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Florian lag drei Wochen zu Bett, ohne Kraft, sich zu bewegen, und unfähig, folgerichtig zu denken. Ysensteins, von Schmettow benachrichtigt, sorgten dafür, daß ein kundiger Arzt geholt wurde. Er stellte fest, daß Florian nichts fehlte, wenigstens nichts äußerlich Erkennbares. Die Kopfverletzungen, die von Johns bloßen Fäusten herrührten, waren nach wenigen Tagen verheilt. An innerliche Läsionen, etwa des Gehirns, glaubte der Arzt nach sorgfältiger Untersuchung nicht.
Der Patient klagte auch gar nicht über Schmerzen. Er aß sogar mit großem Appetit die guten Sachen, die ihm seine Freunde brachten. Allein, er ruhte die ganze Zeit hindurch mit der Gesichtsfarbe einer bereits in Verwesung übergehenden Leiche wie aufgebahrt regungslos im Bett, brach ohne jeden ersichtlichen Grund plötzlich in Weinkrämpfe aus und gellte danach zum Entsetzen der Pensionsnachbarn mit fürchterlicher Stimme: »Ich mag nicht leben! Gebt mir Gift, liebe Freunde! Laßt mich nicht wahnsinnig werden!«
Dies war der erste von Florians absonderlichen Zusammenbrüchen, die sich jedesmal wiederholen sollten, wenn er wie ein irrer Verschwender seine Lebenskerze an beiden Enden angebrannt hatte, daß alle feinsten Kräfte seines Geistes in toller Übersteigerung wie Fanale durch seinen sonst schwarzen Alltag loderten. Eine wußte, welche Ekstasen der Seele den Empfindsamen so erschöpft hatten. Doch kümmerte sie sich kalten Herzens nicht um den Abgestürzten, da er nunmehr jeden Interesses für sie entbehrte.
Fritz Ysenstein, der, wenn auch nicht auf dem laufenden über das, was sich zwischen Virginia und Florian ereignet hatte, dennoch ahnend tiefere Einsicht in Florians Zustand besaß, hielt es für das beste, wenn Florian München so bald wie möglich verließe. Also lud er ihn ein, die Sommerferien, die schon begannen, auf Schloß Ysenstein zu verleben.
Wie, als ob er das Zauberwort gesprochen hätte, das den Starrkrampf des Kranken lösen könnte, sprang Florian plötzlich aus dem Bett, äußerte zum erstenmal nach seiner Erkrankung den Wunsch, sich anzukleiden, und konnte nur mit Mühe von dem erschrockenen Freund daran gehindert werden. Denn Florians geschundenes Ichgefühl griff fieberhaft nach dem Aufenthalt im fürstlich Ysensteinschen Haus, um seine Eitelkeit an diesem Hälmchen aufzurichten. Da sein Erlebnis mit Virginia tiefe Bindungen mit dem Komplex gegen seinen Vater und also seinen Minderwertigkeitsgefühlen eingegangen war, genügte die Einladung, um sein Ichgefühl und sein Selbstbewußtsein wieder lebensfähig zu machen.
Wie alles bei Florian, kam auch die Genesung sprunghaft. Er konnte kaum die Zeit abwarten, bis der Koffer gepackt war und er die unheilvolle, schöne Stadt hinter sich ließ.
Nur, als er mit den Freunden zum Bahnhof fahren sollte, wurde er noch einmal kalkig, weil Fritz vorschlug, ein Auto zu nehmen. Wenn er nachmals auch nur von weitem eine Hupe grölen hörte, torkelte er in hüpfenden Sätzen wie eine betrunkene Krähe über den Damm.
*
Auf Schloß Ysenstein, das, unweit von Reitzenau im hügeligen Vorgelände des Südharzes gelegen, die liebliche Gegend weithin zeigt, erhielt Florian ein Giebelzimmer nach Westen, um das die Winde allzeit brausten. Wieder froher geworden, ließ er immer von neuem den entzückten Blick über das sommerlich glutende Land schweifen.
Er fühlte sich in diesem Haus, bei diesen gütigen, in großem Stil gastlichen Menschen voll Duldsamkeit, frei und wohl wie selten in seinem Leben. Stets trafen seine Freunde das Rechte. Sein Auge bedurfte der Weite, um den Geist zum Anschauen der höchsten Begriffe zu erheben. Nirgends philosophierte es sich besser als auf dem breiten Sims des einzigen Fensters seiner behaglichen Stube. Nie war sein Denken fruchtbarer gewesen. Er brauchte nur eine Seite Kant oder Fichte anzulesen, um dann, in stummer Besinnlichkeit über der Landschaft schwebend, das Gelesene nachschaffend zu vertiefen.
Nie hatte er reinere Freude an seinen Gedanken empfunden. Sinnend malte er sich aus, wer alles vor ihm von diesem Fenstersims aus liebende, sehnende und erhebende Träume in die Winde gesandt haben mochte. Denn Ysensteins waren eines der ältesten Geschlechter seiner Heimat.
Dankbar gedachte er jenes 21. April, der sich wahrlich als Schicksalstag für ihn erwiesen hatte. Denn jener Tag schenkte ihm seine Liebe. Und wenn er auch gramvoll gelitten hatte, so war er doch durch Virginia erstmalig zum wahrhaftigen Leben erweckt worden, zum für ihn einzig möglichen Zustand tiefster mystischer Erhebung, ja, zur Gottähnlichkeit! Nie zuvor hatte er so brennend sein Ich gefühlt wie in diesen, ach, zu schnell verwehten Wochen! Er zürnte Virginia nicht mehr, aber noch schmerzten alle Wunden! Denn sein einmal zur Ganzheit gewachsenes Selbstbewußtsein vertrug es schlecht, so plötzlich von allen Höhen stolzer Besitzerfreude wieder in das nichtsende Chaos gestürzt zu sein. Dennoch, da sie nicht miteinander leben konnten, mußten sie einander meiden. Er fühlte sich trotz allem, was geschehen war, auf immer ihr verbunden. Und vielleicht war diese traumhafte Verschmelzung in Sehnsucht süßer denn alle leidenschaftliche Verstrickung. –
Der Ökonomierat, der die Ehre, die Florian durch die Einladung nach Ysenstein widerfuhr, wohl zu schätzen wußte, hatte seinem Sohn große Geldmittel zur Verfügung gestellt, damit er standesgemäß auftreten könne. Er vermochte sich nicht zu erklären, was die jungen Fürsten für einen Narren an Florian gefressen hatten. Voller Besorgnis um ein vorzeitiges Ende dieser Gunst, gab er in jedem seiner Briefe Regeln für ein würdiges Verhalten.
Florian, der dem Alten immerhin mehr praktische Erfahrung im Umgang mit Honoratioren zutraute als sich selbst, befolgte diese Regeln, indem er die Dienerschaft bei den unpassendsten Gelegenheiten so reichlich mit Trinkgeldern bedachte, daß ihn der alte Fürst eines Tages lächelnd bat: »Verderben Sie mir die Leute nicht, lieber Windmacher!«
Der alte Fürst, seit mehreren Jahren verwitwet, brachte seine Tage mit dem Abfassen seiner Lebenserinnerungen zu. Er hatte, ehe denn er weise geworden war, im politischen Getriebe gestanden und glaubte, seine Erfahrungen der Mitwelt nicht vorenthalten zu sollen. Im übrigen war er ein Mäzen von Geschmack und Güte. Es weilten ständig Künstler oder auch Männer der Wissenschaft auf Ysenstein als gerngesehene Gäste und, was hervorzuheben ist, nicht nur anerkannte, sondern auch werdende.
Dem großen Haushalt stand die einzige Tochter vor, die Fürstin Thyra, ein schlankes, junges Mädchen von weicher, blonder Schönheit. Merkwürdig waren ihre leuchtend blauen Augen, die zumeist, als ob sie sich ihres Feuers schämten, den andringenden Blick flohen. Thyra betrachtete Florian, der bei der Tafelrunde die Rolle eines Fremdlings spielte, weil seinem Ernst die Gabe tändelnden Plauderns abging, mit Teilnahme, wenn er schweigend und mit schweifenden Augen dasaß. Fraulich erkundigte sie sich, ob es ihm an nichts mangele oder ob er noch irgendwelchen Wunsch hege. Florian, wenig verwöhnt, hätte manchmal weinen mögen, weil ein schönes Mädchen an ihm so offenbaren Anteil nahm. Aber obschon er spürte, daß in ihrer Weichheit und in ihrem wie jenseitigen Blick etwas ihm Verwandtes wehte, war er noch zu fest an Virginia gebunden, als daß er auf irgendeine falsche Fährte der Eitelkeit hätte geraten können.
Wenn Florian sein Vaterhaus, das auch in großem Stil geführt wurde, gegen Schloß Ysenstein hielt, wenn er die heimischen Tafelgespräche über Dünger, Dränage, Viehzucht und Getreidepreise mit dem musischen Geist, den platonisch heiteren Reden bei den gemeinsamen Mahlzeiten verglich, befiel ihn tiefe Beschämung. Er war in Wahrheit ein Bauer! Jene aber wandelten droben, wo die Götter wohnen. Er, dessen Seele, durch lange Unterdrückung übermäßig empfindsam geworden, jetzt wie eine frische Wunde von dem Leid um Virginia bei jeder unzarten Berührung schmerzte, empfand ergriffen den Geist der Duldsamkeit, des Lebenlassens, der unter allen Gliedern des Hauses Ysenstein herrschte. Manchmal fragte er sich, ob es Wesen höherer Art wären, mit denen er hier umging. Denn so ungeschickt, ja unmöglich er sich im Alltäglichen benehmen konnte, so fein waren seine Fühler für geistige Zusammenhänge. Ohne es in Worte prägen zu können, wußte er, daß die Angehörigen dieser Familie durch geheimnisvolle Bande verbunden waren, die er, noch blind, nicht wahrzunehmen vermochte.
