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I.
Maya.

Als Florian Windmacher, der einzige Erbe des Klostergutes Reitzenau, noch die Prima der Stiftsschule zu Mirbach besuchte, lichtete sich bereits der weißblonde, unordentliche Schopf, der in selten gekämmten, bäuerischen Strähnen seine ebenso hohe wie breite Stirn überhing. Dieser unzeitige Haarschwund gab zugleich mit der gewaltig vorspringenden Nase, den blauen Augen, deren Blick von einer wild zupackenden Schärfe sein konnte, und den weitausgezogenen, dünnen Altweiberlippen seinem Gesicht eine jedem sofort bewußt werdende Ähnlichkeit mit dem allbekannten Meister einer neueren Dichtschule. Da dessen hoheitsvolle Züge damals, zur Zeit seines größten Ruhmes, in aller Gedächtnis waren, wurde Florian von manchen anfänglich für jenen genialen Künstler gehalten. Eine Täuschung, die Florian nur ungern und nach einigem Zögern geheimnisvoll lächelnd aufzuklären pflegte und die von nicht geringem Einfluß auf sein Schicksal werden sollte.

Zugleich bemächtigte sich, als Florian 18 Jahre alt war, wohl als Folge heftiger Heimsuchungen um die Wende der Kindheit, seiner Gesichtsfarbe eine unvermutet plötzlich auftretende Fahlheit, die ihn um ein rundes Dutzend Jahre älter machte, als er in Wirklichkeit zählte. Von seinen Mitschülern erhielt er deshalb zu witziger Stunde den Beinamen »der lebende Leichnam«, den er, freundlich lächelnd wie stets, wenn er von unter ihm Stehenden geneckt wurde, mit gutem Anstand hinnahm. Fühlte er doch trotz seines kränklich gelben Hauttones die zähe Kraft und urwüchsige Gesundheit seiner bäuerlichen Ahnen in sich, auf die er, ebenso wie auf seinen aus den Bauernkriegen her berühmten Vornamen, ungemein stolz war.

Gleichwohl frönte er im Widerspruch dazu schon um diese Zeit einem ausgesprochenen Hang, nur mit dem Hochadel zu verkehren. Vielleicht weil er in dunklem Drang Anker der Sehnsucht nach jenem Land selbstverständlich geschmackvoller Lebensführung warf.

Denn allein Florians Muskelkraft war es, die ihm, der seiner unappetitlichen Absonderlichkeiten halber von den meist altadligen Internen des vornehmen Stifts viel belächelt wurde, in allen sportlichen Betätigungen den Vorrang und somit die Achtung seiner Kameraden verschaffte. Er gab beim Tennis mit solcher Gewalt auf, daß es den gewandtesten Gegnern unmöglich war, den Ball zu nehmen. Denn kein Platz hatte einen genügenden Auslauf, um Florians sausende und unheimlich schleichende Bälle zu haschen. Man erzählte noch in späteren Jahren in Mirbach, daß Florian einst bei einem Turnier mit dem ersten seiner gefürchteten Aufgebebälle das starke Drahtgitter des Platzes mühelos durchschlagen hatte.

Obwohl nun Florians Stubengenossen zwei Fürsten Ysenstein und ein Reichsgraf Bender waren, die ihm überkommene gute Formen, Sauberkeit und Körperpflege vorlebten, konnte Florian es nicht unterlassen, sich in nachdenklichen Augenblicken in höchst unschicklicher Weise mit seiner Nase zu beschäftigen. Er ließ sogar zu diesem Zweck den Nagel des rechten Zeigefingers stets übertrieben lang wachsen. Desgleichen spie er von klein auf, in kurzen Zwischenräumen schnalzend, mit Geschick selbst über weiteste Strecken hin und verfehlte nie ein angegebenes Ziel. Nur selten war er zu bewegen, sich, auch wenn es wahrlich angebracht gewesen wäre, die Hände zu waschen. Namentlich aber pflegte er sich an den unmöglichsten Stellen und in den unpassendsten Augenblicken selbstversunken zu kratzen.

Wurde er dieser üblen Gewohnheiten halber gehänselt, erwiderte er mit dem drolligen Lächeln eines sehr jungen Kindes: »Tja, lieber Freund, du hast ganz recht, ich muß wirklich mehr auf mich achten. Ich bin dir sogar sehr dankbar, wenn du mich auf meine Nachlässigkeiten aufmerksam machst. Aber das habe ich von Vater. Vater macht es ebenso.«

Florian war trotz seines genialen Aussehens ein enttäuschend alltäglicher Durchschnittsschüler. Gute Leistungen wies er allein in den bereits geschilderten Fächern auf. Sonst war er nur noch durch eine bemerkenswerte Begabung ausgezeichnet, sich mit faselnder Beredsamkeit auch über Gegenstände, die er keineswegs beherrschte, voll Sicherheit auszulassen. Wobei ihn seine biedermännisch sonore Stimme unterstützte, welche Stimme im übrigen bewirkte, daß er bei festlichen Gelegenheiten stets zum Aufsagen herangezogen wurde. Diese Ehre scheint um so beachtenswerter, als er unter hochadligen Kameraden fast der einzige Bürgerliche war.

Florians rezitatorische Begabung setzte sich aus mehreren Eigenschaften zusammen, die einander glücklich ergänzten. Zunächst einmal besaß er ein Gedächtnis, das wie ein unersättliches Becken Verse albernster wie auch ernstester Art nach kurzem Durchlesen ein für allemal festsitzend aufnahm. Ferner schlummerte in dem nicht gerade mißgewachsenen Jüngling, dessen Gang allerdings durch ein schlottriges, verqueres Übersetzen der schiefgestellten Füße von der Seite her übereinander entstellt war, dessen Bewegungen übertrieben hastig und darum häufig komisch wirkten, nichtsdestoweniger ein Drang, sich mit erhabener Geste und dröhnendem Wort zur Schau zu stellen. Und zwar kannte er niemals irgendeine Hemmung der Scham, sich, welcher Zuhörerschaft es auch sei, vorzuführen. Also nutzte man seinen Eifer, indem man ihm bei Schulaufführungen mehrfach tragende Rollen übergab.

All diese Erfolge bewirkten, daß Florian, dessen Ichsicherheit durch seinen altpreußisch harten Vater, ein durch das ganze Vorgelände des Harzes berüchtigtes Rauhbein, von Jugend auf in Stücke geschlagen worden war, die Schule, nachdem er auch im Sitzenbleiben den bis dahin von einem Baron Stuhr gehaltenen Altersrekord gebrochen hatte, mit zweiundzwanzig Jahren, dem ziemlich schlechten Reifezeugnis und einem einigermaßen geflickten Selbstbewußtsein verließ.

Aber schon, als er in der Kalesche, in der ihn Paul, der alte Kutscher, von der Station abgeholt hatte, dahinschüttelnd die Türme von Herrenhaus Reitzenau erblickte, überfiel ihn selbst aus der noch beträchtlichen Entfernung und trotz der goldenen Aprilsonne die eisige Luft der häuslichen Hölle, in welcher der alte Ökonomierat seiner grausamen Vaterschaft waltete. Sein erstes Opfer war Florians Mutter, eine zarte, nervöse Frau, allein dem Geistigen zugewandt, der Florian im übrigen zum Lachen ähnlich sah.

Als zweites Opfer blieb noch Florian!

Nun holperte der Wagen zwischen den Linden, deren zartes, federleichtes Blattwerk im milden Winde zitterte, dahin. Florian, der diese Bäume vor allen anderen liebte, feierte ein frohes Wiedersehen und dachte: Ihr Linden, lind wie euer Name ist auch meine Seele. Wie bin ich glücklich!

