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Mi ritrovai per una selva oscura –
Juan, der überaus zahlreiche Beziehungen hatte, da er das Geschick oder vielleicht auch Ungeschick besaß, es nie mit ehemaligen Freundinnen zu verderben, führte Florian zunächst in das Haus einer wohlhabenden Alleinstehenden an der Grenze der Vierzig. Nach allem, was er von Florian wußte, sagte er sich, daß sein Freund bei Susanne Bentheim willkommen sein müßte. Denn Frau Susanne legte weniger Wert auf die Form als auf den Gehalt.
Richtig amüsierte Florian, der, allein dem Geistigen zugewandt, unordentlich an Kleidung und Wäsche umherging, die Kundige wie ein fremdartiger Vogel, wie ein japanisches Spielzeug. Nie zuvor war Frau Susanne auf einen für ihre Begriffe so drolligen Menschen getroffen. Von scharfem Verstand, vielseitig beschlagen, weit herumgekommen, dabei durchaus Dame von Welt, hielt sie, deren kühnes Gesicht von den Stürmen ihres Lebens bereits ein wenig verwittert war, allem stand, wie sie vor nichts zurückschreckte.
So wurde denn Florian bald vertraut mit Frau Susanne. Doch geschah das nicht mehr, weil sein Ätherleib schwang, sondern aus Abwehr gegen Minderwertigkeitskomplexe, die sich jederzeit allzu willig einstellten, wenn seine Handlungen von irgendeiner Seite her Kritik erfuhren.
Demnach fand er, auf der Suche nach Selbsterhöhung und heißhungrig, wie er neben Cordula geworden war, auf geraume Zeit Geschmack an Susanne. Vor allem übte die Eleganz des Rahmens neuartigen Reiz auf ihn aus, da er bisher wenig kannte vom weiblichen Rüstzeug der Liebe.
Größte Genugtuung bereitete seinem von Cordulas Giftpfeilen zusammengeschossenen Selbstbewußtsein, daß Susanne ihn vorbehaltlos anerkannte. Sie wurde jedenfalls ein Eckpfeiler seines neuen Ichgefühls, das sich von der schweren Erschütterung durch das Zerstieben seines Ehetraumes langsam wieder erholte.
*
Auf den Lorbeeren, die er bei Susanne erworben, ruhte Florian nicht aus. So mehrte sich denn der Schatz seiner Erfahrungen, zumal ihm Cordulas Reise nach Reitzenau es ermöglichte, in sonniger Unbekümmertheit um Dienstmädchen und Hausbewohner seine Freundinnen jederzeit daheim zu empfangen.
Das erste seelenüberglänzte Glück erlebte er mit der sehr weichen, noch jugendlichen Frau eines zu früh Gealterten. Denn Europa, wie Florian sie nannte, besaß auch Sinn für Geistiges. Die Neigung war, zumal Europa auch Bereitwilligkeit zeigte, Florian in die Gefilde vierdimensionalen Schweifens zu folgen, schon im Begriff, zur Leidenschaft zu schwellen. Da kehrte Cordula, die mit dem Ökonomierat in betreff Pittis Aufzucht in Meinungsverschiedenheiten geraten war, überraschend früh zurück, und der Strom des Gefühls, der sich eben erst vom Ufer der Fremdheit einen Weg zur Seelennähe gebahnt hatte, wurde rauh abgefangen.
Florian konnte Europa nur noch selten sehen, da ihre Liebe nunmehr der Zuflucht entbehren mußte und Europas Mann neuerdings argwöhnisch war. Todesmutig ließ er sie dennoch zu sich kommen, wenn Cordula ausgegangen war.
Da immerhin die Möglichkeit bestand, daß Cordula eines Tages unvorhergesehenermaßen heimkehrte, durchhieb Florian, gestützt auf Cordulas Überzeugung von seiner erotischen Unfähigkeit, mit Hilfe seiner gaunerigen Mimik tapfer den Knoten und weihte die Nichtsahnende, freilich recht behutsam, ein. »Weißt du, Lieblein, die Frau ist wirklich zu bedauern! Du mußt sie unbedingt kennenlernen. Nicht wahr, ich darf doch vollstes Vertrauen zu dir haben? Du tust geradezu ein gutes Werk! Sie steht natürlich nicht auf der Höhe deiner geistigen Kultur und sieht auch nicht so vorzüglich aus wie du. Aber es schlummern mancherlei Anlagen in ihr.«
Da es für Cordula ausgemacht war, daß Florian nimmermehr der Tugend einer Frau gefährlich werden könnte, ließ sie sich fangen. Denn sie fand Gefallen an der Rolle der Großmütigen, die er geschickt für sie zugeschnitten hatte. Sie lernte Europa kennen und gewann sie geradezu lieb. Fand sie doch ein eigenartiges Vergnügen darin, den Ablauf dieser Freundschaft schadenfroh zu studieren.
Als Europa, von Florian abgerichtet, zwar zärtlich, aber doch mitleidig zu ihr über Florian sprach, wurde sie ganz sicher. Wenn Europa kam, erschien sie zur Begrüßung, um vor dem Mädchen den Schein zu wahren. Dann zog sie sich beruhigt in das fernste Zimmer zurück. Denn einmal hatte sie in ihrer Großmut endlich eine Stütze entdeckt, an der sie ihre Minderwertigkeitsgefühle hinaufzuranken vermochte, und dann fand sie reichlichen Lohn, insofern sie Florian jederzeit mit der Erfolglosigkeit seiner Verführungskünste vor sich und anderen lächerlich machen konnte.
Florian ertrug Cordulas Gehässigkeiten mit vielem Anstand. Heimste er doch durch dieses wenig schmerzende Duldertum reichen Gewinn ein!
Juan kam aus dem Lachen über diese eheliche Groteske nicht mehr heraus. Ärgern tat ihn nur, daß Florian, bar jeden Sinns für Humor, den Reiz dieses Verhältnisses nicht auszukosten vermochte. Wenn er in Ekstasen des Hohnes geriet, fuhr Florian ihn zornig an: »Seien Sie doch nicht so albern! Was ist denn dabei?«
Gesteigert wurde Juans Entzücken noch, als endlich auch Cordula, des großmütigen Alleinseins müde, sich anderweitig umtat und sich neuerdings, wenn Florian Besuch hatte, ihrerseits einen ebenso gelehrten wie schüchternen Neuropathen, einen Assyriologen Dr. Süßsauer, einlud, der als Privatdozent noch in ihrem Königsberger Heim verkehrt hatte.
Florian war in wohlverstandenem Egoismus gegen den bedauernswerten – muttergebundenen, wie Cordula geheimnisvoll ausplauderte – Süßsauer von herzlicher Liebenswürdigkeit, so daß Juan ihn aufrichtig bewunderte. Er fragte ihn einst: »Fürchten Sie nicht, Florian, daß Cordula Ihnen eines Tages Gleiches mit Gleichem vergilt?«
»Wie kindlich Sie fragen! Cordula hat viel zu schlechte Erfahrungen mit ihren beiden Männern hinter sich. Im übrigen, da sie de facto nicht mehr meine Frau ist, was geht es mich an? Mir kann es doch nur angenehm sein, wenn Cordula auch Ablenkungen hat. Ich denke außerdem viel zu menschlich und habe sie viel zu lieb, um ihr nicht ein Glück außerhalb der Ehe, wenn sie es findet, voll und ganz zu gönnen. Im übrigen« – er lächelte bauernschlau – »werde ich sie dabei vielleicht auf gute Manier los.«
*
Pitti blieb beständig bei den Großeltern, da diese mit Recht Cordulas und Florians Erziehungsgaben mißtrauten. Cordula betonte zwar Bekannten gegenüber, die nach Gabriel Renatus fragten, stets, daß sie ihren Sohn sehr entbehre, und Florian erklärte Juan einmal des längeren, wie wesensverwachsen er trotz der Trennung mit Pitti wäre. Aber beide Eltern ertrugen in liebevoller Entsagung die Abwesenheit ihres Kindes.
Da Süßsauer sich, durch irgendeine lebhaftere Antwort Cordulas in seiner mädchenhaft empfindsamen Seele verletzt, völlig zurückgezogen hatte, litt Cordula unter der Einsamkeit, in die sie Florians Fahrten und Abenteuer verbannten. Daher wurde sie von Woche zu Woche überreizter und behauptete, sie müsse endlich wieder einmal etwas für ihre Gesundheit tun. Was besagte, daß sie die Sprechstunde eines noch sehr jungen Analytikers aufsuchte, der ihr von weiß Gott wem empfohlen worden war.
Wie gewöhnlich, dauerte es nicht allzulange, bis sie sich an ihren Seelenarzt, einen Dr. Loeser, erotisch gebunden fand. Sie zwang Florian zu einem Verkehr, und so lernte Florian auch Frau Judith Loeser kennen.
Durch Cordulas Indiskretion eingeweiht, war Florian einigermaßen neugierig. Er wußte, daß Loeser muttergebunden war, und zwar in solchem Maße, daß er sich trotz der theoretisch klaren Einsicht in seinen Fall keiner Frau zu nahen vermochte. Judith, die, vor Jahren seine Patientin, damals noch Elisabeth hieß, verliebte sich in ihn. Loeser raffte noch einmal alle Hoffnung zusammen und heiratete sie in der Gewißheit, durch ihre gläubige Anbetung geheilt zu werden.
Da Loeser überzeugter Anhänger des jüdischen Nationalismus war, wechselte Elisabeth ihm zuliebe den Glauben und nahm in freier Wahl statt ihres Taufnamens den ihrer Schicksalsschwester Judith an. Nicht genug damit, stülpte sie in beispielloser Kasteiung, weil Loesers Mutter dunkel gewesen war, eine schwarzsträhnige Perücke über ihr weiches Blondhaar, zog die Brauen schwarz aus, tünchte die Wangen und färbte die Lippen größer, üppiger.
Aber alles blieb vergebens! Ihre jungen Reize darbten. Infolge des unterjochenden Zwanges, immer an das ihr Versagte denken zu müssen, wurde Judith erotisiert bis in jede Pore der Haut. Sie besaß eine Fernwitterung für erotische Erlebnisse anderer, die an das Pythienhafte grenzte.
Als das Ehepaar Loeser zum erstenmal im Hause Windmacher zu Gaste war, setzte sich Cordula nach ihrer Sitte mit Loeser auf den Balkon, während Florian mit Judith im Zimmer blieb. Er rückte, höchst angeregt durch ihr seltsames Aussehen, seinen Stuhl näher an ihren Sessel, so daß sie wie ein gehetztes Wild zu ihm aufschaute. Er fand sie zwar enttäuschend mager, aber ihre bleichgetünchten Wangen mit den rotgeschminkten Lippen und die schwarzen Zotteln der Perücke verursachten ihm einen Schauder, der gleichwohl süß kitzelte. Auch reizte ihre leichtgebogene Nase, deren Flügel wahrscheinlich infolge fortwährender astralischer Entladungen immerfort zitterten, Florians Abenteuerlust.