Mit Unmut sah er in diesem Kreise allein den Privatsekretär des Fürsten, einen Herrn von Magolimek, verarmten böhmischen Uradel, wie er sich aus dem Gotha überzeugte. Ausschließlich durch Magolimeks Hände gingen die zahllosen Geschäfte des Fürsten, der nicht nur Kunstliebhaber und Mäzen, sondern auch ein ebenso großzügiger wie begabter Industrieller war. Herr von Magolimek, der in der Mitte der Dreißig stehen mochte, überraschte durch sein Aussehen. Von schlankem, jugendlichem Wuchs, ein Meister in allen Sports, berückte er durch ein schmales, edles Gesicht, dessen Weihe noch durch das blauschwarze Haar gesteigert wurde. Aus der Weiße leuchteten unstete Augen von einer dämonischen Starre des Blickes, die erschreckte und wegzusehen zwang. Bisweilen strahlte ein Glanz auf diesem Gesicht, der geheimnisvoll lockte und bannte.
Florian empfand von Anfang an ein seltsames Gemisch von Anziehung und Abstoßung gegenüber Magolimeks vieldeutiger Erscheinung. Seinen Neid reizte hauptsächlich, daß alle, auch der selbstsichere alte Fürst, Magolimek mit einer an Ehrfurcht grenzenden Schonung behandelten.
Indessen schien Magolimek bei der Dienerschaft verhaßt zu sein. Florian hatte beobachtet, daß Diener und Mädchen jenem auf den einsamen und dunklen Gängen des alten Gebäudes geradezu auswichen, als wollten sie ihm wie etwas Unheimlichem aus dem Wege gehen. Erteilte Magolimek mit seiner weichen Stimme Befehle, so wurden sie nichtsdestoweniger mit einer Eile ausgeführt, die fast des Wunsches verdächtig schien, sich aus dem Umkreis Magolimeks möglichst schnell wieder zu entfernen.
Nachdenklicher noch wurde Florian bei folgendem Erlebnis. Sie hatten wie gewöhnlich gegen Abend Tennis gespielt und ruhten sich in den Korbsesseln aus, die in einem Pavillon neben dem Platz standen. Da kam der alte Fürst aus dem Park geschritten, um dem Spiel bis zum Abendessen zuzuschauen. Sein Windhund Bijou umtollte ihn. Florian, der den Hausherrn heute noch nicht gesehen hatte, erhob sich höflich, um ihn zu begrüßen. Bijou wandte sich von seinem Herrn zu Florian und sprang an ihm hoch, wie denn alle Tiere Florian liebten. Sie traten in den Pavillon zu den anderen. Da heulte das Tier, das eben noch fröhlich wedelnd getänzelt hatte, kurz auf und verkroch sich dann wimmernd unter Florians Sessel.
Alle lachten. Nur Magolimek zischte irgendeinen Fluch in seiner Muttersprache. Dann forderte er Thyra zu einem Single auf. Kaum war er fort, wagte sich Bijou aus seinem Versteck hervor und jagte, ohne sich durch Zuruf oder Liebkosung halten zu lassen, in wilden Sätzen mit hängender Rute den dunkleren Tiefen des Parkes zu.
Ein andermal, als die jungen Fürsten mit Florian und Magolimek nach dem Gutshof gingen, um frisch von der Koppel eingebrachte Remonten zu besichtigen – der Fürst züchtete rühmlich bekanntes Halbblut –, geschah es, daß sich die Schleife von Florians Halbschuh löste. Er blieb ein wenig hinter den anderen zurück, kniete nieder und knotete sie fest. Als er sich erhob, sah er die drei jungen Männer in der hellen Morgensonne vor sich schreiten.
Plötzlich glaubte er, den Verstand verloren zu haben. Schon meldete sich die tödliche Angst wie damals nach seinem Zusammenbruch infolge von Virginias Verlust wieder. Denn Fritz und Karl-Heinz warfen einen kräftigen, dunklen Schatten auf den hellen Sand. Allein Magolimeks Schatten war so schwach, daß er sich nur wenig von dem weißgelben Sand abhob.
Florian rieb sich die Augen. Er vermeinte zu träumen! Wahrscheinlich flimmerten seine Augen von der grellen Sonne. Er schaute noch einmal hin. Aber alles blieb, wie es gewesen war! Er stürmte heran und wollte gerade eine Frage tun, deren er sich fast schämte, als ihm Magolimek das Wort abschnitt: »Reiten Sie, Herr Windmacher?«
»Ein wenig! Aber ich mache mir nicht viel daraus!«
»Wir haben einen wundervollen Hengst hereinbekommen, den noch kein Reiter unter sich gehabt hat.«
»Nein, danke ergebenst!« entgegnete Florian mit komischer Hast. Die Freunde lachten.
Hinter dem Stall war im Schatten einiger alter Kastanien eine kleine Reitbahn angelegt. Ein Knecht führte das junge Tier nur mit einer Decke gesattelt in den Ring. Es zuckte mit dem Kopf und sprühte fortwährend mit dem prächtigen Schweif.
Fritz erklärte sich als erster mutig bereit, den Neuling zu erproben. Er kam auch gewandt hinauf. Doch kaum hatte er den Zügel gefaßt, als der Hengst hinten ausfeuerte und dann kerzengerade stieg. Fritz, ohne den Halt der Bügel, glitt bald herunter. Kaltblütig behielt er die Trense in der Faust. Das unbändige, junge Tier zerrte mit gestrecktem Hals an dem Zügel und riß Fritz mit sich fort.
Der Knecht eilte herzu. Allein der Hengst schlug, sich fortwährend drehend, nach allen Seiten aus, so daß der Knecht nicht herankommen konnte.
Da trat Magolimek hinzu, nahm Fritz die Trense aus der Hand, und das übermütige Tier stand sofort zitternd. Magolimek kam gelassen hinauf. Der Hengst hielt keuchend unter ihm und wieherte ein paarmal angstvoll. Der Schweif hing jetzt matt. Magolimek stieß ihm die Hacken in die Weichen. Da setzte er stolpernd Schritt vor Schritt.
Die Brüder lächelten. Florian wußte nicht, was er davon halten sollte. Er wagte nicht, allzu deutlich zu fragen. Denn beide Ysensteins hatten eine besondere Art, gewissen Fragen auszuweichen. Außerdem war seine Unsicherheit immer auf der Hut vor unzarter Zudringlichkeit.
Trotz seiner philosophischen Kenntnisse vom Aberglauben der Schäfer und alten Weiber seiner Heimat befangen, fühlte sich Florian von Magolimeks geheimnisvoller Macht rätselhaft angezogen. Manchmal wiederum sträubte er sich gegen diese Blicke, die schonungslos schneidend und mit unbezähmter Herrschgier in ihn drangen, und es reizte ihn, standzuhalten. War sein Nervensystem in Form, glückte es ihm bisweilen, wenngleich er dabei einen Schauder sein Rückgrat entlang rieseln fühlte, als wenn ein Titane sich vermißt, einem Gott zu trotzen.
Zu seiner Verwunderung gelang es ihm eines Tages, Magolimek beim morgendlichen Tennisspiel zu schlagen. Die Fürstin Thyra schaute dem erbitterten Single zu. Florian erntete von allen Seiten Lob. Denn Magolimek galt als unbesieglich. Als Florian, über die Maßen erhitzt, glücklich lächelnd in Thyras Nähe trat, bemerkte er, daß sie ihn mit eigentümlichen Blicken musterte.
Magolimek scherzte: »Sie können besonders stolz auf diesen Sieg sein, da ich Sie gegen meinen Willen gewinnen lassen mußte!«
Florian wurde rot ob dieser Anmaßung. Allein er schwieg, da er irgendeine unheimliche Drohung unter Magolimeks Lustigkeit verspürte.
Zum erstenmal seit Wochen war Florian an diesem Tag wieder glücklich. Denn Magolimeks Ansehen im Hause seiner Freunde erbitterte seine Eitelkeit. Während er in München immerhin Gelegenheit gehabt hatte, sich auszuzeichnen, sei es auch nur durch Rezitieren vor zweitrangigen Konventikeln, fand er auf Ysenstein durchaus keine Möglichkeit, sich in Szene zu setzen. Überall wurde er durch Magolimek oder auch andere in den Schatten gestellt.
Er hatte im Lauf mehrerer Wochen begriffen, daß Magolimek der eigentliche Herr auf Ysenstein war. Denn alle, vom alten Fürsten bis zu Thyra, sahen zu ihm auf und standen in irgendwelchen Bindungen zu ihm, die Florian wohl ahnte, deren Art er aber niemals auch nur vermuten konnte.
Eines Abends löste sich ihm die Verstrickung. Ein neu zugereister Gast brachte das Gespräch auf Hypnose und behauptete, es wäre unmöglich, ihn einzuschläfern. Ysensteins sahen einander erwartungsvoll lächelnd an.
Plötzlich sagte Magolimek: »Es käme auf einen Versuch an. Wollen Sie, bitte, in diesem Sessel Platz nehmen!«
Der Betreffende tat so und schloß einer weiteren Aufforderung gemäß die Augen. Das Zimmer wurde verdunkelt. Magolimek trat etwa zwei Meter vor den Sitzenden, breitete die Arme aus, spreizte die Finger an den Händen und näherte sich Schritt für Schritt ganz langsam dem Zweifler.
»Was spüren Sie?« fragte er mit weicher Stimme.
»Mir ist, als ob ich einen Druck vor der Stirn fühlte. Jetzt wird er immer stärker!«
Magolimek führte seine Fingerspitzen seitlich des Kopfes.
