. Ich bitte dich ferner, zu bedenken, daß du, wenn dein Verhältnis zu Jutta-Marie ruchbar wird, die Einnahmen im Institut verlierst, die wir sehr nötig brauchen, zumal du in letzter Zeit übermäßig viel Geld aus der Wirtschaftskasse beanspruchst.«
»Hör auf mit deinen albernen Geldgeschichten! Du weißt doch, daß ich nichts davon verstehe! Das ist deine Sache. Wenn wir nicht auskommen, kannst du ja mit hinzuverdienen wie so viele andere Frauen auch!«
»Diese Zumutung setzt allem die Krone auf! Nicht genug damit, daß du nur noch wie ein Chambregarnist in unserem Heim lebst, willst du ohne jede Rücksicht auf den Zustand meiner Nerven – –«
»Zum Donnerwetter, laß mich mit deinen verfluchten Zuständen in Ruhe! Willst du mich rasend machen? Wenn du nicht den Mund hältst, werfe ich dich hinaus!«
»Du hast viel zu große Angst vor deinem Vater, um das zu tun. Dein Vater wird sich hüten, zweien deiner abgelegten Frauen eine lebenslängliche Rente zu zahlen. Und wie ich deine Ritterlichkeit kenne, ehe du mir von deinem Gehalt – –«
»Keinen Pfennig bekommst du von mir! Ich bin doch nicht irrsinnig geworden!«
»Nein, im Gegenteil! Du bist trotz angeblich höherer Einsichten so erdengemein, daß ich das Feld räume, um mich an deiner Niedrigkeit nicht anzustecken!«
Sie donnerte die Tür zu.
Florian spie gewandt aus und lächelte. Dann zog er aus seiner Brieftasche ein halbes Dutzend Photographien, die Jutta-Marie in allen Lebensaltern darstellten, und vertiefte sich darein. Schon in zartester Kindheit stand sie, allen geschmacklosen Posen des aufnehmenden Künstlers zum Hohn, keck und selbstbewußt, fast wie ein Knabe da. Florian besah mit inniger Zärtlichkeit die geliebte, trotzige Unterlippe, die sich mit den Jahren immer herausfordernder vorgeschoben hatte. Er dehnte die Arme und stöhnte in fruchtloser Sehnsucht.
Da ging die Flurglocke. Er fuhr hoch. Vielleicht war es ein Rohrpostbrief von ihr? Da niemand öffnete, schlürfte er auf Pantoffeln hinaus. Es war Juan.
»Gut, daß du kommst!«
Während Juan ablegte, seufzte Florian leise und drohte verzweifelt nach Cordulas Zimmer.
Als Juan in Florians Arbeitsraum, in dem freilich kaum gearbeitet wurde, trat, fragte er: »Was ist denn geschehen?«
Florian ging noch einmal an die Tür und vergewisserte sich, daß sie richtig verschlossen war. Dann erst brach er los: »Cordula ist völlig verrückt geworden vor Eifersucht auf Jutta-Marie! Ich lebe in einer Hölle! Aber das schwör ich dir: Ich werfe sie hinaus! Ich gehe über Leichen! Ich lasse mich scheiden! Ich – –«
Draußen knarrte etwas.
Sofort verstummte Florian. Mit lautlosem Husch der abgeschlürften Filzsohlen glitt er zur Tür, öffnete sie ein wenig und rief in zärtlichem Ton: »Herzlein, Lieblein, bist du da?«
Niemand antwortete.
Juan schüttelte sich vor Lachen. Florian schalt freundlich: »Sei doch nicht immer so albern, Juan! Was ist denn dabei?«
*
Der Frühling kam und mit ihm Lächeln des Glücks. Jutta-Marie erhielt eine Einladung zum Tee nach Wannsee. Sie fuhr auch hin, verwandelte aber den Teebesuch in einen Ausflug mit Florian. Vorsichtshalber trafen sie sich erst draußen und wählten den Waldweg nach der Pfaueninsel, die Florian wegen ihrer Abgeschiedenheit lieb war.
Jutta-Marie schritt tüchtig aus, froh, daß sie endlich der elterlichen Hut einen gelungenen Streich spielen konnte. Florian folgte ein wenig schräg dahinter, trunken ob ihrer Schönheit. Ihr Schreiten war schlank, fest und leicht wie das Wandeln edler Rassetiere, selbstverständlich und unbegreiflich. Er mochte nicht vergleichen, wie ihm ewig die Hosen über den merkwürdig verstellten Füßen schlotterten.
Das lässige und doch beherrschte Federn ihrer langen Beine, das süße Dehnen ihrer schmalen Hüften, das freie Spiel ihrer Arme dünkte ihn göttlich. Wie kam es nur, daß er vor ihr nie die Anmut einer Frau zu werten verstanden hatte? Mußte wirklich Juan in sein Leben treten, um ihm die Augen zu öffnen?
Sie sprachen wenig und genossen die Lust des mühelosen, schnellen Ganges. Bald kamen sie an die Fähre und ließen sich nach der verwunschenen Insel übersetzen. Hand in Hand gelangten sie bis an das nördliche Ende und lagerten sich in das hohe Gras, das selbst an diesem glutenden Mainachmittag kühl und feucht war. Der Himmel tiefte in unendlicher Bläue, die hier von keinem Dunst der Großstadt gebleicht wurde. Die Stämme der dunklen Kiefern des Ufers glänzten rotgolden.
Die Stille ließ Florians Seele schwingen. Er beugte sich über Jutta-Marie, die einen Grashalm spielerisch zwischen den Lippen hielt und ihn anschaute. »Jutta-Marie, wie liebe ich deinen Namen, aus dessen Schärfe und wiegender Musik mir dein Wesen tönt! Namen sind Fügung und Schicksal! Geben doch Namen der inneren Haltung der Seele Form und Gestalt. Aber woher ich kam, weiß ich nicht! Ich weiß nur, daß dieses Leben bestimmt meine letzte Inkarnation sein wird. Denn ich fühle, daß mein ätherisches Gewebe lockerer, schleierhafter, schwebender als das anderer Menschen ist. Allein mein zufälliger irdischer Vater lockte den bereits seraphisierten Geist in einen zu kräftigen Körper und gab mir aus Bauernstolz den Namen Florian, der in meinem Geschlecht seit Jahrhunderten für den ältesten Sohn überliefert ist. Mit diesem Namen heischt das bäuerische Erbgut meines Blutes Herrschaft über das allzu zarte Gespinst meines unererbten Ichs. So werde ich zwischen luziferischen und ahrimanischen Strebungen hin und her gezerrt. Nun erst, da ich dich liebe, an der alles adlig ist, erlebe ich wie nie zuvor das Joch meiner Herkunft wie die Ketten meines Namens. Uns trennt nicht nur, was alle trennt, Spaltung in Geschlecht, Alter und Erlebnismasse, uns scheidet zu unserem Unheil vor allem die unübersteigbare Kluft unterschiedener Kaste! Wie mag es sein, daß du mich lieben kannst trotz des Urhasses, der aus längst versunkenen Zeiten herauf zwischen unseren Sippen flammt?«
Sie runzelte die Stirn, da seine Worte sie wie gewöhnlich anstrengten. Er lebte in so unalltäglichen Schichten, daß sie Mühe hatte, auch nur die ungefähre Meinung dieser Sätze, deren Fremdartigkeit und Schwung sie gleichwohl irgendwie berührten, zu fassen. Sie spürte allein mit ihrer in Liebesdingen scharf witternden Frühreife, daß aus diesen dichterisch aufgeputzten Worten irgendeine Unsicherheit klang, die ihr unmännlich dünken wollte. Sie war an keckes Zugreifen gewöhnt und liebte listiges Ringen und harten Kampf. Florians Anbetung hingegen machte ungeduldig.
Um also ihr mangelndes Verständnis zu verdecken, zauste sie, ohne auf seine Frage einzugehen, an seinem wie gewöhnlich ungekämmten Haar. »Du hast wieder vergessen, dich zu kämmen! Ich sagte dir schon neulich, du solltest täglich zu einem guten Friseur gehen und dir das Haar hintenüber bürsten lassen. Das ist modern und würde dir gut stehen! Außerdem verlange ich, daß du dich nach meinen Wünschen richtest!«
Florian war wohlig berührt. »Ich bin dir sehr dankbar, Jutta-Marie, wenn du mich ein wenig zur Ordnung anhältst. Ich bin leider allzusehr geneigt, die Dinge des täglichen Lebens über den geistigen Reichen zu vernachlässigen.«
Sie wollte sehen, wie weit sie ihn treiben könnte, und zerrte mit höhnischem Lachen seine blaugrünweiße Schleife, deren Enden vom Alter zerfranst waren, auseinander: »Die Schleife hast du wohl von deiner Großmutter geerbt?«
Florian lächelte lieb. Dennoch zog eine leichte Rührung durch sein Gemüt, wenn er bedachte, daß seine gütige Mutter heimlich die Schlipsvorräte des Ökonomierates für ihn plünderte. Denn trotz aller Pakete und Zuschüsse war nie genug Geld da, daß er sich einen modischen Schlips hätte kaufen können.
»Wir werden nächstens zusammen zu Steinhardt gehen. Ich will dir ein paar geschmackvolle Butterflies aussuchen!«
Florian schwieg. Sollte er ihr gestehen, daß er sich selbst die paar Mark für die Hin- und Rückfahrt nach Wannsee geborgt hatte? Doch nein! Er litt genug unter ihrer stolzen Sicherheit und ihrer überlegenen Gesellschaftstünche, die er sich niemals würde aneignen können.
Sie nahm seine linke Hand, spielte damit und küßte dann wie ein schleckendes Kind langsam in die Fugen zwischen den Fingern. Jedesmal, wenn ihr feuchtwarmer Kuß ihn traf, schüttelte Florian ein Schauder! Woher nur kannte sie solche altindischen Liebkosungen! Träumte er? Jutta-Marie von Droste küßte demütig seine, Florian Windmachers Hand! Es lag eine katzenhafte Unterwürfigkeit in ihrem Gebaren, die er noch nie bei ihr empfunden hatte. Das wollte er noch heute Juan erzählen! Sein Selbstgefühl wuchs und blähte sich in diesem Augenblick in gewaltigen Ausmaßen.
Da ließ sie plötzlich seine Hand fahren, zog ein winziges Spitzentüchlein aus dem Ausschnitt ihrer Bluse und rieb sich drollig die Lippen: »Pfui! Du hast ja schmutzige Nägel! Die Hände könntest du dir wirklich waschen, ehe du mit mir zusammen bist! Laß mich das nicht noch einmal sehen, hörst du! Du hast die schönste Männerhand, die ich kenne, und pflegst sie nicht!«
Um sein Versäumnis wieder gutzumachen, begann Florian, seiner Gewohnheit gemäß seine Nägel selbander flott knipsend zu säubern.
Da schlug sie ihm in lächelndem Zorn derb auf die Finger: »Du bist ein Ferkel, Florian!«
Er zuckte, von dem kräftigen Schlag getroffen, zusammen und stammelte: »Ich verspreche dir, daß ich in Zukunft mehr auf mich achten werde! Ich tue gern alles, was du wünschest, wenn es dir Freude macht.«
Sie blickte unmutig drein.
Er forschte bestürzt: »Was ist dir? Liebst du mich nicht mehr?«
»Du bist so ungeschickt! Merkst du nicht, daß du durch deine Worte alles verdorben hast? Ein Mann darf einer Frau vielleicht jeden Gefallen tun, aber er darf es nimmermehr zugeben!«
»Wenn ich dich liebe!«
»Dann erst recht nicht!«
Er verstummte in Qual. Da waren wieder diese hohen Mauern der fremden Seelengärten, über die sich nicht einmal ein Blick werfen, geschweige denn klettern ließ. Warum machte sie von seinen bedeutungslosen Worten ein solches Wesen! Es gab augenscheinlich für sie einen auf alle Fälle bezüglichen festgelegten Liebeskanon. So oder so mußte der Mann sich in dem und dem Fall benehmen! Sie war ein ganz kleines Mädchen mit übernommenen Ideen! Und doch konnte er sie nicht lächerlich finden. Er hatte im Gegenteil das deutliche Gefühl, daß er lächerlicher war als sie, weil er, der Reifere und Erfahrenere, nicht vermochte, dem Bann des eigenen Kreises zu entrinnen und in ihren mondänen Ring einzutreten.
Er schaute auf sie, die mißmutig grübelnd in die Bläue starrte. Da quoll all seine zurückgedrängte Liebe über seine Lippen, und er fragte zärtlich: »Bist du mir böse, Herzl?«
Es hatte ihn große Anstrengung gekostet, seinen gewöhnlichen Kosenamen »Herzlein« in das kürzere »Herzl« noch im letzten Augenblick zu verwandeln.
Allein sie brauste auf: »Wenn du keinen geschmackvolleren Namen für mich erfinden kannst, nenn' mich bitte bei meinem Taufnamen, der recht anständig ist!«
»Verzeih', Lieblein! Ich meine Jutta-Marie!« Da war es doch heraus, was er um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Aus Bequemlichkeit gab er allen seinen Freundinnen dieselben zärtlichen Namen. So war er trotz aller Zerstreutheit stets gegen Verwechslungen gefeit.
Diesmal kehrte sie ihm, ernsthaft ärgerlich, den Rücken.
Florian litt unsäglich. War er denn von Dämonen besessen, daß er gerade die wenigen Stunden, die ihm ein neidisches Schicksal endlich gegönnt hatte, durch seine Unachtsamkeit verdarb?
In tiefem Leid betrachtete er die sanftgeschwungene Sichel ihrer Hüfte, die sich im Liegen etwas herausbog. Warum liebte er dieses Kind, das dennoch kein Kind und ihm so fern und überlegen war? Sie schlug jedenfalls ganz aus der Art, die er bis dahin begehrt hatte. Jutta-Marie hatte wohl das Herrische, dessen er zu seinem Glück bedurfte, allein sie war in den Hüften nur um ein weniges voller denn ein Knabe. Wie kam es, daß sie bei zugegebener Nichtübereinstimmung des Wesens diese unwiderstehlich karmische Anziehung auf ihn ausübte? Daß sie seine weite Seele schwingen ließ und mit Jubel, Drang und Glück bis zum Rand erfüllte?
Bei diesem Gedanken durchjagte ihn eine plötzliche Hitze. Schnell richtete er sich halb hoch und tat Rock und Weste ab.
Jutta-Marie warf sich neugierig herum und sah belustigt, daß am Rock der Henkel zerrissen war, daß im Futter der Weste zahlreiche Löcher klafften und daß die Streifen des bunten Hemdes sich in allzu häufigen Wäschen verlaufen hatten. Sie tippte stumm mit spitzem Finger in die Löcher und riß sie naserümpfend weiter auf. Dann lachte sie: »Wenn du es dir bequem machst, gestattest du wohl, daß ich das gleiche tue.«
Ohne Zögern zog sie Bluse und Leibchen aus und lag dann da, indem sie die Arme unter dem Kopf verschränkte und Florian spöttisch anblinzelte.
Da er ihre Unbefangenheit als kindhaftes Vertrauen in seine Zartheit auslegte, wagte er nicht näher zu kommen.
Er schaute stumm auf das langsame Heben ihrer Brust, beugte sich dann innig über die Liegende, küßte ihren Arm, ihre Schultern und bettete trunken sein Haupt in das weiche Tal ihrer Brust.
Die feinen Flügel ihrer Nase zitterten. Ihr Mund öffnete sich leicht. Plötzlich stieß sie ihn ein wenig von sich, richtete sich auf und schaute sich nach allen Seiten um.
Er aber streckte sich, ohne sie auch nur zu berühren, brüderlich neben ihr aus. Er schaute von der Seite her durch das geliebte Tal ihrer Brüste in den westlichen Himmel, der eben rötlich wurde hinter dem weißen Blau des abendlichen Dunstes.
Und da geschah ihm seltsame Entrückung. Das Mädchen verschwand. Er fühlte sich hoch über ihr schweben. Ein feines Klingen hub in seinem Blut an, eine Musik von weichem Rhythmus schwoll durch den Raum seiner Seele. Aus Ätherreichen stellten sich ihm dann irgendwie Worte dazu ein. In mildem Rausch lauschte er in sein Herz hinein auf die Melodie, die es sich auf den Reiz der Geliebten ersang, aus anderen Ebenen stammend. Nicht konnte er Rechenschaft ablegen für das, was ihm sein Engel, sein Genius, irgendeine höhere Wesenheit da sandte. Alles Leid der letzten Wochen, Krankheit, Cordula, Geldnot war gelöscht in dem heiteren Reich, in dem er weilte. Jutta-Maries Schultern waren duftende Fliederbüsche, unter denen sich die weichen Pfühle ihrer Brüste breiteten, in die er mit süßem Schrecken sank. Und ob er auch wußte, daß sie sein Fatum werden würde, er tauchte das Antlitz tiefer in seiner dunkelgoldenen Sehnsucht seliges Avalun.
Da schreckte er zusammen. Seine Seele tat einen schmerzlichen Fall aus heiterer Höhe. Ein warmer Mund sprengte seinen, und zwei weiße Arme umschlangen ihn kräftig. Der Mund sprach dumpf in die Gruft des Kusses hinein: »Ich liebe dich, du! Hörst du?«
Florian schloß die Augen und lag ganz still. Er spürte beglückt die heiße Last auf allen Gliedern.
Doch dann mußte er eine vorsichtige Bewegung machen, weil ihn sein noch vom Mittagessen überfüllter Magen schmerzte.
Da wich sie zurück, indem sie ihn unverwandt erstaunt anschaute, sprang hoch und schritt auf edlen Beinen lässig dem Dickicht zwischen den Bäumen zu.
Florian blickte ihrem Schreiten entzückt nach. Verdutzt folgte er ihr schließlich, als sie nicht Miene machte anzuhalten. Nachdem er sie eingeholt hatte, wollte er einen Arm um sie legen. Aber sie entzog sich ihm und lief tiefer unter die Bäume. Er sprang ihr nach. Sie flüchtete weiter. Sie jagten sich wie Kinder.
Da Florian durch sein Beinkleid dabei behindert wurde, krempelte er es kurzentschlossen auf. Seine grauwollenen Socken überhingen zusammengesunken die Schäfte seiner Stiefel. Unterhosen trug er wegen des warmen Wetters nicht.
Jutta-Marie blieb stehen und schaute ihm zu, die Hände lachend auf die Knie gestemmt: »Sockenhalter trägst du auch nicht? Was für abscheuliche Beine du hast! Hi gitt! Weißt du, du siehst aus wie ein Faun in Hosen und Oberhemd!«
Florian lächelte nicht unzufrieden. Er reckte seinen Hals, auf den er besonders stolz war. Er überlegte, wie er Jutta-Marie darauf aufmerksam machen könnte, ohne allzu eitel zu erscheinen. Auf einem Maskenball hatte er einst, in eine römische Toga gehüllt, große Erfolge erzielt. Schade, daß er keine Photographie davon bei sich trug.
Dann fiel ihm ein Ausweg ein. Er würde sich ihrer Phantasie einfach anpassen. Er ließ also das Hemd soweit herab, daß es nur noch wie ein Schurz seine Hüften umflatterte.
Sie jubelte.
Glücklich, daß sie nicht mehr schmollte, wollte Florian sie fassen. Sofort entwischte sie, und das Haschen begann von neuem.