Eine Weile saßen sie sich stumm gegenüber. Florian wurde ob ihres Unbehagens ständig behaglicher zumute. Ganz plötzlich bellte sie ihn an: »Stieren Sie nicht so nackt in mein Gesicht! Bin ich denn ein Tier? Ich fühle Ihre Blicke wie Nadeln auf meiner Haut! Schauen Sie hinweg! Ich mag Sie nicht!«
Florian überlegte, daß diese ungewöhnliche Abwehr nur das Negative von etwas stark Positivem bedeutete, und fuhr fort zu schmunzeln.
Da schalt sie: »Gehen Sie fort von mir! Cordula ist eine Närrin, wenn sie annimmt, daß Sie keine ernsthafteren Beziehungen zu Ihren Freundinnen unterhielten! Ihren gierigen Händen sehe ich an, daß sie noch kürzlich eine Frau gestreichelt haben! Gehen Sie! Mich ekelt vor Ihnen!«
Florian, der sich hier bereits als Sieger fühlte, streckte aus Spielerei keck eine Hand nach ihrem Arm aus. Der Erfolg aber war beängstigend! Die Unglückliche sprang auf und ächzte. Ihre Brust ging wie ein Werk, und sie keuchte, fern jeder Theatralik: »Lassen Sie mich! Hören Sie nicht? Ich schreie um Hilfe! Ich sage alles meinem Mann! Sie sind ein schamloser Räuber! Sie nehmen mir das bißchen Od, das ich mir noch bewahrt habe! Denn ich kann in Ihrem Umkreis nicht atmen!«
Darauf schlug sie die bleichen Hände vor das Gesicht und schluchzte, unbekümmert um die Tränen, die schmutzige Furchen in die weiße Tünche rannen.
Dennoch beunruhigte sich Florian nicht lange über diesen unvermuteten Ausbruch. Er beherrschte aus seiner Ehe mit Cordula her so ziemlich alle Lagen, in die man durch neurotische Frauen gebracht werden kann. Aber jetzt erwachte auch seine kindhafte Güte. Eigenen Leides eingedenk, dauerten ihn die Qualen der armen Getriebenen, von bösen Dämonen Gejagten. Lind nahm er ihre widerstrebenden Hände von den Augen, trocknete mit seinem allerdings verdächtig grau aussehenden Taschentuch ihre Tränen und tröstete die Fassungslose. Seinem gutmütigen Zureden gelang es schließlich, sie zu beruhigen. Sie gerieten in ein weniger gefährliches Gespräch.
Mit pathologischer Offenheit gestand sie ihm dann ganz wider den Zusammenhang: »Wissen Sie, daß ich Sie seit langem hasse?«
»Also hat Cordula viel von mir erzählt?« lächelte Florian.
Judith nickte. »Ich hasse auch Cordula!«
»Warum?«
»Weil sie Alfred liebt! Ich will nicht, daß andere Frauen mit ihren Gefühlen auf Alfred eindringen und ihn mir entziehen!«
»Es ist ungefährlich für Sie, wenn Cordula Ihren Mann liebt!«
»Es ist ebenso ungefährlich, wenn Alfred liebt!«
Hier schauten sich beide forschend in die Augen und lachten dann, weil sie einander verstanden hatten, harmlos wie Kinder. Florian benutzte die gute Gelegenheit, um wiederum näherzurücken und Judiths Arm zu streicheln. Sie starrte ihn wieder mit dem bösen Blick des in die Enge getriebenen Tieres an, hielt aber diesmal still! Sie atmete heftig wie vorhin und schloß in höchstem Wohlgefallen die Augen. Plötzlich stampfte sie mit dem Fuß auf, flog hoch und schrie den Erschrockenen an: »Sie sollen mich nicht anfassen! Ich bin geheiligt wie Judith von Bethulien! Sie aber dünsten Gemeinheit aus! Ich hasse euch beide! Ich will nie wieder euer Haus betreten! Ihr paßt nicht zu uns! Wir entwürdigen uns, wenn wir mit euch auch nur die Luft gemein haben!«
Durch ihre laute Stimme ängstlich geworden, erschien Dr. Loeser mit Cordula in der Balkontür. Da klingelte es draußen. Froh über die Unterbrechung des peinlichen Auftritts, ging Florian, um zu öffnen. Es war Juan, der auch zum Abendbrot gebeten war. Man ging nunmehr zu Tisch. Voll Verwunderung musterte Juan immer wieder Judith.
Dr. Loeser hingegen nahm durch sein großes Wissen, das er ungesucht in die allgemeine Unterhaltung streute, für sich ein. Das Gespräch kam auf altjüdische Mystik, und Juan, der soeben ein Werk des Großmeisters über die okkulte Bedeutung des Pentateuchs gelesen hatte, fragte Loeser, was er von dieser Auslegung hielte. Loeser beurteilte die Schrift des Großmeisters ungünstig. »Was er vorbringt, hat er der Kabbala entnommen und obendrein mißverstanden. Wahrscheinlich ist er nicht einmal imstande, den Urtext zu interpretieren. Ich rate Ihnen, sich an die Quellen zu halten! Wenn es Sie interessiert, will ich Sie Ihnen gern in guten Übersetzungen zugänglich machen.«
Cordula schwoll vor Schadenfreude. Aller Haß auf Florians Unfähigkeit zur Liebe in ihrem Sinne und auf das Versagen des Okkultismus in der Heilung ihres Leidens entlud sich. »Da siehst du, Florian, wie wirkliche Sachkenner deinen tönernen Götzen beurteilen!«
In seinen Urtiefen verletzt, verlor Florian, da er sich vor der neu zu erobernden Judith nicht erniedrigen lassen wollte, den Verstand und schlug grob zu: »Ich verbiete dir, Cordula, daß du den Namen des mir Verehrten überhaupt in den Mund nimmst! Doktor Loeser hat keine Ahnung von praktischem Okkultismus und kann also die Schriften des Großmeisters nicht entfernt richtig beurteilen!«
»Erlauben Sie, Herr Doktor, ich habe die Werke des Großmeisters auf das genaueste studiert!«
»Das kann nicht sein! Sonst würden Sie nicht so respektlos von ihm reden! Im übrigen sind Ihnen ja die esoterischen Werke gar nicht zugänglich, da sie nur Mitgliedern der Gemeinde in die Hände gegeben werden.«
Triumphierend sah er sich um.
Juan genoß behaglich die allmähliche Verschärfung der Debatte.
Cordula warf boshaft ein: »Ich selbst habe Alfred die Geheimtraktate aus unserer Bibliothek geborgt, weil er mich darum bat. Sie stehen ja sonst doch nur ungelesen hier!«
Florian brüllte: »Du verdientest Prügel dafür!«
Judith hetzte: »Ich begreife nicht, Cordula, daß Sie sich solche Beleidigungen –«
Cordula bekam einen roten Kopf. »Florian ist ein Bauer! Von Haus aus schlecht erzogenen Kindern kann man nichts übelnehmen!«
Florian straffte die Altweiberlippen, was für Juan ein Zeichen war, daß ein Ausbruch nahte.
Loeser führte aus, daß der Großmeister das Wesen der Geister über den Wassern bestimmt unrichtig aufgefaßt hätte.
Florian schlug nun derber zu: »Sie haben das unrechtmäßig erlangte Buch augenscheinlich gar nicht verstanden, sonst würden Sie anders urteilen!«
»Dann setzen Sie mir doch, bitte, in kurzen Worten die wahre Meinung des Großmeisters auseinander!«
Florian fuhr sich durch das Haar. »Tja, das ist nicht so einfach.«
Cordula zischte: »Natürlich, wenn man das Buch überhaupt nicht gelesen hat!«
»Halt deinen Mund, Cordula! Zum Donnerwetter! Oder ich –«
»So widerleg' doch Alfred, wenn du es kannst!«
Obwohl nun Florian keineswegs eifersüchtig war, empörte es ihn, daß Cordula als sein angetrautes Gemahl ihn gerade in diesem Augenblick im Stich ließ und Loeser vertraulich beim Vornamen nannte. »Ich habe zuviel auf okkultem Gebiet gelesen, um mich in jeder Sekunde an alles genau erinnern zu können! Das mystische Gedankengebäude ist zu verwickelt, um jeden Gang und jede Kammer darin sofort beschreiben zu können. Lassen Sie mich ein wenig nachdenken. Ich werde es hoffentlich zusammenbringen!«
Er kniff die Augen späherisch enger, starrte ins Unwirkliche und dachte so scharf nach, daß seine mächtige Stirn, die gewöhnlich krankhaft bleich war, fleckigrot wurde. Seine Schläfenadern schwollen. Alle warteten voll Spannung.
Endlich brach Cordula höhnisch das Schweigen: »Die wahre Meinung des Großmeisters läßt sich sehr leicht feststellen. Du besitzt ja das betreffende Buch. Ich weiß genau, wo es steht. Ich habe es neulich beim Abstauben noch in Händen gehabt. Ich will es gleich holen.«
»Nein, laß nur, Lieblein! Ich glaube, ich habe es verborgt!«
»Das kann nicht stimmen! Ich habe es ja gestern noch gesehen!« Sie stand auf und fand das Buch sofort. Dr. Loeser entdeckte rasch die fragliche Stelle, die er im übrigen fast wortgetreu aus dem Gedächtnis wiedergegeben hatte.
Florian, der ein Lächeln auf allen Gesichtern las und Cordula den Triumph nicht gönnte, griff zur letzten Waffe, die ihm in seiner Verlegenheit noch blieb.