Aber je näher die Pforte des Gitters, das den weiten Park umhegte, kam, desto unbehaglicher ward es Florian zumute. Ihm fiel voll Angst ein, daß er die Mahnung des Vaters aus einem der letzten Briefe, sich nunmehr endlich für einen Beruf zu entscheiden, gänzlich vergessen hatte. Was in aller Welt sollte er beginnen! Er interessierte sich für alle Berufe gleich viel und gleich wenig. Es kam allein darauf an, dem Arm des Vaters möglichst bald zu entrinnen und möglichst stets außer Reichweite zu bleiben.

Jetzt ratterte die Kalesche durch das Parkgitter und knirschte auf dem Kies. Unter der Auffahrt erkannte er die hohe, schlanke Gestalt der Mutter.

Hastig fragte er den Alten auf dem Kutscherbock: »Paul, wie ist denn Vaters Laune?«

Der Alte brummelte, halb umgewandt: »Man hallwege, junger Herr! Heut morgen haben der Herr Ökonomierat den zweiten Inspektor zum Teufel gejagt.«

Florian zuckte zusammen. Dann fuhr er bestürzt in sein Haar, so daß der Hut schief tanzte. Es galt zu handeln! Und mit der Geschwindigkeit, die er sich, aus höchster Not geboren, im wenn auch seltenen Verkehr mit dem Vater erworben, schoß von irgendwoher in sein Denken: Großkaufmann! Ausland! Weit weg! Nie wieder nach Hause! Unabhängig von Vater!

Der Wagen hielt. Florian sprang heraus und umarmte seine Mutter.

*

Als Florian dem Vater mit gewohnter Beredsamkeit seinen Plan, Großkaufmann zu werden – sprossen ihm doch Gründe, Ausflüchte und Entschuldigungen jederzeit ohne sein Zutun wie von selbst aus höheren Quellen –, entwickelt hatte, nahm der Ökonomierat, getreu seiner betriebsamen Art, die Angelegenheit sofort in Angriff.

Die Mutter besaß einen weitläufigen Verwandten in Hamburg, der Florian in einem großen Exporthaus als Lehrling anbrachte und auch eine Unterkunft für ihn ausmachte.

So fuhr Florian bereits nach wenigen Tagen wohlgemut in die Fremde. Hatte er doch in dieser kurzen, aber qualvollen Zeit mehr denn je zuvor unter dem erstickenden Dunstkreis, der um des Vaters machtlüsterne Persönlichkeit schwebte, gelitten. Der Ökonomierat seinerseits war nicht ohne Grund hart und streng gegen Florian. Denn schärfer als jeder Fremde erkannte er im einzigen Sohn die Fahrigkeit und Schwäche der Mutter, die allerdings nicht imstande war, den schweren und verantwortungsvollen Platz einer Gutsherrin auszufüllen.

Florian seinerseits entdeckte am Vater all das bäuerische Unwesen, das er sich selbst vorwarf und mit dem er überall Anstoß erregte. Leider besaß er nicht Ausdauer, Geduld und Übersicht genug, um jene üblen Angewohnheiten methodisch abzubauen, was wiederum ein unglückliches Erbe von seiten der Mutter war, die er im übrigen liebte und gütig behandelte.

Allein behaglich hatte er sich noch nie daheim gefühlt. Nichts in der Welt glich an Verdrießlichkeit diesem Leiden des Gleichen unter dem Gleichen. Dumpf taten sich ihm schon damals die Urabgründe des Elternhasses auf. –

In Hamburg merkten seine Vorgesetzten gar bald, mit wem sie es zu tun hatten. Sie begriffen, daß Florian als Sohn aus reichem Hause eine gewisse Schonung gebühre, daß er jedoch nicht beabsichtigte, tiefer in die Geheimnisse der doppelten Buchführung, des Wechselrechts oder des Kommissionswesens einzudringen. Daher gaben sie ihm ungefährliche Beschäftigungen. Vor allem mußte er sich dem Adressenschreiben und dem Eintragen von Posten in die mächtigen Hauptbücher widmen.

Aber selbst dazu war Florian seiner von Anfang an unleserlichen, kleinen Handschrift wegen schlecht zu gebrauchen. Im übrigen entwickelte er in der Lehre eine große Geschicklichkeit, die Zeit zu töten, indem er sich der gewohnten Beschäftigung mit seiner Nase oder der Pflege seiner Nägel widmete.

Für Kollegen und Vorgesetzte bedeutete Florians Anwesenheit im Geschäft eine Quelle stiller Belustigung während der langweiligen Bureaustunden durch die unzähligen kleinen Versehen und Versäumnisse, die er sich zuschulden kommen ließ und die ihm den wenn auch gelinden Tadel des Prokuristen und des Chefs zuzogen. Er aber trug Vorwürfe und Sticheleien mit einer lächelnden Verbindlichkeit, die ihn allen liebenswert machte.

So konnte es nicht ausbleiben, daß die Kollegen ihn einluden und ihn, der wie ein Kind war, mit den Freuden der Großstadt bekanntmachten. Bald fand Florian auch allein den Weg nach einem berüchtigten Haus, wo er sich, da er über einen genügend hohen Monatswechsel verfügte, des öfteren aufhielt. Namentlich hatte es ihm eine dunkle, üppige Jüdin angetan. Sie hieß Lea und hatte in dem schmalen, bleichen Gesicht eine Nase, die der Florians an Umfang und Krümmung so glich, daß es die Kumpane wundernahm, wie die beiden zueinander kommen möchten.

Florian, der sein Vaterhaus wie ein Verbannter floh, der trotz Eltern und Heim in Wahrheit heimatlos war, sehnte sich nach Ausruhen vom unklaren Schweifen seiner jungen Süchte, nach Frieden, nach mütterlichem Umfangen. Darum liebte er es, sein mächtiges Haupt auf Leas Brust zu betten und die frühe Mühsal seines Daseins dort zu verträumen. Sie, die vom Abwässerstrom des Lebens immerhin an die Gestade mancher Absonderlichkeit verschlagen worden war, begriff diesen athletischen Jungen niemals ganz.

Eines Abends, als sie die bis dahin geschlossenen prachtvollen Augen öffnete und durstigen Mundes seine Lippen suchte, erblickte sie sein leichenfahles Gesicht von teuflischem Grinsen entstellt. Erst glaubte sie, sich für beleidigt halten zu müssen und stieß ihn ernüchtert von sich. Dann bekam sie Furcht, er möchte vielleicht irre sein.

Als sie ihn ängstlich fragte: »Warum lachst du so abscheulich?«, antwortete er kichernd: »Ich mußte nur daran denken, was Vater sagen würde, wenn er mich jetzt sehen könnte!« Das Mädchen schüttelte unwillig den Kopf.

Obwohl Lea durchaus kein unebenes Geschöpf war, sollte Florian, dessen reine, innere Scheu wahrlich andere, idealere Vereinigungen vorgesehen hatte, von diesem ersten Erleben her fürderhin einen gründlichen Abscheu vor nur körperlicher Vermischung bewahren. Wie er denn, sich selber zum Erstaunen, seine seelische Struktur trotz seiner bäuerlichen Ahnen und trotz seiner Kraft von Monat zu Monat als zarter und brüchiger erkannte. Also, daß einmalige Geschehnisse, die Robustere bald versöhnt belächelten, für ihn Wunden in Ewigkeit bedeuteten.