Mit grotesken Sätzen sprang Florian hinter der Leichtfüßigen her.
Sie rief lachend aus einiger Entfernung: »Nein, jetzt weiß ich's besser! Du siehst aus wie der Waldschrat aus der versunkenen Glocke!«
Doch nach einer Weile wurde sie auch dieses Spieles müd und schaute auf ihre Uhr, die an schmalem, schwarzem Seidenband um ihr Handgelenk saß. »Es ist höchste Zeit, daß wir uns anziehen und gehen!«
Hastig kleidete sie sich an.
Florian schwenkte im Übermut ob dieser seligen Stunde sein nicht sehr sauberes Hemd über seinem Haupt wie eine Fahne! Plötzlich riß er ein Grasbüschel mit sehr langen Halmen aus dem Boden, klemmte es als Schwanz zwischen die Beine und vollführte unter Bocksgemecker einen Satyrtanz, um seinem Glück reineren Ausdruck zu geben.
Jutta-Marie schüttelte den Kopf: »Was tust du denn da!«
»Laß mich nur! Ich reagiere ab! Das tut gut! Meck, meck, meck! Hoppla! Evoe!«
*
Sie trennten sich noch vor dem Bahnhof, um ein Gesehenwerden zu vermeiden. Während der einsamen Rückfahrt starrte Florian in das Abendrot über der seligen Insel, die er schon nicht mehr sehen konnte. Und als ob ihn dieser Aufruhr des Himmels aus Purpur, Gelb und Blau hypnotisierte, begann wieder in ihm jenes seltsame Klingen, jenes rhythmische Wogen, zu dessen Auf und Ab sich seine Vision von vorhin in rauschenden Worten fügte.
Mit ausgeschaltetem Ichleib kaufte er sich am Bahnhof eine Abendzeitung, sprang auf eine fahrende Straßenbahn und, während er auf der Plattform zwischen schwitzende Menschen eingekeilt stand, wurde in ihm in ungeheuerlicher Zusammenfassung als Frucht, als Sinn eines mühseligen, unsinnig vertanen Lebens ein Gedicht geboren!
Mit dem letzten Stumpf eines Bleistiftes, den er, fieberhaft kramend, in einer seiner Taschen fand, kritzelte er auf den weißen Rand der übelriechenden Zeitung, ohne der neugierigen Blicke gewahr zu werden, trunkensten Eros voll die Zeilen:
»Wann werd' ich wieder mitten deiner Brüste ruhn?
Im weichen Tal, des Früchtehügel niederlasten?
Wann werd' ich wieder deine reife Fülle tasten,
Wann blüht mein Tun?
Gleich wie ein Abendhirt, umhaucht von Fliederdolden,
In großen Träumen üpp'ge Pfühle sich ersinnt,
So steigt zu dir der Sehnsucht nächtlich-heißer Wind,
So dunkelgolden.
Denn deines weidenschlanken Mädchenleibes Brüste
Sind, ach, zum süßen Schrecken schwellend groß!
Sie sind mein Los
Und meines Antlitz' sel'ges Avalun,
In das ich immer tiefer mich verküßte.
Wann werd' ich ruhn?«
*
Am nächsten Mittag suchte er Juan auf. »Bist du in Stimmung, um Verse anzuhören, die ich gestern nachmittag gemacht habe?«
»Du, Florian, und Verse? Aber es ist dumm von mir, daß ich mich wundere. Denn bei dir ist ja alles möglich! Ich will gern zuhören. Allein du weißt, daß ich durch meine Freundschaft mit Trüber ein sehr verwöhntes Ohr habe. Ich werde dir ganz freimütig meine Ansicht sagen.«
»Ich bitte dich sogar darum! Du weißt doch, daß ich dir nichts übelnehme.«
Juan lehnte sich in leicht spöttischer Erwartung in seinen Backenstuhl zurück.
Florian drückte die Augen ein. Seine bleigrauen Lider waren dennoch glühendsten Lebens voll. Er warf das mächtige Haupt zurück und sang andächtig und langsam die Musik seiner Verse ab.
Juan schwieg lange, ergriffen von der Schwermut und Ahnung kommenden Unheils, das er aus diesen Versen mahnen hörte. Florian öffnete vorsichtig seine Augen wieder und hing sie forschend an des Freundes Lippen. Der Maler erhob sich, legte Florian liebevoll eine Hand auf die Schulter und sagte nur: » Ecce poeta!«
Florians zerklüftetes Antlitz leuchtete in noch zager Freude. »Du findest es gut?«
»Lieber Junge, alles, was ich je gegen dich gesagt habe, nehme ich zurück, wenn du noch mehr solcher Gedichte schaffst! Unbegreiflich wie für den Durchschnitt alles an dir, bleibt auch diese plötzliche Geburt des Dichters aus dem Nichts. Und du hast wirklich früher nie gedichtet?«
»Ich spürte wohl oft den Drang und meinte manchmal, ich sei zum Dichter berufen. Allein aus Ehrfurcht vor den Großen wagte ich nie, die Heiligkeit der Kunst durch Stümperei zu entweihen. Jetzt aber, wo Jutta-Maries Liebe mich so erhöht hat, kann ich der Nötigung, die mich ins Schöpferische reißt, nicht mehr widerstehen. Ich muß schreien, soll mir nicht die Brust zerspringen!«
»Schrei ruhig weiter, lieber Florian! Es bleibt natürlich abzuwarten, ob der Strom deines Schaffens weiterrauscht, oder ob dieses gute Gedicht nur ein genialer Abfall von der reichbesetzten Tafel deines erotischen Erlebens ist. Auf jeden Fall ist in deinen Versen eine unendlich weiche Musik, die für mein Ohr obendrein eine ergreifende Schwermut besitzt, und dann die ganz eigene Sprache aus deinen allereigensten Welten.«
Jetzt jubelte Florian. »Ich bin sehr glücklich! Ich wagte nicht zu hoffen, daß du mit mir zufrieden sein würdest!«
»Willst du dieses Gedicht nicht Beatus vorlegen?«
»Meinst du?«
»Du darfst es getrost tun.«
»Gut! Mehr als abweisen kann er mich nicht.«
Dann beichtete er alle Einzelheiten des gestrigen Nachmittags. Juan hörte lächelnd zu und wurde erst gegen Ende ernst. »Ich fürchte, du behandelst dieses Mädchen falsch! Du gibst dich ganz in ihre Hand. Eines Tages wird sie dich unermeßlich quälen!«
Florian dachte nach. »Du hast mehr Erfahrung mit Frauen als ich. Du bist außerdem beneidenswert normal und undifferenziert. Vielleicht hast du von deinem Standpunkt aus sogar recht. Wenn du also meinst, es sei nötig, will ich ihr das nächste Mal fester entgegentreten! Aber, weißt du, Realitäten gegenüber versagt meine Erotik! Und dann würde ich mir alles, was an seelisch-magnetischer Vereinigung noch eintreten kann, durch erzwungene Voreiligkeit verderben!«
»Ich werde dich nie begreifen! Aus realem Besitzerglück entsteht bei mir ja gerade jene mystische Vereinigung, von der du sprichst.«
»Wir sehen die Angelegenheit eben von verschiedenen Planen aus! Glaube mir, als ich neben Jutta-Marie lag, überströmte mich Liebe so mit Seele, daß ich, in Ätherhöhen gehoben, den Körper nicht mehr spürte. Nein, ich muß, wie Beatus mir einst riet, die Gewalt der Lust in schöpferische Kraft umwandeln. Dann wird auch meine Macht über Jutta-Marie ganz anders wachsen.«
»Wir wollen uns nicht streiten! Deine Seele ist ein blaßblauweißer Seidenteppich und meine wie graue Sackleinewand!«
»Sehr gut hast du das ausgedrückt! Wie war es doch? Ein blaßblauweißer Seidenteppich? Manchmal sagst du überraschend gute Sachen!«
Damit eilte Florian von hinnen, weil er hoffte, Jutta-Marie irgendwo zu sehen. Unterwegs aber fand er noch genügend Zeit, allen Bekannten zu erzählen, daß sein nächster Freund seine Seele soeben mit einem blaßblauweißen Seidenteppich verglichen hätte.
*
Da Florian die Geliebte an keiner Stelle, wo er sie vermutet hatte, traf, ging er gegen seine Gewohnheit wieder einmal ins Café. Doch nicht, um nach Nasen, Hysterien und Neurosen auszuspähen, sondern um durch die zerstreuende Mannigfaltigkeit der Umwelt die innen sprießende Fülle doppelt zu genießen. Denn er war quellend glücklich. In ihm blühte schon wieder das geheimnisvolle Singen, das Seligkeit des Schaffens verhieß. Der Strom riß nicht ab und versackte nicht, wie Juan gefürchtet hatte, sondern würde breiter noch, mächtiger noch weiterfluten! War er nun Dichter?
Er schloß die Augen und horchte, an den Dämon hingegeben, wie ein Weib an den Geliebten, in sich hinein. Seherisch ergriffen, spürte er sein Blut rauschen, jenes Blut, in das die unzählbaren Tropfen aus soviel Scharen von Vorfahren mitbestimmend klangen. Dessen geheime Flut unentrinnbar in den Bann der Sippe schmiedete und das nun in einmal einziger Spende im Einklang mit dem fremden Blut der Geliebten schlug. Er empfand den bluthaften Zwang, sein Leben dem Dienst der Geliebten ganz zu weihen, nicht als Sklaverei! Denn er gedachte einmal, ehe er grabwärts dämmerte, dunkelglutend zu blühen wie rote Rosen.
Und dann formten sich die chaotischen Gesichte zu köstlichen Worten, deren Melos sich über das Rauschen seines Blutes legte wie sanfte Fessel. Er riß die Preiskarte des Cafés aus ihrem Ständer und schrieb in Verzückung, was ihm zu sagen gegeben ward:
Das Blut.
Du dunkelstes der dunklen Rätseldinge,
O Blut, o tiefes Blut,
An das ich kühlen Auges niemals dringe,
Du trägst uns hoch auf unerforschter Flut
Im Bann der Ringe
Und füllst des Leibes Schalen uns mit Glut.
Geheimes Feuer, das verborgen ruht,
Urgrund der Welt,
Du in Gestalten formersiegter Mut!
In deinen Einklang sind wir dumpf gestellt,
Du Lied der Erde,
Das Leib zu Leib im Dröhnen dicht gesellt!
Wir folgen willig deiner Machtgebärde,
Du heilig Gut,
Und reißen uns vom mitternächt'gen Herde,
Und deine Dornen sind uns nicht Beschwerde,
Wir blühn wie Rosen, Blut, o dunkles Blut.
Als er fertig gehastet hatte, las er seine eigenen Worte wieder und wieder voll Ehrfurcht. Dann flüsterte er sie vor sich hin. Endlich sprach er sie halblaut. Ab und zu dröhnte seine machtvolle Stimme eins der glutenden »U«s hörbarer, so daß die anderen Gäste belustigt auf ihn schauten.
Und er sah, daß alles gut war! Nicht einen Buchstaben würde er streichen. Heiligstes Urwissen wehte ihn aus diesen Zeilen an. Nun erst trug Frucht, was er ein Leben lang in die Scheuern seines Gedächtnisses gesammelt hatte. Nicht vergeblich, wie Cordula oft höhnte, waren also die dürren Jahre okkulter Schülerschaft gewesen! Tiefste Weisheit atmeten diese Strophen! Großes war ihm widerfahren! Er stand an der Wende seines Geschicks. Gesegnet und geweiht würde er sich nunmehr noch einmal unter die Augen des Großmeisters wagen dürfen. Alle Besorgnis vor einem Versiegen seiner Schöpferkraft schwand. Ohne Übermut, aber voll Vertrauen wußte er nun, daß sein Rausch an Tiefe und Durchdringung wuchs.
*
Am anderen Tage eilte er klopfenden Herzens zu Beatus, der ohne Erstaunen Florians Dichtungen anhörte. Als Florian, der vor Erregung schlecht sprach, endete, erhob sich der Meister stumm und schritt zu einem alten Renaissanceschrank, der auf hohen, gedrehten Füßen in einer Ecke der Bibliothek stand. Florian hielt sich für gerichtet, weil der Meister schwieg.
Beatus wühlte lange in den zahlreichen flachen Laden des Schrankes, die mit kostbaren Papieren, italienischen, holländischen und japanischen, angefüllt waren. Endlich zog er einen gelblichen Bogen aus Florentiner Bütten hervor, suchte in einem Wald von Federn, die in einem Becher von getriebenem Silber staken, und lächelte: »Diktieren Sie mir jetzt das Gedicht an das Blut! Ich möchte es besitzen.«
Da war Florian auf einmal vom Glanz unerhoffter Ehrung besonnt.
Beatus schrieb langsam die mystischen Worte in seltsam künstlerischer Schrift auf das Elfenbein des Bogens. Dann hub er mit seiner erzenen Stimme, die wie Glocken dröhnte, an zu lesen.
Überrascht und hingerissen lauschte Florian den eigenen Harmonien.
Der Meister sagte: »Es ist gut! Allein, erwarten Sie kein Lob von mir! Sie schulden dem Geist noch allzuviel! Ich habe seit langem vorausgesehen, daß früher oder später das heilige Feuer aus Ihnen lodern müßte. Aber Sie haben arg gesäumt. Nun endlich ist in Ihrer Aura die gelbbraune Wolke verschwunden, und das leuchtende Ätherblau mit dem silbernen Rand wächst. – Adine wird demnächst mystische Gedichte aller Zeiten öffentlich sprechen. Ich werde ›Das Blut‹ noch nachträglich der Vortragsfolge einfügen.«
Florian stammelte Dank.
Beatus, der für diese schwache Seele nicht Sporn genug wußte, lockte: »Wenn Sie im Schaffen nicht nachlassen und bis zum Winter einen Band zusammenbringen, werde ich dafür Sorge tragen, daß sie in einem mir nahestehenden Verlage unter meiner Überwachung gedruckt werden!«
Das aber bedeutete Ruhm, Ehre, Name! Trunken vor Glück küßte Florian die gütige, weiche Hand des Meisters und enteilte. Wie immer, floß sein Mund über von dem, was er soeben erlebt hatte. Allen Bekannten teilte er sofort mit, was Beatus ihm verheißen hatte. Waren es bisher nur die Worte und Handlungen der Geliebten, die Phasen seiner Liebe, mit denen er den Ohren seiner Nächsten zur Last gefallen war, so kamen jetzt noch die zahlreichen Gedichte hinzu, die in rasender Folge Tag für Tag entstanden. Ob er auf der Straße ging, ob er in der Bahn fuhr, er schrieb, maß, verglich, besserte und probte. Wo er irgend jemand stellen konnte, sprach er seine Verse und verhieß das bestimmte Erscheinen seines ersten Gedichtbandes im Winter.
Es war, als wollten sich seine bisherigen Minderwertigkeitsgefühle durch titanische Übersteigerungen des Selbstbewußtseins rächen.
Cordula, die nicht umhinkonnte, Florians Erzeugnisse anzuerkennen, entschädigte sich für erlittene Unbill, indem sie erklärte: »Gewiß, deine Sachen mögen gut sein. Aber mir liegen sie nicht!«
Und Jutta-Marie, die als erste vor allen anderen mit Florians Versen überschüttet wurde, spürte wohl mit feiner Einfühlung den Hauch aus höheren Planen. Aber ehe sie Törichtes über diese unverständliche Lyrik äußerte, schwieg sie lieber geschickt, mit dem listigen Schweigen der Frauen, das sehnsüchtige Anbetung nur zu gern als abgründige Tiefe auslegt.
Immerhin trug sie zu Florians Ruhm insofern bei, als sie in ihrem Kreis seine Gedichte verbreitete. Sie wurde deshalb von den einen neidisch verspottet, von den andern spöttisch beneidet.
*
Einst war Florian nach langer Pause aus Unrast wieder einmal einer Einladung Susanne Bentheims gefolgt. Aber schon beim Eintreten mußte er erkennen, daß die Rolle, die er zur Auffrischung seines Selbstgefühls heute hatte spielen wollen, durch seinen augenblicklichen Nachfahren in Susannes Gunst, den ihm besonders verhaßten Schriftsteller Nießnutzer, vereitelt werden würde.
Man tanzte, und Nießnutzer, im Gegensatz zu Florian, gewachsen wie Antinous, wenn auch von gewöhnlichem Gesichtsausdruck, war von einer kraftvoll schlanken Anmut, die ihm Frauen- und Männerherzen, ohne daß er Wert darauf zu legen schien, eroberte.
Ohne Hilfsquellen oder Einnahmen nennenswerter Art war er stets nach letztem Geschmack gekleidet und spielte als Preistänzer in den vornehmsten Klubs die erste Rolle. Von seinen Büchern, die in nichtssagend glattem Stil geschrieben waren, konnte er nicht leben, denn sie wurden ihres abseitigen Inhalts wegen gewöhnlich, wenn eben gerade die Druckkosten durch privaten Vertrieb innerhalb seines ausgedehnten Bekanntenkreises gedeckt waren, beschlagnahmt. Also nahm er seine Zuflucht zu reifen, schönen und einflußreichen Frauen, von denen er sich wohlwollend beschützen ließ.
Nießnutzer hatte es, indem er ein großes, englisches Vorbild, schamlos plündernd, äffte, verstanden, sich die verschiedenartigsten Posen beizulegen, mit denen er je nachdem, selbst die schneidendste Unverschämtheit nicht verschmähend, um jeden Preis Eindruck machte. Gelangweilte Börsianer bezauberte er durch Erzählungen von Erlebnissen in Verbrecherkneipen, die er in Verkleidung besuchte. Snobs bereitete er Vergnügen, indem er in reinstem Pariserisch gefällige Anekdoten zum besten gab, die ungefähr alle vier Wochen wechselten.
Hatte man allerdings das Unglück, Nießnutzer mehrmals hintereinander in Gesellschaft zu begegnen, so mußte man » L'heure du berger« oder » Le Suisse et le Gascon« mehrmals über sich ergehen lassen.
Merkte Nießnutzer, daß sein in Wahrheit prächtiges Französisch Anklang fand, so teilte er in tiefstem Vertrauen nicht ungern mit, daß er zu 99 Prozent französischen Ursprungs sei, und nannte als seinen eigentlichen Namen »Nießnutzer – Du Bac«.
Da die Unterhaltung heute nicht in Fluß kommen wollte, bat Susanne Nießnutzer, etwas am Flügel vorzutragen. Und er spielte, säuselnd und gedämpft, Weisen von fremdem Reiz. Als ein Musikverständiger fragte, was er spiele, bemerkte er bescheiden: »Das erste war ein tschechisches Kirchenlied aus dem 15. Jahrhundert, das ich meinem Freund, dem Organisten von St. Nikolas in Prag, verdanke. Sie haben vielleicht gehört, daß ich inedierte, alte Kirchenmusik sammele. Und das andere ist ein bretonisches Fischerlied, das ich auf dem Besitz meiner mütterlichen Freundin der Vicomtesse de Perigord-Malemaison in Pimperloun belauscht habe.«
Florian, voll Ärger, daß ihm nicht wie jenem das selbstverständliche Geschick zuteil geworden war, unauffällig ohne Unterlaß Eindruck zu machen, saß ungeduldig auf seinem Stuhle wartend in einem Winkel und tröstete sich mit Cakes und Zigaretten. Er langweilte sich unsäglich. Wohl hatte er hie und da, gejagt von sehnender Unruhe, unter schönen Gesichtern und vollen Schultern herumgestöbert. Doch war er nicht auf seine Kosten gekommen, da Jutta-Maries Bild ihn völlig besaß und auch dieses Herumsuchen nur verkappte Sehnsucht nach der einzig Geliebten darstellte.