Als Cordula ihn anherrschte: »Willst du nun endlich zugeben, daß du unrecht hast? Nicht einmal im Okkultismus weißt du Bescheid! Das war bisher noch das einzige Gebiet, auf dem ich dir ein wenn auch geringes Wissen zutraute!«, antwortete er mit teuflisch selbstgefälligem Lächeln: »Ich gebe gar nichts zu! Was beweist es denn, daß ich mich in einer belanglosen Einzelheit getäuscht habe? Täuschen ist übrigens ein zu hartes Wort. Sagen wir, mir ist eine Gedächtnisschwäche untergelaufen. Ich behaupte im Gegenteil, daß Doktor Loeser, auch wenn er zufällig eine Stelle des Werkes dem Wortlaut nach genauer behalten hat als ich, dennoch vom wahren Wesen des Okkultismus keine Ahnung hat und niemals haben kann!«
Dr. Loeser entgegnete empört, wenn auch noch höflich: »Dann wollen Sie also meinen Verstand anzweifeln! Denn wenn Sie überhaupt eine logische Norm zulassen, so gestattet die betreffende Stelle keine andere Auslegung als die meine!«
»Reden Sie nicht weiter mit ihm, Alfred! Er macht es immer so! Anstatt seine völlige Unkenntnis einzugestehen, greift er aus Eitelkeit und Hilflosigkeit zu Beschimpfungen!«
Juan lächelte satt, weil jetzt Schwung in das Gespräch kam. »Ich bin durchaus nicht hilflos,« eiferte Florian, Überlegenheit vorspiegelnd, »sondern ich bin nach wie vor der Ansicht, daß Doktor Loeser, selbst wenn er jedes Wort, das der Großmeister geschrieben hat, auswendig wüßte, niemals etwas von Okkultismus verstehen kann!«
»Sie beleidigen mich, Herr Doktor Windmacher!«
»Mein Freund Stichler« – Florian holte den nichtsahnenden Juan zu Hilfe –, »der wie Sie großer Analytiker ist, wird Ihnen bestätigen, daß alle Analyse rein destruktiver Natur ist. Jeder Analytiker wird durch das fortwährende Wühlen in eigenen und fremden Geheimnissen mißtrauisch und skeptisch. Und er muß es sogar sein! Glaubt er doch an alle Dinge, auch die keuschesten, mit der Ratio herangehen zu müssen. Im Okkultismus jedoch wird die reine Vernunft Plage und Unsinn! Alle Mystik verlangt Glauben, Devotion, Intuition! Alles Dinge, die dem Analytiker implicite versagt sind! Wenn ein zerstörerischer Rationalist wie Sie vom Okkultismus redet, so ist das, wie wenn ein von Geburt Blinder Farben schildert! Habe ich recht oder nicht?«
Eitel schaute er sich um. Denn er bemerkte, sich selber zum Erstaunen, wie er spiegelfechtend Boden gewann. Er jedenfalls hatte seine Niederlage von vorhin längst vergessen und war von seiner Überlegenheit durchdrungener denn je.
Dr. Loeser jedoch ließ sich nicht in Florians Irrgarten locken. Mit scharfer Dialektik begabt, stieß er Hieb auf Hieb in Florians mystische Nebel. »Geben Sie zu, daß alle Gedanken, die Menschen fassen können, in menschlicher Sprache ausgedrückt werden müssen, um von ihnen verstanden zu werden?«
Florian, der sah, wo jener die Schlinge zuziehen wollte, hielt sich für alle Fälle einen Hinterausgang offen: »Mit gewissen Einschränkungen, ja!«
»Gut! Geben Sie weiter zu, daß auch des Großmeisters Schriften in allgemein menschlicher Sprache abgefaßt sind?«
»Ich weiß längst, wohinaus Sie wollen! Geben Sie sich keine Mühe! Sie überzeugen mich doch nicht! Aber meinetwegen! Die Schriften des Großmeisters sind für den oberflächlichen Blick in derselben Sprache wie alle anderen Bücher geschrieben!«
»Geben Sie endlich zu, daß ich vernünftig bin?«
»Natürlich! Leider sogar zu vernünftig, lieber Doktor!«
»Also müssen Sie mir auch meine Schlußfolgerung gestatten, daß ich besagte Schriften ebenfalls vernünftig beurteilen kann!«
»Dem syllogistischen Schema nach, ja! Und doch in Wirklichkeit, nein! Ist nicht zwischen der Faust-Interpretation eines deutschsprechenden Negers und der eines ebenbürtigen, dichterischen Geistes ein himmelweiter Unterschied?«
»Für den Vergleich mit dem Neger bin ich Ihnen sehr verbunden!«
»Verzeihen Sie, lieber Loeser, ich wollte Sie nicht beleidigen! Es fuhr mir nur so heraus!« Florian bot dem Gekränkten treuherzig die Hand.
Cordula erhob sich mit rotem Kopf: »Kommen Sie, Alfred, er weiß nicht, was er sagt!«
Judith, die ebenfalls aufgestanden war, schrie: »Ich will jetzt gehen!«
Um die Situation zu retten, schlug Juan vor: »Soll ich etwas spielen, Cordula?«
Dankbar nickte Cordula und ging mit Juan ins Nebenzimmer, wo das Instrument stand. Da Florian und Loesers unmusikalisch waren, wünschte sie ungestört durch etwaiges Plaudern lauschen zu können. Als Juan die ersten Takte der weichen Reverie von Claude Debussy, die wie Mondesfunkeln über ruhigem Wasser in lauer Sommernacht sind, begonnen hatte, betrat Judith, die ein unbeherrschbarer Drang trieb, Cordula zu kränken, geräuschvoll das Zimmer, zog krachend einen Stuhl neben Juan und versuchte, eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen.
Juan, dem außer der Kunst wenig heilig war, achtete nicht auf die Störung. Endlich bemerkte er grob: »Sie werden mich trotz aller Mühe, die Sie sich geben, nicht aus der Stimmung bringen!«
Sie stampfte auf: »Ich will aber nicht, daß Sie spielen! Es ist langweilig! Sie sollen sich mit mir unterhalten! Sie interessieren mich!«
Juan spielte trotz seiner Empörung bis zum Schluß. Cordula verließ das Zimmer. Da Judith ihm herausfordernd nahe kam, streichelte Juan sie, um sich für ihre Ungezogenheit zu rächen. Sofort fing sie an zu keuchen. Juan griff, wenn auch ohne Erregung, fester zu, um zu sehen, wie weit er es treiben könne. Da sprang sie auf und entzog sich ihm. Nach kurzer Jagd um den runden Tisch hielt er sie in den Armen. Ihre Brust ging wie ein Balg. Juan lächelte teuflisch und umschlang sie, kühl wie bei einem wissenschaftlichen Experiment.
Die arme Getriebene aber stöhnte wie eine aufgezogene Sprechmaschine wohl an die zehnmal hintereinander: »Ist das Liebe? Ist das Leidenschaft? Ist das Liebe? Ist das Leidenschaft? Ist das – –«
Juan, dem der Widerwille in Sturzbächen über den Rücken rieselte, sagte unter gräßlichen Grimassen: »Natürlich Liebe, mein Kind!«
Vom fürchterlichen Hohn seiner Stimme betroffen, hörte sie auf zu wimmern: »Lassen Sie mich augenblicklich los, oder ich schreie!«
»Dann drücke ich Ihnen die Kehle so zu!« erwiderte er mit eisiger Ruhe und begann, sie zum Schein zu würgen.
»Sie sind ein Mörder!« röchelte sie. »Oh, Sie sind so stark! Ist das Liebe? Ist das – –«
Da hatte er genug und ließ sie los.
Erniedrigt und voll schlimmer Rachegedanken schnob sie: »Ich werde alles meinem Mann sagen!«
»Glauben Sie etwa, daß ich ihn fürchte?« lachte Juan. Er setzte sich gleichgültig an das Klavier, als ob sie nicht vorhanden wäre. Nach einer Weile kam sie zu ihm und legte weich ihre Hand auf seine, um ihn am Spiel zu hindern: »Sie sollen nicht spielen, wenn ich mich mit Ihnen zu unterhalten wünsche! Ich glaube, Sie können sehr grausam sein!«
Ihre Augen bettelten.
Juan schob ihre Hand fort und ging stumm ins Nebenzimmer zu den anderen.
Nach einer Weile kam Judith hinterdrein und befahl böse und herrisch den Aufbruch.
*
Trotz seiner dialektischen Niederlage stattete Florian bald nach jenem Tage Judith Besuche ab, wenn er Loeser, der sich währenddessen mit Cordula traf, fern wußte. Und Cordula leistete aus selbstsüchtigen Gründen Florian bei diesem immerhin sehr bedenklichen Tun Beistand. Denn aus dem ungeheuren Ernst, mit dem sie alle erotischen Erlebnisse betrachtete, war sie nur zu sehr geneigt anzunehmen, daß Florians plötzliches Drängen zu Judith aus tiefstem, seelischem Borne quoll. Daher erhoffte, ja erflehte sie fast ein völliges Glück für Florian. Wobei sie nicht ungern eine Beilegung aller Zwistigkeiten in dem Sinne gesehen haben würde, daß sich die Beziehungen zwischen den Ehen Loeser-Windmacher wie die Diagonalen eines unregelmäßigen Vierecks gekreuzt hätten.
Unschwer gelang es Florian, Judiths Widerstand zu brechen. In endlicher, jubelnder Erlösung loderte erstes Glück ein rotes Fanal durch das bislang tote Nachten ihrer Sehnsucht. Wild zehrte sie an Florians Kraft, der, nachdem eine anfängliche Wißbegier gestillt war, furchtbar die Maya zu spüren bekam, die das Weib vor der Hingabe mit allen erdenklichen Reizen schmückt, hernach mit einmal die blinden Augen öffnet und alles, was die Pulse schneller schlagen ließ, als schales Blendwerk des Triebes enthüllt.
Loeser, dem Judith mit dem bösen Egoismus der Glücklichen alles beichtete, litt für sich und sie, da er Florians Unwert aus eigener Anschauung und aus Cordulas Schilderungen hinreichend kannte. Um nicht den Verstand zu verlieren, rettete er sich in eine verzweifelte Milde, die der geliebten Gefährtin in übermenschlicher Entsagung alle Freuden gönnte.
Das erste, was Florian nach seinem Siege tat, war, daß er zu Juan lief und ihm mit eitlem Lächeln sein Bravourstück berichtete. Dann blickte er auf seine halbverrostete Uhr: »Nach meiner Konjektur muß es ungefähr ein halb elf sein, nicht wahr?«
Juan nickte.
»Um elf soll ich bei ihr sein! Leben Sie wohl! Die Pflicht ruft!«
»Bestellen Sie einen schönen Gruß von mir!«
»Sie haben gut lachen! Übrigens hat sie mir
strengstens verboten, gerade Ihnen etwas von uns zu erzählen,«
»Schmeichelt mir sehr! Ich lasse anfragen, ob ich demnächst meine Aufwartung machen dürfte.«
Florian lächelte trüb und verschwand gedrückt.
*
Des anderen Tages trafen sich die Freunde im Café. Florian sah bleich und verstört aus.