Um diese Zeit ergriff Florian eine plötzliche Leidenschaft für bunte Westen, die damals viel getragen wurden. Er kaufte sie in allen Farben und Ausführungen, entdeckte phantastisch gestreifte, sinnig bestickte, solche mit stumpfen, durchsichtigen und opalisierenden Knöpfen, und zahlte wie ein großer Herr die Preise, die dafür gefordert wurden. Er brachte es im Laufe der Zeit bis auf neununddreißig Westen und mußte eigens, um sie zu bergen, einen geräumigen Koffer erstehen. Da sein Geld für diese Anschaffungen nicht reichte, machte er Schulden. Als die Schulden so angewachsen waren, daß er keine Möglichkeit mehr sah, sie zu begleichen, benutzte er den ersten, kurzen Sommerurlaub, den er notgedrungen auf Reitzenau verleben mußte, dazu, die jüngst erworbenen Geschäftskenntnisse zu verwerten.

Zunächst riß er aus des Vaters Scheckbuch ein Blankoformular. Sodann übte er sich in reichlicher Muße, den Namenszug des Vaters nachzuziehen, bis es ihm zu seiner Freude so täuschend gelang, daß ihm die Bank in der nahegelegenen Stadt den Betrag unbeanstandet auszahlte. Von dieser angespannten Beschäftigung her blieb Florian durch sein nachmaliges Leben, ohne daß er jemals ein Buch über Schriftdeutung studiert hätte, die eigenartige Gabe, mit großer Feinfühligkeit jede fremde Schrift nachziehen zu können, und dann eine gewisse hellseherische Fähigkeit, aus von fremder Hand Geschriebenem sofort auf den Charakter des Schreibenden zu schließen.

Wieder in Hamburg, beglich Florian zur Verwunderung seiner Gläubiger unerwartet seine Schulden. Er hoffte, die Summe irgendwie hereinzubekommen und dem väterlichen Konto in aller Stille wieder zuzuführen, so daß die unbefugte Entnahme – wie er es vor sich selbst bezeichnete – dem Alten vielleicht verborgen blieb. Niemand, auch sich selbst nicht, hätte Florian jemals gestattet, seine Handlung mit einem anderen Namen zu benennen. Denn war es in Wirklichkeit etwas anderes als eine Entnahme oder, besser gesagt, Vorausnahme? Hatte nicht der Vater noch stets seine kleinen Schulden in Mirbach, wenn auch polternd nach seiner Art, bezahlt? Würde er nicht genau so auch in diesem Falle gehandelt haben? Es kam also allein darauf hinaus, daß dieser Scheck einige Monate früher ausgefertigt worden war! Im übrigen, einmal würde er doch alles, was dem Vater jetzt gehörte, erben. Demnach war es im eigentlichen Sinne sein eigenes Geld, mit dem er seine Schulden bezahlt hatte.

Im Widerspruch zu diesen streng folgerichtigen Überlegungen, die ihn mit Festigkeit allem Kommenden gegenüber wappneten, legte Florian nach eingehendem Studium aller Sportblätter täglich sein Geld in einem Wettbureau an. Doch entsprach der Erfolg keinesfalls der Bemühung. Als Florian mit üblen Ahnungen das Weihnachtsfest daheim verbrachte, erhielt der Vater zu Neujahr die Bankabrechnung und entdeckte verwundert den Scheck. Er zog telephonisch Erkundigungen bei der Bank ein und sagte Florian die Entnahme oder, besser, Vorwegnahme des Geldes, die er seiner groben Art gemäß mit Fälschung und Unterschlagung bezeichnete, auf den Kopf zu.

*

Wenn Florian später an diese Unterredung dachte, die übrigens ihren Namen sehr zu Unrecht trug, weil er selbst nur mitunter geredet hatte, so begriff er nicht, wie er lebend davongekommen war. Als der Alte mit erhobener Faust auf ihn zuschritt, hatte er sich blitzschnell und gewandt um den großen Eßtisch herum hinter einen der hohen Lehnstühle geflüchtet. Da spie der Vater ihm kunstgerecht, wie es Florian nicht besser vermocht hätte, ins Gesicht und jagte ihn, indem er die Reitpeitsche aus dem Stiefelschaft zog, hinaus.

Einmal draußen, trocknete Florian erleichtert die getroffene Stelle, froh, so leichten Kaufes davongekommen zu sein. Dies Erlebnis hatte jedenfalls die wohltätige Folge, daß der Vater, immer in Furcht vor schlimmen Taten seines ungeratenen Sohnes, Florian von nun an mehr als reichlich mit Geldmitteln versorgte.

Da der Ökonomierat es an der Zeit glaubte, Florian in strengere Zucht zu stecken, meldete er ihn, ohne ihn zu befragen, kurzerhand als Fahnenjunker in einem Infanterieregiment mit einer sehr hohen Nummer an, dessen Kommandeur ein Jugendfreund von ihm war. Er hielt dies für eine besonders schimpfliche Strafe, da er als ehemaliger Husar eine unsägliche Verachtung für die Fußwaffe hegte.

So wurde denn Florian groteskerweise in eine Uniform gezwängt, die alle Mängel und Unbilden seines Wuchses unter- und herausstrich. Für seine mächtige Stirn gab es weder passende Extramütze noch passenden Helm. Es mußte alles nach Maß gefertigt werden. Seine Ohren, deren Wuchs die gute Mutter in zarter Jugend vergeblich durch Anbinden zu beeinflussen versucht hatte, standen wie zu klein geratene Großsegel ab vom gigantischen Schiffsrumpf des Schädels. Die durch Stege gestrafften, frisch gebügelten Hosen enthüllten seine merkwürdigen Beine, die irgendwie schief in die Kniegelenke eingeschraubt waren.

Der ausbildende Unteroffizier wurde zur Verzweiflung getrieben, weil es Florian nicht möglich war, die Knie beim »Stillgestanden!« zusammenzubringen. Ebenso war es vergebliche Mühe, dem Fahnenjunker Windmacher den königlich preußischen Paradeschritt beizubringen. Florian setzte die Füße nach wie vor statt parallel nebeneinander und mit den Spitzen leicht auswärts, verquer und überzwerch.

Auch im Kasino fiel er durch sein geniales Profil völlig aus dem Rahmen. Die Herren liebten nur glatte Durchschnittsgesichter, die eine wünschenswerte Uniformität nicht zerstörten. Der Fahnenjunker Windmacher hingegen sah aus wie ein Komödiant. Noch dazu konnte er durch kein Zureden bewogen werden, sich einen Schnurrbart stehen zu lassen und ihn wie der alleroberste Kriegsherr vermöge geduldiger Kuren zu heldischer Martialität emporzuzwirbeln.

Alles wollte Florian über sich ergehen lassen. Machten doch die Strapazen der Ausbildung, über welche die anderen seufzten, seiner barbarischen Körperkraft wenig aus. Aber sein eindrucksvolles Profil ließ er sich auch nicht auf höheren Befehl durch einen lächerlichen Popanz von Bart entstellen.

Verdankte er doch diesem Profil die einzigen Erfolge auf den festlichen Veranstaltungen des Offizierkorps, bei denen er im übrigen eine klägliche Rolle spielte. Denn nie war es ihm möglich, trotz größter Mühe, die sich die Kameraden bei Liebesmahlen gaben, auch nur den einfachsten Tanzschritt zu begreifen. Den knorrigen Hals über der schwarzen Binde gestrafft, den Altweibermund schmerzlich verkniffen, die Bauernaugen schlau geblinzelt, krampfte er seine Dame an sich und trat ihr gegen den Takt, wie eine Vogelscheuche geschlottert im Winde, mit gewaltigen Füßen auf die Zehen.