Es mochte gegen zwölf Uhr sein. Plötzlich, in einer toten Pause, gellte das Telephon! Alle zuckten schlechten Gewissens oder voll banger Erwartung zusammen. Wen mochte diese Stimme der Nacht meinen?
Susanne, unerschütterlich wie immer, ging an den Apparat. Denn im bunten Spiel ihrer Abenteuer war sie an Überraschungen und Verwicklungen jeder Art gewöhnt und allem gewachsen.
Die Gespräche verstummten. Alle lauschten. Man hörte Susanne wiederholt rufen: »Wer ist da?« Dann endlich schrie sie gereizt: »Melden Sie sich doch! Wer? Falsch verbunden! Ja! Die Nummer stimmt! Wen? Ach so! Doktor Windmacher, bitte!«
Lächelnd und erlöst wandte sie sich um: »Florian, eine Dame mit unverständlichem Namen wünscht Sie zu sprechen!«
Aus tiefster Ebbe der Verlassenheit hochgebrandet in eine Flut von Seligkeit, stürzte Florian zum Vergnügen der anderen Aufatmenden an den Hörer, wobei er nicht versäumte, rasch noch einen arabischen Rauchtisch, auf dem Zigaretten, kostbare Aschbecher und Likörgläser standen, umzuwerfen. Es sah gut aus, wie die weißen Dinger auf dem roten Belag des Bodens rollten.
Sodann vernahmen die staunenden Gäste folgende Bruchstücke aus Florians Munde: »Ja, hier Florian! Du? Hm! Was! Jetzt um ein halb eins? Ganz allein? Was sagst du? Schlüssel runterwerfen? Das geht doch nicht der Mädchen wegen! So so, nach vorn! Keinen Mut? Erlaube mal! Unterm Sofa, hahaha! Nein! Doch! Was? Hallo, hallo, halloooooo –«
Betrübt hängte er ab und wankte auf seinen Platz zurück. Man bedrängte ihn lächelnd: »Haben Sie ein Glück! Nicht mal in der Nacht werden Sie in Ruhe gelassen!«
Sofort strahlte Florian wieder in eitel Glanz, weil er begriff, wie sich dieser Anruf ausnutzen ließ, und weil er so plötzlich aus dem Dämmer der Nichtbeachtung in das Licht der allgemeinen Neugier gerückt war.
Susanne, die, wenn auch ohne Namensnennung, durch Florians Geschwätzigkeit in großen Umrissen eingeweiht war, neckte: »Wer ist denn die neueste Freundin, von der Sie soviel erzählen?«
Nun erst bereute Florian bitter, ihr jemals etwas preisgegeben zu haben. Ehe er nun noch ein Wort verriet, hätte er sich lieber foltern lassen. Darum log er laut und vernehmlich, indem er seinem häufigen Schwur gemäß kaltblütig über Leichen schritt: »Nein, es war die kleine Falkenstein, mit der Sie mich neulich trafen.«
Die Damen gaben sich in Entrüstung den Anschein, als hätten sie nicht zugehört. Die Herren erstarrten über solch unzurechnungsfähige Indiskretion. Florian lächelte lieb geschmeichelt im Kreise. Alles zog sich wie von einem Aussätzigen augenblicklich von ihm zurück.
Susanne nahm ihn bei der ersten Gelegenheit beiseite: »Mensch, Florian, bist du verrückt? Du machst doch die arme Kleine unmöglich!«
»Wieso denn? Ich habe mich doch am Telephon sehr reserviert verhalten!«
»Lieber Junge, du bist ein großes Kind! Und nun beichte mal!«
Florian log gewandt: »Die kleine Falkenstein ist gerade vom Theater nach Haus gekommen. Ihre Eltern sind verreist, und da wollte sie es so einrichten, daß sie ganz allein nach vorn heraus schlief.«
»Und du gehst nicht hin, Dummkopf? Wenn ich die kleine Falkenstein wäre, würde ich dich nicht mehr ansehen! Im übrigen werde ich das in Zukunft schon deshalb nicht mehr tun, weil du das reizende, kleine Ding so ruchlos kompromittiert hast!«
Erzürnt wandte sie ihm den Rücken.
Nunmehr wurde es Florian doch unbehaglich zumute. Er trat auf den Flur hinaus, klingelte und ließ sich von einem der Mädchen hinausgeleiten. An der Haustür suchte er in allen Taschen, fand aber nur einen größeren Schein, den er nicht opfern wollte. Also bedankte er sich äußerst höflich und fühlte hellsichtig den geringschätzigen Blick des erwartungsvollen und enttäuschten Mädchens hinten im Rücken.
*
Der Sommer nahte, und die Trennung von Jutta-Marie drohte. Da stürmte Florian eines Nachmittags die fünf Treppen zu Juans Atelier hinauf und schrie atemlos: »Juan!«
»Was gibt's?«
»Du mußt mir sofort deinen besten Pyjama und ein heiles Hemd borgen!«
»Wozu denn?« Juan runzelte die Stirn. Denn er wußte aus schmerzlicher Erfahrung, in welchem Zustand Florian geliehene Kleidungsstücke zurückzuerstatten pflegte.
»Lieber Junge, ich bin wirklich unschuldig gewesen, daß du beim letztenmal dein Frackhemd versengt zurückbekommen hast! Du mußt mir dies eine Mal noch aushelfen! Hör zu! Ehe Jutta-Marie nach Berchtesgaden fährt, hat sie es mit List so eingerichtet, daß wir zwei Tage allein verreisen werden. Ich habe nicht lange Zeit! Ich soll gleich wieder anrufen! Sie will noch heute Bescheid haben. Ach so! Ich habe dir ja noch gar nichts erzählt. Eine jungverheiratete Freundin von ihr lebt auf einem Rittergut in der Nähe von Potsdam, zu dem eine ausgedehnte Jagd und ein mitten im Wald ganz einsam gelegenes Jagdhaus gehören. Der Mann der Freundin ist zufällig abwesend, und Jutta-Marie hat sich über Sonntag einladen lassen. Alles ist so überzeugend eingefädelt, daß die Eltern keinen Verdacht schöpfen können. Sie erwartet mich am Sonnabend an der Station, die in der Nähe des Jagdhauses liegt. Du verstehst, lieber Freund, nicht wahr, daß es um mein Lebensglück geht. Bitte, such deinen modernsten Schlafanzug heraus und vor allem ein heiles Hemd! Ich schwöre dir –«
Juan öffnete kopfschüttelnd seinen Schrank und ließ Florian wählen. Der wühlte lange alles durcheinander, wickelte das Gewählte in die Mittagszeitung, die er gerade bei sich trug, und ging von dannen, nachdem er sich noch mehrere Zigaretten und einen Notgroschen, wie er sich ausdrückte, von Juan hatte geben lassen.
Daheim riß er in großer Erregung all seine Anzüge aus den Schränken, entschied sich endlich und befahl Cordula, Beinkleid und Rock aufzubügeln. Während Cordula halb aus Schrecken über sein verzerrtes Antlitz, das keinen Widerspruch duldete, halb aus Mitleid mit seiner Psychose, wie sie seine Liebe bezeichnete, gehorchte, studierte Florian, mit Juans Schlafanzug, seidenen Socken und Pumps angetan, sorgfältig Gesten und Attitüden für den morgigen Tag. Denn dieser Tag mußte sein und Jutta-Maries Schicksal erfüllen!
Am anderen Tag arbeitete er sich während der Bahnfahrt sein Verhalten bis ins kleinste schriftlich aus und prägte sich seine Fragen und ihre vermutlichen Antworten Satz für Satz ein. Erst gegen Abend langte er auf der Station der Kleinbahn an.
Jutta-Marie erwartete ihn so ernst, wie er sie selten gesehen. Da seine Liebe hemmungslos strömte, küßte er sie, ohne sich um den Beamten zu kümmern, der neugierig zuschaute. Sie erwiderte seinen Kuß herzlich. Florian sah, daß ihre Nasenflügel zitterten. Ihm fuhr darob süßer Schreck in die Knie.
Sie traten in den Wald, der gleich hinter der Station begann. Da der Pfad zu schmal war, als daß sie nebeneinander hätten schreiten können, ging Florian vorauf, um der Geliebten die wild hängenden Zweige aus dem Weg zu biegen.
Sie schritten eine ganze Weile stumm dahin. Der Abend war so unbeschreiblich still, daß man den Tanz der Mücken vernahm. Irgendwo jubelte ein verzückter Pirol.
In Florian regte sich banges Glück. Hatte die heilige Stille Jutta-Maries Herz ergriffen und sie abgelenkt von den nichtigen Späßen, mit denen sie ihn sonst zu hänseln pflegte? Fragend schaute er sich um.
Gerade da rief sie mit etwas rauher Stimme, als ob sie das feierliche Mysterium der heraufziehenden Nacht nicht länger hätte ertragen mögen: »Du setzest schon wieder die Füße nach innen übereinander. Wie oft hast du mir versprochen, dir Mühe zu geben und nach auswärts zu gehen wie alle anderen Menschen!«
Florian lächelte weh. Da war es wieder, was er gefürchtet hatte! Aber ihre Stimme klang rauh. Hieß das nicht, daß sie sich Gewalt antat, um ihre Rührung nicht zu verraten? Tapfer versuchte er sodann, seine vom Knie abwärts schief eingesetzten Beine gerade nebeneinanderzustellen und nicht mehr von seitwärts her übereinanderzuschieben. Wie ein Junges sich von Zeit zu Zeit ängstlich nach dem Muttertier umschaut, so wandte er sich nach Jutta-Marie um: »Ist es so recht?«
»Du wirst noch viel üben müssen! – Wo hast du eigentlich deine Hosen bügeln lassen? Der dumme Mensch hat hinten die eine Falte gerade neben die alte geplättet!«
Florian senkte schweigend das Antlitz, von düsteren Gedanken überfallen. Da stieß er wieder an die furchtbaren Mauern der Weltlichkeit, die Jutta-Marie umfriedeten. Obwohl sie von nicht geringem Verstand war, vermochte sie nimmer aus dem Bann der mit ihr verwachsenen Ansichten zu treten und über seinen jenseitigen Qualitäten seine diesseitigen Unzulänglichkeiten zu vergessen. Gleichwie es ihm trotz aller Bemühung niemals gelingen würde, das, was für sie Selbstverständliches bedeutete, als solches zu erobern. Welch karmisches Verhängnis, das so ungeheuerliche Gegensätze miteinander verkuppelte! War es ihm vielleicht als Strafe verhängt, daß er so schmerzlich und in dem ungeeignetsten Augenblick an seine Versäumnisse gegenüber den süßen Gewöhnlichkeiten der Realität gemahnt wurde?
Er fühlte sich plötzlich weit getrennt von Jutta-Marie und dachte in bitterer Zärtlichkeit an Cordula, die trotz ihres schweren Geschickes an seiner Seite ausharrte und sich trotz unleugbarer Geistigkeit zu Magddiensten für ihn erniedrigte. Sie besaß, weil es noch nie von ihr verlangt worden war, keine Erfahrung im Aufbügeln von Männerkleidern und hatte dennoch seinen Befehl ausgeführt aus fraulich-kameradschaftlicher Güte, deren sie, falls sie nicht gereizt wurde, durchaus fähig war.
Traurig überlegte er, daß auch Jutta-Marie ihn meistens quälte, wenn er bei ihr war. Die verdammte Raum-Zeit-Wirklichkeit zerstörte alles Glück, das aus der Trennung in kühnsten Träumen und beseligendsten Verschmelzungen ungebunden quoll. Warum war er allein zur Qual verdammt und erlitt bei jeder neuen Leidenschaft, die sein Wesen durchwühlte, das Kamaloca schon auf Erden? Woher kam die Unterlegenheit, an der er, ein Mann mit riesiger Körperkraft, gegenüber diesem zarten Mädchen litt? Die ihn noch jeder Frau, die nicht nur seine Gier brennen, sondern auch seine Seele schwingen ließ, versklavt hatte? Und der lange Zug seiner zerstörerischen Leidenschaften wallte vor ihm hin.
Auf einmal stieg eine ungeheure Wut in ihm hoch über die unbegreiflich unverschämte Sicherheit, mit der Jutta-Marie ihn, einen gereiften Geistesmenschen, mit solchen verächtlichen Läppereien quälte. Er mußte an Juans Worte denken. Juan hatte recht! Ihm wäre solches Ungemach von einer Frau niemals geschehen! Der Freund gehörte auch in den Ring der Enghirnigen, deren Naivität es niemals Problem deuchte, wie man überhaupt zur Wirklichkeit kommen möchte. Zum Ausgleich setzten sie über die für die Geistigen, Hellfühlenden unüberwindlich scheinenden Schranken des Realen mit selbstverständlicher Anmut hinweg. Daher geriet Juan auch, sobald er mit Jutta-Marie zusammentraf, alsogleich in eins seiner leichten Gespräche, die er als Meister handhabte.
Während er in solchen Gedanken, sorgfältig Fuß gerade neben Fuß schiebend, dahinschritt, wuchs aus Gram der Entschluß in ihm, Juans Rat endlich zu befolgen und mannhaft aufzutreten. Wehe ihr, wenn sie ihn jetzt noch einmal reizte!
Gerade da riß sie ihm, um das bedrückende Schweigen zu brechen, heftig den Hut vom Kopf: »Laß sehen, wie dein Haar heut sitzt!«
Obwohl nun Florian ihre spielerische Keckheit im tiefsten nicht übel vermerkte, hielt er sich für gebunden, dem eben gefaßten Entschluß treu zu bleiben. Er packte sie mit ganzer Kraft an beiden Handgelenken und fauchte sie mit gutgemachtem Zorn an: »Ich untersage dir ein für allemal, daß du deinen Schabernack mit mir treibst! Du bist viel zu unwissend und oberflächlich, als daß du dir erlauben dürftest, mich zu deinem Popanz zu machen! Ich verlange von dir, daß du mich achtest!«
Sie schaute ihn fassungslos erstaunt an. Sein Hut fiel aus ihrer gefesselten Hand zu Boden. Sie stöhnte auf: »Du tust mir weh! Laß mich los!«
Als er stärker drückte, ging ein verklärtes Lächeln über ihr jetzt schmerzlich verzogenes, keckes Antlitz. Sie atmete heftig, warf den Kopf zurück und drängte sich leidenschaftlich an Florian: »Es macht mich rasend, wenn du so brutal bist! Küsse mich! Ich liebe dich!«
Nie zuvor hatte Florian sie so hingegeben glühend gefunden. Er beglückwünschte sich zu seinem klugen Schachzug.
In enger Umschlingung, wie in tiefste, köstlichste Einigkeit gebettet, gingen sie langsam über eine Lichtung, zu der sich der Pfad erweiterte. Am Rand eines Birkenhaines, der von der sinkenden Sonne vergoldet wurde, ließen sie sich nieder. Florian fühlte, eine Hand um Jutta-Maries Schulter, ihre abendlich kühle Haut seiden unter dem schleierdünnen Stoff des Kleides. Hingerissen lauschte er den Stimmen des sterbenden Tages. Immer nahm die Liebe die Blenden von den Fenstern der Sinne, daß sie wacher in das Weben der Stille schauten. Mit schieferblauen Tönen kam dort hinten schon die Nacht herauf. Nichts glich diesem Glück reiner Schau!
Hastig überlegte er noch einmal seinen Plan und schwieg.
In Jutta-Marie war eine geheimnisvolle Veränderung vorgegangen. Sie hatte den kalten Stahl der spöttischen Überlegenheit abgetan. Statt dessen schmiegte sie sich in weicher Zärtlichkeit an Florian, der sich mit eins frei und dadurch zu gutem Gespräch aufgelegt fühlte. Er versuchte es mit den verschiedensten Dingen, aber das Mädchen blieb stumm. Fast hätte Florian sich eingestanden, daß er sich langweilte, wäre nicht seine Schulung in der Devotion auch den eigenen Gefühlen gegenüber vorhanden gewesen. Damit nun der einmal entworfene Plan für diese Nacht gewahrt bliebe, sprach er von seinen Gedichten und erklärte ihr mit umständlicher Beredsamkeit seine schwerbegreiflichen Verse. Dadurch in Schwung geraten, dröhnte er mit weithin schallender Stimme all die Lieblingsstrophen aus des Großen Feierlichen Werk, die sein gigantisches Gedächtnis beherbergte, in den Raum. Denn nach dem Plan sollte Jutta-Marie in dieser Nacht, die er ihrer Flatterseele als unvergänglich einhämmern wollte, mit Dichtung überschüttet werden. Dann nämlich würde sie noch in spätesten Jahren, falls es zu einer Trennung käme, voll gerührter Sehnsucht an die hohe Zeit dieser Liebe denken müssen.
Endlich aber bewirkte die Summe der außerordentlichen Erregungen dieses Abends, daß er rechtschaffenen Hunger spürte. Er sagte es geradeheraus, und Jutta-Marie, die sich durch dieses Geständnis augenscheinlich nicht für gekränkt hielt, führte ihn zu dem unweiten Jagdhaus, in dessen traulicher Diele sie nahe dem hohen Kamin gedeckt hatte. Florian nahm voll Ergriffenheit die zierliche Sorgfalt wahr, mit der die kleine Tafel im Gegensatz zu gewohnter häuslicher Kahlheit hergerichtet war. Da blitzten Silber und Kristall. Feldblumen standen inmitten, und auserlesene Dinge, die sie selbst gekauft hatte, lockten. Er aß also mit großer Lust, während sie aus einer flachen, mit Konfekt gefüllten Schale naschte, vom Wein, an dem Florian vorsichtig nippte, trank und Zigaretten dazu rauchte.
Als Florian endlich fertig war, erklärte sie: »Ich bin müde. Laß uns schlafen gehen!«
Während sie die Haustür zur Nacht verschloß und mit einem Leuchter in der Hand die gewundene Treppe, die zu den Schlafzimmern führte, voraufging, folgte ihr Florian mit klopfenden Schläfen. Er sagte sich rasch noch einmal das Gespräch auf, das er während der Fahrt entworfen hatte.
Sie wies ihm sein Zimmer an, wo er seine Handtasche mit dem von Juan entliehenen Prunk niedersetzte, unschlüssig, ob er sich gleich umkleiden solle oder erst später. Da er sie mit dem Leuchter in der Hand auf der Schwelle warten sah, entschied er sich dafür, ihr zunächst auf ihr Zimmer zu folgen, das durch die weitgeöffneten Balkontüren vom Mond mit geheimnisvoll weichem Schein erhellt wurde.
Sie löschte das Licht und streifte, ohne sich um Florian zu bekümmern, ihre Kleider ab. Sie trat vor den Spiegel, löste den stets sehr schlichten Knoten und band das lange, leis schäumende Haar mädchenhaft mit dunkelroter Schleife im Nacken. Dann betrachtete sie sich eine Weile lächelnd in der unwirklichen Dämmerung des Spiegels, zuckte ein wenig mit den Schultern, und leise raschelnd sank die letzte Hülle zu Boden.