»Nun,« fragte Juan, »wie war es denn gestern?«
»Entsetzlich! Sie schrie mich gleich beim Eintreten an: ›Du kommst von Stichler und hast ihm alles gesagt. Leugne nicht! Ich nehme es telepathisch wahr!‹ Nun wissen Sie ja, nicht wahr, daß bei hysterischen Frauen kein Ding unmöglich ist! Also wurde selbst ich über dieser Sicherheit verlegen und fand dummerweise keine ablenkende Bemerkung. Sie trat auf mich zu und schaute mir unwiderstehlich in die Augen: ›Gestehe, daß du unser Geheimnis diesem Verruchten preisgegeben hast! Nun ist es auf ewig entweiht! Denn er wird seine gemeinen Witze darüber nicht unterlassen können. Du bist ein verabscheuungswürdiger Schwätzer! Pfui! Geh! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben!‹ Als ich erleichtert nach meinem Hut griff, um für immer zu gehen, faßte sie mich leidenschaftlich am Arm und drang in mich: ›Und was hat dein sauberer Freund gesagt?‹ Da fuhr es mir aus Gedankenlosigkeit heraus: ›Er läßt schön grüßen und fragen, wann er dich besuchen darf!‹«
»Ich glaube, Sie sind wahnsinnig geworden, Florian! Mein Gott, die arme Frau! Und was geschah dann?«
»Sie bekam einen Schreikrampf und jammerte: ›Ich war eine Heilige, und du hast eine Dirne aus mir gemacht! Nun straft mich Gott so bald für alles, was ich Alfred angetan habe!‹ Dann schrie sie einer Rasenden gleich: ›Mach schnell, daß du aus diesem Zimmer kommst! Ich will dich nie wiedersehen! Mich ekelt vor dir, wenn ich deine teuflische Fratze sehe! Komm mir nie wieder vor Augen, oder es geschieht ein Unglück!‹«
Juan schwieg, ein wenig angegriffen vom Leid, das dieser Frau geschehen war.
Bleich und krampfig kratzend bemerkte Florian: »Ob ich sie nun wenigstens los bin? Was meinen Sie?«
Juan lächelte trüb: »Florian, Sie besitzen ein herziges Gemüt!«
*
Cordula mußte in diesen Tagen viel hin und her zwischen den feindlichen Lagern. Denn Judith bereute bald ihre harten Worte. Sie hätte nur zu gern das so überstürzt zerrissene Liebesband nach unendlich süßer Versöhnung wieder geknüpft. Allein Florian hegte einen so tiefwurzelnden Respekt vor ihr, daß er sich standhaft oder vielmehr furchtsam weigerte, der Unglücklichen auch nur eine Aussprache zu bewilligen. Cordula hatte wieder einmal Gelegenheit, die ganze Ritterlichkeit ihres Entführers zu bewundern.
Schwesterlich bedauerte sie Judith: »Die arme Frau! Solch einem Feigling wie dir in die Hände zu fallen! Wie ich dich verachte! Du besitzt nicht einmal so viel Mut, der Bedauernswerten in einer letzten Unterredung wenigstens den Trost zu spenden, daß sie sich an keinen Erbärmlichen weggeworfen hat! Sind das die Früchte okkulter Einsicht, mit denen du immer prahlst? Ist das die indische Güte und Milde, die du ständig im Munde führst? Nicht bloß, daß du kein Mann bist, nein, du hast auch kein Herz! Du bist weiter nichts als eine hohle Null!«
Florian ließ ihre Liebenswürdigkeiten mit diesmal urindischer Geduld über sich ergehen. Lieber noch Cordulas Schelten als Judiths Schreien!
Matt nur wehrte er sich: »Übrigens bist du es gewesen, die immer zugeredet hat! Ich wollte eigentlich nie etwas von ihr wissen.«
»Ich dir zugeredet? Du tatest doch, als wärest du ehrlich erotisiert? Ich nahm daraufhin an, daß sich bei dir eine ernste Neigung ankristallisierte! Hätte ich doch geahnt, daß alles nur eine Spielerei für dich bedeutete! Wie leid tut mir Judith! Und was soll Alfred von mir denken!«
Florian erwiderte nichts mehr. Er verzehrte stumm sein Abendbrot und benutzte den Augenblick, wo Cordula das Geschirr hinaustrug, um leise zu entwischen.
*
Sehr nachdenklich wurde Juan, als er nach einiger Zeit von Florian erfuhr, daß Judith mit einer schweren Lungenaffektion in einer Klinik daniederläge.
Einige Wochen darauf starb sie.
Florian bemerkte, als er dem Freunde dies mitteilte: »Der ihr Kamaloca möcht ich auch nicht durchzumachen haben!«
Juan, der Rohling, ging versonnen nach Hause. Verdammt, da packte einen die Harmonium-Kinodramatik des Lebens und schmolz das allzu weiche Herz! Die arme Judith war, es ließ sich nicht beschönigen, ein wunderlich verworrener Geist! Und doch zugleich erbarmungswürdige Mitkreatur, in ein zu schweres Geschick verstrickt, das sie vielleicht erst zu dem gemacht hatte, was sie darstellte. Denn war sie nicht zur Freude geboren, empfand sie nicht und litt sie nicht wie alle anderen? Und mußte so früh von der Tafel des Lebens ins finstere Tal der Schatten.
Florian hatte gut reden vom seligen Schweben im Devachan! Dies plumpschwere Erdendasein war trotz allen Leides nicht zu verachten!
*
In diesem Sommer fuhren Cordula und Florian auf Kosten des Ökonomierats nach Rügen. Juan, der beiden unentbehrlich geworden war, wenngleich sie ihn anderen gegenüber schlecht machten, ließ sich bereden, mitzukommen. Als er am Tage der Reise bei Windmachers erschien, um mit ihnen zusammen zum Bahnhof zu fahren, begrüßte ihn Cordula in höchst ungnädiger Laune: »Guten Morgen, Juan! Glauben Sie, daß Florian auch nur eine Handreichung tut? Alles muß ich allein packen!«
Florian stand, nervös rauchend, mit den Händen in den Hosentaschen, am Fenster und zwinkerte Juan auffällig zu, ohne daß dieser ahnte, was er von ihm verlangte.
Ihm wurde die Situation klarer, als Florian gereizt erwiderte: »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich noch verschiedene wichtige Telephongespräche zu erledigen habe! Ich lasse dir Juan hier. Er ist sehr praktisch und wird dir sicher gern helfen. Sollte ich nicht zur rechten Zeit wieder zurück sein können, so fahrt ruhig voraus zum Bahnhof. Wir treffen uns im Zuge. Vergiß nicht, Cordula, mir einen Fensterplatz zu belegen!«
Richtig erschien er dann im letzten Augenblick in sehr aufgeräumter Stimmung.
In Rügen wurde Juan von einem ihm selber sehr erfreulichen Arbeitsfieber gepackt. Ihn reizte der braungrüne Dämmer der Buchendome, und das überirdische Blaugrün des Meeres brachte ihn jeden Morgen in einen Rausch, der in Verzweiflung endete. Denn er vermochte nimmer diese wahrhaft astralisch leuchtenden, ewig sich ändernden Farben mit seinem Pinsel zu bannen.
Florian, unangenehm enttäuscht von des Freundes Malwut, war die Vormittage, wo Juan sich um keinen Preis vom Tuschkasten weglocken ließ, auf sich und seine Leere angewiesen. An ungeheuerlichen Menschenverbrauch gewöhnt, da ihn einzig das Kennenlernen immer neuer Seelen die eigene Unzulänglichkeit vergessen ließ, machte Florian zunächst vorläufige Studien unter der Pensionsweiblichkeit. Er schnupperte mit seinem Astralriechorgan in verzweifelter, ewiger Sehnsucht. Doch die Damen bewegten sich sämtlich auf dem Normalplan. So schweifte er gelangweilt am Strand umher und freute sich über das Aufsehen, das seine gegen die Himmelskuppel zackig vorspringende Nase unter den faul Flanierenden erregte. Von seiner Schulter aber hing, fast an der Erbe schleifend, ein weiches, riesiges Cape, das der Vagabund auf den Boden breitete, wo es ihn gerade zum Schauen oder zum Träumen verlockte.
Am dritten Abend endlich spürte Florian, sehnsüchtig nach belebenden Sensationen, in leidenschaftlichem Hunger in die Menge, die um die Blechmusik wandelte und verdaute. Plötzlich sprang er auf und ging, ohne ein Wort an Cordula und Juan, die neben ihm saßen, zu verlieren, im Gedränge unter.
Die beiden Zurückgebliebenen schauten ihm lächelnd und gespannt nach.
Bald tauchte Florian im Turnus des langsam schiebenden Menschenkreises wieder auf. Den knorrichten Hals gereckt, die Geiernase hoch in die Abendröte gewuchtet, bohrte er seinen Blick in ein seltsames Frauenbild, das langsam vor ihm schritt. Groß, üppig, die Hüften aufreizend schwingend, ging die Unbekannte auf unerhört geraden, etwas zu straffen, aber durchaus edlen Beinen einher, unbekümmert um das Aufsehen, das sie bei den Bürgern erregte. Als sie einige Sekunden der Lichtkegel einer Bogenlampe umfing, sah Juan ein bleich gepudertes, volles Gesicht, kupfern gefärbtes Haar, leere Augen der großen Kurtisane und einen durch Lippenrot unheimlich vergrößerten Mund, der wie ein Rummelplatz des Lasters in die Gegend lärmte.
Ohne Rücksicht auf Cordula und die sprachlosen Pensionsgäste, schnitt Florian mit nachtwandlerischer Frechheit der Fremden zunächst ein paarmal den Weg ab, indem er auf Probe äugte und aus seinen stechenden Augen Raubmörderblicke über sie schleuderte. Als er dann der Ansicht war, daß der göttliche Funke übergesprungen sei, segelte er hemmungslos, dicht vor Cordula, von Nordnordwest auf die fremde Frau los und sprach sie an. Mit der Würde einer Fürstin ließ sie sich seine Begleitung gefallen.
Die erstarrten Verbliebenen sahen das Paar noch zweimal um die Musik kreisen. Mit luftzersägenden Gesten schwätzte Florian auf die Würdevolle ein, die alle Entrüstung der Bürger betörend unbefangen überlächelte. In der Mitte der dritten Runde entführte Florian die Fürstin in das hintere Dunkel der Strandpromenade. Ihr kniefreies Röckchen klirrte im Glanz der letzten Bogenlampe um die frech prangenden Waden. Höhnisch fegten die Fransen von Florians Plaid den abendlich feuchten Sand.
Juan konnte nicht umhin, seinen Freund zu bewundern. Cordula wütete.
Später, in der Nacht – Juan las noch im Bett – rief es leise unter seinem Fenster: »Juan, sind Sie noch wach?«
»Ja! Was gibt's?
»Ziehen Sie sich einen Mantel über und kommen Sie herunter! Ich habe Ihnen viel zu erzählen!«
Juan, der begierig war, Näheres über die Fürstin zu erfahren, ging leise hinunter. Sie setzten sich auf eine Bank im Garten. Die Nacht war sehr weich und lau. Leise rauschte das Meer.
Hastig berichtete Florian: »Die Fremde ist natürlich adlig! Sie ist eine Baronin von Volta, bayerischer Uradel, Baronin Erni von Volta!«
Wie immer geriet Florians Selbstunsicherheit, sobald er Adel witterte, in eine Ekstase der Selbstaufrichtung und Überhebung.