Wurde er dieserhalb von den Kameraden gestellt: »Mensch, Windmacher, wie kann man so ungeschickt sein! Sie sind doch ein famoser Tennisspieler und Turner!«, so antwortete Florian hastig nach seiner Art: »Tja, ich weiß auch nicht, die Dame hatte auf einmal zwei linke Füße. Da hab' ich ihr halt auf den getreten, der war, wo er nicht hätte sein dürfen. Ihr habt mir alles ganz anders gezeigt!«

Dazu kam, daß er sich die blonden Strähnen, die ihm unvorschriftsmäßig lang und reglementswidrig unpomadisiert, einem Tölpel gleich, über die ragende Stirn hingen, nur ungern und viel zu selten kürzen ließ. Es bedurfte dazu gewöhnlich erst nachdrücklicher Aufforderung von seiten des instruierenden Offiziers.

Endlich – wie es sich herumsprach, ist schwer zu sagen –, von einem gewissen Tage ab hieß es im Regiment: »Fahnenjunker Windmacher ist ein Dreckschwein!« Der Fähnrich von Steffens, sein gehässigster Kritiker, hatte gesehen, daß Florians im übrigen mit Leidenschaft gepflegte Fingernägel schwarze Ränder aufwiesen; dieser, daß er an zwei Tagen hintereinander unrasiert zum Essen ins Kasino gekommen war, und jener endlich, daß er sich beim Appell vor versammelter Mannschaft mit seiner Nase beschäftigt hatte, als »Rührt euch!« kommandiert war.

Kurz vor der Beförderung zum Fähnrich kamen Florians Absonderlichkeiten auch dem Oberst zu Ohren. Nach einer vertraulichen Rundfrage unter dem Offizierkorps gab er dem Ökonomierat, wenn auch schweren Herzens, da es ein guter alter Freund von ihm war, den Rat, Florian die Offizierslaufbahn aufstecken zu lassen. Er könne nicht gewährleisten, daß Florian bei der Wahl von den Herren des Regiments angenommen würde, weil er sich gewisse Nachlässigkeiten im Auftreten nicht abgewöhnen könne, die er im Interesse des Dienstes nicht durchgehen lassen dürfte.

Der Stabsarzt bescheinigte Florian, daß er, wie man schon an seiner fahlen Farbe sehen konnte, an allgemeiner Erschöpfung litte, daher des Ausspannens dringend bedürfe und aller Wahrscheinlichkeit nach für den Dienst überhaupt dauernd untauglich bleiben würde. Er konstatierte eine leichte Affektion der Lunge, eine abnorme Reizbarkeit des Nervensystems und entließ daher Florian sofort bis auf weiteres aus dem Königlich Preußischen Heeresverband.

*

Da Florian mündig war, nahm ihn der Zorn seines Vaters, namentlich aus der Entfernung, nicht sehr mit. Darum antwortete er auch erst nach längerer Zeit auf einen beschimpfenden Brief des Erzeugers.

War es ihm doch schlechthin unmöglich, sich aus diesem Glück schwelgerischen Hindämmerns, das ihn seit seiner endgültigen Entlassung befallen hatte, zu Unlustreizen, wie sie Briefe an den Vater bedeuteten, aufzuraffen. Wie er heute das ihm einst sinnlos erschienene Toben, Jubeln und Sichbetrinken der entlassenen Jahrgänge nachempfand, nun er am eigenen Leibe gespürt hatte, was Sklaverei des Körpers und der Seele für seinen schweifenden Geist bedeutete. Dennoch wollte er nicht leugnen, daß ihm die allzeit feste Leitung und die Nötigung zur Regelmäßigkeit nicht auch sehr willkommen gewesen wäre. Er wußte genau, daß er, wenn er dereinst ohne jeden Zwang leben könnte, wahrscheinlich an formloses, unendlich weites Grübeln verloren, an nebeligen Ufern versanden würde. Oft fürchtete er sich davor, ohne starke Führung leben zu müssen, und sehnte sich fast nach einem Machtwort des Vaters. So schwankte er wohlig zwischen Gegenpolen hin und her.

Als er in solchen Gedanken vor dem leeren Bogen saß und den schon arg mitgenommenen hölzernen Federhalter mit seinen trotz aller Unsauberkeit weißen, gesunden Zähnen kürzer malmte, fiel es dem nach Worten Ringenden zu plötzlicher Erlösung ein: Warum sollte er nicht nach Göttingen gehen und Jura studieren? Es war das jedenfalls seiner Lebenslage angemessener, als sich in diesem Provinznest wider Willen zu langweilen. Vor allem aber, zu einem juristischen Examen brauchte man mindestens drei Jahre. Und allein darauf kam es an, Zeit zu gewinnen und den Vater durch neue Aussichten zu beschwichtigen und hinzuhalten.

Gesagt, getan! Der Vater, der wieder Hoffnung schöpfte, gab umgehend seine Einwilligung zu diesem dritten bürgerlichen Beruf Florians unter der einzigen Bedingung, daß Florian standesgemäß bei den Slawonen einspränge. Für einen hinreichenden Monatswechsel würde er sorgen. Es dürfte Florian nicht schaden, wenn er in die strenge Zucht des renommierten Korps käme. Und kurz und gut, er wünsche das!

Florian fand zwar, daß er vom Regen in die Traufe geriet, fügte sich aber, schon um nicht mehr schreiben zu müssen. Da mehrere seiner früheren Mitschüler Slawonen waren, fiel es ihm nicht schwer, als Fuchs aufgenommen zu werden.

Allein die Slawonen erlebten wenig Freude an dem Fuchs Windmacher. Da Florian schon aus Haß gegen den Vater, der viel und stark trank – er hatte sich als Kenner aus tiefem Keller eine Bierleitung bis in das Speisezimmer legen lassen –, dem Alkohol in jeder Form abgeneigt war, machte er auf den Kneipen, wo es nur Bier gab, dieses ihm widerlich dunstende, noch dazu vaterbetonte Getränk, eine unrühmliche Figur. Er hatte gar kein Verständnis dafür, warum er sich einem ebenso blöden wie verblödenden Komment zuliebe seinen Magen verderben sollte, dessen Beschäftigung mit gutem und reichlichem Essen und dessen gesundes Funktionieren ihn mit reinstem Daseinsgenuß erfüllten.

Wenn auch seine Korpsbrüder auf den zahlungsfähigen Fuchs mancherlei Rücksichten nahmen, so konnten sie es sich doch nicht verhehlen, daß Florians Erwerb keinen erwünschten Zuwachs bedeutete. Denn abgesehen davon, daß der weiße Stürmer auf den wasserkopfverdächtigen Auswüchsen seines Schädels komisch torkelte, erzeugte der Fuchs Windmacher trotz seines guten Anzugs beim Morgenbummel eine lächerliche Wirkung. Weise wurde er schon mittschiffs genommen, so daß die Blicke der Vorübergehenden nicht notgedrungen kritisch an ihm haften bleiben mußten. Aber so unmöglich es war, ihm das hastige und fahrige Zappeln der Gliedmaßen abzugewöhnen, so aussichtslos war es, ihm den vornehm gemessenen Gang des Korpsiers einzupauken.