»Mir dringt von den Schläfen her ein Stechen ins Hirn!«
Magolimek legte seine Hand in einiger Entfernung flach über den Scheitel des Gastes.
»Jetzt drücken Sie mein Haar fest an den Kopf.«
Alle lächelten. Magolimek schob sacht eine Hand nach dem Herzen des Sitzenden.
»Ich glaube, mein Herz hört auf zu schlagen. Mir wird übel –«
Plötzlich sprang er fast schreiend auf: »Hören Sie, bitte, auf! Das wird mir zu unheimlich! Ich will mich nicht von Ihnen einschläfern lassen!«
Die Zuschauer lächelten. Magolimek hatte sofort die Hände sinken lassen. Der Zweifler riß erschreckt die Augen auf: »Wer sind Sie? Und wie stellen Sie es an, daß Sie solche Macht über das geheimste Leben eines anderen besitzen?«
Bescheiden erwiderte Magolimek: »Alles geht auf ganz natürliche Weise zu. Wenn Sie nur wollten, können Sie das Hypnotisieren auch erlernen. Konzentration ist alles! Ich wollte Sie nur überzeugen, daß Sie ausnahmsweise leicht einzuschläfern sind.«
Nunmehr konnte Florian, der mit äußerster Spannung alles beobachtet hatte, nicht länger an sich halten. Er bat Magolimek, es mit ihm gleichfalls zu versuchen.
Magolimek, der Florian vom ersten Tage ab mit besonderen Blicken gemustert hatte, meinte sehr ernst: »Gleich, als Sie nach Ihrer Ankunft hier ins Zimmer traten, merkte ich, daß Sie selbst über starke, magnetische Kräfte verfügen müßten. Als Sie mir die Hand reichten, spürte ich sie. Um besser zu erkennen, welcher Art Ihre Kräfte sind, lassen Sie lieber mich im Sessel Platz nehmen, und machen Sie, so gut es geht, dieselben Bewegungen, die Sie mich haben ausführen sehen. Ich werde getreulich berichten, was dabei in mir vorgeht.«
Florian, geschmeichelt, wenn auch etwas verwirrt durch die Aussichten, die sich ihm eröffneten, fand sich bei angeborenen Darstellergaben schnell in die neue Rolle. Flüchtig zog durch sein Erinnern, was Virginia immer von der Macht seiner Hände behauptet hatte. Dann breitete er in lustvoller Mimik die Arme und spreizte die Hände, genau wie Magolimek. Florian war unheimlich anzusehen, wie er im ungewissen Dämmer der einzigen Lampe mit seinem Geierblick, aus dem unbändiger Wille fast sichtbarlich sprang, auf jenen eindrang. Sein Mund triefte von lüsterner Eitelkeit, wenn er daran dachte, daß nun vielleicht die Stunde gekommen wäre, wo er Magolimek vom Postament seiner Einzigkeit stürzen könnte.
Magolimek begann schon, als Florian noch etwa drei Meter vor ihm stand, mit monotoner, wie erloschener Stimme: »Ich habe mich nicht getäuscht. Sie verfügen über selten starke Strahlungen, die den meinen, glaube ich, entgegen sind. Ich fühle einen schweren Druck in der Mitte der Stirn, dem Sitze des Ichs. Der Druck setzt sich fort in die Brust, in den Solarplexus. Jetzt bis in die Zehen.«
Florian berauschte sich an diesem unerwartet schnellen und mühelosen Erfolg. Wie ein Bellachini der Hypnose steigerte er grausliche Beschwörergebärden ins Gigantische, von irgendeiner bösen Lust gezwackt, dem heimlichen Nebenbuhler seine Macht zu zeigen. Er drehte, während ihm vor Verausgabung der ihm selber noch rätselhaften Kräfte der Schweiß von der Stirn rann, mit zackiger Hand magische Kreise in das Dunkel.
Magolimek flüsterte: »Mein Blut kreist in den Schläfen!«
Sofort machte Florian Drehungen in umgekehrter Richtung.
Magolimek reagierte augenblicklich: »Der Strom kreist anders herum.«
Er sank etwas zusammen im Sessel: »Ich fühle eine große physische Müdigkeit. Dennoch sind meine psychischen Kräfte wacher denn je. Sie können mich niemals einschläfern, ebensowenig wie ich Sie!«
Florian, der anfangs geneigt war, alles für Bluff zu halten, hatte sich durch Magolimeks sofortiges Reagieren überzeugen lassen und hoffte, trotz jener Voraussage mit äußerster Anstrengung den Unheimlichen einzuschläfern, ohne daß er wußte, wie er es anzufangen hätte. Er sammelte also instinktiv alle Willenskraft in den einzigen Gedanken: »Schlaf ein!« In unerhörter Anspannung quollen die großen Adern an seiner mächtigen Stirn. Er sah grauenhaft aus. Die blonden Haare klebten ihm am Kopf. Seine Augen traten zwei funkelnden Halbkugeln gleich aus dem riesigen Schädel. Ein wilder, rachsüchtiger Triumph wollte sich über seine verzerrten Züge breiten.
Da merkte er, ohne es in irdische Vorstellungen oder gar Worte kleiden zu können, wie von dem zusammengesunkenen Mann da plötzlich etwas wie eine dunkle Mauer sich auf ihn zuschob, die ihn lähmte, ihn zu erdrücken drohte. Seine Hände begannen zu zittern. Er fühlte sich matt werden. Er ließ die Finger sinken.
Genau in diesem Augenblick richtete sich Magolimek sehr ruhig auf: »Der Strom ist abgerissen. Ihr Vermögen ist in der Tat durch glückliche Veranlagung außerordentlich. Allein Ihr Können ist noch roh. Ihnen fehlt die Schulung!«
Wie im Fieber, wenngleich völlig erschöpft, bat Florian Magolimek, ihn als Schüler anzunehmen. Die anderen lächelten über seinen Eifer. Magolimek zögerte: »Wir werden sehen!« –
Am nächsten Abend war der Kreis durch Zufall kleiner geworden. Der alte Fürst schlug vor: »Was meinen Sie, Magolimek, wollen wir eine Seance abhalten? Wir haben uns ja gestern alle von Herrn Windmachers Begabung überzeugt. Vielleicht gelingen uns außerordentliche Phänomene!«
Magolimek zuckte verhalten die Achseln: »Man muß abwarten. Aber ein Versuch kann nicht schaden.«
Nachdem die Dienerschaft schlafen geschickt war, wurde das Zimmer sorgfältig abgeschlossen und sodann fast völlig verdunkelt. Alle nahmen um einen schweren, runden Tisch, unter dem Fritz und Karl-Heinz den Teppich fortgezogen hatten, Platz. Florian kam links neben Thyra zu sitzen. Man bildete die Kette der Hände. Sofort spürte Florian mit Schaudern das Wehen des ihm aus Erzählungen bekannten eisigen Windes über den Oberflächen der Hände. Er fror überall, obwohl vorher im Zimmer die Schwüle nach einem heißen Sommertag gewesen war. Seine Haare sträubten sich vor unbestimmter Furcht.
Thyras Hand rechts neben ihm wurde feucht auf seiner. Sie zuckte in einem fort mit den Fingern und hauchte: »Ich wußte gleich, daß Sie ebenso stark sind wie er!« Florian begriff nicht ganz, was Thyra meinte, war aber sehr beglückt über ihre Vertraulichkeit.
Es dauerte nicht sehr lange, und der schwere Tisch schwankte auf dem Parkett hin und her. Dann begann in der Platte ein regelmäßiges, wie unterirdisches Klopfen, das Florian freudig wiedererkannte. Denn es waren dieselben geisterhaften Laute, die er als Knabe bei jenem merkwürdigen Gesicht des grauen Mannes in der Mauer vernommen hatte.
Schließlich hob sich der Tisch an der Seite, wo Magolimek saß. Magolimek stand auf. Der Tisch schwebte langsam höher. Es war, als klebte er an Magolimeks Händen. Er hieß mit leiser, scharfer Stimme die anderen sitzenbleiben und die Finger langsam von der Tischplatte nehmen, aber die Kette nicht zu unterbrechen.
Infolge seiner aufgeregten Unachtsamkeit sank Florians Rechte auf Thyras Knie. Er hatte noch Überlegung genug, sich zu wundern, daß sie seine Hand dort duldete. Aber wie erstaunte er, als sich das sanfte, junge Mädchen dichter an ihn drängte und ihre kleine, heiße Hand seine preßte!
Obwohl nun Florians ganze Aufmerksamkeit von Magolimek und seinen Verrichtungen gefesselt war, überschüttete Thyras offenkundiges Entgegenkommen sein geschundenes Selbstbewußtsein mit solchem Glück, daß er wider seine sonstige Zurückhaltung kühn wurde und mit seinen Fingerspitzen liebkosend über ihr weiches Knie fuhr. Das Mädchen rückte unruhig hin und her und flüsterte: »Bitte nicht!«
In diesem Augenblick fiel der Tisch mit heftigem Poltern auf das Parkett zurück. Alle lösten die Hände und fuhren erschrocken hoch. Magolimek ächzte gereizt, indem er sich die feuchte Stirn wischte: »Ich vermutete gleich, daß Herrn Windmachers ungeübte Kräfte meinen Strom hemmen würden. Er stört wahrscheinlich die Zirkulation und hebt eure Hilfe auf. Ganz allein kann ich den schweren Tisch auch nicht halten!«
Florian konnte trotz seiner Hochachtung vor Magolimek ein geschmeicheltes Lächeln nicht ganz unterdrücken. Aber seltsamerweise stellte sich Thyra nachher, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Und Florian hatte, als das Licht wieder eingeschaltet war, nicht mehr den Mut, das angefangene Erlebnis fortzusetzen. Abgesehen davon, war er noch viel zu innig mit Virginias Imago verbunden, als daß ihn eine andere, obendrein schlanke und weiche Frau hätte reizen können.