Juan verdarb ihm ungern den Rausch: »Und das glauben Sie?«
»Muß denn immer alles gelogen sein? Die Baronin weiß so gut in unserem hannoverschen Landadel Bescheid, daß ich unmöglich ihre Baronie anzweifeln kann. Warum soll sie denn keine Baronin sein?«
»Weil sich Baroninnen im allgemeinen anders zu kleiden pflegen!«
»Sie war allerdings mit einem Bürgerlichen sehr unglücklich verheiratet, der ihr beträchtliches Vermögen durchgebracht hat. Jetzt ist sie von ihm geschieden und lebt unter ihrem Mädchennamen.«
»Hmmm!«
»Wenn Sie zu spotten anfangen, höre ich lieber gleich auf!«
»Es gibt ein einfaches Mittel, unseren Streit zu beenden. Die Kurliste liegt auf dem Flur meiner Pension. Ich werde sie holen! Wissen Sie, wo die Baronin abgestiegen und wann sie angekommen ist?«
»Vor zwei Tagen«, sagte sie. »Sie wohnt im Quisisana.«
»Einen Augenblick!«
Juan kam sehr bald mit der Liste wieder und suchte im Mondschein den Namen. Im Quisisana war an dem betreffenden Tage nur eine gewisse Emma Ladebich aus Berlin-Schöneberg angekommen.
Juan lächelte: »Natürlich, Florian! Alles stimmt! Die Frau Baronin reist eben inkognito. Emma ist Erni! Schöneberg ist wohl dem Bayerischen Platz gleich zu erachten. Daher auch die intime Kenntnis des hannoverschen Landadels! Von Volta? Wahrscheinlich ist die Baronin in Berlin N in der Voltastraße zur Welt gekommen! Das Inkognito ist übrigens recht einladend! Ich würde vorschlagen, Ladebich in Labedich umzutaufen!«
Florian mußte wider Willen über Juans schlechte Witze lachen: »Mag sie nun Ladebich oder Labedich heißen, die Hauptsache bleibt, daß sie eine höchst eigenartige Frau ist! Reden wir einmal ernst, Juan! Gleich, als ich zuerst Ernis Gesicht wahrnahm, war mir klar, daß sie irgendwie okkulten Einflüssen ausgesetzt sein müßte. In der Tat gerieten wir, sobald wir den Dunstkreis der Pfahlbürger hinter uns gelassen hatten, in eins der sondersten Gespräche, das ich mein Lebtag mit einer Frau geführt habe. Die Baronin ist okkult sehr erfahren und hat mir die erstaunlichsten, astralen Erlebnisse von sich berichtet. Darunter Träume von einer Farbigkeit und mysteriösen Bedeutsamkeit sondergleichen. Wir drangen weit in den Wald vor. Tief unten gleißte silbern das Meer. Wir gelangten an eine Lichtung, die der Mond, unwirklich geisternd, erhellte. Da breitete ich stumm mein Plaid, und wir lagerten uns nebeneinander. Wir sprachen über Bücher und Dichtung. Auf Ernis Wunsch sagte ich einige Verse des Großen Feierlichen, den sie genau kennt und liebt. Als ich unter der Ergriffenheit der göttlichen Strophen mit geschlossenen Lidern und zurückgebeugtem Haupt schweigend dasaß, schrie sie plötzlich leise: ›Bleiben Sie so sitzen, Doktor, ich habe eine Vision! Bitte, rühren Sie sich nicht! Ich nehme Ihre Aura wahr! Und Ihr Hirn leuchtet durch die Schalen!‹ Wir verharrten eine Weile ergriffen! Es war sehr feierlich!«
»Und dann?« fragte Juan ungerührt.
Florian puffte ihn: »Seien Sie nicht so neugierig!« Dabei lächelte er geschwätzig.
»Sie sind wahrhaftig ein Ehrenmann von vollendeter Diskretion, Florian!«
Florian freute sich kindlich. Dann fuhr er sprunghaft fort: »Wie Sie richtig vermutet haben, hat die Baronin tatsächlich eine eigene Wohnung in der Nähe des Bayerischen Platzes. Sie hat mich bereits eingeladen, und ich soll Sie mitbringen. Sie fragte, ob Sie nicht gut tanzten. Ihre Figur gefällt ihr sehr. Wenn etwas aus unserem Besuch werden sollte, so müssen Sie mir aber versprechen, daß Sie mir mein Spiel nicht verderben und der Baronin nicht erzählen, wie ich wirklich bin.«
»Ich schwöre, Ihre dämonischsten Fratzen zu beglaubigen!«
»Und nun gute Nacht! Ich weiß nicht, ich empfinde gerade heute solche Sehnsucht nach Pitti! Wahrscheinlich durch astrale Rückwirkung. Der einzige Trost bleibt, daß er bei meinen Eltern gut aufgehoben ist.«
»Jedenfalls besser als bei Ihnen und Cordula!«
»Sagen Sie doch das in meiner Gegenwart einmal Cordula!«
»Ich werde mich hüten!«
»Nun ja, verdenken kann ich es Ihnen nicht! Überhaupt Cordula!«
*
Die nächsten Tage erschien Florian nur zu den Mahlzeiten in der Pension und blieb im übrigen unsichtbar. Die Mitgäste bedauerten Cordula, die unter Tränen lächelte.
Endlich erwischte Juan den Freund, als er nach dem Abendbrot zur Baronin schleichen wollte.
»Sie scheinen die Baronin von Volta mit Hochspannung zu verehren, Florian!«
»Ich kann Ihnen sagen, Juan, eine ganz seltene Frau! Vormittags rudern wir weit hinaus, ziehen uns aus und springen zusammen ins Wasser.«
»Und was machen Sie sonst noch?«
»Nachmittags gehen wir in den Wald und führen die abgründigsten Gespräche.«
»Und abends?«
Florian entgegnete mit liebenswerter Verschwiegenheit: »Juan, ich hab' ihr mein Ehrenwort geben müssen, weil ein Bekanntwerden unserer Beziehungen ihrem Ruf schaden könnte.«
»Entschuldigen Sie, Florian, woher nehmen Sie eigentlich das Geld zu diesen Bootsfahrten und Ausflügen?«
»Ich lasse natürlich die Baronin bezahlen!«
Juan lachte.
»Seien Sie doch nicht immer so albern! Was ist denn dabei? Übrigens fällt mir eben ein, daß ich gestern für Erni fünfzehn Mark ausgelegt habe.«
»Und die wollen Sie sich von ihr wiedergeben lassen?«
»Selbstverständlich! Ich habe noch nie für eine fremde Frau bezahlt! Wie komme ich denn dazu?«
»Sie machen es lieber umgekehrt in echt erleuchteter Ethik, was?«
»Nein, jeder für sich! So habe ich es immer gehalten!«
»Wie gedenken Sie denn die fünfzehn Mark wiederzubekommen?«
»Wie dumm Sie fragen! Ich schreibe einfach einen Brief: Liebe Erni! Eben fällt mir ein, habe ich gestern für Sie bezahlt oder Sie für mich? Herzlichst Ihr Florian«
»Sie sind ein Born reinster Freude, Florian!«
Geschmeichelt lächelte Florian: »Oh, bitte, lieber Freund!«
*
Als sie zwei Tage später alle drei im Abteil zusammensaßen, zog Juan den Freund auf den Flur und fragte als erstes: »Was hat denn die Baronin auf Ihren Brief geantwortet?«
»Sie hat mir selbstverständlich umgehend das Geld durch den Hotelportier übersandt!«
» Noblesse oblige!«
»Tja, die Baronin ist schon eine fabelhafte Frau! Übrigens, ehe ich es vergesse, Erni hat eine Schwester Ulla, die ebenfalls von ihrem Mann geschieden ist und die bekannte Pension Pacific in der Kaiserallee leitet. Nächsten Mittwoch sollen wir dort tanzen!« –
Mit gespannter Erwartung ging Juan am Mittwoch in die Pacific-Pension. Richtig war in dieses Heim für In- und Ausländer eine toll zusammengesetzte Gesellschaft vom Schicksal hinverweht worden. Russen, Türken, Balkanier aller Schattierungen, halbe Nigger, Ägypter und Siamesen.
Oh, und diese Frauen! Königin an Eleganz blieb die Baronin. Aber Ulla, ihre Schwester, war sanfter, lieblicher, bürgerlicher! Juan tanzte sich bald in ihre Gunst.
Ulla offenbarte Juan dann vertrauensvoll ihre schlechte Vermögenslage. Die Pension brachte nur eben das zum Leben Allernötigste ein. Für die freundlicheren Dinge des weiblichen Lebens war sie genötigt, sich von dem beleibten Grossisten, der bowlenmischend auf dem Sofa saß und lange, dicke Zigarren dazu rauchte, unterstützen zu lassen!
Juan tröstete sie. Sie flüsterte: »Kommen Sie morgen? Ich bin bestimmt allein!«
Der Grossist hatte sich inzwischen insofern betätigt, als er für das schnelle Vertilgen der von ihm gestifteten Bowle sorgte. Die mörderische Mischung hatte eine lärmende Lustigkeit erzeugt.
Einem hochgewachsenen Russen, der mager und bleich jeden Becher, den ihm der Grossist ehrbeflissen füllte, auf einmal hinunterjagte, löste der Wein die schweigsame Zunge. Als eben das Grammophon aufgehört hatte zu plärren, erzählte er plötzlich von japanischen Bajonettangriffen, die er als Infanterieoffizier auf russischer Seite miterlebt hatte.
Die entsetzten Frauen hießen den Kalkbleichen schweigen. Florian, der, seiner Überzeugung gemäß, nicht trank, blickte gelangweilt umher. Er verzieh es nicht, wenn ein anderer die Führung der Unterhaltung an sich riß. Er wartete auf ein ihm günstiges Stichwort.
Ulla teilte Juan mit, daß der Russe, Schtscherbatscheff mit Namen, fast wahnsinnig aus der Armee entlassen sei und sein Leben hier friste, man wisse nicht recht wovon.
Ein ganz junges, sehr zartes Mädchen mit korngelb oxydiertem Haar, weiße Sumpfblüte des Westens, schlug, an einen der Nigger gelehnt, vor: »Das ewige Tanzen ist so langweilig! Wir wollen von Liebe reden!«
Juan, dem in diesem Augenblick die Zigarette aus der Hand fiel, sah im Bücken, daß die Blonde, obwohl sie im Arm ihres rechtmäßigen Besitzers lag, ein Bein an das des kalkbleichen Russen gepreßt hielt.