Nahm ihn sein Leibbursch auf der Kneipe zur allgemeinen Erheiterung vor, so unterzog sich Florian mit freundlicher Gutmütigkeit und willigem Gehorsam jenen Exerzitien, die bestimmt waren, seine schief eingeschraubten Beine, die an und für sich gerade gewachsen waren, zum Normalgang der Slawonia zu zwingen. Alle Bemühung blieb umsonst! Große Zehe schob sich immer wieder über große Zehe, und schlotternd sausten die weites Hosenbeine über die Halbschuhe hin. Selbst wenn der Leibbursch die Anfertigung des Beinkleides bei dem Schneider des Korps persönlich überwachte, brachte es Florian nach wenigen Tagen dahin, daß die Bügelfalte vom Knie ab gebrochen verflatterte. Die bestsitzende Brusttasche schlappte er aus, indem er das Seidentuch rücksichtslos hineinpfropfte.

Auch gelang es weder durch Zureden noch durch Strafen zu bewirken, daß Florian die Beschäftigung mit seiner Nase auf der Kneipe unterließ. Mit Mühe brachte man ihn dahin, daß er wenigstens auf der Straße und farbentragend davon Abstand nahm. Desgleichen war ihm weder tägliches Kämmen noch tägliches Rasieren auf irgendeine Weise abzutrotzen. Viele hatten ihn im Verdacht, daß er sich tagelang nicht wusch. Stellte man ihn zur Rede: »Windmacher, du bist doch nicht dumm, du mußt doch die Notwendigkeit der Sauberkeit einsehen. Warum bist du nur ein solches Schwein?«, so entgegnete er treuherzig: »Ich vergesse es halt immer wieder, weil ich zuviel nachdenke.«

»Worüber denkst du denn nach?«

»Tja, weißt du, das ist nicht so einfach zu sagen. Dir fehlen gewissermaßen die Prämissen!«

Der Frager schaute Florian halb beleidigt, halb verdutzt über den gelehrten Ausdruck an. Florian war nämlich, da es sich nicht vermeiden ließ, daß er trotz der Inanspruchnahme seiner Zeit durch das Korps ab und zu einer Vorlesung beiwohnte, von einer seltsamen Vorliebe für möglichst entlegene, unverständliche und farblose Fremdwörter gepackt. Sein nie versagendes Gedächtnis streute sie ihm obendrein als mühelos geerntete Früchte seiner Studien in den Schoß. Er galt im Korps als ein Phänomen auf seinem Spezialgebiet der schwerverständlichen Worte. Er erhielt infolgedessen an vergnügten Abenden als Strafe für eine seiner üblichen Liederlichkeiten häufig den Auftrag, eine Rede über einen bestimmten Gegenstand zu halten, bei der in jedem Satz mindestens fünf schwerverständliche Fremdwörter vorzukommen hatten. Dies war Florian ein leichtes. Manch einem seiner Korpsbrüder dämmerte schon damals durch alle Biernebel des Gehirns die Erkenntnis, ob nicht der vielverlächerte Windmacher sie zumindest an Intelligenz allesamt in die Tasche stecke.

Zum Entsetzen seiner Genossen besuchte Florian auch die schwierigsten philosophischen Vorlesungen, die den Slawonenstürmer seit Äonen nicht in ihren Räumen gesehen hatten. Ja, er nahm sogar an philosophischen Privatissimis teil und eignete sich binnen kürzester Frist vermöge seines unverschuldet aufnahmefähigen Gedächtnisses die abstraktesten Fachausdrücke an, also daß von dieser Zeit an selbst seine alltägliche Rede etwas Unfaßbares, Gläsernes, Nicht-von-dieser-Welt-Stammendes erhielt.

Dabei blieb es auch seinen Intimen in undurchdringliches Dunkel gehüllt, ob Florian jemals auch nur ein philosophisches Buch ganz durch gearbeitet hätte. Fragte ihn ein Versucher um Rat, so sprach Florian mit größter Sicherheit jederzeit über jeglichen Gegenstand. Übelwollende behaupteten allerdings manchmal hinterdrein, sie hätten Florians Ansicht wörtlich in der Zeitung oder in einem wissenschaftlichen Journal gelesen.

Wurde Florian, ohne daß er die Gefahr ahnte, aus Bosheit mit wirklichen Sachkennern zusammengebracht, damit er gezwungenermaßen Farbe bekennen sollte, so wich er nach einer bis ins feinste verästelten sophistischen Methode haarspaltend zurück, verschanzte sich hinter Spezialzweigen jener Wissenschaft und bombardierte, in die Enge getrieben, den Sachkenner schließlich mit so schwerverständlichen, von Abstrakten wimmelnden Sätzen, daß dem Gegner der Atem ausging und er sich für geschlagen halten mußte.

Es gab wohl bei solchen Disputen hie und da einen Zuhörer, der Florian gefühlsmäßig für einen Scharlatan hielt; aber es ihm nachzuweisen, dazu fehlte ihm das ebenbürtige Rüstzeug einer gleich abstrusen, vierdimensionalen Sprache und vor allem Florians unnachahmliche Fähigkeit, die höchst- und fernstliegenden Ideengänge sofort zu überschauen und spielend zu überwältigen. Man hatte den Eindruck, als erwache der im Alltäglichen so plumpe und im Praktischen so unbrauchbare Fuchs Windmacher erst, sobald sich das Gespräch nur noch mit den erhabensten Gegenständen befaßte. Jedenfalls mußten auch seine Feinde anerkennen, daß Florian, als Korpsstudent ein hilflos am Ufer zappelnder Fisch, im Karpfenteich der Metaphysik wohlig schwamm, flott plätscherte und räuberisch alle kleineren Gegner verschlang.

Endlich gelang es einem, Florian zu überführen, daß er ein Buch, das er wegwerfend beurteilte, unmöglich gelesen haben konnte.

Worauf sich Florian harmlos verteidigte: »Ich habe das Buch natürlich nur angelesen. Du kannst nicht verlangen, daß ich ein Elaborat, dessen Inferiorität ich schon nach dreißig Seiten erkenne, ganz durchlese!«

Seitdem geriet Florians Ruf als Phänomen im Korps etwas ins Wanken. Das Wort »angelesen« aber verfolgte ihn, wohin er auch im weiteren Verlauf seines Lebens geriet, als ständiger Beiwitz.

*

Alle Sonderlichkeiten hätte man Florian durchgehen lassen. Denn er war trotz seiner Schlampereien ein gütiger, harmloser Kerl, der zur allgemeinen Erheiterung ein langes Semester hindurch reichlich beigetragen hatte. Aber mit größter Sorge dachte man daran, wie er auf Mensur stehen möchte.

Man kannte und fürchtete seine außergewöhnlichen Körperkräfte. Denn bei scherzhaften Holzereien hatte mancher den eisernen Griff seiner doch so feinen, zarten Hände und die tödliche Wucht seiner kleinen Fäuste schmerzlich zu spüren bekommen. Nachdem Florian eine anfängliche Scheu, seinen Kopf, wenn auch unter der Fechthaube, dem Schläger preiszugeben, überwunden hatte, stand er wenigstens auf dem Paukboden. Zwar lief es ihm unter, daß er, durch irgendeinen gutsitzenden Hieb in Wut geraten, mit seinem Schläger den des Gegners höchst unkommentmäßig wie mit einem Bauernknüttel unwiderstehlich niederhieb. Aber man setzte auf seine barbarische Kraft und seine sportliche Ausdauer die größten Hoffnungen.

Gegen Ende des Semesters kam endlich der gefürchtete Tag. Das wenige, was man von Florians Gesicht sehen konnte, war fahler noch als sonst. Aber beim ersten Antreten waren so ziemlich alle, auch die Tapfersten, blaß.

Wenn Florian nur nicht – der Unparteiische beugte sich bereits vor – offenkundig gekniffen hätte. Paukant Windmacher bog den Kopf immer weiter zurück und hieb wie ein Knecht mit dem Dreschflegel die tadellos sitzenden Hiebe des Gegners zuschanden.