An den folgenden Abenden wurden die Versuche in vertrautem Kreise fortgesetzt und gesteigert. Florian sah befremdet, daß Thyra sich dazu hergab, Magolimek als Medium zu dienen. Zumeist geriet sie schon nach wenigen Strichen des Unheimlichen in Trance, tat, erriet und holte die unwahrscheinlichsten Dinge, die irgend jemand vorgeschlagen hatte. Auch sprach sie fremde Sprachen, von denen sie im Wachzustand kein Wort beherrschte, und schrieb Antworten auf Fragen jeder Art.
Bald hatte sich Florian in diese hochdimensionale Welt eingelebt. Nachdem ihm Magolimek die elementarsten Handgriffe des Magnetiseurs gezeigt hatte, gelang es ihm eines Tages, die linksseitige Gesichtsneuralgie des alten Fürsten durch einfaches Handauflegen zu heilen. Seitdem war er neben Magolimek dessen Favorit und wurde auch von den anderen mit Hochachtung behandelt. Magolimek selbst war zu ihm wie ein älterer, erfahrenerer Bruder.
Florian, der unter den Nachwehen des Schmerzes um Virginia anfänglich mit wehem Lächeln um den uralten Mund einhergewandelt war, wurde allmählich wieder das ursprünglich sonnige Kind, nun sich ihm neue Möglichleiten boten, sich auszuzeichnen. Stürmisch drang er in Magolimek, ihn möglichst rasch in den Okkultismus einzuweihen, wo er hoffen konnte, es vermöge seiner ihm von allen Seiten bestätigten natürlichen Begabung schnell weit zu bringen. Nachdem Magolimek ihn den Proben der Verschwiegenheit, der Adorationsfähigkeit und des Gehorsams unterworfen hatte, die alle zu Florians Gunsten ausfielen, begann seine Initiation.
Nun erst verstand er, was ihm von je aufgefallen war, warum sich alle Mitglieder des fürstlichen Hauses durch eine gelassene Weisheit auszeichneten, durch eine bewußte Güte, die nicht etwa auf Schwäche beruhte. Von je hatte er geahnt, daß diese Menschen, bei denen es keinen Streit und kein häßliches Wort, kein Befehlen und Gehorchen gab wie in anderen Familien, durch ein geläuterteres Band verbunden sein müßten als das des Blutes. Dieses Band verlieh ihnen über den Adel der Geburt hinaus eine Vornehmheit der Gesinnung, die Florian, der aus haß- und leidverseuchten Komplexniederungen kam, immer wieder rührte und berückte.
Jetzt verstand er das Gespräch, das er mit den Freunden geführt hatte, als er zum erstenmal in ihre Münchener Wohnung gekommen war. Nun erst wußte er das dumpfe Getriebenwerden, in nachdenklichen Stunden gedeutet als Ruf aus dem Geisterreich. Auch die beiden Gesichte, die er in frühester Jugend gehabt hatte, wurden ihm heute klar. Die Erscheinungen waren Boten aus der übersinnlichen, devachanischen Welt, die ihn erwecken sollten. Nur, daß er damals nicht ahnte, was es mit den höheren Welten auf sich hatte, weil die Sphäre, in der er geknechtet wurde, zu erdgebunden war.
Unter Schauern der Wißbegier erfuhr er in allmählicher Erhellung, daß es, vom uralten Indien ausgehend, durch alle Jahrtausende hindurch einen Geheimbund der Erleuchteten über die ganze Welt verbreitet gegeben hätte und noch heutigentags gab, die über alle Zeiten hinweg [Druckfehler im Buch. Zeile fehlt] Vergessen gerettet hatten. Er erfuhr, daß es jenseits des Vergessen gerettet hatten. Er erfuhr, daß es jenseit des zu lächerlicher Wichtigkeit aufgespreizten Wissens von der Materie ein höheres Wissen von der Geistesgeschichte nicht nur der Menschheit, sondern auch des Weltalls gab. Er erfuhr von der Hierarchie der Wesenheiten, von den sieben Leibern des Menschen, von der Heiligkeit der Zahl, vom okkulten Rhythmus und von versunkenen Weltaltern. Nun erhellten sich ihm die uralten Mären von der Schöpfung und der meerverschlungenen Atlantis. Erst jetzt erlebte er das Mysterium von Golgatha. Er sah die Verwandtschaft der großen Eingeweihten, Dichter und Philosophen aller Zeiten. Mit schauderndem Verantwortungsgefühl stellte er nunmehr sein Leben unter den Aspekt des Kamaloca oder der Begierdenläuterung nach dem Tode und der Reinkarnation. Er las und lernte mit bewegtester Seele die geheimnisvoll rauschenden Hymnen der Upanishaden und der Veden. Er flog durch die Geisterreiche, die sich seinem trunkenen Blick in den Werken ihrer europäischen Ausleger auftaten, und er ruhte mit den großen Mystikern in Gott. Heute endlich lockte als Entschädigung für allen Hohn, den er seiner Sonderlichkeiten halber geerntet hatte, die Aussicht, über das ärmliche Gewimmel der Blinden erhoben zu werden.
Mit all seinem Anlehnungsbedürfnis, mit all seiner kindlichen Gläubigkeit gab er sich vertrauensvoll in Magolimeks Hände. Denn um hellsehend zu werden, bedurfte man eines Leiters, eines Guru, wie Magolimek ihm erklärte. Zwar gab es verschiedene Wege der Initiation, aber Magolimek wählte als den für Florian geeignetsten den uralten indischen der Yogaschulung. Florian erhielt also seine Übungssätze, die er zu meditieren hatte, um durch die Konzentration und Willensstärkung das Bewußtsein allmählich auf höhere Plane zu steigern.
Mit tiefem Schauder und ungewohnter Beharrlichkeit gab sich Florian den Übungen hin, jeden Augenblick gewärtig, des furchtbaren Hüters der Schwelle, der dem Schüler, dem Chela, den Eintritt in die höheren Welten verwehrt, ansichtig zu werden. Es ist aber der Anblick dieses Hüters darum so furchtbar, weil der Neuling, sofern er nicht durch vorhergehende Übungen in der richtigen Weise gefestigt ist, beim plötzlichen Anschauen seines eigenen Wesens, so, wie es ist mit allen Fehlern und Lastern, als ein des Hellsehens Unwürdiger zusammenbricht.
*
Seit die Angehörigen des fürstlichen Hauses wußten, daß Florian dem Geist gewonnen war, erwiesen sie sich womöglich noch freundlicher und hilfreicher gegen ihn als vordem. Würde doch Florian demnächst ein Bruder in der großen Gemeinschaft der Erleuchteten sein. Die letzte Zurückhaltung, die ihn zuvor oft gekränkt hatte, fiel, und bis in die Nacht hinein setzte der erwählte kleine Kreis seine tiefsinnigen Gespräche fort, die sich bei meist gemeinsamer Lektüre okkultwissenschaftlicher Werke ergaben. Auch hier wieder wurde es Florian über Verdienst leicht gemacht. Ohne daß er die nicht gerade unterhaltsam geschriebenen Traktate durchzulesen brauchte, erfuhr er spielend alles Wissenswerte durch Magolimeks Unterweisungen und durch die beleseneren Freunde. Die interessantesten Stellen las er an, gleichwie manche die Rosinen aus langweiligen Napfkuchen zu pflücken pflegen.
Nur eines befremdete Florian. Aus allem, was er angelesen hatte, ersah er, daß die okkulten Phänomene, die der Ysensteinsche Kreis herauszufordern liebte, mit der eigentlichen Lehre wenig zu schaffen hatten, wenn nicht gar ihr widersprachen. Denn es war völlig zwecklos, die Geister der Verstorbenen, die Klopfgeister und Astralleichname zur Manifestation zu nötigen. Die Gefahr lag nahe, daß sich der Okkultist, durch Macht berauscht, dem Mißbrauch der Macht, der schwarzen Magie ergab. Es bedurfte eines außergewöhnlich starken und reinen Charakters, um nach Erlangung solcher Herrschaft über die Materie nicht vom rechten Pfad abzuirren.
Befragte er Magolimek deshalb, wich jener mit überlegenem Wissen aus. Wenn auch Florian sich einer gelinden Verwunderung nicht erwehren konnte, so wagte er sich doch nicht bis zum Mißtrauen in Magolimeks Reinheit vor, da er seinem überragenden Lehrer blind ergeben und im übrigen ganz auf ihn angewiesen war.
Dennoch begriff er nicht, wie der alte Fürst, wie seine Freunde dulden konnten, daß Magolimek Thyra als Medium mißbrauchte. Wußte er doch heute, daß der Hypnotiseur auch im Wachzustand suggestive Wirkung auf sein Medium ausübt, die auf alle Fälle selbst in lauterster Hand bei jenem eine Bindung erzeugt, die, wo nicht gefährlich, so doch von nachhaltigstem Einfluß auf das ganze Leben des Mediums werden muß.
Freilich hatte er trotz schärfster Beobachtung nie irgendwelche Vertraulichkeit zwischen den beiden bemerkt. Thyra war wie allen anderen, so auch Magolimek gegenüber zurückhaltend und verschlossen. Ihm selbst war es nach jener ersten Sitzung nicht wieder geglückt, neben sie zu gelangen. Es war, als ob sie ihn floh. Nur wenn Magolimek, was häufig vorkam, in Geschäften – niemand erfuhr, wohin – verreist war, schaute sie ihn manchmal lange und fast bang fragend an, wie, als ob sie voller Teilnahme irgend etwas in seinem Gesicht erspähen wollte. Florian konnte sich diese Anteilnahme nicht erklären. Wollten Ahnungen von dunklen Verwicklungen in seiner arglosen Seele aufkeimen, so unterdrückte er sie mühelos in Ehrfurcht, die ein Chela seinem Guru schuldet.