Florian liebte sie inniger als je zuvor um dieser selbstverständlichen Unbefangenheit willen. Allein, er war nun ganz aus seinem Plan geraten! Stille, Mond und ihre Schönheit erschütterten ihn so, daß er nur ehrfürchtig und stumm vor ihr stand.
Auch sie starrte ihn unverwandt an und lächelte endlich: »Mich friert, du!«
Da nahm er das große Mädchen wie ein Kindlein in die Schalen seiner erhobenen Hände. Während er sie trug, schmiegte sie ihre Arme in reizender Fessel um seinen Hals. Da sie den Reif ihrer warmen Arme nicht von seinem Nacken löste, als er sie auf das Lager bettete, war er gezwungen, in lästiger Beugung zu verharren. Das machte ihn unsicher. Er wußte nicht recht, was er tun sollte. Er spürte, daß sie in nie erhoffter, grenzenloser Hingabe nach ihm verlangte, aber seine Stimmung war von so selig-trunkener Erdenferne, daß er um nichts in der Welt einen Mißklang in die keusche Harmonie dieser Stunde hätte bringen mögen.
Sie fröstelte: »Deck mich zu!«
Er tat es und zögerte, unschlüssig auf dem Rande des Bettes sitzend.
Sie dehnte sich und lächelte: »Willst du nicht zu mir kommen?«
Er holte tief Atem.
Dann stürmte er hinaus! In seinem Zimmer angekommen, riß er mit zitternden Händen seine Sachen ab, warf sie auf den Boden, wie sie gerade fielen, und schmückte sich mit Juans Schlafanzug und Pumps. Er schwankte einen Augenblick, ob er die seidenen Socken anlegen solle oder nicht. Letzten Endes jedoch hielt er seine nackten Füße für stilvoller. Er fürchtete, daß Jutta-Marie ihn ausfragen möchte, wie er zu dieser mondänen Nachtgewandung käme. Aber zu seiner Freude und gleichzeitigen Überraschung war sie weder über den Schlafanzug noch über die Pumps erstaunt.
Unter den Arm geklemmt hielt Florian eine in weißes Pergament gebundene Luxusausgabe von Platos Gastmahl, die noch aus der Zeit seines Bundes mit Vera stammte. Daraus wollte er lesen. Denn er wußte keinen edleren Weg der Überleitung zu den Sinnen, als die Lektüre dieses hohen Liedes der übersinnlichen Liebe!
Er schickte sich an, das Licht, das auf dem Tischchen neben dem Bett stand, anzuzünden, als Jutta-Marie erstaunt bat: »Laß doch das Licht! Findest du nicht, daß der Mond meine Haut außergewöhnlich gut kleidet?«
Wiederum aus der Rolle gebracht, streckte sich Florian leicht unzufrieden neben ihr aus und harfte mit losen Fingern über ihren Rücken.
Sie umfing ihn drängend und seufzte vergehend: »Du, deine Hände! Mehr! Mehr! Ich liebe dich, du! Du kannst –«
Florian fühlte ihre Wange an seiner Brust heißer erglühen.
Er lächelte zufrieden und nicht ohne einen Anflug von eitler Genugtuung. So war also auch sie zu zähmen mit den magnetischen Strahlungen seines Ätherleibes!
Jetzt zitterte sie, und ihr Atem ging schwer.
Florian jedoch ruhte wunschlos glücklich neben der Glühenden, die er väterlich hütend in zarten Händen hielt. Und da schwebte aus dieser Blutnähe der erste, einzige, unerhörte Einklang! Er schloß die Augen. Ätherwolken stiegen aus ihren Leibern, in denen die Hauche ihres Blutes in eins tönten! Jauchzend durchbrochen waren die trennenden Ringe! Von sanft flutendem Leben bebten leise die nahen Glieder. Alle quälenden Grenzen entdämmerten. Die letzten Hüllen sanken von den Seelen. In dieser astralen Vermählung verwirklichte sich also der bang gehegte Traum? Nun läuteten im Herzen des großen Glückes selige Glocken. Vernichtet waren Raum und Zeit! Er schaute in die ungeheure Tiefe der Ewigkeit, er schaute in das Werden selbst! Da umschlangen, schwebend auf dem Meer des Ätherischen, ihre Seelen einander, wie, als sie noch vor dem Haften im Mutterschoß umeinander kreisend durch das Devachan wehten!
Er drückte die Augen tiefer ein. Er wußte, daß er jetzt das Unerhörteste an Sprengung des Tagverhängnisses geleistet hatte. Ihm war, als hätte er, allmächtiger Magier, der Zeit geboten, anzuhalten, ja, das Verstrichene wieder zurückzurollen! Nun aber gebrach es ihm an Kraft, den jenseitigen Rausch zu halten! Schon fühlte er, da die unendliche Süße langsam zerrann, das Wiederperlen der Minuten über die Schwelle der Zeiten.
Und plötzlich zerriß das Ätherband. Jutta-Marie, die mit verwundertem Schreck zugesehen hatte, wie Florian, gleichsam aufgebahrt, mit feierlichem Antlitz, neben ihr in völliger Entrückung erstarrte, glitt unerlöst, vergrübelt und müde aus seinen schlaffen Armen. Dann lag sie bedrückt und ohne zu begreifen neben ihm.
Nunmehr erwachte Florian aus jenseitiger Verzücktheit. Zu rechter Zeit fiel ihm das Buch ein. Er warf einen Blick auf die ruhig atmende, schimmernde Brust des Mädchens, sog das geliebte, kühne Gesicht, vom vollen Haar umrankt, in die innere Schau und ergriff dann das Buch. Der Mond beschien das Lager so hell, daß er ohne allzu große Beschwerde die ihm vertrauten Stellen lesen konnte. Und er las mit leiser Stimme, in der die Weihe des einzigartigen Erlebnisses nachzitterte, die ewig schönen Worte vom geistigen Eros, der über allem Sinnenrausch hehr besteht. Er genoß seine Stimme, deren Männlichkeit selbst durch die Dämpfung wie unterirdische Knorrigkeit mitschwang. Hatte es je eine Nacht gegeben wie diese?
Als er endlich schloß und sich der Geliebten zuwenden wollte, entdeckte er, daß Jutta-Marie schlummerte. Betroffen war ihm, als wäre ihm solches schon einmal widerfahren. Oder erinnerte er sich in dieser heiligen Stunde des Begebnisses aus irgendeiner seiner Präexistenzen?
Voll Rührung und Zartheit hütete er eine Zeitlang Jutta-Maries tiefen Schlaf. Ihm war, als wäre mit dem Entweichen ihres Astralleibes aus dem physischen Leib, das im Schlafzustand stattfand, auch das allzu Irdische an ihr, das ihn schmerzte, entwichen. Rein und lieblich war ihr Ausdruck. Nur die Flügel der Nase zitterten bei jedem Schwellen der Brust.
Er beugte sich über ihre Stirn, dort, wo nach der Lehre der Sitz des Ichs ist. Er nahm wahr, daß eine silberne Träne zwischen den geschlossenen Lidern ihrer Augen blinkte. Er war tief ergriffen. Hatten also des göttlichen Plato Worte die Spöttische getroffen?
Aus Ehrfurcht vor ihrem Schlaf wagte er sie nicht zu wecken. Auch war er an Entsagung gewöhnt. Also glitt er so vorsichtig, wie es ihm möglich war, vom Lager, kniete nieder und hauchte einen Kuß auf ihre Brust, um die ein Duft von Violettes de Parme war. Dann schlich er auf nackten Füßen hinaus.
Auf seinem Zimmer angekommen, fand er keinen Schlaf. Die Gesichte des großen Erlebens von vorhin jagten einander. Schauer der höchsten Einsicht schüttelten ihn. Noch einmal sprengte er alle Grenzen der Wirklichkeit und war nur Genius! Unter einem Feuerwerk von astralen Farbrädern, die um eine rosig glühende Mitte kreisten, fuhr in unbegreiflicher Schöpfung im unerhörten Wogen dieser gebenedeiten Nacht aus ihm die Unio nocturna, die Hymne der mystischsten Vereinigung, die je ein Liebender empfand und die nachmals seinen Ruhm begründen sollte. Die satte, verklärte Musik ihrer Rhythmen schwang, bis er sie in die Fessel oberer Worte gebannt hatte. Dann griff er erlöst zu dem zerfetzten Buch, das er immer bei sich trug, und schrieb:
Unio nocturna.
Lassen wir nun des Raumes
klagende Dissonanz,
Weben wir uns in des Traumes
schlingenden Reihentanz.
Leiber sind trüb und geschieden,
Tage sind lastend und grell,
Einzig zu einigem Frieden
strömt uns der nächtliche Quell.
Eh zur Gestalt wir geboren,
waren in Einheit wir groß,
Ruhten, zum Künden erkoren,
sehnend im hüllenden Schoß.
Was uns die Stunden versagen,
schmerzend im dumpfen Begehr,
Dürfen erschlafend wir wagen,
Wenn uns die Wellen tragen
auf zum kristallenen Meer – –
Glieder an Glieder sich schmiegen,
wunschlos im blumigen Ton
Werden wir eins, nie geschieden,
fließend in Kommunion.
Schlafen wir, schlafen wir Kreise,
Leiber wie Wurzeln verschränkt,
Daß unser Wesen sich weise
tief ins Geheime versenkt.
*
In Urgründen aufgerüttelt, bis zum Wahnsinn erhitzt von den Erschütterungen genialischen Schaffens, sank er endlich in bewußtloses Dämmern, das nicht Schlaf zu nennen war. – –
Als er spät am anderen Morgen unten erschien, fand er Jutta-Marie nicht vor. Er klopfte an ihre Tür und öffnete. Ihr Lager stand leer und zerwühlt. Er war nicht unzufrieden. Denn der Spiegel hatte ihm sein kalkiges und zerfallenes Gesicht gezeigt, in dem alle Risse tiefer klüfteten denn je zuvor.
Unten in der weiten Diele wüstete traurig der abgegessene Tisch von gestern abend. Florian war betroffen. Warum erwartete sie ihn nicht? Warum hatte sie nicht ein wenig Ordnung geschaffen und für irgendeinen Imbiß gesorgt? Mit bangen Vorahnungen räumte er hungrig unter den Resten des gestrigen Mahles auf.
Da endlich nach etwa einer Stunde trat sie zur Tür herein. Florian ging in überströmender Zärtlichkeit auf sie zu und wollte sie umfangen. Allein sie wehrte ihm und war ganz fremd: »Laß mich! Ich habe schlecht geschlafen! Mir schmerzt der Kopf. Die Sonne macht mich verrückt!«
Nachgiebig versuchte er, ein Gespräch von den Vorgängen der Nacht zu beginnen und sprach, unruhigster Erwartung voll, die Unio nocturna.
Sie starrte mit leeren Augen in den Kamin, in dem von einer winterlichen Jagd her die grauweiße Asche einiger Scheite traurig weste.
So sehnsüchtig er auch durch forschende Fragen nach einem Wort des Beifalls hungerte, sie schwieg.
Als das Schweigen so drückend wurde, daß es ihnen die Schalen des Hirnes zu sprengen drohte, herrschte sie ihn, plötzlich ausbrechend, an: »Mach dich fertig! Wir müssen zur Station. Sonntags fährt nur ein Zug!«
Florian traten die Tränen in die Augen, als er gehorchte. Mein Gott, warum diese Qual? Was war geschehen? Hatte nur er von göttlicher Vereinigung geträumt und war sie wie schon so oft außerhalb seiner Träume geblieben?
Er hielt an sich, um nicht aufzuschluchzen.
Stumm gingen sie alsdann zum Bahnhof. Am Waldessaum wandte sich Florian noch einmal um. Er ewigte sich in die innere Schau dieses Haus, wo ihm hehrstes Glück beschieden gewesen war. Die Qual von vorhin wurde schon zu weicher Rührung, weil er inne ward, daß solch eine Stunde nie wiederkehren konnte. Daß auch die Lust der mystischsten Vereinigung ins Nimmerwieder versank wie alles Geschehene. Oh, über die Traurigkeit des irdischen Nacheinander! Verfluchte Unzulänglichkeit alles Menschlichen!
Jutta-Marie schritt wie bei der Ankunft voran, immer noch schweigend und in tiefer Verstimmung. Florian fand es unrecht von ihr, daß sie ein geringfügiges physisches Übel solche Gewalt über ihre Seele gewinnen ließ. Aber schließlich kannte er Frauen und ihre Launen!
Da sie nicht allein im Abteil fuhren, taten sie aus Vorsicht, als kennten sie einander nicht. In Potsdam mußten sie umsteigen und Abschied nehmen, weil sie nunmehr leicht erkannt werden konnten.
Jutta-Marie versprach, aus Berchtesgaden zu schreiben.
Er küßte ihre Hand. Dann fuhr der Zug donnernd ein.
*
Wenn Florian auch voll düsterer Ahnungen war, daß ihm die Geliebte des häßlichen Abschlusses dieser Nacht wegen zu entgleiten drohte, so jubelte doch gleichzeitig in ihm ein Frohgefühl ob der vollbrachten Leistung. Noch am selben Sonntagabend eilte er zu Juan, dem er in seinem Stil vom Verlauf der Reise berichtete. Um die Spannung des Freundes wirkungsvoll zu steigern, verschwieg er ihm das Gedicht zunächst und fragte erst zum Schluß: »Willst du nun noch hören, was mir Jutta-Marie geschenkt hat?«
Juan schaute ihn wißbegierig an.
Da sprach Florian, gelullt von den klagenden Wellen seiner Worte, die Unio nocturna.
Juan schauderte. Denn sein empfindliches Ohr vernahm die Mysterien des Jenseits, die aus der Musik dieser Verse tönten. Auch er, der Uneingeweihte, spürte, daß geheimstes Wissen um Vermischung liebender Seelen in diese Worte gebannt war. Ergriffenheit rieselte seinen Rücken hinab. Gerührt bemerkte er: »Das ist schlechthin genial! Mir ist nicht mehr um deinen Ruhm bange!«
»Ich danke dir, lieber Freund,« erwiderte Florian kindlich froh, »daß du mich ermutigst. Die es eigentlich angeht – –« Er zuckte und grinste gräßlich.
»Armer Florian!« Juan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist unser Fluch, daß niemand unseren Werken ansieht, wieviel wir um sie gelitten haben.«
»Es ist nicht das! Ich bin an Leid gewöhnt. Es ist karmisch bedingt und vielleicht auch karmisch verdient! Aber wenn ich Jutta-Marie verlieren sollte, versiegt der Strom meines Schaffens, und mein Leben wird schal wie vorher. Oder« – er dachte lange nach – »ich bin gerade durch sie der Realität so entrückt worden, daß mein Geist am Nicht-Ich, du verstehst mich, ich meine es im Fichteschen Sinne, zerbrechen würde, sollte ich nicht mehr im kristallenen Äthermeer fliegen dürfen.«
»Unsinn! Du bist im Tönen und wirst weitertönen wie eine ins Schwingen geratene Glocke. Jutta-Marie war nur der gleichgültige Klöppelschlag!«
»Sehr gut hast du das gesagt,« schloß Florian nachdenklich, »gleichgültiger Klöppelschlag! Also hab' Dank, lieber Freund, ich sehe, du bist mir aufrichtig zugetan. Aber niemand versteht mich! Auch du nicht!« –
*
Der Juli war da, und wieder fuhren die Freunde nach Rügen, und zwar ohne Cordula, die es vorzog, sich in die Pflege eines berufsmäßigen Komplexausschwätzers zu begeben.
Da Florian in gefährlicher Spannung war, machte Juan weite Wanderungen mit ihm, um ihn zu zerstreuen. Während sie unter den Gewölben der gespenstisch verschlungenen Buchenkronen dahinschritten, ließ Juan geduldig über sich ergehen, was an Befürchtung und Hoffnung, Erwartung und Enttäuschung durch Florians Herz wechselte. So lieb ihm Jutta-Marie war, so verhaßt wurde sie ihm in diesen Tagen. Denn allstündlich wehte der vergötterte Name myriadenfach über Florians immer bleichere Lippen.
Und Woche um Woche verging, ohne daß Jutta-Marie Nachricht gab! Florian, in tiefster Angst zu allen möglichen verzweifelten Schritten bereit, ließ sich dennoch von Juan überzeugen, daß Schweigen auch von seiner Seite aus das einzig Angebrachte wäre.
Er litt unsäglich. Vor allem, weil sein Selbstbewußtsein, durch das schöne Mädchen und durch seine künstlerischen Erfolge aufgepeitscht, infolge der Trennung wieder in Unsicherheit umzufallen drohte.
Rücksichtsvoll vermied Juan, sich zu erkundigen, ob Florian neue Gedichte geschaffen hätte. Aber da Florian allen Pensionsgästen bei jeder Gelegenheit seine Verse vortrug, ergab sich von ihrer Seite häufig eine Anfrage.
Dann pflegte Florian unter titanischen Grimassen zu lächeln: »Mir ist nicht bange! Ich weiß, daß der Strom nur unterbrochen, nicht abgerissen ist.«
Juan grauste, weil er trotz dieser Versicherung Florians eigene Voraussage allzu pünktlich erfüllt sah.
Florian nahm in seinen vielen Mußestunden wie im vergangenen Jahr mit langwallendem, schottischem Plaid den Strand ab und machte zahlreiche Bekanntschaften. Aber er fand alle Frauen und Mädchen gewöhnlich, wenn er sie mit Jutta-Marie verglich. Da er nach nichts so hungerte wie nach der rätselvollen Beschwingung, die das seltsame Mädchen über ihn brachte, war er sofort enttäuscht, wenn sich aus erstem Gespräch nicht gleich eine Steigerung seines ätherisch-astralen Lebens ergab.
Wie immer, war sein auffallend genialisches Aussehen und Gebaren das vielbesprochene Ereignis der Saison. Hinzu kam, daß er dieses Jahr beim Baden markerschütternde Schreie ausstieß, sobald er ins Wasser ging. Die belustigten Badegäste genossen Florians Wunderlichkeiten mit Behagen. Juan hingegen stellte mit Besorgnis fest, daß Florians Nerven seit vorigem Sommer überempfindlich geworden waren.
Kam Florian dann aus dem Meer, legte er sich mit turbanartig umgewundenem Handtuch und halb herabgelassenem Badeanzug in die Sonne und sprach unbekümmert um die Herumsitzenden seine Verse so laut, daß sie die brüllende Brandung übertönten. Aufsehen erregte er auch durch die Traktate des Großmeisters mit ihren absonderlichen Titeln, die er stets an den Strand mitnahm, ohne sie allerdings lange zu öffnen.
Einen gewissen Ersatz für die Schwächung seines Ichs fand er in einem der herumlungernden Strandphotographen, der Aufnahmen von ihm in allen erdenklichen Stellungen und Kostümierungen machen mußte. Bald ragte Florian in Breeches, auf einem Felsblock stehend, mit mächtigem Profil in den wolkigen Horizont. Bald ließ er sich im Buddhasitz mit Handtuchturban als Inder aufnehmen. An einer entlegeneren Stelle des Strandes mußte der Künstler auch eine Aktaufnahme von ihm machen. Die Hand hatte Florian über die Augen gelegt und spähte seherisch in den Himmel. Auf diesem Bild fand Florian sich besonders gut getroffen. Mit Mühe nur hielt Juan ihn davon ab, daß er es an Jutta-Marie sandte.