Gerade als der Unparteiische den Mund gewaltig auftun wollte, um Florian das erste Monitum zu erteilen, bat dessen Sekundant unter einem nichtigen Vorwand, die Partie abzubrechen. Die Gegner waren es, unter lautem Protest freilich, heimlich zufrieden; denn bei dem Holzen des Slawonenfuchses konnte ihrem Paukanten, der sehr korrekt focht, aber viel schwächer war, unvorhergesehenes Mißgeschick zustoßen. So verlief denn also diese wichtige Angelegenheit der rührigen jungen Leute unter endlosen Erörterungen im Sande.

Florian aber bekam auf dem letzten Konvent vor den Osterferien den freundschaftlichen Rat, dem Korps fürderhin nur noch als Konkneipant anzugehören. Falls er sich damit einverstanden erkläre, würde man ihm zwar nicht das Band, aber wenigstens die Schleife mit den Farben der Slawonia verleihen. Man zankte nicht mit ihm, denn er war allgemein beliebt. Aber man konnte unmöglich durch eine volle Aktivitas Florians das alte Ansehen des Korps gefährden.

Nicht unzufrieden mit diesem immerhin halben Erfolg seines Anlaufs auf korpsstudentische Ehren, und sehr zufrieden damit, daß er nunmehr einen guten Grund hatte, scheinbar gekränkt den auf die Dauer langweiligen Burschen den Rücken zu kehren, fuhr Florian heim in die Osterferien. Wenn er auch noch nicht wußte, was Jura studieren hieß, so kannte er doch seinen Weg. Er würde sich, während er dem Vater weismachte, er bereite sich auf das Examen vor, in Wirklichkeit ganz dem Studium der Philosophie widmen. Denn er vermeinte, angespornt durch seine Erfolge bei Biermimiken und auch nüchternen Disputen, dafür einen inneren Trieb zu verspüren.

Was er dem Korps verdankte, wollte er nicht ungerecht verkleinern. Seine Krawatten, Taschentücher und seidenen Socken waren stets auf harmonische Farbenklänge abgestimmt; seine Anzüge aus bestem englischen Homespun waren bei ersten Schneidern gefertigt; die Nägel seiner wohlgeformten Hände ließ er ab und zu, wenn anders er es nicht vergaß, maniküren, und er wußte zum mindesten, wie er sich in allen Lebenslagen hätte benehmen müssen, wenn er auch weit davon entfernt war, sich entsprechend zu benehmen.

Diese Zufriedenheit mit sich selber, die trotz der Wolken am Horizont seines Glückes – er dachte an die kommende Auseinandersetzung mit dem Vater – bestehen blieb, gab ihm zu denken. Ihm war, als läge ein Abschnitt trüber Täuschung hinter ihm, als beginne nunmehr erst das in Wahrheit klare, geistige Leben. Er wußte heute, was die Welt mit ihren schalen Ehrungen wog, wußte, daß sein Weg über ganz andere Plane führen würde, und fühlte frischen Mut.

Die Peinlichkeit des väterlichen Verhörs wurde schon dadurch sehr gemildert, daß der Ökonomierat allein aus Florians äußerem Auftreten den wohltätigen Einfluß der Korpserziehung erkannte. Zwar schmerzte es seine Eitelkeit, daß sein Einziger nicht einmal imstande gewesen war, das zu leisten, was jeder leisten konnte. Aber Florians Schatz an gelehrten Worten verfehlte nicht, auch auf ihn Eindruck zu machen. Soweit er imstande war, Florians Fleiß nach dessen Schilderungen und metaphysischen Stilproben zu beurteilen, befand sich sein Sohn auf dem richtigen Wege.

Da der Vater entgegenkommender war, als Florian zu hoffen gewagt hatte, schlug er als nächste Universität München vor, das von seiner niedersächsischen Heimat möglichst weit entfernt lag. Denn dann hatte er Aussichten, die Sommerferien unter dem Vorwand der kostspieligen Reise irgendwo anders zu verbringen und brauchte nicht unter ständigem Druck im Hirn in der väterlichen Bannmeile dahinzusiechen. Der Alte genehmigte Florians Wunsch, ohne Einwände zu machen, da er, sobald er an des Sohnes ernsthafte Bemühung glaubte, ihm kein Hindernis in den Weg legen wollte.

*

Gleich als Florian sich in München immatrikulieren ließ – es war am 21. April –, empfand er ein ihm unerklärliches Angstgefühl. Er hatte allmählich aus der immer wiederkehrenden Erfahrung die Lehre gezogen, daß fast jeder Einundzwanzigste einen Schicksalstag für ihn bedeutete. Am 21. März hatte er die Reifeprüfung bestanden, am 21. August den Scheck vorweggenommen und am 21. September den Militärdienst quittiert. Was würde sich heute ereignen? Er hatte ein Gefühl, als sollte ihm in diesem Saal in den nächsten Minuten etwas zustoßen, das für den neuen Lebensabschnitt, den er so klar nahen spürte, von größter Wichtigkeit sein würde.

Als er sich, während er auf den Handschlag des Rektors wartete, um die innere Unruhe zu übertäuben, mit spähenden Geierblicken seiner scharfen Augen im Saal umschaute, legte sich plötzlich etwas leicht wie eine Geisterhand von hinten auf seine Schulter: »Nanu, Florian, was machst denn du hier? Ich denke, du bist Großkaufmann geworden?«

Florian zuckte erbarmungswürdig zusammen, ehe er sich umwandte. Um seinen inneren Schreck zu verheimlichen, zwang er sein plötzlich leichenfahl gewordenes Gesicht zu einem Lächeln, das es zur Grimasse eines betagten Teufels entstellte. Dann sagte er übertrieben lustig, indem er dem hinter ihm Stehenden derb auf die Schulter klopfte: »Nun sage mal, lieber Fritz, alter Freund! Nein, wie ich mich freue!«

Es war der jüngere Fürst Ysenstein, Florians Stubenkamerad aus Mirbach, der sich gleich ihm in die juristische Fakultät aufnehmen lassen wollte. Schnelle Fragen stellten rasch die seit zwei Jahren unterbrochene herzliche Intimität wieder her, die gemeinsam geatmete Zimmerluft für das ganze Leben zu schaffen pflegt, wenn anders nicht bittere Feindschaft daraus folgt.

Als Florian von seinen wechselnden Versuchen, sich bürgerliche Geltung zu verschaffen, erzählte, mußte Fritz Ysenstein lachen und machte dann den in Mirbach geläufigen Witz: »Du bist halt immer noch der alte Windmacher!«

Dann fuhr er ernster fort: »Weißt du, Florian, ich habe schon früher immer gedacht, daß du eigentlich aussiehst wie ein Künstler! Dein Kopf ist in den zwei Jahren unserer Trennung noch ausdrucksvoller geworden. Du müßtest deinem Aussehen nach entweder Dichter oder aber Philosoph sein. Sag mal ganz aufrichtig, machst du wirklich keine Verse?«

Florian verneinte so betroffen, daß Fritz Ysenstein ihm glaubte.