*
Eines Nachts, als er notgedrungen den Baderaum aufsuchen mußte und im Hemd mit flackerndem Licht den unheimlichen, endlosen Gang entlang wehte, tat sich hinten im Flur eine Tür auf. Florian vermutete, es müsse Thyras Zimmertür sein. Deshalb löschte er schleunigst sein Licht, da er keinen Wert darauf legte, von Thyra in solchem Aufzuge gesehen zu werden. Dann harrte er im Finstern auf das, was sich ereignen würde.
Er brauchte nicht lange zu warten. Wirklich trat Thyra in weißem Nachtkleid auf den Gang hinaus, die Kerze vor dem Flackern mit ihrer kleinen Hand schützend. Sie schritt zur Stiege, raffte die Falten ihres Gewandes hoch und ging gelassen die schmale Wendeltreppe hinauf, die in das östliche Giebelzimmer führte, das Magolimek bewohnte.
Florian stand erschüttert. Im ersten Augenblick brannte etwas wie schmerzvoller Neid in ihm. Dann verbannte er solche Gefühle als eines Chela unwürdig aus seinem Herzen. Wußte er im übrigen genau, daß Thyra wirklich zu Magolimek schlich, und wenn ja, ob sie nicht vielleicht nur okkulte Unterweisung genoß? In diesem Fall blieb allein das Kostüm merkwürdig, in dem sie sich Rat erteilen ließ.
Aber schließlich, was ging es ihn an? Machte er doch keine Ansprüche auf Thyra. Im übrigen hätte selbst eine leidenschaftliche Verbindung zwischen Thyra und Magolimek nicht im Widerspruch zur Lehre gestanden. Der Guru hatte ihn dahin unterwiesen, daß der Erleuchtete durchaus kein Tugendbold zu sein brauche. Das Gebot der Keuschheit wäre eine urchristliche Fälschung, von fleischeskranken, spätrömischen Dekadents der Heilslehre aufgepfropft. Wenn der Erleuchtete unkeusch lebte, hatte er es im Kamaloca abzubüßen. Das war alles.
Als das letzte Knarren der hölzernen Stufen verhallt war und droben eine Tür rasch geöffnet und wieder geschlossen war, zündete Florian sein Licht von neuem an und wehte wieder durch den Gang. Sein zackiges Profil und sein flatterndes Hemd warfen gigant-groteske Schatten auf die bleichen Wände.
*
Als Florian in der sechsten Woche seiner Meditationen war, überfielen ihn hin und wieder Neuralgien in der linken Gesichtshälfte. Er verschwieg dies seinem Guru, da er fürchtete, sich als ungeeignet für okkulte Schulung zu erweisen oder mindestens in der Erleuchtung steckenzubleiben. Verzweifelt versuchte er, sich selbst, wie damals den alten Fürsten, durch Handauflegen zu magnetisieren. Es ging nicht. Also verbiß er den Schmerz, so gut er konnte. Aber es blieb nicht aus, daß er manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, zuckende Grimassen schnitt.
Gerade in solch einem Zustand fühlte er Thyras gütige Augen auf sich ruhen und seinen aus Verlegenheit drohenden Blick standhaft aushalten. Ihn deuchte, es spräche aus diesen blauen Sternen ein warmes Mitgefühl, das fast wie eine geheime Angst wirkte. Er lächelte tapfer unter Schmerzen.
Als er in einer der folgenden Nächte – Magolimek war wieder einmal verreist – vor dem Einschlafen seine gewohnten Meditationen machte, tat sich plötzlich die unverschlossene Tür seines Zimmers auf. Herein trat Thyra!
Schmerzhaft unerwartet aus seiner Versunkenheit gerissen, bis ins tiefste erschrocken – glaubte er doch an eine Vision und dachte, es wäre vielleicht der gefürchtete Hüter der Schwelle, richtete sich Florian halb auf im Bett und starrte, allmählich Thyra erkennend, das lautlos wie im Schlaf wandelnde Mädchen an.
Thyra kam langsam näher und blieb dann stumm in einiger Entfernung von seinem Bett stehen. Florian, der sich inzwischen von seiner Erschütterung erholt hatte, wollte aus dem Bett springen, als er sich noch rechtzeitig besann, daß er sich seit Wochen nicht die Füße gewaschen hatte.
Thyra starrte stumm auf Florian, der verwundert das weiche, fließende Nachtgewand betrachtete. Warum in aller Welt kam Thyra so angetan auf sein Zimmer? Verworren erinnerte er sich an ihre Erregung damals bei der ersten Seance und empfand plötzlich Angst.
»Ist etwas geschehen?« fragte er mit hohler Stimme.
Da tat sie einen Schritt, sank auf sein Bett und näherte ihr Gesicht dem seinen. Ihr warmer Duft traf Florian so, daß ihm schwindelte.
Plötzlich stieß sie wie in Qual hervor: »Retten Sie sich, solange es noch Zeit ist!«
Florian verstand nicht: »Retten? Vor wem?«
»Vor Karol!« stöhnte sie. Sie meinte Magolimek.
»Retten? Wieso denn?« Florian begriff immer weniger.
»Karol ist Schwarzmagier und will Sie verderben, weil er spürt, daß Sie stärkere Kräfte haben als er, der bald verbraucht sein wird!«
Florian lächelte ungläubig: »Weiht nicht Karol mich selbstlos in alle Geheimnisse ein?«
»Sie wissen zu wenig, Florian, Sie kennen Karol nicht! Er huldigt Ahriman! Er will nur Macht, Herrschaft und Lust! Er hat meinen Vater, Fritz und mich vernichtet, indem er uns Übungen auftrug, die uns in seine Knechtschaft gaben. Hören Sie sofort mit den Meditationen auf, wenn Sie nicht seiner Hörigkeit verfallen wollen!«
Florian glaubte, Thyra hätte den Verstand verloren.
Das Mädchen fuhr fort: »Ich beobachte Sie, solange Sie in Karols Händen sind. Ich habe gesehen, daß bei Ihnen bereits die Zuckungen im Gesicht auftreten. Das ist ein Zeichen dafür, daß Ihr Ich bereits beginnt, sich aufzulösen! Die Schmerzen, die Sie quälen, sind die Folgen des Kampfes, den Ihr guter Engel gegen Karols Dämonen um Ihren Verstand führt.«
Das klang nicht wie die Worte einer Hysterischen. Florian wurde stutzig! Seinen Kenntnissen nach waren solche Dinge immerhin möglich. Dennoch wurzelte seine Bewunderung für Magolimek zu tief, als daß er dem Mädchen hätte glauben können. Zweifelnd suchte er ihre Vorwürfe zu entkräften: »Warum duldet der Fürst dann Magolimek?«
Sie schaute gequält drein: »Weil er Karols magische Kräfte für seine Unternehmungen mißbraucht! Alles, was Karol beginnt, läuft nach seinem Willen aus!«
Diese Enthüllung erst brachte Florian in Aufruhr. Wenn Thyra die Wahrheit sprach, dann stand das fürstliche Haus, das ihm bisher wie eine glückselige Insel im Meer der Gemeinheit erschienen war, auf einmal in eigenartigem Lichte da. Aus Gründen der Gewinnsucht also nahm Magolimek eine herrschende Stellung auf Schloß Ysenstein ein? Aus so unedlen Motiven gestattete der alte Fürst, daß seine Tochter als Medium mißbraucht wurde? Wie dem auch sei, er wollte diesen Dingen auf den Grund gehen. Er nahm Thyras kleine Hand in seine: »Warum haben Sie mich nicht gleich zu Anfang vor Magolimek gewarnt, wenn Sie wußten, wer er ist?«
Sie zuckte mit ihren schmalen Fingern in seiner Faust: »Vor zwei Monaten kannte ich Karol noch nicht so gut wie heute, wo ich – – –« Sie schwieg und schaute hinweg. Ihre Schultern zitterten.
In tiefem Mitgefühl umfing Florian sie: »Was ist denn heute anders als damals?«
Da preßte sie sich an ihn und stöhnte dem Ratlosen ins Ohr: »Wie ich Ihre Kräfte spüre! Sie sind stärker als Karol. Retten Sie mich! Ich verabscheue ihn! Er weiß es und zwingt mich trotzdem durch Magie, seinen Willen zu tun!«
Florian, den ihre warme Last ein wenig in Bedrängnis brachte, streichelte sie in hilfloser Güte. Sie glühte unter der dünnen Seide. Kaum stieg ihm ein flüchtiges Verlangen auf, so unterdrückte er es mühelos. Thyra war die Tochter seines Gastgebers, die Schwester seiner Freunde und vielleicht die Geliebte seines Guru. Also war sie dreifach heilig!
Er umfing sie zart: »Ich will nicht anzweifeln, was Sie sagen, Thyra, aber ehe ich nicht selbst überzeugt werde, kann ich nicht an Magolimeks Gefährlichkeit glauben. Mein Wesen ist, seit ich seine Unterweisung genieße, völlig verwandelt. Ich kann die Läuterung, die meine Seele nach schwerer Heimsuchung erlöst hat, unmöglich für einen Ausfluß der schwarzen Magie halten!«
Sie hörte gar nicht auf seine Worte. Sie schmiegte sich geschmeidig an ihn an und stammelte: »Deine Hände, du! Gib deine Hände!«
Florian, befremdet von ihrem Tun, liebkoste sie tröstend und etwas zerstreut. Das Mädchen aber lag wie bewußtlos in seinen Armen.