Florian, der wohlig spürte, daß nunmehr endlich die Reihe an ihm sein würde, sich Geltung zu schaffen, sagte: »Ich schlage vor, daß jeder der Anwesenden uns seine Ansicht über die Liebe mitteilt! Wer fängt an?«
Die Baronin sagte: »Immer der, der vorschlägt!«
Florian schaute sich blitzend im Kreise um, trank Mut aus den gespannten Mienen und Hub an zu einem Hymnus auf den Eros, wie er ihn erlebte. »Liebe hat mit Körperlichkeit nur sehr wenig zu tun! Liebe ist allein die mit Worten nicht auszudrückende Sehnsucht zweier Seelen, die sich in einem vorangegangenen Dasein schon einmal gekannt oder gar nach der Lehre in nahen verwandtschaftlichen Beziehungen gestanden haben. Liebe ist die dunkle Sehnsucht dereinst verschwistert gewesenen Blutes! Wie anders wäre es sonst auszulegen, daß zwischen wahrhaft Liebenden, die den oft so grauenhaft entweihten Namen verdienen, jene mysteriöse Übereinstimmung des Denkens und Fühlens stattfindet, jenes unvergänglich selige Wissen auf dem Grund des vergänglichen Glückes: Wir sind einander von aller Ewigkeit her zubestimmt! Und jenes einmal einzige Zusammenklingen, wo jeder der süßen Gewißheit inne wird: Dieser mächtige Akkord von Glocken der Freude läutet nur einmal festlich durch dein Leben! Nachher aber, ohne Liebe, ist alles leer, stumpf, sinnlos, verloren an tausend gleichgültige Eindrücke. Und haben nicht von Plato bis zu Goethe alle großen Erleuchteten des Geistes und der Kunst, aus Intuition schöpfend, gewußt, daß Liebe Wiedererkennen bedeutet? Was endlich sind, gegen die Verzückung der Seelen gehalten, taumelnde Sinne und lustbebendes Fleisch? Untertauchen ins Böse, das Schalheit und Ekel hinterläßt! Staubecken häßlicher Leidenschaften! Und was ist die brünstigste Ekstase gegen jene astrale Kommunion liebender Seelen im tiefsten, schweigendsten Dusein!?«
Tiefatmend lehnte sich Florian nach dieser Leistung zurück und genoß die Stille, die seine Worte versiegelte. Der Nigger fuhr fort, tierisch zu grinsen. Der Grossist saß mit dickgequollenen Augen und offenem Munde schnaufend da. Die Mädchen aber schmiegten sich inniger in die umklammernden Männerarme. Dieser sonderbare Mensch lullte ein, wiegte in einen Rausch, der willenlos machte.
Irgendwo im Halbdunkel klagte eine weich betränte Stimme: »Charlie, der Herr soll weiterreden! Aber ich werde weinen müssen. Es ist alles so traurig, was er sagt!«
Ungeduldig sprang die Baronin auf. »Kinder, nun hört auf mit euren langweiligen Geschichten! Ich bin hergekommen, um zu tanzen!«
Aber die Stimmung, durch Florians Hymnus zersplittert, wollte nicht wieder zusammenfließen. In der dritten Morgenstunde erinnerte sich Florian, daß er verheiratet war. So gingen die beiden Freunde.
*
Einige Zeit danach waren sie bei der Baronin geladen und stiegen gemeinsam die prunkvolle Treppe des eleganten Hauses hinauf. Sie wurden in einen überaus stilreinen Louis-XV.-Salon geführt, wo sich die Schwestern, Schtscherbatscheff mit der weizengelben Lissie, ein Bulgare von unbegreiflichem Namen, bei der allgemeinen I-Seuche Toschi gerufen, nebst seiner Freundin Cilli bereits befanden. Da Cilli über eine ragend herrische Nase und einige Körperfülle verfügte und der Toschi genannte Bulgare nicht nur das Gesicht, sondern auch die verschlafene Stille eines Vollmondes zeigte, geriet Florian sofort mit Cilli in ein übersinnliches Gespräch.
Als sich bei dem Durcheinander der Gäste trotz scharfen Trinkens keine Stimmung einstellen wollte, griff man zur Nothilfe des Grammophons und tanzte in dem gotischen Speisezimmer unter guten Kopien einer steiflieblichen Madonna und eines Christus nach Reni.
Plötzlich trennte Florian, der als Nichttänzer im Salon mit Schtscherbatscheff gesessen hatte, die Tanzenden: »Haben Sie Riechsalz, Erni?«
Die Baronin hielt ärgerlich inne. »Was? Riechsalz?«
»Ja! Schtscherbatscheff hat einen Nervenkrampf! Er zuckt wie ein Epileptiker und hat Schaum vor dem Mund!«
»Unsinn! Er verstellt sich!« sagte die Baronin gereizt. »Die Lissie will ihren Neger heiraten, weil er mehr Geld hat. Das ist es!«
»Sehen Sie ihn doch erst einmal an! Er redet irre und weint immerfort.«
»Er hat eben das heulende Elend! Warum säuft er immer den teuren Sekt wie Bier! Gießt ihm eine Kanne Wasser über den Schädel!«
Dennoch ging sie und fand nach einigem Suchen ein kostbares, geschliffenes Riechfaß aus Smaragdfluß.
Juan mußte bei der jammernden Lissie im Nebenzimmer bleiben. Sie heulte: »Ich kann das nicht mitansehen! Der abscheuliche Mensch! Zwei Selbstmordversuche hat er bereits gemacht. Ich hab' ihn ja lieber als meinen Schatz, aber mein Schatz hat doch schon Möbel angeschafft und eine Fünfzimmerwohnung mit Warmwasser, Müllschlucker und Lift gemietet! Da kann ich ihn doch nicht mehr versetzen!«
Juan genoß die treffsichere Logik dieses wahrhaft zarten, weiblichen Herzens.
Bald danach trat Ulla in das Zimmer. »Lissie! Schtscherbatscheff ist erwacht und verlangt nach dir!«
Sie gingen alle drei in den Salon, wo Schtscherbatscheff schweratmend auf dem Sofa lag und lallte: »Ich bin gebunden an Bord eines japanischen Schoners mit mächtigen, schwarzen Segeln. Rot glüht am Horizont die Tür des Todes! Am Mast hängen, geknickt in den Fesseln, gefolterte Leichname von Kameraden. Lissie aber schwebt nackt über dem vorderen Schiff und winkt mir in die Tür des Todes, in die Flammen von flackerndem Rot. Ach, ihr Haar ist – –« Er sank zurück.
Lissie plärrte: »Jedesmal, wenn er von der Tür des Todes anfängt, hat er sich hernach was angetan!«
»Quatsch! Gebt ihm einen Boonekamp!« schlug die Baronin vor.
Florian aber saß über den Phantasierenden gebeugt und gebot durch Schütteln des mächtigen Kopfes Schweigen. »Er ist bereits über die Schwelle der höheren Welt getreten und nimmt, hellseherisch gesprochen, soeben das Kamaloca wahr! Seid doch ein wenig feierlicher! Merkt ihr denn nicht, daß er todgeweiht ist?«
Dann begann er mit bizarr gespreizten Händen Luftgesten um das Haupt des Röchelnden auszuführen, die ihn beschwören und beruhigen sollten. Schtscherbatscheff preßte dabei wiederholt die Hände auf das Herz, als ob es unsäglich schmerzte. Florians Augen traten gräßlich aus den Höhlen. Er schwitzte vor astraler Anstrengung. Die Frauen standen nunmehr schauernd neben der merkwürdigen Gruppe.
Endlich stöhnte der Russe: »Wasser!«
»Da habt Ihr's!« rief die Baronin siegesbewußt und goß ihm Kognak in ein Weinglas.
Als der Kranke davon getrunken hatte, kam er langsam wieder zu sich, so daß er von Ulla und Lissie in die Pacific geschafft werden konnte. So endete der Abend in Trübsal!
Nur Florian war zufrieden. Er hatte sich Cillis Telephonnummer besorgt. Toschi hielt ihr eine eigene Wohnung, und sie war viel allein!
*
In dieser Zeit geschah es Florian, daß er an einem einundzwanzigsten Januar in dem Café saß, in dem ihm vor Jahren das Gesicht der silbernen Aura ob dem Haupte des Beatus erschienen war. Er dachte unbehaglich daran, daß heute sein kritischer Tag war. Mit stetigem Drängen setzte ihm die Erinnerung zu, und es ward ihm bewußt, daß er auf den tiefsten Stand der Ungeistigkeit gesunken war. Er ging nicht mehr in die Zusammenkünfte der Erleuchteten, er hatte den Großmeister aus den Augen verloren, er machte nicht einmal mehr seine Meditationen. Selbst Bücher las er nicht mehr an. Vor Unruhe von Abenteuer zu Abenteuer gejagt, hungerte er aus Furcht vor sich in Unrast immer nach neuen Frauen. Um sich selbst nicht erkennen zu brauchen, war er bestrebt, immer andere zu erforschen, und hatte so die einzig heilige Sache seines Lebens, den Okkultismus, verraten! Wie kam es nur, daß ihn heute fortwährend ein Gedanke an Beatus plagte! Dachte jener vielleicht an ihn? Rief Beatus ihn? Oder würde er wie damals, die silberne Krone um das weiße Haar, durch die Tür treten und wieder mit den hellen Kinderaugen gütig-streng lächeln?
Mit schärfster Einsicht in das Dunkel anderer Seelen begabt, suchte er da die eigene Verstrickung zu entwirren. Doch scheiterte dieses Suchen daran, daß er nie die Grenzen seines Wesens zu finden vermochte. Überall gab es hinter letzten Gründen weitere Möglichkeiten, Veranlassungen, die in der Präexistenz wurzelten, Entschuldigungen, die aus dem Karmischen liefen. Wo war da Recht und Unrecht, Schuld und Sühne! Dennoch fühlte er zu deutlich dumpfen Verrat an der Höherentwicklung seines ohne Zweifel über das Gewöhnliche begabten Geistes! Wie nur hatte er jemals auf halbem Wege steckenbleiben, wie so bald den Mut sinken lassen können! Er, untrüglichen Anzeichen nach und den Versicherungen des Großmeisters zufolge durch alle Präexistenzen zum Hellsehen vorbestimmt und gezüchtet, fälschte sein Karma, fälschte das Menschheitskarma und letzten Endes das Weltenkarma! Ihm graute vor seinem Kamaloca!
Zusammengesunken saß er auf dem zerschlissenen Plüschsofa vor seiner Tasse. Er spürte, daß an diesem magischen Tage Außerordentliches seiner harrte. Er wußte mit unfehlbarer, intuitiver Gewißheit, daß diese ungewohnte Einkehr und Abrechnung nicht aus eigenem Wollen floß, sondern von fremder Gnade erzwungen wurde. Er zitterte. Gleich mußte das Wunder geschehen!
Genau in diesem Augenblick schwang die Drehtür, und Jakob Beatus betrat mit priesterlicher Langsamkeit den Raum.