»Jetzt fällt mir auch ein,« bemerkte der Freund sinnend, »wo ich dein Gesicht unterbringen kann. Bis auf die abstehenden Ohren ähnelst du wie ein Doppelgänger jenem Dichter, den sie den Großen Feierlichen nennen. Daß ich nicht sofort darauf gekommen bin!«

Wenn Florian auch hier zum erstenmal von jenem Dichter vernahm, dessen Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte er damals noch nicht zu würdigen wußte, so schmeichelte es ihm doch sehr, sich von Fritz Ysenstein mit jenem großen Mann verglichen zu sehen. Und von diesem Augenblick an war da ein Zuwachs an Selbstbewußtsein in ihm, der, wenn auch vorläufig nur in der Einbildung, dennoch nach Werkbetätigung verlangte. Ihm ward bewußt, daß einer genialen Maske, wie er sie trug, auch wirkliche Genialität auf irgendeinem Gebiet entsprechen müßte. Nur war ihm keineswegs klar, wann und wie diese Genialität aus ihm brechen würde.

Fritz lud ihn zum Mittagessen ein, und Florian nahm freudig an. Auf dem Weg zur Wohnung sprachen sie von ihren Plänen.

»Was treibst du eigentlich hauptsächlich, Florian?«

»Scheinbar, das heißt, meinem Vater erzähle ich, daß ich Jura studiere. Aber in Wirklichkeit gedenke ich, ausschließlich Philosophie zu hören. Obwohl ich in Göttingen auf höheren Wunsch Slawone war, hat mich bereits dort, mir selber unerklärlich, eine spontane Sehnsucht nach Spiritualität befallen.«

»Nanu, du warst doch in Mirbach eigentlich nur Sportsmann? Ich entsinne mich freilich, daß du in der deutschen Stunde manchmal Vorträge gehalten hast, von denen weder der gute Professor Sanftleben, noch wir, noch wahrscheinlich du selbst etwas verstanden. Das ließ allerdings vermuten, daß du in der Metaphysik Großes leisten würdest. Auf alle Fälle ist es mir lieb, daß du nicht einseitig geworden bist. Ich habe dir noch gar nicht erzählt, daß Karl-Heinz hier mit mir lebt, um Musik zu studieren. Er komponierte schon in Mirbach, du erinnerst dich vielleicht? Neulich wurde übrigens ein Singspiel von ihm aufgeführt, das bei der Kritik selbst linksstehender Blätter – der junge Fürst lächelte fein – günstige Aufnahme gefunden hat.«

»Sieh mal an, der Karl-Heinz geht also als erster von uns durchs Ziel!«

»Hast du denn auch Werke, die an die Öffentlichkeit möchten?« fragte Fritz hilfsbereit.

»Nein, ich meinte bloß so.«

Fritz fuhr fort: »Ich bin in der gleichen Lage wie du. Scheinbar, wie du so nett sagtest, studiere ich Jura. Tatsächlich beschäftige ich mich nur mit Literatur und Kunstgeschichte. Wir haben das Glück gehabt, einen interessanten Kreis von Musikern und Literaten kennenzulernen. Du wirst Gelegenheit finden, dich mit den bedeutendsten Köpfen Münchens zu messen.«

Florian zog die Stirn kraus. So neugierig er war, die Geistesgrößen des Ysensteinschen Kreises kennenzulernen, so bänglich ward ihm zumute, wenn er an sein tiefes Nichtkönnen dachte. Nun, wie dem auch sei, er verließ sich in jeder Lage auf seine Kunst des Klopffechtens und der strategischen Rückzüge.

Fritz hielt vor einem eleganten Neubau in Schwabing. »Hier wohnen wir! Erschrick nicht, es ist im fünften Stock! Aber der Aufzug fährt bis oben hinauf und ist zufällig gerade im Betrieb. Wir haben eine Atelierwohnung, wozu ein herrlicher Dachgarten gehört. Es wird dir gefallen. Wir veranstalten auch wunderschöne Feste, zu denen du natürlich ein für allemal geladen bist!«

Oben angekommen, staunte Florian, der nur an möblierte Zimmer gewöhnt war, über die mit erlesenem Geschmack ausgestatteten behaglichen Räume, in denen er bald heimisch werden sollte.

Karl-Heinz kam auch zu Tisch, und die drei Freunde sprachen von ihrer gemeinsamen Schulzeit. Dann erzählte der junge Musiker, ganz von seinem Schaffen erfüllt, von der Oper, an der er schrieb.

Plötzlich fragte Florian, der von Musik nichts verstand, sich aber, durch sein Eingehen auf des Freundes Interesse für das sehr gute Mittagessen erkenntlich zu zeigen gedachte: »Sag mal, Karl-Heinz, woher kommen dir eigentlich die Melodien? Das muß doch sehr sonderbar sein. Du denkst an nichts, und auf einmal erklingt eine Melodie vor deinem geistigen Ohr. Das ist ja reine Inspiration oder besser Intuition.«

»Was weißt denn du von solchen Mysterien?« fragte Karl-Heinz betroffen.

Fritz erklärte lächelnd: »Florian ist unter die Metaphysiker gegangen.«

Karl-Heinz sagte: »Was du da vom Augenblick der schöpferischen Intuition sagst, hast du sehr richtig als das Schönste im Leben des Künstlers erkannt. Dann steht er nämlich – lach' mich nicht aus – in innigster Verbindung mit dem Engel, der sein ganzes Leben als Schutzgeist leitet.«

Florian bemerkte, daß Fritz seinem Bruder einen ernsten Blick zuwarf, den er sich nicht zu erklären vermochte. Sie schwiegen alle drei eine Weile. Dann fuhr es Florian heraus: »Ich lache dich keineswegs aus. Ich habe nie davon gesprochen, weil ich gleich dir fürchtete, verspottet zu werden. Aber da auch du an einen Führer deines Lebensweges glaubst, kann ich es ja gestehen. Ich habe einmal, als ich vierzehn Jahre alt war und schlaflos in einer Winternacht lag, eine Vision gehabt. Plötzlich wölbte sich da über meinem Bett eine gotische Kapelle, die ich nicht identifizieren konnte. Ein unwirklicher Glanz kam von oben. Meine Augen, gelockt vom Licht, glitten an den schlanken, gebündelten Pfeilern hoch. In dem unirdisch hellen Schein schwebte nicht als gemaltes Bild, sondern ganz körperlich dreidimensional ein Engel mit unsäglich mildem, gutem Gesicht, der mir zulächelte. Meinst du wirklich, daß jeder Mensch einen solchen Engel besitzt, der ihn behütet, berät und betraut?«

Die Brüder blickten einander unschlüssig an. Schließlich fragte Fritz: »Hast du öfters solche Gesichte gehabt?«

»Nur noch einmal, als ich neun Jahre alt war. Wiederum lag ich bereits zu Bett. Diesmal erscholl ein merkwürdiges Klopfen in der Wand zu Füßen meines Lagers. Allein diese Geräusche unterschieden sich von gewöhnlichem Klopfen dadurch, daß die Laute klangen, als ob gar nicht gegen eine Wand geschlagen würde, sondern gegen etwas Unwirkliches. Und ich erschrak. Denn mir fielen all die Geistergeschichten ein, die mir der Schäfer und die Amme erzählt hatten. Aber dann erweiterte sich die völlig dunkle Wand allmählich zu einer schwachschimmernden Nische, und es erschien darin ein hoher, schlanker Mann, in einen grauen Mantel gehüllt, der stumm die Hände gegen mich erhob. Als ich am andern Morgen von meinem Erlebnis erzählte, schalt mich mein Vater: ›Dummer Junge, es wird der alte Kretschmar, der Dorfnachtwächter, sein, der dir im Traum erschienen ist.‹ Seit der Zeit hab' ich meine Gesichte für mich behalten. Ich schrieb sie meiner Verrücktheit zu.«

Er fuhr durch sein Haar.