Als sie endlich erwachte, küßte sie inbrünstig seine Hände, erhob sich und ging, ohne ein Wort zu sprechen. In der folgenden Zeit erwähnte keiner von beiden je die Vorgänge dieser Nacht.
*
Magolimek kehrte bald darauf zurück, und das Leben auf Ysenstein nahm seinen gewohnten Gang. Allein Florian ging es schlecht. Denn die Neuralgie sprang ganz unberechenbar von der linken auf die rechte Seite über. Er sah fahler aus denn je. Dazu kam, daß sich periodisch gerade in der Mitte der Stirn über der Nasenwurzel, dort wo nach der Lehre der Sitz des Ich sich befindet, ein zuzeiten unerträglicher Druck einstellte. Florian setzte dann, völlig unfähig zu denken, mit den Übungen aus, und der Druck verlor sich bald.
Trotz aller Bedenken sprach er noch immer nicht zu Magolimek von diesen Beschwerden. Denn er empfand unermeßliche Sehnsucht, endlich über die Schwelle der höheren Welten zu treten. Er wußte instinktiv, daß von jeher der Ruf an ihn ergangen war. Er fühlte, daß er in dieser Inkarnation allein dafür zu leben hatte, sich zu höchster Spiritualität zu steigern und der in ihn gelegten Aufgabe zu genügen. Darum suchte er von Woche zu Woche, durch immer intensivere Konzentration die große Stunde der Erleuchtung zu beschleunigen und schob trotz Thyras Enthüllungen die Schuld an seinen Schmerzen allein seiner Ungeduld zu. Wenn er auch wußte, daß diese Ungeduld im Widerspruch zur Lehre stand, die vielmehr Hingabe, Abwarten und Selbstbescheidung forderte, so war doch das Lob Magolimeks süß, eines Guru, der an Weite der Schauungen und an unheimlicher Macht alles übertraf, was zu erfahren Florian jemals gehofft hatte.
Gegen Ende der Ferien forderte Fritz Ysenstein Florian plötzlich auf, mit ihm nach Westerland zu fahren. Die starke Luft der Nordsee würde ihm guttun nach der Überanstrengung der letzten Wochen.
Als Florian, ein wenig betroffen von diesem Vorschlag, ängstlich fragte: »Und Magolimek?«, erwiderte Fritz mit einer Knappheit, die jede weitere Frage ausschloß: »Magolimek kommt nach!« Alle Sorge fiel von Florian ab. Mit Magolimek ging er bis ans Ende der Welt!
Auf dem Bahnhof in Westerland wurden sie von einer seltsam aussehenden jungen Dame empfangen, die Fritz als seine Braut, Yvonne Dupe, Schlaftänzerin vom Théâtre Intime zu Paris, vorstellte. Florian war aufs äußerste überrascht. Er hatte nie über Fritz' Verhältnis zu Frauen nachgedacht, weil ihm nie irgendwelche Liebesbeziehungen seines Freundes bekannt geworden waren. Denn Fritz zeigte wie alle Eingeweihten eine große Zurückhaltung in bezug auf persönliche Angelegenheiten. Um so erstaunter und geehrter war Florian über das plötzliche Vertrauen, das sich in dieser Enthüllung kundtat.
Yvonne sprach – im Wachzustand wenigstens – nur Französisch, und so war es mühevoll für Florian, ihr näherzukommen. Sie war eine anmutige, kleine Brünette mit dunkler Haut und zerbrechlichen, wunderschönen Händen. Ihre großen Augen starrten verträumt wie die aller Medien. Ihre Stirn war überschattet von einer Fülle kastanienbraunen Haares, das sie seiner Last wegen zu Haus immer offen trug. Es fiel in glänzenden Wellen bis über die Taille ihrer fremdländischen, weiten, nicht modischen Gewänder, die aus seltenen – Florian nahm an – indischen Brokaten bestanden und mit exotischen Stickereien in Gold und Silber bedacht waren.
Florian wohnte mit Fritz und Yvonne in den Zimmern, die das Mädchen im voraus gemietet hatte. Er erfuhr nach und nach, daß Yvonne eines der zahlreichen Medien war, die Magolimek auf seinen Reisen entdeckt und geschult hatte, und erfuhr auch die eigenartige Geschichte dieser romantischen Verlobung. Als Magolimek Yvonne dereinst nach Ysenstein brachte, hatte sie eines Tages in der Trance ausgesagt, daß sie in einer früheren Inkarnation Elisabeth d'Autriche, die Gemahlin Karls IX. von Frankreich, gewesen wäre. Nun hing deren von Clouets Hand gemaltes Porträt in der Ahnengalerie der Ysensteins, da irgendeine Ysenstein Anno 1523 einen Bruder der Elisabeth geheiratet hatte.
Fritz hegte, von unerklärlichen Gefühlen angezogen, unter all den Porträten schöner und häßlicher, alter und junger Frauen, die in der langen Galerie seines väterlichen Schlosses hingen, just für dieses kleine Bild von Jugend auf eine anfangs unbewußte, später leidenschaftliche Vorliebe. Zunächst hatten ihn wohl nur die bunten Farbenflecke des Gewandes und die mit liebevoller Akkuratesse gemalten Edelsteine, mit denen der Stoff reich besetzt war, gelockt; später, als er bewußter hinschaute, liebte er die krankhaft zarten, bleichen Hände, die wie von einem japanischen Meister hingetuschten feinen Brauen, die klare, keusche Stirn und die unsäglich hoheitsvollen, weltfernen Augen.
Yvonne nun besaß bis zu erstaunlicher Ähnlichkeit die Seele Elisabeths, so wie er sie sich in mystischem Versenken in das vielgeliebte Bildnis heraus empfunden hatte. Als gar Yvonne, ohne daß sie noch Magolimek irgend etwas von seiner geheimnisvollen Bindung an jenes Porträt ahnten, in der Trance offenbarte, wer sie präexistent gewesen wäre, kam über ihn die Gewißheit, daß Yvonne die ihm von allen Zeiten her vorbestimmte Gefährtin sein müßte. Und mit der gelassenen Vorurteilslosigkeit, die eine der edelsten Eigenschaften seines Hauses war, hatte er sich in ernstester Absicht mit dem Mädchen verbunden, das im übrigen, selbst im mediumistischen Schlaf, nicht anzugeben vermochte, woher sie stammte.
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Als die drei etwa eine Woche in Westerland weilten und gerade beim Abendbrot saßen, stand Yvonne plötzlich vom Tisch auf, entschuldigte sich mit unerklärlicher Müdigkeit und streckte sich auf einem Sofa aus, das im Zimmer stand. Florian wollte erschreckt nach einem Arzt eilen, aber Fritz beruhigte ihn lächelnd und schaute gespannt auf Yvonne.
Nach einiger Zeit schlief das Mädchen ruhig, tat die Lippen auf und lallte: »Karol und Thyra kommen morgen mit dem Abendzug. Fritz soll Zimmer bereithalten!«
Florian erstarrte. Ihm kältete ein Schauder den Rücken. War Magolimek wirklich ein solcher Magier? Oder war alles nur in Szene gesetzt von ihm und Yvonne, um Fritz fester an jene zu ketten?
Auf seine entsetzt fragenden Blicke entgegnete Fritz scherzend: »Karol spart die Unkosten des Telegramms. Er tut das oft. Wir stehen in ständiger Verbindung mit ihm, wenn Yvonne oder Thyra anwesend sind.«
Obwohl nun Florian die Tatsache der Telehypnose aus seinen neuerlichen Forschungen bekannt war, fühlte er sich dennoch unbehaglich beim Gedanken an Magolimek. Er mußte an jene Nacht, wo Thyra ihn aufgesucht hatte, denken. Vielleicht hatte Thyra doch recht, und Magolimek war wirklich Schwarzmagier! Ihm wollte einen Augenblick um seine Seele bangen, wenn er überlegte, daß jener ihn nach Thyras Aussage zum Wahnsinn zu treiben beabsichtigte. Gleich darauf verwarf er diese Befürchtungen als feige. Den Mann wollte er sehen, der ihn, einen philosophisch geschulten Geist, um den Verstand bringen könnte. Außerdem mußte er, koste es, was es wolle, hinter all diese Geheimnisse dringen. Gleich Magolimek wollte er ein Herrscher von des eigenen Willens Gnaden werden! Er fühlte auf einmal Riesenkräfte in sich. Und da Magolimek der einzige Guru war, den er kannte, mußte er sich ihm einstweilen wohl oder übel ausliefern. Diese Nacht machte er mit um so größerer Inbrunst die vorgeschriebenen Übungen.
Anderen Tages wagte er eine harmlose Frage: »Warum bringt eigentlich Magolimek Thyra mit?«
Aber Fritz lächelte nur. Da Florian nicht zudringlich scheinen wollte, zügelte er seine Wißbegier. Augenscheinlich wußte Fritz um die Beziehungen seiner Schwester zu Magolimek? Und billigte sie?
Als er am Abend mit Fritz und Yvonne die beiden vom Bahnhof abgeholt hatte, ging Magolimek mit Thyra voran. Thyra stützte sich schwer auf Magolimeks Arm. Da erst merkte Florians Harmlosigkeit, was Thyras etwas unbeholfener Gang verriet. Wo hatte er nur seine Augen gehabt?