Aber Unruhe und Spannung wuchsen mit jeder Woche. Er schlief kaum noch. Bedeutungsvolle Träume quälten aus dem Unterbewußtsein.
Eines Nachts war ihm, als stünde er engumschlungen mit der Geliebten auf dem steilabschießenden Felsrand der Insel. Er war des Lebens unsäglich müde. In ihm schwangen die berühmten Verse:
»Das Fleisch ist traurig, ach, und alle Bücher las ich«
– – – »an!« grinste eine luziferische Fratze, die Juan glich. Ihn gelüstete einzig danach, mit Jutta-Marie im keuschen Blau der leuchtenden Tiefe zu versinken. Zärtlich wie nie wand das Mädchen seine Arme um ihn und zog ihn hinab. Er fühlte ganz deutlich das kühle Gleiten durch die feuchte Luft. Als sie aber unten ankamen, fanden sie, wo eben noch ätherisches Blau lockte, schmutzig-gelbes, braunrotes Nebelgewölk. Und ebenso plötzlich hatte sich Jutta-Maries weiche Zärtlichkeit in wilde Aufregung gewandelt. Sie betastete seine Brust und sagte verliebt: »Du bist meine kleine, süße Freundin!« Er aber schmiegte sich verlangend, schmachtend an sie.
Verwundert, doch nicht unfroh, erwachte er. Es gab dunkelste Winkel seiner Erotik, die er sich am Tage nicht zu durchleuchten getraute. Nun stiegen eben im Traum aus der Verdrängung unterbewußte Wünsche.
Nach einiger Erwägung beschloß er, selbst Juan nichts von diesem Traum zu erzählen.
*
Die Freunde waren zurück in Berlin. In sehnsüchtiger Verzweiflung ersann Florian die gewagtesten Pläne, Jutta-Marie wiederzusehen. Allerdings führte er ihrer keinen aus.
In tiefste Nacht der Unkraft getaucht, stieß der Unglückliche blutrünstige Drohungen aus: »Man wirft einen wertvollen Menschen wie mich nicht mir nichts dir nichts beiseite! Noch dazu, wo ich, wie alle sagen, geniale Gedichte auf sie geschaffen habe! Sie hat mich belogen! Sie soll sich vor mir hüten! Ich gehe über Leichen.«
Mit kranker Spannung schaute er auf Juan, um die Wirkung dieser Androhungen zu erspähen und sich an diesen kärglichen Rest von Eindruckmachen zu klammern. Allein Juan wandte den Blick ab, um ein Lächeln zu unterdrücken.
Am meisten hatte Florian darunter zu leiden, daß alle Bekannten, denen er von seinen Beziehungen zu Jutta-Marie ausgeplaudert hatte, ihn häufig fragten, was seine Muse und sein Schaffen machten. Um sich nicht bloßzustellen, komponierte er ein zufriedenes, höchst vielsagendes und doch diskretes Schmunzeln, das ihm mit der Zeit immer überzeugender gelang: »O danke! Ich habe neulich ein Drama begonnen, das heißt eigentlich mehr ein Dramolett in der Art Hofmannsthals. Es fehlt nur noch eine gewisse Abrundung. Es soll die Essenz des gesamten Okkultismus bringen im Sinne der orphischen Mysterien. Alles natürlich auf einem höheren Plan gedacht!«
Die Leute verstanden nicht, was er meinte, erzählten darum aber seine Ankündigung nur um so achtungsvoller weiter.
Da endlich sagte Florian eines Tages zu dem Freunde, ohne daß sich etwas Besonderes ereignet hätte: »Du, Juan, ich spüre wieder die magnetisch-astralische Verbundenheit zwischen Jutta-Marie und mir! Ich weiß genau, daß sie wieder hier ist! Das heißt, ich habe tatsächlich keine Ahnung, wo sie ist! Wahrscheinlich denkt sie stark an mich und schämt sich ihres langen Schweigens. Willst du sie nicht mal anrufen? Weißt du, ich möchte mich aus Prinzip zurückhalten. Du kennst ja meinen Stolz, nicht wahr? Du kannst sie ruhig anrufen. Sie mag dich gern!«
Da er heimlich voll Hoffnung war, daß Juan ihm das Schwierigste, die Wiederanknüpfung, abnehmen möchte, lockte er trotz seiner Eifersucht mit schmeichelndem Köder, obwohl er bis dahin stets das Gegenteil behauptet hatte.
Juan, den diese Spiegelfechterei ärgerte, erwiderte grausam: »Nein, Florian! Du mußt bis zum Ende festbleiben! Nur durch Widerstreben wird man begehrenswert!«
*
Als Florian an diesem Abend, froher gestimmt durch gewisse Ahnung, seine Wohnung betrat, kam ihm Cordula schon im Flur zornig entgegen: »Ich verbitte mir von jetzt ab, daß Jutta-Marie bei dem Untermieter anruft! Was sollen die Leute von mir denken!«
Bunte Kreise drehten sich vor Florian: »Wer hat angerufen?«
»Kannst du nicht hören? Jutta-Marie! Sie hat sich für morgen zum Tee angesagt.«
Florian machte sofort kehrt, da es ihm unmöglich war, sich von Cordulas ärgerlicher Astralsphäre bedrücken zu lassen. Hatte er es nicht immer gewußt, daß Jutta-Marie ihn zuerst wieder aufsuchen würde? Seine frohe Ahnung den ganzen Tag über war also keine Wunschblendung! Das Band, das die jenseitigen Wesenheiten geknüpft hatten, wurde also nicht zerrissen!
Er stürzte ziellos durch die Straßen, die ein heißer Septembertag teuflischen Brodem von Menschen, Kehricht und Benzingasen ausdunsten ließ. So verhaßt ihm sonst dieser Schweißgeruch der großen Stadt war, heute abend federte er wohlgemut über heißen Granit und tonigen Asphalt.
Um dem astralischen Durcheinander all der Gierden und niederen Süchte, die sich über und zwischen dem Meer der Häuser befehdeten, zu entgehen, fuhr er irgendwo hinaus, wo noch dunkle Kiefern auf dürrem Sand, von den Polypenarmen der hungrigen Stadt verschont, ihre abendlichen Stämme golden ließen. Dort warf er sich zu Boden und griff in die heilige Erde. Wie nie fühlte er sich den Müttern drunten verhaftet! Beglückt spürte er schon den Strom quellen, der vom Erdhaften zur Geliebten über ihn hinweg bis in die obersten Himmel brandete.
Nach langen Wochen entstand da wieder ein Gedicht, zwar blaß, noch und weich, aber voll junger Hoffnung und zartem Jubel:
»Die bleichen Farben unserer Geißelstunden –
Wie waren wir dem Tode nah und schwach –
In schlanke Rhythmen sind sie eingebunden,
Und wir sind wieder übergroß und wach!«
Hastig aufgerafft, strebte er zum zweiten Male heim, fand Cordula glücklicherweise wach und trieb sie rücksichtslos an, seine Kleider, die er ohne Jutta-Maries Ansporn wieder hatte verfallen lassen, noch in der Nacht aufzufrischen.
Um sie anzustacheln, traf er sie geschickt an wundester Stelle: »Alle sagen, daß es deine Schuld ist, wenn ich abgerissen umherlaufe. Du bist eben keine Frau!«
Indem er solchermaßen kaltblütig in der schmerzlichsten Schwäre ihres Lebens wühlte, erreichte er, daß sie es infolge der aufpeitschenden Macht ihres Komplexes über sich brachte, den eigenen Mann für die verachtete Rivalin herauszustaffieren.
Am andern Tage badete Florian, wohl zum erstenmal in seiner Ehe mit Cordula, freiwillig. Er ging zu einer teuren Maniküre und ließ sich seine Nägel instand setzen. Unbekümmert um das Schicksal der Wirtschaftskasse, kaufte er Florsocken und eine modische Krawatte. Dann, nach vielen Hetzereien, saß er gegen vier, rasiert und gekämmt, immerhin mit Sorgfalt zurechtgemacht, beschaulich wartend auf dem Sofa seines sogenannten Arbeitszimmers.
Juan, der im Vorübergehen vorsprach, wurde von Cordula geöffnet. »Ist Florian zu Hause?«
»Ja.«
»Wo bleibt er denn?«
Cordula lächelte geheimnisvoll. »Gehen Sie nur in sein Zimmer! Er kann nicht aufstehen!«
Juan trat sehr neugierig näher und erblickte Florian, der mit abweisender Zurückhaltung bonzenhaft in einer Ecke des Sofas lehnte.
»Guten Tag, Florian!«
»Guten Tag.«
»Was ist denn? Willst du mir nicht die Hand reichen?«
»Entschuldige, lieber Freund, aber ich habe mir eben für teures Geld die Nägel machen lassen. Jutta-Marie kann jeden Augenblick kommen! Du siehst ein, daß du sofort wieder verschwinden mußt!«
»Warum hast du denn alle Fenster aufgerissen? Es ist ein förmlicher Wind im Zimmer. Du wirst dich erkälten. Nachher klagst du wieder über Gesichtsneuralgien in deinem Ätherleib!«
Florian verzog trotz des offenkundigen Hohnes keine Miene seines auf unnahbare Würde komponierten Antlitzes. Trocken bemerkte er: »Jutta-Marie behauptet, es röche bei uns immer nach kleinen Leuten. Darum habe ich selbst eine halbe Stunde gelüftet. Stell dir vor, es sollte zu Mittag Rindfleisch mit Wirsingkohl geben! Ich habe aber Milchreis mit Pflaumen bestellt. Dann kann es doch auf dem Flur nicht schlecht riechen, nicht wahr?« Er schmunzelte geheimnisvoll. Merkst du sonst nichts? Du rühmst dich doch einer feinen Nase!«
»Hm,« schnupperte Juan, »es duftet von weitem fast wie in einer katholischen Kirche.«
»Richtig geraten, mein Junge! Echt indischer Weihrauch mit Aloe, von Beatus! Die Stunde der obersten Weihen ist gekommen, verstehst du? Ich weiß, daß alles zwischen Jutta-Marie und mir tiefer und verwobener auferstehen muß. Ich weiß ferner, daß ich außerordentlich sein werde! Übrigens habe ich eine Bitte an dich! Cordula wollte mich mit Jutta-Marie allein lassen. Da man nun bei Frauen nie sicher ist, ob sie um vier halten, was sie um ein halb vier versprochen haben, so geh jetzt, bitte, gleich und nimm Cordula mit! Ich bringe dich nicht hinaus, du begreifst, nicht wahr? Ich habe mir jede Miene, jedes Wort, jede Attitüde genau überlegt, da jede Einzelheit von höchster Verantwortung ist! Das Dienstmädchen wird Jutta-Marie öffnen! Sie soll mich gleich beim Eintreten genau so erblicken, wie ich jetzt sitze!«
Dabei reckte er seinen Hals und studierte in einem alten Spiegel, der gegenüber dem Sofa an der anderen Wand hing, seine überlegene Weltmannspose.
Juan ging kopfschüttelnd hinaus. »Leb wohl, göttlicher Florian!«
Aber schon während er draußen auf Cordula wartete, die noch nicht angezogen war, beschlichen ihn ernstere Gefühle. Irgendeine Ahnung sagte ihm, daß jenes Komische an Florian zwar für seine Freunde sehr unterhaltend wäre, aber bedeutete es nicht auch einen Frevel, für den er keinen Namen wußte, wenn dieser genialische Titan sich wissentlich zum Strohmann erniedrigte, um eines flattrigen jungen Dinges willen? Traurig von unbekanntem Leid stand er wartend im dunklen Flur.
*
Am folgenden Nachmittag berichtete Florian sehr aufgeregt: »Noch nie habe ich mit Jutta-Marie ein so tiefes Gespräch gehabt! Übrigens werden wir uns nun doch wohl heiraten!«
Juan schaute empor zum Himmel.
Florian fuhr gereizt fort: »Ob du es glaubst oder nicht, es ist ihr fester Wille! Und ich sehe nicht ein – –«
»Und Cordula?«
»Ich lasse mich selbstverständlich scheiden! Cordula ist ja sowieso der schuldige Teil, denn jeder Psychiater wird mir bestätigen, daß sie krank ist und daß ich völlig gesund bin!«
»Dann hast du oder vielmehr dein guter Vater drei Frauen zu ernähren!«
»Cordula bekommt keinen Pfennig von mir! Ich bin doch nicht verrückt geworden!«
»Das Gesetz wird dich zwingen!«
»Ich pfeife auf solch ein verbrecherisches Gesetz! Ehe ich bezahle, lasse ich mich lieber pfänden! Du kennst mich nicht! Ich schieße mit meinem Armeerevolver auf den Gerichtsvollzieher! Ich gehe über Leichen, wenn es sein muß!«
»Du sprichst so oft von deinen hütenden Wächtergefühlen Frauen gegenüber! Empfindest du denn diese Gefühle nicht auch Cordula gegenüber, die du aus der Hut einer ehelichen Versorgung gerissen hast?«
»Wieso denn!« brüllte Florian, aufs äußerste in die Enge getrieben. »Ist es meine Schuld, wenn sie mit mir geflohen ist? Außerdem ist sie unzweifelhaft begabt. Sie kann unschwer einen lohnenden Beruf ergreifen.«
»Und dein Sohn?«
Florian spie aus. »Wie du weißt, hänge ich sehr an Pitti. Ich werde ihn unstreitig vermissen. Aber diese Gefühle kneife ich mir eben ab! Jutta-Marie geht vor! Sie hat übrigens ausdrücklich gesagt, wir würden Pitti später zu uns nehmen. Nur gegen ganz kleine, noch dazu fremde Kinder hat sie eine, wie du zugeben mußt, berechtigte Abneigung.«
Juan hatte es längst aufgegeben, Florian auf den Irrwegen der vom okkult-erleuchteten Standpunkt aus betrachteten Ethik zu folgen, und schwieg also.
Florian hingegen triumphierte: »Ich mache übrigens eine gute Partie! Jutta-Marie hat sich erkundigt. Sie bekommt mit einundzwanzig Jahren oder wenn sie sich früher verheiratet, sofort freie Verfügung über ein beträchtliches Erbe von seiten eines Onkels, der sie vergöttert. Wir nehmen natürlich eine sehr große Wohnung. Ich habe versprechen müssen, daß ich von nun an mehr auf Äußerlichkeiten bedacht sein werde. Ich müßte repräsentabler werden, meinte sie. Ich will also zunächst einmal tanzen lernen!«
»Dann kann man wohl zur Verlobung gratulieren?«
»Bitte, behandle diese Angelegenheit ernsthafter! Du verkennst Jutta-Marie! Sie hat neben dem Flächigen auch viel Tiefes! Ich hielt mich während ihres Besuches aus wohlüberlegter Berechnung sehr reserviert, und das wirkte genau, wie ich es wollte. Wir haben ein rein geistiges, sehr anregendes Gespräch über die zentrale Spaltung ihres Wesens geführt. Neben ihrer durch die Umgebung erzwungenen Seichtheit besitzt sie auch ein ehrliches Streben nach höherer Erkenntnis, das mich immer wieder rührt. Wir haben ausgemacht, daß sie zunächst einen Psychoanalytiker aufsucht.«
»Was? Du, ein prinzipieller Gegner der Psychoanalyse, schickst ein Mädchen, das du liebst, zu den von dir bekämpften Schwätzern?«
»Tja, weißt du, es kann ihr nichts schaden. Sie ist viel zu gesund! Und als Auftakt zur Geistigkeit ist etwas Analyse durchaus nicht zu verachten. Außerdem ist sie neugierig geworden. Und dann ist gerade auf diesem Gebiet mein Wissen sehr groß! Später wird sie natürlich eine okkulte Schulung unter meiner Leitung durchmachen, die den etwaigen Schaden der Analyse leicht paralysieren wird. Ich habe ihr bereits mehrere Bücher des Großmeisters mitgegeben!«
»Die du selbst nicht gelesen hast, du Hochstapler des Jenseits!«
»Famos, Juan! Hochstapler des Jenseits ist ausgezeichnet! Manchmal sagst du wirklich vorzügliche Sachen! Übrigens habe ich Jutta-Marie durch einen glücklichen Zufall, sagen wir lieber Fügung des Karma, jetzt fest in der Hand! Neulich ist in ihren Kreisen von dem Großen Feierlichen und von Beatus gesprochen worden. Sie entsann sich, daß ich Beatus kenne, und erzählte den Leuten, was sie von mir über ihn wußte. Sie hat großen Erfolg mit ihrer Erzählung gehabt und brennt nun darauf, Beatus' hochwertige Bekanntschaft zu machen. Nun locke ich sie mit der Möglichkeit, werde sie aber natürlich mit leeren Versprechungen hinhalten und kann dergestalt jederzeit einen Druck auf sie ausüben. Übrigens will ich gleich mal zu Beatus gehen und bei ihm vorarbeiten, daß er im Ernstfall Jutta-Marie mir zuliebe tatsächlich empfängt.«
Als Florian gegangen war, schaute Juan lange zum Fenster hinaus und dachte nach. Hatte er anfangs über die Gegensätze in Florians Persönlichkeit gelächelt, so stimmten ihn von einem gewissen Zeitpunkt an die Allzumenschlichkeiten seines sonderlichen Freundes traurig. Die Klüfte in Florians Seele, die eine Zeitlang von der Einheit des künstlerischen Schaffensrausches überbrückt schienen, klafften seit der sommerlichen Trennung von der Geliebten erschreckender denn je auseinander. Und das Mädchen? Nie hatte er deutlicher gespürt, daß sie mit Florian spielte. Wie lange noch?
Dennoch wollte er den Freund nicht mehr warnen. Er glaubte nicht, das Recht dazu zu haben, in die Verkettungen dieses Verhängnisses einzugreifen. Er würde auch, aller Vermutung nach, bei Florian nicht den geringsten Erfolg davongetragen haben. Mit fast körperlich empfundener Angst ahnte er, daß durch Florians Vermessenheit das Gericht herausgefordert wurde. Wen aber die Götter verderben wollen, den haben sie noch stets zuvor geblendet.
*
Aus irgendeiner übermütigen Laune brachte Jutta-Marie es fertig, daß Florian zu einem Ball im Hause Droste geladen wurde. Florian hielt diese Einladung für den ersten Schritt zur Verwirklichung seines Heiratsplanes!
Aufgeregt borgte er sich alles zu einem Ballstaat Erforderliche hier und dort zusammen. Denn Juan, der letzthin seine Sachen erst nach wiederholtem Mahnen und dann völlig verschmutzt wiedererlangt hatte, weigerte sich standhaft, sich noch ein Paar Seidensocken von Florian durchlöchern und seine Frackschuhe austreten zu lassen. Nach vielen dringenden Bitten und heiligen Versprechungen Florians gewährte er sie dann doch, zum allerletzten Male.
Selbstverständlich brachte ihm Florian die Socken ungewaschen und die Pumps mit Straßenkot bespritzt, breitgestampft und mit durchlöcherter linker Sohle zurück!