Fritz fragte sehr gespannt: »Hast du nie etwas über Okkultismus gelesen?«

»Nein! Was ist eigentlich Okkultismus?«

»Das läßt sich nicht in wenigen Worten sagen. Wir werden später vielleicht davon noch reden.«

Das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu.

Als Florian gegangen war, sagte Karl-Heinz zu seinem Bruder: »Du, Florian ist sicher einer, dem die Erweckung nahe bevorsteht. Wir sollten uns seiner annehmen!«

»Laß uns ihn vorerst prüfen. Man kann nicht vorsichtig genug sein, und du erinnerst dich von den Mirbacher Aufführungen her, daß er die Gabe, sich schauspielernd anzupassen, in hohem Maße besitzt. – Aber merkwürdig bleiben seine Schauungen doch. Am besten überlassen wir alles Magolimek!«

*

Da Florian niemand sonst in München kannte, schloß er sich ganz an die beiden Ysensteins an und war bald täglich mit ihnen zusammen. Hinzu kam, daß es für seine Haltlosigkeit, für seine Gastrolle in dieser Welt süßen Kitzel bedeutete, als simpler Florian Windmacher mit immediaten Reichsfürsten auf du und du zu stehen. Da es ihm infolge der brutalen Unterdrückung durch den Vater und infolge Mangels jeglicher ausgleichenden Leistung an gewachsenem Selbstbewußtsein fehlte, ergriff er gern die Gelegenheit, dem Alten eins auszuwischen, indem er ihm in einem der seltenen Briefe schrieb: »Ich bin seit einigen Wochen täglicher Gast bei Ysensteins. Es verkehrt dort ausschließlich der Adel der Geburt, des Geistes und des Geldes.«

Für diese Nachricht verzieh der Ökonomierat seinem Sohne allen Ärger, den er ihm bisher bereitet hatte.

Florian lernte im Hause seiner Freunde alles kennen, was München an geistvoller und talentierter Jugend aufwies, wie auch die ganz große internationale Welt, zu der Ysensteins durch ihren Vater, der im diplomatischen Außendienst gestanden hatte, mannigfache Beziehungen unterhielten.

Florian entdeckte zu seiner Überraschung, daß er eigentlich eine erstaunliche Intelligenz besaß, die er sich freilich, nach seiner genialen Maske zu urteilen, längst hätte zutrauen müssen. Er kam nämlich dahinter, daß es für ihn ein Kinderspiel wäre, sich von allem Bedeutsamen und Gründlichen, was er hervorragende Männer bei Ysensteins vorbringen hörte, den Extrakt bei einiger Aufmerksamkeit mühelos anzueignen und auf diese Weise schnell und ohne langwierige Studien ein großes und nicht alltägliches Wissen zu erwerben.

Da er obendrein in hohem Maße mimisch begabt war, trug er, sobald er sich in seinen aufgefischten Meinungen sicher fühlte, jene fremden Ansichten in seinem nur ihm eigenen, schwerverständlichen Idiom mit solcher Selbstverständlichkeit als Frucht langer Bemühungen vor, daß auch Tieferschürfende, zumal von seinem auffallenden Gesicht geblendet, sich täuschen ließen und ihn in ihre Konventikel baten.

Hier in München legte Florian den Grund zu seinem nachmalig ins Unendliche anwachsenden Bekanntenkreis. Alle, die am weiten Gebäude des objektives Geistes mitbauten, kannte er. In späteren Jahren erregte es immer wieder Sensation und lächelnde Ungläubigkeit, wenn er, sobald die Rede auf irgendeine hervorragende Persönlichkeit kam, so nebenbei bescheidentlich bemerkte: »Tja, den Mann kenne ich ganz genau. Wir trafen uns vor Jahren bei den jungen Ysensteins in München.«

Bei Ysensteins wurde er auch, ebenfalls ohne sein Verdienst, in die Kenntnis des Dichters eingeführt, dessen Doppelgänger er sein sollte. Fritz hatte ihm die schön ausgestatteten, seltsam gedruckten Werke des Großen Feierlichen lange genug geborgt. Wie denn Florian unter anderem auch die Gewohnheit besaß, geliehene Bücher entweder zu verlegen oder überhaupt nicht wiederzugeben. Aber er hatte es wie stets nicht über sich gebracht, sich darein zu vertiefen. Er spürte wohl bisweilen den ehrlichen Willen, las die Bücher auch in einer guten Stunde an, bekam es jedoch in der ihm unerklärlichen Scheu vor ausdauernder geistiger Tätigkeit nicht fertig, sie durchzulesen.

Zwar wichen vom Tisch seines Zimmers nie die renommiertesten jeweiligen Neuerscheinungen noch die kostspieligsten Zeitschriften, die wie in einem Buchladen zur Schau auslagen, aber durchlesen tat er nichts von alledem. Er sammelte eben, seiner neuen Umgebung angemessen, heute Bücher wie in Hamburg bunte Westen. Er hatte sie, wie er sich tröstete, auch nicht alle tragen können.

Es war im übrigen gar nicht nötig, sich besonderer Anstrengung zu unterziehen. Er fragte nur irgendeinen seiner belesenen Bekannten: »Sagen Sie, was ist eigentlich mit dem neuen Buch los?« Dann setzte ihm der Gefragte nach Wunsch alles auseinander, und Florian eignete sich rasch und glatt fremde Wissensfracht an, indem er sie einfach in seinem ungeheuerlichen Gedächtnis auf Jahre hinaus verstaute.

Fritz Ysenstein, wie sein Bruder von der Harmonie der Töne, vom Klang und Rhythmus der Worte ergriffen, trug an manchem Abend mit weicher, gutgeschulter Stimme die prunkvollen Gedichte des Großen Feierlichen vor. Florian, der zunächst nichts von dieser abwegigen Kunst begriff, ließ sich bei guter Gelegenheit von einem jungen Dichter, der im Rufe stand, einmal von fern das hoheitsvolle Haupt des geweihten Unsichtbaren erschaut zu haben, das für ihn undurchdringliche Dunkel jener ihn gleichwohl rätselhaft bestrickenden Verse lichten. Ihm war dann, als tauche vor seinen bis dahin geschlossenen Augen eine fremdartig gleißende Welt auf, eine Landschaft der Seele, von der er bisher ausgeschlossen gewesen war.

Mit gutem Instinkt erfaßte er, daß es von nicht geringem gesellschaftlichen Nutzen für ihn sein könnte, wenn er sich darauf warf, gleich seinem Freunde die Verse des Großen Feierlichen vorzutragen. Binnen kürzester Frist beherrschte er einige der schönsten Gedichte und glänzte nun, Fritz Ysenstein getreulich kopierend, in kleinerem Kreise, wo er nicht zu befürchten brauchte, sein Vorbild zu treffen.

Er erfuhr, daß er, der ungleich den anderen keine eigene Leistung auf irgendeinem Gebiet aufzuweisen hatte, sich allein durch sein Rezitieren einen gesellschaftlichen Sonderrang schuf, ja sich mit einem Schimmer, der aus des Meisters Strahlenkrone auf ihn fiel, schmücken durfte. Er merkte auf einmal, daß er von je eine tiefe Liebe zur Kunst besessen hätte. Nur war ihm bisher nicht der richtige Antrieb zuteil geworden. Nun aber wollte er studieren und lernen! Vielleicht war er berufen, und es wurde noch ein großer Schauspieler aus ihm! Allein sein Gesicht würde, zumal auf der Bühne, wirksam sein. Die Ahnungslosen im Regiment hatten ihn schon immer mit seinem komödiantenhaften Aussehen gehänselt.

Daß er nicht eher auf diese Möglichkeit verfallen war!


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