Nach dem gemeinsamen Abendbrot, zu dem es einen alten Burgunder gab, den Fritz im Widerspruch zu seiner sonstigen Abgeklärtheit liebte, klopfte Magolimek an sein Glas und sprach sehr ernst: »Wir sind auf längere Zeit hinaus vielleicht das letztemal unter uns. Ich rechne meinen lieben Florian zu uns. Ich möchte daher ein paar Worte zum Abschied sagen. Es hat einem unzerstörbaren Ich aus dem Devachan gefallen, in brünstigem Verlangen nach Inkarnation sich Thyra und mich als Eltern auszusuchen. Da auch wir Erleuchteteren uns den Gesetzen der Kurzsichtigen fügen, um nicht unnütz Kraft im Kampf gegen Bosheit und Verleumdung zu vergeuden, werden Thyra und ich nach England fahren, weil wir dort schneller unseren heimlichen Bund öffentlich gutheißen lassen können. Ich möchte nun dir, lieber Fritz, noch einmal danken, daß du tapfer über die Vorurteile deines Standes hinweg und gegen deinen noch vom Schleier der Maya geblendeten Vater uns geholfen hast. Ich vertraue darauf, daß du uns auch weiterhin beistehen wirst, wie auch ich gelobe, all meine Macht jederzeit zu deiner Verfügung bereitzustellen. Ich leere mein Glas auf dein Wohl!« –
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Am nächsten Morgen erwachte Florian mit dumpfem Schädel. Er konnte schwere Weine nicht vertragen. Also schwur er, hinfort den Wein für immer zu meiden.
Voll frischen Mutes machte er sich an die aufgegebenen Übungen. Magolimek nahm sich gerade in diesen letzten Stunden seiner aufs uneigennützigste an. In abgründigen Gesprächen gab er ihm Anweisungen, wie er sich in seiner Abwesenheit zu verhalten hätte. Der Guru sagte, während ein nie gesehener Glanz sein edles Antlitz verschönte: »Ich fühle deutlich, daß sich der Hüter, der die Schwelle des Übersinnlichen den Profanen verschließt, dir naht. Du wirst nicht erschrecken, da du genügend gefestigt bist. Habe Mut und Ausdauer, und du wirst reich belohnt sein, wenn du erst zu den Eingeweihten gehörst!«
Florian verdoppelte also seinen Eifer. Hinzu kam, daß sich an einem der letzten Abende etwas ereignete, das seinen Glauben an Magolimek neu festigte. Fritz sagte nach dem Abendbrot: »Karol, ich habe kein Geld mehr, kannst du aushelfen?«
»Gewiß!«
Magolimek verdunkelte das Zimmer und schläferte Yvonne fast augenblicklich ein. Sie lag in ihrem weiten, linnenen Gewand wie aufgebahrt steif über dem Stuhl, die Lehne im Nacken. Magolimek murmelte Unverständliches in einer unbekannten Sprache.
Und plötzlich – Florians Herz setzte aus – erscholl Rauschen und Klingen in der Luft. Magolimek griff hastig nach rechts und links in das Leere. Man hörte ihn Papier knittern und mit Metall klimpern. Nach einiger Zeit stöhnte Yvonne laut auf. Da weckte er sie, machte Licht und leerte seine Taschen auf den Tisch.
Er zählte die Scheine und das Gold vor aller Augen. Es waren genau 9999 Mark. Er lachte höhnisch: »Merkwürdig! Immer die Neun Ahrimans!«
Großzügig überließ er sodann Fritz das Gold und steckte die Scheine in seine Brieftasche.
Alle außer Florian nahmen das Unglaubliche wie etwas Alltägliches hin!
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Einige Tage nach Thyras und Magolimeks Abreise war Florian bereits so weit in seinen Übungen vorgedrungen, daß er in günstigen Augenblicken, das heißt wenn ihn seine Schmerzen nicht heimsuchten, seinen Ätherleib wahrzunehmen glaubte. Er überragte, genau wie es ihm gelehrt war, den physischen Leib um ein geringes. Manchmal fehlten gewisse Gliedmaßen, ohne daß Florian sich dieses Fehlen erklären konnte. Wenn er sich bei geschlossenen Augen lange genug konzentrierte, stellten sich auch astralische Visionen ein. Bunte Kreise in unirdisch leuchtenden und durchsichtigen Farbtönen kreisten geheimnisvoll durcheinander wie Planetenbahnen und erzeugten eine sanfte Musik dabei, die an die Sphärenmusik der Alten erinnerte.
Zumeist jedoch litt er an schlimmen Zuständen. Nicht allein, daß der Druck in der Stirnmitte über der Nasenwurzel und die Gesichtsneuralgien immer unerträglicher auftraten, nein, er fühlte nun ein Brennen und Glühen das ganze Rückenmark entlang. Bald setzte sich das fort bis in die Handteller und im linken Fuß bis in die Sohle, endlich bis in einen Nerv der großen Zehe. Ihm war, als säße dort eine glühende Nadel, die durch den Ballen immerfort nach außen stäche. Im Hirn aber blähte sich ihm eine Blase täglich dicker auf. Florian hatte das Gefühl, daß er, wenn diese Blase eines Tages platzte, wahnsinnig werden müßte. Dann lag er schweißgebadet und kämpfte gegen die Umnachtung, die jeden Augenblick eintreten konnte. Er hatte eine unbeschreibliche Angst. Am liebsten hätte er in solchen Zuständen laut um Hilfe geschrien. Aber lieber biß er in sein Taschentuch. Die Freunde durften nichts merken! Denn jede Teilnahme, jede Mitwisserschaft war unsühnbare Schuld und würde das große Ereignis unmöglich machen.
Eines Nachts kam es endlich so weit. Der Tag war schlimm gewesen. Nun lag Florian voll Frieden ausruhend da, auf nichts gefaßt. Und ganz plötzlich, ohne jede Anstrengung seinerseits, trat das Urbild seiner selbst, das Ding an sich seines Wesens in geistiger Form, mit irdischen Mitteln unbeschreibbar, vor sein inneres Auge! Als Florian sein Ich, ungebrochen im Spiegel des Denkens, nackt, unverhüllt und mit allen sieben Todsünden in ihrer Grauenhaftigkeit beladen, schaute – gab es doch keine Sünde, die er nicht in Gedanken schon begangen hatte –, erschrak er, dessen Seele durch unrichtige Übungen verräterischerweise nicht stark genug gemacht worden war, bei solchem Anblick so tödlich, daß er mit gellendem Schrei die nächtliche Stille zerriß.
Fritz und Yvonne, die nicht weit von Florians Zimmer schliefen, erwachten und stürzten herbei. Als sie hinsahen, entdeckten sie den Chela, der regungslos auf dem Rücken lag. Die Decke hatte er von sich gestoßen mit einer Gebärde, als ob er hätte fliehen wollen. Seine Hände waren in das Laken gekrallt. Sein Gesicht war grauenhaft verzerrt wie im Starrkrampf. Er stöhnte und röchelte wie ein Todwunder.
Nach Florians Aussehen zu urteilen, war es Fritz klar, daß nur eine okkulte Katastrophe den Freund in diesen Zustand gebracht haben konnte. Dazu kam, daß der Kranke auf alle Fragen als Antwort nur das gleiche Röcheln und Stöhnen von sich gab, das wie das langgezogene Wimmern eines Kindes war.
Fritz kleidete sich in Eile an, ließ Yvonne am Lager des Freundes und suchte in seiner Ratlosigkeit den Badearzt auf. Nach vielen Irrgängen traf er ihn endlich skatspielend in der hintersten Ecke eines Cafés an. Da der Arzt nicht wußte, was er aus Florians Zustand machen sollte, erkundigte er sich zunächst einmal, was der Patient zu Abend gegessen hätte.
Fritz erwiderte empört: »Aber sehen Sie denn nicht, daß dieser Zusammenbruch seelischer Natur ist?«
Der Arzt behorchte Florians Herz. Es war nur schwach zu hören. Der Atem ging noch immer stoßweise und röchelnd. Da der Arzt völlig ratlos war, verabfolgte er dem offensichtlich unter furchtbaren Schmerzen unbekannter Herkunft Leidenden eine Morphiumeinspritzung. Deren Erfolg bestand darin, daß Florians scheußliche Grimasse sich glättete, daß die verkrampften Hände sich lösten und das Röcheln allmählich in ein hastiges Schnarchen überging. Über seinem Antlitz lag die Todesangst eines gehetzten Wildes, das fliehen möchte und, von unsichtbaren Fesseln gehalten, nicht zu fliehen vermag. Opferwillig wechselten Fritz und Yvonne einander an Florians Bett ab.
Da der Kranke auch am andern Tage keinerlei Antwort auf Fragen gab und Speise und Trank nicht annahm, begriff Fritz bei völliger Ratlosigkeit des Badearztes, daß hier andere Hilfe nottäte. Unglücklicherweise war Karol, der allein hätte helfen können, nicht zur Hand. Friß sandte ein Telegramm an ihn. Aber es kam keine Antwort. Auch Yvonne spürte seinen Ruf nicht.
Endlich fiel Fritz ein, daß in Berlin einer der größten unter den europäischen Hellsehern lebte, der Großmeister aller erleuchteten Logen, ein Mann, der in seiner Hand Fäden vereinigte, die von Indien aus die ganze Welt umspannten. Sofort beschloß er, seinen kranken Freund vor den Großmeister zu bringen. Unter unsäglichen Schwierigkeiten wurde der Bewegungsunfähige nach Berlin geschafft. Zum Glück war der Großmeister anwesend.
Als er von Fritz die näheren Umstände von Florians Zusammenbruch erfuhr, machte er sich sofort mit ihm auf den Weg zum Lager des Kranken. Gleich als der Großmeister an das Bett trat und das Wunder seines abgründigen Blickes in Florians irre Augen dringen ließ, löste sich dessen schmerzverzerrtes Gesicht in ein schwächliches Lächeln. Der Großmeister neigte sein Antlitz, aus dessen verklärten Zügen Alleid, Allverstehen und Allgüte sprachen, mit den zwingenden, welttiefen und doch so weichbarmherzigen Augen über ihn. Da war es Florian, wie er später erzählte, als wichen die Gespenster der Wahnsinnsangst zum ersten Male von ihm, nachdem sie ihn wie die Furien gepeinigt hatten. Ihm war, als flögen sie aus dem Zimmer und schlügen krachend die Tür hinter sich zu.