In gerechter Empörung schalt er den Freund. Wie gewöhnlich, versöhnte ihn Florian geschickt durch ein kindliches Eingeständnis seiner Schuld. »Du hast ganz recht! Ich bin zu nachlässig auf dem irdischen Plan. Ich bin dir sogar dankbar, daß du mich tadelst. Aber es soll bestimmt nicht wieder vorkommen!«
Juan mußte trotz seines Ärgers lächeln. »Gewiß nicht!«
Durch dieses Lächeln ermutigt, schlug sich Florian gewandt auf ein anderes Gebiet. Über sein eben noch reuiges Gesicht breitete sich im Nu ein anmaßendes Leuchten von geradezu ahrimanischer Überheblichkeit. »Gestern war ein großer Tag! Die Geladenen alle hochadlige Leute mit klangvollsten Namen! Du hättest freilich nicht hingepaßt! Aber ich fühlte mich dort in dem mir einzig gemäßen Milieu, da ich ja, wie du dich erinnern wirst, von Jugend auf an diese Kreise gewöhnt bin. Ich habe mich mit Jutta-Maries Vater sehr angefreundet. Die Mutter hielt sich anfangs ein wenig zurück. Als ich ihr dann vorlog, ich arbeite an einer Metaphysik des weiblichen Beines, und ihr die verschiedenen Kategorien entwickelte, zeigte sie sich hernach recht interessiert.«
»Wie in aller Welt kommst du denn auf diese Idee?«
»Was ist denn dabei? Es ist mir so nebenher eingefallen!«
»Ich finde es gesellschaftlich äußerst gewandt von dir, daß du Frau von Droste von Frauenbeinen unterhältst! Hoffentlich hat sie nicht allzuviel davon verstanden!«
»Wieso denn? Sie soll allerdings sehr schwerhörig sein!«
»Nun, dann wird ihr Wohlwollen vermutlich nur daher rühren, daß du dich längere Zeit mit ihr beschäftigt hast! Schwerhörige geben immer ein dankbares Publikum ab!«
»Du mußt stets alles ins Lächerliche ziehen! Ich versichere dir, daß Frau von Droste zwar etwas erstaunt war, aber dann mit vollstem Verständnis die Einteilung der Frauenbeine in die verschiedenen Kategorien verfolgte. Nachdem ich übrigens die jungen Leute, die dort verkehren, gesehen habe, fürchte ich nichts mehr von ihnen. Menschen meines Schlages, weißt du, sind jenen so durchaus überlegen! Da war nicht einer, mit dem man über ein gutes Buch hätte plaudern können. Man sprach ausschließlich von neuen Bostonschritten!«
»Hast du etwa dort Lyrik vorgetragen?«
»Freilich! Warum denn nicht? Wenn Jutta-Marie mich darum bat?«
»Hast du dich nicht gescheut, deine Verse vor diesen profanen Ohren zu entweihen?«
»Nein, weißt du, da bin ich anderer Ansicht! Es kann diesen Leuten nicht schaden, wenn man sie auch nur vorübergehend zwingt, einmal aufzuhorchen. Vom okkult-pädagogischen Standpunkt aus ist kein Gran des Geistes umsonst vertan. Irgendeinmal wirken alle geringfügigen Anstöße zusammen und zerbrechen die harte Kruste der Gewöhnlichkeit bis zur Erweckung! Übrigens waren alle sehr aufmerksam.«
Wieder ängstigte sich Juan wegen des Freundes kyklopischer Verblendung, wenn er sich vorstellte, wie die jungen Herren vom Bostonklub den Begeisterten belächelt haben mochten, der ihren höchstens an die Lyrik elfter und zwölfter Musen gewöhnten Ohren die ekstatische Mystik seiner Hymnen vorröchelte.
Mit teilnahmsvollem Entsetzen sah Juan, daß die Kluft, die zwischen der Wirklichkeit und Florians innenerzeugtem Liebesleben aufgerissen war, immer klaffender gähnte. Er hegte das sichere Gefühl, daß Jutta-Marie, nur um ihren Bekannten das seltsame Tier, den Dichter Windmacher, vorzuführen, Florian geladen hatte und vielleicht eine Stunde später mit ihren Intimen über ihn lachte. Aber der Unglückliche, von neuem widerstandslos verliebten Chimären verfallen, blähte sein schwaches Ichgefühl zu riesigen Dimensionen.
Erneut quälte Florian alle, die er traf, in pathologischer Mitteilsamkeit mit Berichten über die Phasen seines Verhältnisses zu Jutta-Marie. Er war kaum noch zu ertragen, zumal die eingebildete Aussicht auf eine baldige Verbindung seine Überhebung zur Unausstehlichkeit verdickte.
Hinzu kam, daß Florian, verblendet durch seinen Scheinerfolg auf jenem Hausball, allmählich die Hebel ansetzte, um den auf ihm lastenden Felsblock seiner Ehe von sich abzuwälzen. Alle dem Hause Windmacher Befreundeten schüttelten die Köpfe. Viele bemitleideten Cordula und ergriffen ihre Partei. Wie von jeder Volte seiner Liebe, wurden alle nun auch vom Stande seines Ehekrieges ausführlichst unterrichtet. Jeder der streitbaren Gatten suchte, wie üblich, Hilfstruppen und fand sie. So tobte die Massenschlacht hüben und drüben.
*
Um sich für Jutta-Maries mannigfache Überlegenheiten Gegengewichte herzustellen, begann Florian nunmehr, ungeachtet aller Scharmützel mit Cordula und ihrem Anhang, seinen Dichterruhm zu pflegen. Bisher nämlich hatte er in sorglosem Schlendrian alles gehen lassen, wie es wollte.
Neuerdings erzwang er von der nicht mit Unrecht widerstrebenden Cordula, daß in seiner Wohnung Leseabende veranstaltet wurden, zu denen ein seltsam gemischtes Publikum erschien, das mit unendlicher Geduld Florians schweren Versen bis zu zwei Stunden lauschte. Er fing dadurch an, in gewissen Kreisen bereits bekannt zu werden. Seine Kunst wirkte namentlich auf Frauen. Spürten sie doch hinter den rätselvollen Mysterien seiner Worte den Zauber einer bis zum Wahn übersteigerten Erotik, die blendete und verführte.
An diesen Abenden war Florian von erschreckender Dämonie. Im verdunkelten Zimmer saß er an einsamem Tischchen, auf dem eine tiefverschleierte Lampe stand. Sein bleigraues Gesicht lag mit geschlossenen Lidern, hinter denen die Augen hervorzuquellen drohten, weit zurückgefallen. Von seinen Lippen rasten, mit hierophantischer Weihe gesprochen, die wie aus höheren Welten verirrten Töne seiner Ekstasen.
Bisweilen erschien, begleitet von ihrer Mutter, auch Jutta-Marie zu diesen Abenden. Keck und sieghaft saß das Mädchen neben der ahnungslosen Gütigen, die nie darauf verfallen wäre, daß Florians jenseitige Orgiastik ihrer jungen Tochter galt.
Dennoch hatte Florian im Innersten das klare Gefühl, daß seine Beziehungen zu der Geliebten sich lockerten. Nicht nur, daß sie sich, je mehr Fortschritte seine Lösung von Cordula machte, desto zurückhaltender über die beabsichtigte Heirat ausließ, sie hatte neuerdings überhaupt nie mehr Zeit für ihn. Bälle, Premieren, Tanzturniere und Reiterquadrillen jagten einander. Kaum daß sie sich eine schnell verflogene Stunde allein im Tiergarten ergingen. Von Psychoanalyse oder gar okkulter Schulung war keine Rede mehr! Die entliehenen Traktate des Großmeisters las sie ebensowenig, wie Florian sie gelesen hatte. Aber sie lagen daheim auf dem Tisch ihres Boudoirs, wo sie Sensation bei den jungen Herren vom Bostonklub hervorriefen.
Nun nahte Weihnachten, und damit ergaben sich für Jutta-Marie Entschuldigungen auf Entschuldigungen.
Florian hingegen, wie verkrampft gegen die unaufhaltsame Erbarmungslosigkeit des Schicksals, baute dem Palast seiner Liebe immer neue Säle und ganze Flügel an. Ein lindes Wort, ein paar hastige Zeilen, ein Telephongespräch oder gar ein flüchtiger Kuß genügten, um das große Rad seines Taumels in neue Umdrehungen zu setzen.
Hier ist noch zu berichten, daß Cordula, gereizt durch Florians brutale Art, eine Scheidung zu erzwingen, ihm ganz gegen ihre duldsame Gepflogenheit untersagte, Jutta-Marie weiter in der gemeinsamen Wohnung zu empfangen. »Kommt es zum Prozeß, lasse ich Jutta-Marie als Zeugin für deine Schuld laden. So rücksichtslos du auch bist, das wirst du dir vielleicht doch noch einmal überlegen!«
Und die Mühle des täglichen Heimkrieges sichelte mit ihren Riesenflügeln furchtbare Wunden in Florians zusammengeschmolzenes Glück. Eine unerträgliche Zerrissenheit drohte, ihn wieder auseinanderzuspalten. Oft war er verdrossen bis zum Sterben. Dennoch peitschten Schaffensekstasen immer von neuem die todmüde Seele des gepeinigten Peinigers hoch. In wahnsinniger Folge entstanden aus Qual und Sehnsucht die edelsten Gebilde.
Als ob das Schicksal ein Halt hätte gebieten wollen, unternahm da Cordula, von plötzlich erwachendem, vorweihnachtlichem Muttergefühl getrieben, eine Reise nach Reitzenau, um ihren Sohn wiederzusehen.
Jutta-Marie ließ sich erst nach einigem Widerstreben überreden, Florian zu besuchen. Geschah es aus Neugier, aus Lust an der Gefahr, die von Cordula, wie sie wußte, drohte, oder war es, daß Florians Fieber die längst Weitergeflatterte noch einmal hinriß? Vielleicht hielt sie es auch für lohnend, diese Neigung, die ihren weltlichen Wert erhöhte, durch eine gelegentliche Abzahlung hinzufristen.
Florian setzte das Letzte an Hoffnung auf dieses so langersehnte Alleinsein. Noch einmal sollte eine Stunde quellen, wie er sie in jener geheimnisvollen Nacht im Jagdhaus erlebt hatte. Seine ausgezehrte Liebe, die wie immer nur im Wesenlosen zu leben verdammt schien, hungerte nach Nahrung! Seine Hände zitterten, wenn er daran dachte, daß sie zum Greifen und Streicheln geschaffen waren und es, ach, so selten durften!
*
Allein im letzten Augenblick sagte Jutta-Marie ab! Und auch Florian spürte nun, daß dem kärglichen Rest seines Glückes eine große Gefahr genaht war. In letztem Aufbäumen gegen das Nichts, das ihn wieder zu verschlingen drohte, ließ er alle Hilfsquellen, die seiner vielgewandten Seele zu Gebote standen, noch einmal in fiebriger Angst spielen.
Er sandte Briefe an Jutta-Marie, die an leidenschaftlicher Sehnsucht und mystischer Liebestrunkenheit das Unerhörte leisteten. Allein alle diese Briefe blieben unbeantwortet!
Er schuf aus gräßlicher Pein des Herzens verzückte Gedichte, die weder Lob noch Tadel der Geliebten erhielten.
Er veranstaltete Vortragsabende wie einst. Allein Jutta-Marie erschien nicht!
Am Telephon ließ sie sich zumeist verleugnen!
Wieder stand er an kalten Winterabenden vor ihrem Hause, viele Stunden hindurch, wie zu Beginn seines Rausches. Im Tageslicht schämte er sich dieses Wartens, denn Jutta-Marie hatte sich sein Auflauern, als er sie einmal in der Haustür abfing, entrüstet verbeten. Er wünschte um alles nicht, sie zu erzürnen.
Auch im Institut sah er sie nicht, da Jutta-Marie nicht mehr an den Kursen teilnahm. Aller Möglichkeiten beraubt, siechte er. Abgemagert, abgerissen, bleicher denn je, die Nase gigantisch gezackt, die flackernden Augen gräßlich geweitet, lebte er einem Schatten gleich. Seine Liebe wollte die Schwingen regen und fand, ach, keine Luft zum Fliegen!
Seherisch schaute er in weinenden Strophen das Unaufhaltsame voraus:
»Doch ach, wenn Frühling brandet an das Land,
Wo wirst du weilen, weiße Wunderhand –?«
Die Nächte, die sonst seine Sinne der Fesseln entbunden hatten, wurden ihm feind! Nicht mehr brückten sie über Klüfte des Raumes, sondern Schlaf floh, und Vernichtung quälte.
Mit der köstlichen Schwere Hölderlinscher Wahngebilde klagte es da aus ihm:
»Duftlos dumpfen die Lauben des Abends,
Und die Sterne sind kalt und fern.«
Endlich gab ihm die Verzweiflung einen Wink. Er erinnerte sich an Jutta-Maries Ehrgeiz, Beatus kennenzulernen. Er suchte den Meister auf. Seine Zerfallenheit stimmte den Gütigen, der bisher nicht bereit gewesen war, das Mädchen zu empfangen, um. Florian schrieb sofort an Jutta-Marie. Die Antwort war eine Einladung zum Tee! Sie würden allerdings nicht allein sein. Sie hätte Besuch von einer Freundin, und Florian möchte Juan zur Gesellschaft für die Freundin mitbringen.
Florian litt darunter, daß die Geliebte offenbar ein Alleinsein mit ihm zu meiden suchte.
Aber wer weiß! Ein teuflischer Plan zuckte in seinem kranken Denken auf. Vielleicht duldete es die Schickung, daß er der Freundin gefiel? Er wollte alles daransetzen, sie vor Jutta-Maries Augen zu gewinnen! Er erinnerte sich, daß sie ihm einmal gestanden hatte, sie hätte in ihrem Leben viel unter Eifersucht zu leiden gehabt.
Der Tag kam. Florian bemühte sich trotz tiefster Ungewißheit, den Sorglosen zu spielen, und machte Jutta-Maries Freundin unverblümt den Hof. Doch erzeugte sein falsches Spiel eine solche Gezwungenheit, daß sich über die Mädchen und Juan eine Beklommenheit legte.
Florian, von der Sucht besessen, sich um jeden Preis auszuzeichnen, sich wieder Wert zu schaffen, riß rücksichtslos die Führung der Unterhaltung an sich und sprach in sprudelnder Beredsamkeit. Er merkte, daß er auf Jutta-Maries Freundin, obwohl sie wahrscheinlich auf ihn vorbereitet war, einen gewissen Eindruck nicht verfehlte. Im Nu saß er im Sattel und steuerte in geschickten Sprüngen auf Dichtung zu, weil er hoffte, bald seine letzten Verse sprechen zu können. Die mußten die Geliebte rühren, wenn anders sie nicht aus Stein war. Denn alle, auch die ihm feind waren, gerieten in Verzückung über »die duftlos dumpfenden Lauben des Abends«!
Es fügte sich aber, daß Jutta-Marie, gelangweilt durch Florians fortwährende Monologe, Juan in eine Fensternische zog. Und da, während Florian scheinbar sorglos plauderte und in Wirklichkeit nur nach den beiden hinblickte, war ihm das Glück hold. Die Freundin teilte ihm im Gespräch mit, daß sie beide am zweiten Feiertag bei einer Frau von Wensicken zum Tee eingeladen wären. Florian kannte zwar Frau von Wensicken nicht, aber er wußte, daß sie in Beziehungen zu Susanne Bentheim stand. Sofort schoß ihm durch den Kopf, daß er Jutta-Marie dort überraschend sehen könnte. Mochte es immerhin eine Untreue mit Susanne kosten, die ihm noch von seiner Indiskretion am Telephon her zürnte.
Nach einer Weile klingelte Jutta-Marie, und ein Dienstmädchen erschien mit vier Gläsern voll irgendeinem heißen, dampfenden Getränk.
Florian, der aus okkulten Gründen nie Alkohol zu sich nahm, da eine Chela natürlich nicht die Schärfe der Durchdringung durch berauschende Gifte mindern durfte, lehnte wie immer ab.
Barsch befahl Jutta-Marie dem Mädchen: »Setzen Sie nur das Glas hin, Frieda!«
Als das Mädchen gegangen war, herrschte sie Florian an: »Ich habe den Punsch eigenhändig zubereitet. Ich wünsche, daß du mir zuliebe davon kostest!«
Ihre Augen drückten eine grausame Erwartung aus.
Florian sagte zögernd, indem er im Zimmer herumschnupperte: »Ich bin allein vom Duft des Rums schon schwindlig! Ich würde gegen meine heiligste Überzeugung handeln, wenn ich davon tränke! Ich bitte dich, erlasse es mir!«
Jutta-Marie forderte ihn stärker heraus: »Wenn du mich liebhast, opferst du mir auch deine heiligsten Überzeugungen!«
Sie sprach diese Worte mit vielem Hohn.
Juan schaute auf das Gesicht seines Freundes, in dem sich ein heftiger Kampf abspielte.
Florian bat: »Ich werde die Nacht nicht schlafen können und mehrere Tage die furchtbarsten Stirnhöhlenschmerzen haben nebst abseitigen Zuständen des transzendentalen Ichbewußtseins!«
Jutta-Marie lachte. »Ich befehle es dir zum letzten Male!«
Da ergriff Florian zu Juans Schmerz das Glas und nippte daran. Weil der Schluck wahrscheinlich zu klein gewesen war, verschluckte er sich und hustete, als ob er ersticken sollte. Jutta-Marie schlug ihm jungenhaft derb auf den Rücken. Da ließ das tobende Husten nach.
Durch Florians soeben bewiesene Schwäche übermütiger geworden, zerrte Jutta-Marie ihm die heute sorgfältig gekämmten Haare durcheinander, so daß sie von seinem gewaltigen Schädel abstanden. Seine Stirn sah aus wie eine Pollandschaft, von Strahlenbüscheln des Nordlichts umgeben. Die Mädchen lachten unbändiger, und Florian gab sich seiner sonnigen Art gemäß zu allem Unfug würdelos her.
Jutta-Marie rief ihm wie einem Hund zu: »Komm her, Florian!«
Er gehorchte.
»Setz dich auf den Teppich zu meinen Füßen!«
Er tat es, überselig, daß sie augenscheinlich ganz wiedergewonnen war.
Da nahm sie drollig eines der vielen weichen Kissen, die den Diwan schmückten, und puffte es derb auf Florians Schädel, indem sie es nach Art bäuerischer Hauben auseinanderzupfte. Die groteske Disharmonie zwischen Florians durchfurchtem Denkerantlitz, über das Urweltschauer gezittert hatten, und der närrischen Vermummung war in der Tat überwältigend lächerlich.
»Du siehst aus wie ein altes Bauernweib!« jubelte sie.
Sehr glücklich stimmte Florian in das allgemeine Gelächter ein. Dies war ein äußerst gelungener Nachmittag!
Angewidert und für des Freundes Würde leidend, schaute Juan schmerzlich drein. Auf dem Heimweg machte er Florian Vorhaltungen, die dieser als philiströs abwies. Dennoch war ihm unbehaglich zumute! Er fühlte nur zu gut, daß es um seine Sache nicht zum besten stand.