Florians Knie bebten zu stark, sonst wäre er aufgestürzt und vor dem Meister zu Boden gefallen. Heiß schoß es in seine Augen. Er verbarg sie in den Händen. Mit Hammerschlägen klopften die Gerichtsworte des Dichters an seine Brust, die er oft mit unendlicher Traurigkeit gesprochen:
»
Qu'as tu fait, ô toi que voilà
Pleurant sans cesse,
Dis, qu'as-tu fait, toi que voilà,
De ta jeunesse?«
Trotz verhangener Augen fühlte er dennoch Beatus näherschreiten. Danach begann in Florians feinempfindlichen Nerven der Strom der fremden Hände zu spielen, die über seinen Scheitel erhoben wurden. Der Meister segnete ihn wortlos und zog unsagbar sanft Florians nasses Antlitz aus der Schmachgruft der Hände. »Warum ist Ihr Ruf so spät an mich ergangen, mein junger Freund? Der silberne Schein in Ihrer Aura ist verblichen! Ihr Hirn umwabert eine gelbbraune Wolke schmieriger Lüsternheit. Warum fand Ihre Not nicht den Weg zu mir?«
»Ich wagte nicht!« schluchzte Florian, gebrochen von des Meisters Milde.
»Und doch habe ich all die Jahre Ihre Sehnsucht gefühlt, bald des Nachts und bald am Tage. Sie aber verzettelten die Kraft der Sehnsucht und ließen den Wunsch nimmer zum Willen reifen! Da nun heute der Drang nach Auferstehung die niederen Süchte besiegt hat, so kommen Sie zu mir, daß nicht der Astralfriedhof dieses verruchten Platzes die Heiligkeit Ihres Vorsatzes verpeste.«
Florian erhob sich dumpf folgsam. Sein Kaffee war noch nicht bezahlt. Wie durch ein Wunder merkte der sonst so wachsame Kellner nichts. War er mit Blindheit geschlagen durch die Macht des Meisters?
Draußen, im Gewühl der belebten Straßen, fühlte Florian noch immer die Hülle von des Meisters Liebe um seine Schultern. Er begriff jetzt, daß Götter auf Wolken gereist waren, so leicht ward ihm. Nichts hätte es gefruchtet, wider den Stachel zu lecken. Der Meister entzifferte seine Seele wie eine Kinderfibel. Drum schlugen Wellen seligsten Vertrauens und glücklichster Geborgenheit über ihm zusammen.
Beatus führte ihn in seine Wohnung, die nur Auserwählten geöffnet wurde, um die Lauterkeit ihrer Luft nicht zu beflecken. Denn des Meisters Hellfühligkeit litt unter den Ausdünstungen der seelischen Gebresten. Dieses, daß er für würdig befunden ward, schwoll Florians darbendes Herz mit heiterem Wissen um seine nahe Erlösung ohne eitlen Stolz.
In Beatus' Wohnung war jeder Raum, jedes Stück von seiner Hand geschaffen, geordnet und verziert. Er geleitete Florian in das Atelier, wo die gewaltigen Kirchenfenster, die an mystischer Farbenglut den mittelalterlichen nichts nach gaben, entstanden sind. Das Atelier machte den Eindruck einer frühromanischen Krypta. Licht kam von oben durch ein ziemlich schmales Fenster, und die Wölbungen der Decke gaben zusammen mit den Rundbogen einen zeugenden Dämmer. Die eine Längswand verschwand fast ganz hinter Büchern, welche die gesamte erleuchtete Literatur von den Indern bis herab auf die Gegenwart enthielten. Die verbleibenden Wände waren mit sorgfältigen Kopien von des Meisters Hand nach alten, mystischen Goldgrundmalern geschmückt. Der Schlafraum war die Zelle eines Abtes aus dem zwölften Jahrhundert. Der Leseraum war mit alten, gotischen Bibelpulten, Folianten und kostbaren Gebetteppichen ausgestattet. An den Mauern hingen hier Bilder der großen Eingeweihten.
In alle Räume drang das schale Licht des Tages durch die magisch leuchtenden, tiefbedeutsamen Glasgemälde des Meisters. So verwandelt, förderte es die Verinnerlichung und entfernte durch das Geheimnis des überirdischen Glühens den meditativen Sinn seines Bewohners von der Maya.
Florian mußte an der Tür die Schuhe ablegen. Denn man betrat des Meisters Wohnung wie der Moslem die Moschee. In ästhetischen Dingen ein unbekümmerter Wilder, geriet Florian allein durch stummes Schauen in abweltliche Weihe. Als ihn dann der Meister im Lesezimmer ins Gespräch zog und er dem unaussprechlich weisen und gütigen Gesicht gegenübersaß, kam das Glück des Kindes über ihn, das trotz eines bösen Streiches nicht gezüchtigt wird. Beatus hörte Florians Beichte mit überraschendem Verständnis für das Erdhafte der Lust an. Wie denn weder höchste Kultur der Lebensführung noch Urweltweisheit die gesunde Vollsaftigkeit seines Allverstehens gebrochen hatten.
»Ihnen fehlt das Reich der Mitte, lieber Freund! Durch Ihr ganzes Leben geht ein Riß! In Ihrem Wesen ist eine Leere, die Sie ausfüllen müssen. Nach oben reißt Sie Luzifer. Denn Sie besitzen unzweifelhaft feinste und hochstrebende Geistigkeit. Nach unten aber reißt Sie ebenso mächtig Ahriman in den Sumpf der Begierden. Wenn ich die Augen schließe, schaue ich, daß selbst der Mord Ihrem Karma droht! So können Sie nicht Tier sein, weil Ihr Verstand fast schon vergeistet ist! Und können nicht Geist sein, weil die Tierhaftigkeit Ihrer Erbmasse noch zu heftig in Ihnen drängt! Als Mensch also sind Sie unfähig, unnütz, unzeitgemäß! Darum schaffen Sie sich mit aller Kraft den Plan der Mitte! Werden Sie sich, was Christus der Welt geworden ist, Mittler zwischen Luzifer und Ahriman! Schaffen Sie Geist! Denn der Gott, der über den obersten Thronen wohnt, will, daß des Geistes immer mehr werde auf Erden und, von ihm ausgestrahlt, zu ihm zurückstrahle. Bringen Sie das Opfer, das der Christ für die Welt brachte, für sich selbst! Opfern Sie die Lust! Verfeinern Sie die Begierde und machen Sie sie fruchtbar im Reich des Geistes! Nur der Schaffende ist Mensch!«
Nachdem Beatus mit tiefer Begründung lange so gesprochen hatte, ging Florian und wehte durch die abendlichen Straßen, einem Taumelnden gleich, heimwärts. Vergebens lockten nun Cafés mit singenden Geigen und lauernden Frauen. Er bewegte allein die gütigen Worte des Meisters in seinem Herzen.
Cordula fürchtete um seinen Verstand, weil er beim Abendbrot so absonderliche Reden führte wie noch nie. Festen Sinnes erklärte er zum Schluß: »Morgen gehe ich zum Großmeister! Und jetzt störe mich, bitte, nicht! Ich will meine alten Meditationen wieder aufnehmen!«
*
Im ersten Feuer seiner dritten Erweckung suchte Florian, sooft es ihn schicklich deuchte, Jakob Beatus auf, und jedesmal ging er bereichert von dannen. Mit Beatus gab es keine leere Minute. Hatte Florian bisher im Großmeister den einzigen Walter des okkulten Wissensgutes verehrt, so lernte er in Beatus den Hüter ebenso alter, nur anders geprägter Schätze kennen. Ungesucht strömte Urweisheit mit jedem Satz von den gütigen Lippen. Obendrein war die Erkenntnis nicht lehrhaft wie aus des Großmeisters Munde, sondern in lebendigste Anschauung gewandelt und in alle Künste aller Zeitalter verwoben. Denn Beatus war nicht nur der Schöpfer glühender Wunderwerke aus bleigefaßtem Glasfluß, sondern er kannte auch von Grund auf Dichtung und Tonkunst.
Wenn er über Musik und namentlich über den Bayreuther Meister sprach, den er vor allem um der Urweisheit des Ringes und des Ostermysteriums willen liebte, schien es selbst solchen Zuhörern, die längst glaubten, das Tiefste dieser Töne und Worte zu besitzen, als hätten sie bisher Gassenlieder aus den edelsten Melodien vernommen, als würde ihnen erst durch Beatus' Auslegung und Verknüpfung der Schleier vom Wesentlichen gerafft.
Durch nahen Umgang mit dem Großen Feierlichen war Beatus ferner in allen Geheimnissen von dessen oft rätselhafter Kunst bewandert. Bei Gelegenheit erfuhr er von Florians rezitatorischer Begabung und ließ ihn ein Gedicht sprechen. Allein wie erstaunte Florian, als der Meister das gleiche Gedicht sprach und seine gewöhnlich milde Stimme zur ehernen Tuba schwoll! Da wurde jedem Selbstlaut sein Recht. Weithin schallte rot das A, gellte das E, schrillte oder stach das I, loderte das O und glutete warm das U! Wie Takte der Musik sprangen, wogten oder ratterten die Rhythmen! Da Beatus sah, daß Florian das Werkzeug eines guten Sprechers besaß, den starken Balg der Brust und das kräftige Gehäuse der Kehle, schulte er ihn in strenger Zucht, bis Florian ihm in schneller Fertigkeit alle Griffe abgelauscht hatte. Allein wenn Florian bisher, verführt durch Schmeichler, geglaubt hatte, ein phänomenales Gedächtnis zu besitzen, so mußte er jetzt zugeben, daß ihn Beatus an Feinheit und Weite der Geisteskräfte um viele Inkarnationslängen schlug. Der Meister hatte nicht nur die besten Gedichte aller großen Dichter, sondern auch die meisten Dramen und ganze Seiten rauschender Prosa jederzeit, Zeile für Zeile, Wort für Wort, gegenwärtig. Nie fühlte sich Florian kleiner als an jenem Tag, da er erfuhr, daß ein anderer ihn an Spannweite des Gedächtnisses übertraf.
Dennoch war er glücklich, weil er nun wieder eine Aufgabe hatte. In kürzester Frist verleibte er seinem Gedächtnis fast das Gesamtwerk des Großen Feierlichen ein. Wo immer er nunmehr hinkam, vermochte er nicht, sein neues Können unter den Scheffel zu stellen, sondern brachte sofort mit der ihm eigenen Beweglichkeit das Gespräch auf Dichtung und das Sprechen von Gedichten. Und meist nach Verlauf der ersten halben Stunde hatte er Geladene oder Gastgeber so weit, daß sie ihn baten, vorzutragen. Dann aber schallte Florian, daß Bilder und Vasen schütterten. Je urteilsloser die Zuhörer waren, desto toller übertrieb Florian die Vorschriften des Meisters. Er rollte mit weit hervortretenden Augen. Er bog den Kopf nach hinten, daß zu befürchten stand, er möchte wie weiland der Hohepriester Eli über der Stuhllehne sein Genick brechen. Er fletschte mit den Zähnen, quetschte die Lippen, brüllte, röchelte, winselte und weinte. Je befremdeter die Hörer waren, desto behaglicher wurde es seiner Eitelkeit. Viele Frauen ließen sich vom Erz seiner Stimme, die stärkste, härteste Männlichkeit verhieß, betören. Diejenigen Harmlosen, die Florian zum erstenmal vernahmen und sahen, wieherten, pruschten innerlich oder dachten an den Arzt, je nach Veranlagung.