Wirklich hatte Florian die Sünde wider seinen Ätherleib bitter zu büßen. Für mehrere Tage unbrauchbar, versah er seinen Dienst wie ein Nachtwandler. Er erklärte Juan seine Zustände folgendermaßen: »Du verstehst, nicht wahr? Der Ätherleib ist weit über den physischen verrutscht, weil die wenn auch geringe Menge Alkohol einen besonderen Ätherleib gebildet hat. Das aber verursacht eine völlige Verschiebung auch im Astralischen. Dazu kommen unerhörte Spannungen im Gehirn! Da ist eine Blase, die platzen will, weißt du? Ich fühle deutlich, daß ich, wenn sie einmal platzt, wahnsinnig werden muß. Du kannst dir das wahrscheinlich kaum auf dem physischen Plan vorstellen. Bedenke nun, was ich zu leiden habe, da ich ja mit dem Hellsehen bis zum Ätherischen vorgedrungen bin! Sollte ich es nicht mehr aushalten können und jetzt gleich einen Schreikrampf bekommen, so wundere dich, bitte, nicht! Wir sind ja unter uns!«
Diese Sturmzeichen wurden Juan immer unheimlicher. Da Cordula in Reitzenau weilte, verbrachte er mit Florian den Weihnachtsabend. Er hatte eine Freundin dazu geladen, und obwohl er taktvoll bemüht war, Florian seine behagliche Stimmung nicht allzusehr fühlen zu lassen, ging Florian in böser Verfassung nach Hause. Denn er hatte gesehen, daß die beiden Einfachen das Glück wie selbstverständlich in ihre unkomplizierten Hände nahmen, während ihn die Verschiebung der höheren Lagen seiner okkulten sieben Leiber trotz starker Mittel keinen Schlaf finden ließ.
Dennoch stattete er am ersten Weihnachtstag Susanne einen Besuch ab, in dessen Verlauf er es erreichte, daß Susanne mittels eines Telephongespräches ihm die gewünschte Einladung von der etwas erstaunten, aber gutwilligen Frau von Wensicken besorgte.
*
Gleich als Florian am anderen Tage den Salon der Frau von Wensicken betrat, erbleichte er. Denn er erblickte den Schriftsteller Nießnutzer, seinen gefürchteten, unerreichbaren Nebenbuhler in der Kunst gesellschaftlichen Eindruckmachens. Nießnutzer saß natürlich mit seinem anmaßendsten Gesicht neben der ebenso reifen wie schönen Hausherrin, die Florian ausnehmend gut gefiel.
Als letzte Gäste kamen Jutta-Marie und ihre Freundin. Als sie Florian stirnrunzelnd die Hand gab, schaute sie ihn mit einem Blick an, der all seine gutgespielte Harmlosigkeit zuschanden machte. Er setzte sich, etwas bleich, ihr gerade gegenüber. Er hungerte danach, in ihr heute besonders reizendes Antlitz zu starren und ein paar vertraute Worte mit ihr zu reden.
Sie aber sah ihn gar nicht, sie sah auch nicht Frau von Wensicken noch einen der übrigen Geladenen, sie sah nur Nießnutzer, der durch einen Herrn und die Dame des Hauses getrennt von ihr saß. Nießnutzers kecke Blicke strahlten, unbekümmert um die wertvolle Gönnerin an seiner Seite, in Jutta-Maries blaue Augen. Nachdem sie sich eine Weile angelächelt hatten, gerieten sie, indem sie sich weit vorbeugten, ohne Scheu vor den erstaunten Zuhörern, in eine bis zur Ungezogenheit private Unterhaltung.
Die Gäste begannen bereits, ihren Spott über das Paar zu gießen. Frau von Wensicken rückte unruhig hin und her und versuchte, Nießnutzers Stimme durch eine aufgeregte Lustigkeit zu übertönen. Florian, kreidig im düsteren Antlitz, mühte sich ab, den harmlos Vergnügten zu spielen. Er hielt an seiner alten Taktik fest, Jutta-Maries Freundin gefallen zu wollen. Es war grauenhaft zu sehen, wie die Klüfte und Risse der Sorge auf seinem steinalten Angesicht von den erzwungenen Falten künstlichen Grinsens durchfurcht wurden.
Die beiden Jungen, Schönen aber leuchteten einander in die Augen, als ob sie in einer abgesonderten Welt lebten, nichtachtend des Höhnens und Tuschelns der anderen.
Jemand legte Platten auf das Grammophon, und man tanzte. Florians Qual wurde unerträglich. Nießnutzer gab Jutta-Marie, mit der er von manchem Turnier her eingetanzt war, überhaupt nicht frei! Bald hörten die anderen Paare auf, da sie sich mit Nießnutzer und Jutta-Marie nicht zu messen vermochten. In Ehrfurcht oder in Neid sahen alle dem Gleiten und Wellen der beiden Untadeligen zu.
Zur Überraschung der Freunde des Hauses wagte es Nießnutzer, sich gar nicht um Frau von Wensicken zu kümmern, die fassungslos durch die Zimmer rauschte und hörbar Türen schlug.
Staatsanwalt Herzig raunte in witziger Weise seiner Dame zu: »Dieser Nießnutzer hat wirklich Schneid! Sein neuestes Buch ›Die Nächte des Alkibiades‹ kommt ihm mindestens auf drei Mille Geldstrafe zu stehen! Dabei habe ich die Prozeßkosten und Anwaltsgebühren noch nicht einmal mitgerechnet. Er sollte lieber Frau von Wensicken herumdrehen, wenn sie ihm auch schwerer fällt!«
Die Dame kicherte vergnügt über Herzigs Scharfsinn.
Machten Nießnutzer und Jutta-Marie eine Pause, wagten sich die andern wieder zum Tanz vor. Dann wandelte Florian, von tiefster Unrast getrieben, wie im Traum sicher durch die Paare bis zu jenem Raum, wohin sich Jutta-Marie und Nießnutzer zurückgezogen hatten. Düster mahnend, schoß er ab und zu einen flackernden Blick auf die beiden, so daß sie gezwungen waren, wieder zu tanzen, um ungestört plaudern zu können.
Florian geriet endlich auf den tollkühnen Gedanken, Jutta-Marie aufzufordern. Er wollte ihr ja nicht zumuten, mit ihm zu tanzen. Aber er mußte ein paar Worte mit ihr sprechen, oder ihm würde die Brust zerspringen.
Er schob sich also mit finster zusammengekniffenen Lippen bis zu jenen durch und machte eine stumme Verbeugung vor Jutta-Marie, die, kokett die Hände auf die schmalen Hüften gestützt, über Nießnutzers Erzählungen lachte.
Als Florian vor ihr stand, sagte sie: »Lieber Herr Windmacher, alles können Sie von mir verlangen, nur das nicht!«
Damit reichte sie Nießnutzer die Hand, denn es war gerade » Sous les Ponts de Paris« aufgelegt.
Da ihm solches widerfuhr, glaubte Florian, er müsse irgend etwas Verzweifeltes tun. Sollte er Nießnutzer niederschlagen, oder sollte er die Fayenceteller, die die Wände schmückten, Jutta-Marie vor die Füße schmettern? Sinnlos vor Kummer, hielt er es dann für das Geeignetste, Jutta-Maries Freundin, die unbeachtet in einem Winkel dem Tanz zuschaute, um einen Boston zu bitten. Wie zu einem Ringkampf an die Unglückliche, die er herausgefordert hatte, gekrampft, stampfte er, ein Albatros im Ätherischen, aber ein grotesker Pelikan auf dem Parkett, den dürren Geierhals gereckt, die Nase wie ein Segel schräg gerichtet, außerhalb des Taktes seiner Tänzerin irgendwo auf oder zwischen die Füße. Das Mädchen empfahl sich, sobald es der Anstand gestattete, unter einer Entschuldigung.
In diesem Augenblick glitt Nießnutzer mit Jutta-Marie an Florian vorüber, der sich den Schweiß von der Stirn trocknete. Sie sprachen Französisch, und Florian vernahm, daß Nießnutzer, indem er ihn frech ansah, ungefähr sagte: » Comme une pie boiteuse!«
Er verstand nicht, was das hieß, aber er wollte zu Hause nachschlagen! Wehe dem schuftigen Burschen, wenn es etwas Beleidigendes war! Er würde ihn so züchtigen, daß er es nimmer vergaß!
Als er in großer Erregung aus dem Zimmer ging, fiel sein Blick durch karmische Fügung gerade auf die reichhaltige Bibliothek des Hauses. Ein Dämon zeigte ihm den gewaltigen Rücken des französisch-deutschen Sachs-Villatte! Er wollte das Lexikon gerade herausnehmen, um sich zu überzeugen, ob Nießnutzer ihn verhöhnt hätte. Da faßte er alle Würde zusammen und verschob die Feststellung auf später. Nießnutzer entrann seiner Rache nicht!
Unschlüssig harrte er noch eine Weile. Dann raste er, ohne sich von der Hausherrin zu verabschieden, aus dem Zimmer und schmetterte die Tür ins Schloß.
*
Was Florian in der Nacht, die auf diesen Nachmittag folgte, durchmachte, hat er niemand mitgeteilt. Es mag genügen, daß er mittags zu Juan ging und zu ihm sagte: »Heut nacht hab' ich mit Jutta-Marie bereits gebrochen!«
»Was soll das heißen! Was ist denn geschehen?«
»Nichts!«
»Du siehst todkrank aus, mein armer Junge! Was fehlt dir?«
»Es gibt Dinge, lieber Juan, die so intim sind, daß man auch zu den vertrautesten Freunden nicht davon sprechen darf! Es muß dir genügen, wenn ich dir sage, daß der Engel meiner Seele, dem ich unbedingt gehorche, mir heut nacht die Erleuchtung gegeben hat, daß ich mit Jutta-Marie brechen muß, wenn ich nicht den Verstand verlieren will!«
»Hast du dir überlegt, was aus deinem Schaffen werden soll, wenn sie nicht mehr in deinem Leben ist?«
»Ich fürchte mich vor nichts! Ich fühle jetzt, wo ich innerlich schon mit ihr gebrochen habe, daß der Strom weiterfließt. Allerdings werde ich ganz andere Sachen machen. Die karmische Schuld, die ich durch mein Leid büße, besteht darin, daß ich zu subjektiv, zu egozentrisch gelebt habe. Ich muß breiter werden, objektiver!«
»Du sagtest, daß nichts zwischen euch vorgefallen ist. Warum willst du dann mit ihr brechen?«
»Weil ich ihr nicht den Triumph lassen will, lassen kann, mit mir zu brechen! Verstehst du das nicht? Aber du bist viel zu einfach für solche okkult-ethischen Notwendigkeiten! Ich will Herr über mein Schicksal bleiben! Und meine Rache für ihren dummen Hochmut soll einzig und allein sein, daß ich, Florian Windmacher, Jutta-Marie von Droste den Laufpaß gebe, wenn es mir paßt!«
Bei diesen Worten sah er so grimmig aus wie der Colleone zu Venedig.
Juan, dem ebensosehr um Florians Schaffen wie um seine Beruhigung bangte, denn er fühlte, daß Florians Seele bis zum Brechen gespannt war, überlegte einen Augenblick und lenkte dann ein: »Handle nicht in Übereilung! Das Schicksal jedes, auch des größten Gefühls ist ein allmähliches Abklingen. Wenn dich Jutta-Marie nicht mehr lieben kann, so ist das kein Verbrechen! Du als Erleuchteter und als Eingeweihter solltest dich schämen, aus Rachsucht zu handeln. Für dich mehr als für alle anderen ziemt sich Güte und Verstehen!«
»Ich danke dir, lieber, guter Freund!« bebten Florians Lippen. »Was soll ich tun?«
»Versuchen, deine fordernde Liebe in entsagende umzuwandeln!«
Florian schwieg lange. Er kämpfte einen harten Kampf. Schließlich bat er: »Da ich mit ihr gebrochen habe, mußt du zu ihr gehen und uns versöhnen!«
Juan, dem vor allem Florians Kunst am Herzen lag, antwortete, ohne zu rechten: »Wenn du willst, gern!«
»Sie wird sich in dich verlieben!« flammte Florian verzweifelt.
»Lieber Junge, sie ist mir heilig, solange nicht alles zwischen euch zu Ende ist.«
»Verzeih, Juan! – Aber ich stelle als erste Bedingung, daß sie verspricht, mich zu achten, wie es mir gebührt!«
»Laß das nur meine Sorge sein! Ich werde tun, was in meinen Kräften steht.«
»Erlaube mal, Juan, die Leitung der Unterhaltung mußt du schon mir überlassen!«
»Das verbietet mir meine Würde! Ich meine, ich wollte dir nur einige ganz einfache Direktiven geben.«
Florian sprach über tausenmal erörterte und zerlegte Dinge bis tief in die Nacht hinein. –
Am nächsten Morgen verabredete Juan mit der sehr erstaunten Jutta-Marie, daß er sie am Nachmittag besuchen sollte. Er ging zu Florian, der im Dienst war, und schrieb ihm eine kurze Nachricht auf den Kalender.
Als er am Nachmittag gerade aufbrechen wollte, stürzte Florian die Treppe hinauf und zog mehrere Bogen Aktenpapier, die eng beschrieben waren, aus der Brusttasche: »Gott sei Dank, daß ich dich noch antreffe! Ich fürchtete schon –«
»Wir haben doch alles besprochen!« sagte Juan etwas ungeduldig.
»Ich konnte wieder nicht schlafen und habe in der Nacht das ganze Gespräch, das du mit Jutta-Marie haben wirst, ausgearbeitet, wie ich es mir ungefähr denke. Hier, Seite 1 und 2, das harmlose Exordium! Du mußt natürlich meine Fragen genau auswendig lernen! Das ist ja nicht schlimm, nicht wahr? Wirst du auch geschickt genug sein, Jutta-Marie dahin zu bringen, daß sie ungefähr antwortet, wie ich es angesetzt habe? Das ist nämlich die Kunst dabei! Und du bist leider sehr undifferenziert!«
Juan mußte lächeln.
Ohne sich stören zu lassen, fuhr Florian fort: »Seite 3 und 4 enthalten die Bedingungen, unter denen ich gewillt bin, unser Verhältnis auf der Basis einer gleichberechtigten Freundschaft fortzusetzen. Die sind besonders wichtig! Die mußt du dir gut einprägen! Seite 5 steht, was sie versprechen muß, falls sie darauf eingeht, und Seite 6 habe ich Worte des müden Abklingens entworfen, falls sie sich weigert.«
»Armer Florian, ich muß dich enttäuschen! Ich kann nicht eine Zeile Prosa auswendig behalten. Entweder du vertraust mir und legst alles in meine Hand, oder du gehst selbst zu ihr!«
Traurig ließ Florian das Konzept sinken: »Ich begreife dich nicht. Was ist denn dabei, sechs Seiten Prosa zu behalten? Im übrigen, wie oft habe ich mir Gespräche vorher aufgezeichnet, und alles kam dann, wie ich es wünschte. Allein, wie du willst! Ich bitte dich, nur zu bedenken, daß du mein Schicksal in deinen Händen hegst! Vertritt meine Sache gut! Sag ihr die Wahrheit! Schone sie nicht! Du verstehst es ausgezeichnet, grob zu sein! Vor allem schmeichle ihr nicht, wenn sie dir auch, wie ich weiß, gut gefällt! Erkläre ihr als mein bester Freund, der mich genau kennt, was sie an mir verliert! Ich mache dich für alles, was du sprichst, verantwortlich! Denk an dein Kamaloca! Und nun geh! Stell mir, bitte, ein paar Zigaretten in die Nähe des Sofas! Ich warte hier auf deine Rückkehr.«
*
Juan ging.
Nachdem er Jutta-Marie ohne Umschweife einige Deutlichkeiten über ihr frivoles Spiel mit Florians zartem Gemüt gesagt hatte, die sie schmollend anhörte, gestand sie ihm auf seine Frage nach ihren Gefühlen für Florian: »Mein Gott, ich schätze ihn als Mensch und Dichter sehr hoch ein. Namentlich, nachdem mir neulich eine sehr erfahrene Frau gesagt hat, solche Briefe wie die von Florian an mich hätte sie weder jemals bekommen noch auch jemals bei ihren Freundinnen gelesen. Aber als Mann ist er natürlich nicht einen Augenblick für mich in Betracht gekommen. Das müssen Sie doch begreifen!«
»Nein, ich begreife Sie und Florian immer weniger! Entweder sagt er die Unwahrheit oder Sie! Haben Sie zu keiner Zeit anders für ihn empfunden?«
»Nein, im Gegenteil, er hat mir körperlich geradezu einen Abscheu eingeflößt!«
»Nun, ich weiß immerhin von Vorgängen –«
Jutta-Marie errötete ein wenig: »Man unterliegt zuweilen Stimmungen –«
Unerbittlich fuhr Juan fort: »Florian hat mir oft versichert, Sie hätten ihn heiraten wollen!«
»Das ist zum Lachen! Nehmen Sie wirklich an, daß ich es nötig hätte, Herrn Windmacher Heiratsanträge zu machen?«
Juan wußte darauf nichts Stichhaltiges zu erwidern: »Ich sehe ein, daß ich mich getäuscht habe, wenn ich hoffte, hier Mißverständnisse aufhellen zu können. Ich vermute, daß, nach Ihren Worten zu urteilen, nicht einmal auf eine ruhige Freundschaft zwischen Ihnen und Florian zu hoffen ist. Ich bedauere das sehr, da Sie einen rätselhaft fördernden Einfluß auf sein Schaffen gehabt haben. Er muß sich dann eben damit abfinden, daß alles zwischen Ihnen aus ist.«
»Er tut mir leid! Aber glauben Sie mir: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!«
»Also leben Sie wohl, schöne und hartherzige Jutta-Marie!«
»Wollen Sie einen Augenblick warten? Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich habe jemand kennengelernt, mit dem ich sehr glücklich bin. Wir werden wahrscheinlich bald heiraten. Das brauchen Sie aber Florian nicht zu erzählen! Ich möchte nun die Gelegenheit Ihres Fortgehens benutzen, um auf eine Stunde zu meinem Freund zu entwischen.«
Im Nu hatte sie sich einen Mantel übergeworfen. Sie schlich vorsichtig hinter Juan aus der Flurtür. Auf der Straße reichte sie ihm die feine Hand, die, als er sie küßte, leise nach Chypre duftete.
Gedankenvoll blickte Juan der Schlanken nach, die sich mit harten, kühnen Schritten entfernte.
*
Als Juan wieder in sein Atelier trat, sah er zunächst gar nichts. Der große Raum lag in einem Nebel von Zigarettenrauch, der durch die breiten Dachfenster vom rötlichen Lichtmeer über der weiten Stadt einen schwachleuchtenden Schimmer erhielt. In angstvoller Beklemmung machte er Licht und erblickte Florian wie einen Schatten. Wortlos starrten ihn die ins Ungeheure vergrößerten Augen an. Juan wußte nicht, was er bekennen und was er verschweigen sollte.
Da rang sich von Florians Lippen ein dräuendes: »Nun?«
Juan setzte sich neben den Freund, legte eine Hand auf seine Schulter und machte es kurz.
Florian fuhr auf: »Ein anderer hat mich verdrängt, sagst du? Merkwürdig! Weißt du seinen Namen? Nein? Wehe ihm und ihr, wenn ich ihn erfahre!«
Plötzlich greinte er erschreckend: »Begreifst du nun die Symbolik der Zahlen? Am 21. April lernte ich Jutta-Marie kennen. Am 12. Januar gebe ich ihr den Laufpaß! Meine Schicksalszahl hat sich umgekehrt! Das hat irgendeinen tiefbedeutenden Sinn für mein Karma! Gib acht auf das, was am 12. Februar eintreffen wird! Aber den Triumph, mich fortzuwerfen, hab' ich ihr doch nicht gelassen. Ich bin's, der abgebrochen hat! Nicht heiraten wollen, sagst du? Sie lügt, sage ich dir! Ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist! Nicht einmal, nein, ein dutzendmal hat sie eine Heirat nicht nur vorgeschlagen, sondern in allen Einzelheiten mit mir erwogen. Ich sollte sie schlimmstenfalls sogar entführen! Hätte ich es doch getan und sie dann in der Schande sitzen lassen, wie sie es verdient! Hast du ihr denn den Unterschied gebührend klargemacht, der zwischen einem Geistmenschen wie mir und ihr, einem dummen und flächigen Ding, besteht?«
Juan nickte. Unter diesem Ansturm von Dämonen des Hasses und der rachsüchtigen Erniedrigung wurde ihm um Florians Seele bange. Es drohte hinter diesen Worten noch Furchtbareres, das er nahen fühlte, ohne es nennen, ohne es verhindern zu können. Ganz milde auf das Flicken von Florians zerrissenem Selbstbewußtsein bedacht, bemerkte er erzwungen frisch: »Ich freue mich, daß du alles gefaßt und männlich hinnimmst!«
Da wurden Florians todbleiche Züge wieder von flackerndem Grinsen entstellt: »Daß sie behauptet, ich wäre ihr zuwider gewesen, ist ebenfalls gelogen! Im Gegenteil, sie hat mehrfach versucht, mich zu verführen! Ich wollte nur nicht, weil ich – – Aber das verstehst du doch nicht! Sie hat sich mir geradezu angeboten! Das hast ja auch du behauptet, als ich dir von dem Nachmittag auf der Pfaueninsel erzählte, nicht wahr? Und du verstehst doch etwas von Frauen! Wenn ich sie nicht besessen habe, was die gewöhnlichen Menschen gemeinhin besitzen nennen, so lag das einzig und allein an mir. Ich hatte einfach keine Lust, verstehst du, weil ich nicht in Stimmung war! Du kennst ja meine Differenziertheit in dieser Beziehung. Übrigens, wenn ich nachdenke, hat es vielleicht doch daran gelegen, daß sie zu knabenhaft war. Jetzt, wo sie schon aus meinem Herzen getilgt ist, tritt wieder die alte, einzig wahre Gebundenheit an Virginia in den erotischen Vordergrund!«
Gleich darauf schlug Florians Stimmung in Angst um. Er flehte: »Juan, mach heute einmal eine Ausnahme und gib mir eine Zigarre von der starken, teuren Sorte! Ich will sie dir auch gern bezahlen! Aber ich halte den Druck im Gehirn nicht mehr aus. Ich muß mich betäuben. Die Sache greift mich doch mehr an, als du denkst!«
Gerührt suchte Juan seine beste Brasilzigarre heraus und bot sie Florian, der sofort wie sinnlos darauf loszog.
»Juan, ich habe noch vom Quartalersten viel Geld bei mir! Ich lade dich zu einer Flasche Champagner ein! Wir wollen sie in der elegantesten Bar trinken!«
Juan graute es! Florian, der nie einen Tropfen Alkohol zu sich nahm, Florian, der noch nie einen Pfennig für andere ausgegeben hatte, lud ihn zu solcher Tollheit ein! Da mußte allerdings eine gewaltige Astralverschiebung in seinen diversen Leibern stattgefunden haben!
»Laß das lieber bleiben, Florian! Es wird dir besser tun, wenn wir einen ordentlichen Spaziergang machen.«
Florian saß eine Weile sinnend. Dann schleuderte er die Zigarre weit weg, schritt zu Juan und legte ihm eine Hand auf den Arm: »Du bist mein bester Freund, nicht wahr, Juan? Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich wahnsinnig werde? Ich habe, während du weg warst, bereits mein Testament aufgesetzt. Ich vermache dir all meine Gedichte! Tu damit nach deinem Gutdünken!«
Er lächelte, während schon Tränen seine Wangen herabliefen: »Und erschrick nicht, wenn ich jetzt einen Schreikrampf bekomme! Es hat weiter nichts auf sich!«
Juan trat der Angstschweiß auf die Stirn: »Lieber guter Florian, faß dich! Trag es würdig! Du stehst doch turmhoch über Jutta-Marie!«
»Sprich den verfluchten Namen nie wieder vor mir aus!« brüllte Florian, schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein schreiendes Schluchzen aus, das Juan, der noch nie einen Mann hatte weinen sehen, das wohlmeinende Herz zerschnitt.
Dann fiel Florian dem Erschrockenen um den Hals: »Verzeih mir, Juan! Aber wir sind ja unter uns, nicht wahr? Es ist besser, ich lasse den Affekt abreagieren, als daß ich ihn ins Unterbewußte verdränge, wo er die schlimmsten Neurosen hervorrufen kann.«
Juan streichelte stumm die zuckende Schulter des Hilflosen.
Florian wimmerte eine Weile wie ein Kind. Dann schaute er zu dem Freunde auf: »Diese Stunde vergeß ich dir nie! Entschuldige, kannst du mir vielleicht dein Taschentuch borgen? Ich habe meins vergessen!«
Juan holte ihm rasch ein sauberes Tuch.
Florian trocknete sich Augen und Gesicht und lächelte dann: »So, nun ist schon alles vorbei! Hab' ich dich sehr erschreckt, lieber Junge? Wie sah eigentlich mein Gesicht aus in der Erschütterung? Hast du es beobachtet?«
Sprachlos verneinte Juan.
»Nun, ich dachte mir gleich, daß du kein Verständnis für die sublimen Probleme der dämonologischen Mimik hättest. Weißt du nicht, daß sich in jeder Veränderung deiner Mienen okkulte Vorgänge widerspiegeln? Also komm jetzt! Laß uns gehen! Gib mir, bitte, noch ein paar Zigarren!«
Sie gingen weit hinaus über das Weichbild der Stadt, dem Walde zu. Florian erzählte noch einmal alle Stufen seiner Liebe, die Juan aus Myriaden ähnlicher Gespräche längst kannte. Nur war Florian jetzt bemüht, sich ins Vierdimensionale zu steigern und Jutta-Marie womöglich ins Gemeine zu verkleinern. Juan ließ ihn geduldig und widerspruchslos gewähren. Vielleicht war dieser krankhafte Redeschwall die beste Erleichterung für die kummerbeladene Seele.
Florian hatte so lange Juans schwere Zigarren geraucht, bis ihm das Herz vor Überanstrengung schmerzte. Er verlangte umzukehren, und Juan brachte ihn noch vor sein Haus. Florian versprach, ein Schlafmittel zu nehmen und sich sofort hinzulegen.
*
Am anderen Tage suchte Juan gleich nach dem Mittagessen Florian auf, um nach ihm zu sehen. Er fand ihn wider Erwarten sauber angezogen, gewaschen und gekämmt in heiterster Laune auf dem Sofa sitzend. Ein Teetisch war mit viel Sorgfalt gedeckt.
»Gut, daß du kommst, Juan! Hab' noch einmal Dank für alles, was du gestern an mir getan hast. Ich vergesse es dir nie.«
»Aber Florian, es ist doch selbstverständlich, daß man einem Freund in der Not Gesellschaft leistet!«
»Nein, nein, wehr dich nicht dagegen, daß du außerordentlich gütig warst. Du kannst dir dafür von mir wünschen, was du willst!«
Juan dachte einen Augenblick nach. Da er es gut mit Florian meinte, ergriff er die seltene Gelegenheit: »Also wünsche ich mir, daß du all deine Gedichte sammelst, abschreibst und für mich in einen Einband, den ich selber zeichnen werde, binden läßt!«
»Abgemacht! Ich halte Wort!«
Zufällig schaute Juan nach dem Schreibtisch hinüber. Da entdeckte er zu seiner Verwunderung, daß dort eine vollständige Umgruppierung stattgefunden hatte. Zwischen dem siebenarmigen Leuchter, dem silbernen Taufbecher und dem Räucherbecken standen sonst die sechs Photographien von Jutta-Marie in allen Lebensaltern. Jetzt lehnten dort Virginia, Ethel, die beiden Frauen und Pitti! Juan konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Um Florian nicht zu reizen, fragte er ablenkend: »Hast du diesen Tisch etwa für mich so einladend gedeckt?«
»Nein, alter Junge.« Sein Gesicht strahlte reinste Schadenfreude. »Rate, für wen!«
»Wie kann ich das!«
»Da wirst selbst du dich wundern! Ich habe nämlich langst Ersatz für Jutta-Marie gefunden! Heut mittag auf dem Kurfürstendamm! Hanna heißt sie! 18 Jahre, aus sehr guter, allerdings bürgerlicher Familie. Blonder und schöner noch als Jutta-Marie! Vor allem voller! Auch ist sie nicht so aufdringlich! Sie wird gleich hier sein. Meinetwegen kannst du sie dir ansehen. Du mußt aber versprechen, bald zu verschwinden. Ich schwöre dir, daß ich diesmal richtiger verfahren werde!«
Juan traute seinen Ohren nicht.
»Im übrigen hast du wie gewöhnlich falsch prophezeit! Der Strom des Schaffens rauscht wieder, wenn auch noch von ferne. Gleich, nachdem ich Hanna angesprochen hatte, spürte ich das magnetisch-astrale Fluidum zwischen uns strömen, nur inniger noch als jemals zwischen Jutta-Marie und mir! Es ist, als hätten sich nach Abwerfen meines unwürdigen Joches alle Fähigkeiten meiner Bewußtseinsseele, die gebunden und versklavt waren, gelockert. Ich glaube zu ahnen, daß ich jetzt endlich hellsichtig werde. Du wirst bald erkennen, daß ich ein ganz neues Leben beginne. Wie ich dir schon sagte, habe ich zu sehr dem Subjektiven, der Lyrik und damit Luzifer gefrönt. Es hat ein okkulter Schub in allen Seelenlagen stattgefunden. Ich werde Mystisch-Episches schaffen. Du wirst bald von mir hören!«
Er schaute auf die gestümmelte Uhr: »Das heißt, wenn Hanna nicht käme! Sie müßte längst hier sein!«
Juan erhob sich, da er eine Verabredung hatte.
»Du willst schon gehen? Schade! Aber selbst, wenn Hanna nicht kommen sollte, werde ich mich nicht langweilen. Ich höre die Mütter raunen! Ich weiß, daß ich Unerhörtes schaffen werde!«
Er fuhr durch sein Haar: »Wenn nur nicht diese verdammten Zustände wären! Verstehst du, dein Hirn glüht, alle Nerven glühen, und da« – er zeigte auf einen Schuh – »gerade am großen Zeh sticht der Hauptnerv wie eine glühende Nadel bei jedem Herzschlag raus und rein, raus und rein.«
*
Als Juan spät nachts nach Hause kam, fand er in seinem Kasten einen Rohrpostbrief von Florians Hand. Überrascht öffnete er. Darin stand:
»Lieber Juan!
Hanna hielt nicht Wort! Es geht mir trotzdem gut. Als Beweis dafür schicke ich dir, was heute entstand:
Luzifer.
Aus schwarzen Ebnen rissest du mich auf –
Als Flammenwirbel brause ich empor,
Mein Schreiten Flamme, Flamme mein Gesang,
Aufbricht der Zeugung uralt heil'ger Schoß.
So sprang aus Gott der große Weltenfunke,
So trugen Engel durch die heil'ge Leere
Flammende Sehnsucht nach Gestalt.
Mein Wandel wird zur Feuerflügelsäule
Und legt sich breitend aus ins Unermeßne,
Fanal der Nacht mit segnender Gebärde,
Ansaugend aus der Dinge dunklem Mund
Den unerlösten Atem der Bedrückten.
Tanz faßt und Taumel alle schweren Wesen,
Es löst sich Klang aus fernen, dumpfen Städten,
Flamme löst Weinen zum jubelnden Steilgesang.
Es löst sich Klang aus fernen, dumpfen Städten,
Sprühfunken der Güte regnen sich nieder –
Flamme ist Reden,
Wortüberrauscht –
Flamme ist Leben,
Loderndes Lied,
Flamme ist Schweben –
Sternenwärts zieht
Flammengruß den Planeten.
Und wir knien und beten:
Gib uns aus Schöpferlust und Not
Den Flammentod.«
Erschüttert und hingerissen las Juan die Verse noch einmal laut. Letzte Zusammenballung, wahnsinnigste Übersteigerung, saugend Verführerisches und verbrecherischer Frevel klang ihm daraus. Nicht wußte er am Schluß, waren es nur Fetzen und rissen nur die mächtigen Schwingen des Rhythmus die strauchelnde Vernunft über alle Lücken, oder war es vollkommen trotz aller Brüche! –
Florian war, nachdem er unter Anspannung letzter ehrgeiziger Kräfte der Selbstbehauptung die apokalyptischen Gesichte des »Luzifer« geformt hatte, zur Ruh gegangen. In der Nacht träumte ihm, er stünde, ähnlich wie im ersten Traum vom Sommer, mit Jutta-Marie am Rande des Meeres, das leuchtend blaute wie das Auge der Geliebten. Sie hatte ihn umfaßt und forderte: »Wenn du mich liebst, so stürze dich mit mir hinab!«
Nach einigem Zögern tat er es und schwebte, aller Furcht bar und ohne außer Atem zu geraten, umschlungen von ihr, langsam der schimmernden Tiefe zu. Eine selige Wollust erfüllte ihn bei diesem Sinken. Tränen glücklichster Zärtlichkeit rannen über seine Wangen.
Plötzlich aber verengte sich der vorher unermeßliche Horizont zu einer Schlucht, die sich nach unten zu wie ein Trichter spitzte und verfinsterte. Je tiefer er sank, desto rascher wurde das Fallen. Jetzt war es schon Sturz!
Voll Angst griff er nach Jutta-Marie. Aber sie war fort! Rot schlugen durch die untere Öffnung des Höllentores züngelnde Flammen. Mit letzter Kraft riß er da noch einmal den Blick nach oben. Und siehe, über den Trichterrand gelehnt, beobachtete Jutta-Marie mit lächelnder Neugier seinen Sturz. Er hörte noch ihr herrisches, hartes Lachen. Dann nahmen ihn die Flammen des Kamaloca auf.
Er schrie laut, glaubte zu erwachen, rief um Hilfe. Allein niemand kam! Da bewirkte das Grauen der Nacht, daß der Druck in seinem Hirn die Blase, von der er so oft gesprochen hatte, zerspringen machte.
Nun war in ihm Nacht, Nichts, Erlösung!
*
Als Juan zwei Tage Florian nicht sah, ging er zu ihm. Das Dienstmädchen öffnete verstört. Auf Juans ängstliche Frage antwortete sie: »Ich weiß nicht, was dem Herrn fehlt! Er liegt seit zwei Tagen regungslos im Bett, ißt nichts und spricht nicht. Ich traue mich kaum noch zu ihm. Heut bin ich zu einem Arzt gegangen, aber er ist noch nicht dagewesen.«
Juan trat ins Schlafzimmer.
Florian lag wie aufgebahrt, ohne sich zu rühren. Sein Atem war wie das Röcheln eines Sterbenden, hastig und laut. Das Segel der Nase, die in den wenigen Stunden durch eine erschreckende Abmagerung noch ungeheurer geworden war, ragte aus der kreidigen Maske in den Dämmer des Gemaches.
Er rief ihn leise: »Florian, lieber Freund, erkennst du mich? Ich bin's, Juan!«
Der Kranke rührte sich nicht.
Juan ergriff die feine, weiße Hand, die schlaff auf der Decke lag. Sie ruhte kraftlos in seinem vorsichtigen Druck und fiel, als er sie ließ, hart auf die Bettkante.
In furchtbarer Beklemmung befahl Juan dem weinenden Mädchen, bei Florian zu wachen, während er ratlos zu einem ihm bekannten Nervenarzt lief.
Der Arzt kam, untersuchte Florian mit Juans Hilfe, fand keine ersichtliche Ursache für diese Starre und wußte nicht, was er tun sollte.
Juan telegraphierte an Cordula, die sofort zurückkehrte und voll Aufopferung an Florians Lager wachte, während er bewußtlos weiterdämmerte.
In seiner Not suchte Juan Beatus auf. Beatus blieb allein bei Florian und trat nach einer Weile sorgenvoll und unverrichteterdinge wieder aus dem Krankenzimmer. Es war auch ihm nicht gelungen, die arme Seele aus ihrer astralen Starre zu lösen.
Der Großmeister aber, der vielleicht, wie schon einmal, hätte helfen können, war auf einer wichtigen Reise. Und was bedeutete Florians, des Abtrünnigen, Seele, wenn es sich um die Sache handelte.
Da der körperliche Verfall sichtbarliche Fortschritte machte, ließen Cordula und Juan in ihrer Hilflosigkeit allerlei Magnetiseure, Naturheilkundige und Gesundbeterinnen kommen. Von denen wurde Florian immer ohne Erfolg abwechselnd hypnotisiert, magnetisiert und exorzisiert.
Am siebenten Tage seines geistigen Todes kam seine greise Mutter mit einer steinalten Frau, einer Wahrsagerin und Kräutersammlerin, die in der Umgegend von Reitzenau den Ruf einer Wundertäterin an Mensch und Tier genoß. Sie verschloß sorgfältig das Krankenzimmer, verstopfte Türritzen und Schlüsselloch, öffnete aber trotz der winterlichen Kälte weit beide Flügel des großen Fensters. Die Behandlung dauerte an zwei Stunden. Niemals hat irgend jemand erfahren, was die Alte Geheimnisvolles an Florian vornahm. Florian selbst vermochte hinterher keinerlei Auskunft zu geben, da er bis zum Zeitpunkt seiner Erweckung ohne Gebrauch seiner Vernunft war.
Genug, er verlangte, kaum daß die Alte die Wohnung verlassen hatte, während ihn Mutter, Frau und Freund mit tränenfeuchten Blicken umstanden, als erstes zu essen, und zwar Eier zu essen. Er schluckte alsbald sieben Eier, mit Zucker gequirlt, hintereinander. Sodann trank er zwei Liter Milch in kurzen Abständen aus. Danach schlief er, nunmehr ohne zu röcheln. Wieder erwacht, schlürfte er noch einmal neun Eier und behauptete, er könne bereits aufstehen. Ihm fehlte jede Erinnerung an die überstandene Leere des Bewußtseins und an die körperliche Starrheit.
Als er diese Ernährungsweise zwei Tage fortgesetzt hatte, stand er, wenn man sich vorsichtig an Dinge des äußeren Lebens hielt, auf Befragen Rede und Antwort.
Nach einigen Wochen war er fähig auszugehen. Sein erster Besucht galt dem Großmeister, der endlich von seiner Werbereise heimgekehrt war. Das Ergebnis der langen Unterredung, die ihm der Verehrte gewährte, bestand darin, daß Florian, ohne von Mutter, Weib, Kind und Freund Abschied zu nehmen, wie ein Flüchtling sein bisheriges Dasein im Stich ließ. Bereits am anderen Tage, dem 12. Februar seines 38. Lebensjahres, trat er als Novize in das Buddhistenkloster zu T. in Mähren, wo er, ein endgültig Befreiter, hofft, im Nirwana, nach dem seine weltmüde, abgetriebene Seele von je verlangte, eher zu erlöschen als im trüben Samsara der großen bunten Stadt.
Ende.