Doch auch Florian, so ernst er sein Verhältnis zu Beatus als Gnade betrachtete, verriet wie Petrus seinen Meister! Da der Kreis um Beatus und den Großen Feierlichen als unzugänglich galt und also hoch im Kurs der Snobs stand, schuf sich Florian unter kaltblütiger Ausbeutung ehrgeiziger Hoffnungen wertvollste Beziehungen. Manche hätten viel darum gegeben, sich des Verkehrs mit diesen Heroen rühmen zu dürfen, denen mit Geld auf keine Weise beizukommen war und die schwerer erreichbar schienen als der Kaiser von China.
Gewandt verstand Florian durchblicken zu lassen, daß es ihm ein leichtes sein würde, die ersehnten Beziehungen herzustellen. Die Folge war, daß man ihn selbst auf die vagsten Verheißungen hin in den à la mode-Kreisen des westlichen Berlins freundlich duldete, obwohl er weder seiner inneren noch seiner äußeren Kauzigkeit halber dort am Platze war. Aber Florian hütete sich wohl, seine Versprechungen wahrzumachen. Denn ihm war nur zu gut bekannt, daß Beatus aus Gründen selbstbewußter Würde es immer abgelehnt hätte, sich zum Schaustück zu erniedrigen. Sondern Besuche und Gespräche bedeuteten Gnadenakte, da seine Zeit allein zum Schaffen oder zum Fördern des Geistigen da war.
Dennoch hielt Florian allein schon durch Nachrichten über den jeweiligen, von allen Verehrern wie ein priesterliches Geheimnis keusch verschwiegenen Aufenthalt des unsichtbaren Geweihten die Gemüter der Neugierigen und Ehrgeizigen in genügender Spannung. Drängte man ihn, so gab er unter Vorbehalt und in aller Heimlichkeit intime Anekdoten über die Menschlichkeiten des Übermenschlichen zum besten.
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Diesen Winter war Florian so von Lyrik übergossen, so untergegangen in einer Flut von Versen, die der Ozean seines Gedächtnisses mühelos beherbergte, daß Cordula und die nächsten Freunde um ihren und seinen Verstand zu fürchten begannen. Er konnte nirgends sein, ohne unaufgefordert Verse zu brüllen, zu stöhnen oder zu säuseln. Er peinigte Cordula und Juan so, daß sie entsetzt flohen, sobald er nur den Mund auftat.
Hinzu kam, daß jetzt erst die groteske Ähnlichkeit von Florians Gesicht mit dem des Großen Feierlichen allen richtig bewußt wurde, zumal Florian dafür sorgte, daß sich dieser sicherlich nicht bedeutungslose Zufall genügend herumsprach. Während es nun für einen geraderen Mann eine Qual dargestellt hätte, die große Maske des Genies mit den sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu tragen, turnte Florians Selbstunsicherheit mit Leichtigkeit über diese zerbrechliche Brücke ans rettende Ufer der Eitelkeit. Ihm genügte die Maske auch ohne Leistung.
Freilich, solange er es in einer Gesellschaft nicht dahin gebracht hatte, daß ihn jemand aufforderte zu sprechen, litt er stumm. Denn erst wenn der Eindruck auf die Hörer da war, wuchs in ihm ein Gefühl von Macht. Bis zu diesem ersehnten Augenblick irrte er, von Unruhe getrieben, meist von diesem zu jenem. Oft erlöste ihn Juan, halb aus Mitleid, halb aus dämonischem Hohn, indem er ihn, ohne die Wirte um Erlaubnis zu fragen, einfach aufforderte, mit dem Vortrag einiger Gedichte zu beginnen. Er war es zufrieden, wenn er dann die Verzerrungen von Florians Antlitz skizzieren konnte. Ihm schien, als hätten sich alle Teufel auf diesem Gesicht ein Stelldichein gegeben. Es war ein Hexensabbat von Grimassen.
Florian jedoch, des Gottes trunken, wußte nichts vom Gewimmel seiner Fratzen. Mit kühnem Lächeln schaute er sich nach vollbrachter Leistung im Kreise um, den Beifall heimsend, wo er ihn fand. Selbst Erstaunen und verhohlenes Lächeln schlürfte er wollüstig als Selbstbejahung. Spielte er doch seit seiner Mystagogenzeit endlich wieder eine Rolle.
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Gegen Ostern veranstaltete Beatus eine seiner berühmten mystischen Liturgien. Florian war auch geladen. Allein er fühlte sich befangen unter den erlauchten Geladenen, von denen jeder hohen Rang im Reiche der Kunst oder des Geistes einnahm. Im Hintergrund des Ateliers hing ein hellblauer, persischer Teppich vom unwahrscheinlichen Blau exotischer Himmel. Davor standen auf seltsam inkrustierten indischen Hockern silberne Leuchter mit riesigen Kerzen. Sie brannten, ohne zu flackern. Denn Stille und Weihe waren in dem Raum.
Auf einen Gongschlag hin trat ein junges Weib, Adine, einen schwarzen, mit mythischen Goldzeichen durchwebten Schleier um die braunen Schultern, auf nackten Füßen vor den blauen Teppich und harrte regungslos, die Arme an den Leib gelegt. Die Augen in dem weit nach hinten gebeugten Haupt, das von glänzendem, schwarzem Haar umgeben war, hielt sie ekstatisch geschlossen.
Auf einen anderen Gongschlag hin sprach sie, gottbegeisterte Pythia, mit der Strenge einer Priesterin uralte indische Schöpfungshymnen. Ihre Stimme, wundervolles Instrument, schwoll und sank, zitterte und dröhnte wie die Saite einer sehr alten Geige unter Meisterhand.
Trotz feierlicher Entrückung bemerkte Florian, daß Adinens Nase stark gebogen war. Verzücktheit, Zerknirschung und Sehnsucht verbündeten sich, um seine Verzauberung zu vollenden. Der göttliche Funke des Seeleneros, den er so beredt zu verherrlichen wußte, knisterte in seinem Herzen. Ungeduldig und nunmehr ohne Andacht sehnte er das Ende der Veranstaltung herbei.
Danach brachte er es fertig, sich von Beatus mit gütigen Worten Adinen vorstellen zu lassen. Gefällig erbot er sich, sie, die einen weiten Weg durch die Nacht allein zurückzulegen hatte, heimzugeleiten. Er wußte auf diesem Gang so geschickt zu schmeicheln, daß Adine nicht umhin konnte, ihn aufzufordern, sie demnächst einmal zum Tee zu besuchen.
Bereits am andern Mittag rief Florian bei ihr an und erreichte von der Überraschten, daß sie ihn wohl oder übel zum folgenden Nachmittag einladen mußte.
Es behagte Florian sehr bei Adine. Sie hatte ihr Heim mit gutberatenem Geschmack hergerichtet. Farben der Wände, Lampenschirme und Möbel, alles war in gedämpft glühenden Tönen gehalten, die ihre brünette Schönheit hoben. Am meisten aber bewunderte Florian ihren geschliffenen Geist, der selbst seiner Dialektik standhielt. Mit alledem verband sie obendrein eine bestrickende Liebenswürdigkeit und viele kleine Teufeleien der Erfahrenen.
Als Florian ging, war er überzeugt, diesmal endlich diejenige Frau gefunden zu haben, die allen seinen Forderungen entsprach. Fast fürchtete er die Leidenschaft, deren Taumel er bereits in den Tiefen seines Blutes gluten fühlte. Aber auch er hatte einen gewissen Eindruck auf die Verwöhnte nicht verfehlt, denn er war außerordentlich gewesen! Er hatte, wie gewöhnlich in solchem Fall, in verzweifelter Verschwendung, aus ewig unstillbarer Sehnsucht, alle Schleusen seiner Absonderlichkeit rauschend strömen lassen.
Mit einem Schlage vernachlässigte er seine anderen Beziehungen. Wie ein unbewußt egoistisches Kind beanspruchte er die ganze freie Zeit der Vielbeschäftigten. Halb aus Spielerei, halb aus Gutmütigkeit duldete sie seine Seßhaftigkeit. Nicht zu leugnen war außerdem, daß Florian mit seiner genialen Maske bei den vielen Tees, die sie zu geben hatte, stilvoll repräsentierte. Im übrigen besaß Florian das rätselhafte Vermögen, daß in seiner Gegenwart keine banale Unterhaltung aufkommen konnte, sobald er einen Gegenspieler fand. Und den fand er allerdings in Adine. Sie eignete sich vortrefflich dazu, die Springkugel der Gegenrede von ihm aufzufangen und ihm wieder zuzuwerfen, so daß ihr wirklich vorhandener Geist durch Florians Anwesenheit mehr denn gewöhnlich zur Geltung kam. Dafür übersah sie gern, daß Florian in gesunder Körperlichkeit unerhörte Mengen ihres stets ausgezeichneten Kuchens verschlang und die teuren Zigaretten bis auf die letzte den übrigen Gästen fortrauchte.
Eines Tages, als Adine, ihrer Gewohnheit gemäß, vor ihm auf der Ottomane lag, unternahm Florian einen Angriff. Er wurde vernichtend abgeschlagen und erfuhr ein Geheimnis, das er niemals vermutet hätte. Wie gelähmt ließ er da von Adine.
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Von Stund an mied er Adine und stürmte, um die Wunden der Enttäuschung und der gekränkten Eitelkeit zu heilen, wider alles bessere Wissen von neuem in das Samsara, bis das Schicksal für dieses Mal Halt gebot. Er erkrankte schwer, so daß er für Wochen das Bett hüten mußte.
Von Langeweile gezwungen, las Florian zahlreiche Bücher an, faßte die mannigfachsten Pläne für Erneuerungen seines Lebens und war dem körperlichen Fieber entsprechend von krankhafter, geistiger Regsamkeit.
Juan, der seines rätselvollen Freundes Ergebung in das Leiden bewunderte, erhielt zur Antwort: »Ich nehme mein Übel als Warnung der karmischen Mächte hin! Paß auf, Juan« – sie duzten sich, seitdem Florian Juans unverbrüchliche Treue während seines Krankenlagers voll Rührung erkannt hatte –, »ich fühle es genau, mir steht eine seltsame Zeit bevor! Mein Karma hat noch große Dinge mit mir vor! Wenn mich meine Hellsichtigkeit nicht täuscht, werde ich nach meiner Heilung endlich das so oft verheißene Buch schreiben!«
»Warum fängst du nicht schon jetzt, wo du reichliche Muße hast, damit an?«
»Tja, weißt du, da müßte mal einer kommen und mich auf einem Stuhl festbinden, dann würde ich bestimmt Prosa schaffen. Ach Gott, mein episches Gewissen – –«
Erst nach geraumer Zeit konnte Florian das Bett verlassen.