In diesem Augenblick löste sich seine Zunge. Er lallte als erstes: »Laßt mich nicht wahnsinnig werden, liebe Freunde!« Dann weinte er still und unaufhaltsam, ohne das Gesicht zu verziehen.
Der Großmeister schickte Fritz und Yvonne hinaus und fragte den Weinenden: »Sie haben die Yogaschulung unternommen? Dann wissen Sie, daß Verschwiegenheit erste Pflicht des Chela ist! Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie für alles, was zwischen uns gesprochen wird, tiefstes Schweigen verbürgen!«
Florian nickte, und der Großmeister fuhr fort: »Welches waren Ihre Meditationen?«
Florian, der wie ein eben Exorzisierter wieder sprechen konnte, nannte sie.
Der Großmeister runzelte die Stirn. »An Ihnen ist ein Verbrechen begangen worden! Die Meditationen sind zu schwer. Der sie Ihnen gegeben hat, ist entweder ein Unwissender oder ein Schurke. Das letztere scheint mir wahrscheinlicher. Denn sie sind abgefeimt, so ausgesucht, daß sie den Wahnsinn herbeiführen mußten dergestalt, daß Ihnen der Hüter der Schwelle erscheinen sollte, bevor Sie genügend gefestigt waren, um seinen Anblick zu ertragen!«
Also kannte der Großmeister seine okkulte Geschichte, noch ehe er sie ihm ganz erzählt hatte? Florian erstaunte.
»Wer ist Ihr Guru?«
»Karol von Magolimek.«
»Mein Sohn,« fuhr der Großmeister feierlich fort, »gedenken Sie immerdar Ihres guten Engels! Ihm allein verdanken Sie, daß Sie noch über Ihren Verstand verfügen! Magolimek ist ein berüchtigter Hochstapler des Okkultismus und, da er leider mit Kräften begabt ist, einer der gefährlichsten Schwarzmagier Europas. Sie haben sich durch irgendeine Handlung seine Feindschaft zugezogen, und er hat sich an Ihnen rächen wollen, indem er Sie dem, was die Menschen Wahnsinn nennen, preisgab. Haben Sie gleich anfänglich Schmerzen in der linken Gesichtshälfte verspürt?«
Florian nickte.
»Und darauf hat sich ein bohrender Schmerz in der Stirnmitte eingestellt?«
Florian bejahte auch dies.
»Sie sind nicht das erste Opfer Magolimeks, das mir bekannt wird. Der Frevler geht leider bei seinen Untaten stets so vorsichtig zu Werke, daß man ihm mit irdischer Gerechtigkeit das Handwerk nicht legen kann. Das einzige Gegenmittel ist eine geistige Bekämpfung durch den Hellseher vom Astralplan aus. Und da Mensch immer Mensch bleibt, vermag auch der Hellseher nicht alle schwarzmagischen Freveltaten zu bemerken, die alltäglich geschehen. Aber wenn man nicht alles verhindern kann, so kann man doch vieles wieder gutmachen. Ich werde Sie nun nicht hypnotisieren, wie jener Schurke es tat, um seine Opfer schnell in seine Gewalt zu bekommen. Denn es widerspricht der Lehre, den Willen eines anderen zu beeinflussen. Ihre Schmerzen sind von Dämonen verursacht, die ich deutlich schaue. Da Sie aber, wie ich ebenfalls wahrnehme, nicht ohne Schuld an Ihrem Geschick sind – auch Sie haben sich unter Magolimeks Einfluß schwarzmagischer Wünsche schuldig gemacht –, können Sie nur geheilt werden, wenn Sie von neuem anfangen, ihren Willen zur Reinheit zu stählen. Ich werde Ihnen eine einzige Meditation geben. Beginnen Sie damit gleich, nachdem ich Sie verlassen habe. Sie werden bald spüren, daß die Dämonen dadurch verscheucht werden, und die Starre Ihrer Glieder wird nachlassen!«
Er ergriff Florians Hand, sah ihn mit den dunklen Sternen seiner Augen, die Urwissen und Urgüte strahlten, an und flüsterte ihm die rettende Übung ins Ohr. Florian fühlte von der Hand des Großmeisters einen warmen, starken Strom in seine starren Glieder fließen. Mit jedem Ruck der Sekunden schwand die Lähmung. In überschäumendem Glück küßte er da unter Tränen die gütige Hand des Verehrten.
Seine Heilung machte unter der Pflege des behutsamen, neuen Gurus rasche Fortschritte. Bald konnte er sich erheben. Jedoch sein blondes Haar war, obwohl er erst im vierundzwanzigsten Jahr seines Lebens stand, an den Schläfen völlig weiß geworden. Als sich Florian, wieder zum Leben erwacht, lange im Spiegel beschaute, fand er, daß dieser Umstand sein Aussehen noch interessanter machte denn zuvor.
Fritz und Yvonne verließen ihn, sobald seine Heilung gesichert war. Florian, der seinem Versprechen gemäß nichts von dem, was zwischen ihm und dem Großmeister vorgefallen war, verriet, schied zwar voll Dankbarkeit, aber auch in einer gewissen Entfremdung von dem Freund, der von solchem Einfluß auf sein Schicksal hatte werden sollen. Er war der Ansicht, daß Fritz, der Magolimek seit langem kannte, ihn zum mindesten vor der Gefahr, die in einer falschen Schulung lag, hätte warnen müssen. Darum blieb der Name Ysenstein in der Folge für ihn immer mit einem Teil des Hasses gegen Magolimek beladen, so daß es vieler Jahre bedurfte, ehe er wieder unbefangen mit den Brüdern verkehren konnte.
Wie selbstverständlich blieb Florian in Berlin, um des Großmeisters willen, dessen begeisterter Chela er wurde. Um Ruhe zu haben, schrieb er nach Hause, er wolle sich nunmehr, ohne Zeit zu verlieren, auf das Examen vorbereiten. Der Ökonomierat, erstaunt über des Sohnes ernste Wandlung, ließ Florian gewähren.
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Sobald es anging, verließ Florian das Hotelzimmer, in dem er krank daniedergelegen hatte, und mietete ein Zimmer in der Nähe des Wohnsitzes seines verehrten Retters. Als er wieder genügend Festigkeit besaß, schrieb er an Magolimek in aller Form einen Absagebrief, der von Anwürfen strotzte. Auf diesen Brief erhielt er keine Antwort. Dieses Schweigen verursachte ihm anfangs bängliche Gefühle. Aber er hätte nicht gesund werden können, nicht leben können, wenn er durch diesen rächenden Brief nicht einen Punkt hinter den verworrensten Abschnitt seiner verwirrten Jugend gesetzt hätte.
Eines Winterabends nun, als er nach dem Abendessen in seinem warmen, gemütlichen Zimmer in einer Schrift des Großmeisters über schwarze Magie nachlas und von den furchtbaren Gefahren, denen er in letzter Stunde entronnen war, erfuhr, schlug plötzlich draußen die Flurglocke an. Er schrak zusammen. Klingeln war immer eine unangenehme Sache. Man wußte nie, was da aus dem ungeheuren Reich der Außenwelt zu einem wollte. Beklommen lauschte er, daß die Wirtin öffnen möchte. Allein es rührte sich nichts.
Und da – ihm stockte der Atem – trat unangemeldet und sporenklirrend ein Offizier in fremdländisch phantastischer Uniform herein, die Florian trotz seiner militärischen Vergangenheit in keinem europäischen Heeresverband unterzubringen vermochte.
Das Gesicht des Fremden wies, obwohl er einen langherabhängenden Schnurrbart trug, eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Magolimek auf. Florian wurde, da diese Ähnlichkeit alles kaum Verschmerzte in ihm aufrührte, von einem nervösen Zittern befallen und nahm in unbewußtem Drang nach Schutz hinter einem Stuhl Deckung.
Der Unbekannte sagte, ohne eine Aufforderung abzuwarten, in gebrochenem Deutsch: »Ich bin Rittmeister von Magolimek. Sie haben meinen Bruder beleidigt. Da ich immer in Rapport mit Karol stehe, hat er mich telepathisch beauftragt, an seiner Statt von Ihnen Rechenschaft zu fordern. Man sagte mir« – dabei zog er aus seinen Taschen zwei blanke, längliche Pistolen –, »daß Sie ein Ehrenmann wären!«
Florian geriet in ängstliche Verwirrung. Sollte er schreien? Wollte der offenbar Verrückte ihn erschießen? Aber nein, es lagen ja zwei Pistolen auf dem Tisch. Dann jagte in wüstem Hetzen durch sein Hirn: Ich bin Konkneipant der Slawonia! Wenn ich versage, büße ich die Schleife ein! Und was werden Ysensteins von mir denken?
Im Ringen zwischen Korpserziehung und Lebensdrang fiel ihm, wie gewöhnlich in höchster Not, eine Ausflucht ein. Er nahm alle schauspielerische Kunst zu Hilfe und sprach voll Mannhaftigkeit von oben herab: »Wie komme ich dazu, mich mit Ihnen zu schießen? Schicken Sie gefälligst Ihren Bruder her, wenn er Genugtuung von mir wünscht!«
»Karol ist, wie Sie wissen dürften, in dringenden Geschäften in England. Er legt Wert darauf, daß diese Sache bald geregelt wird!«
Da fand Florian in plötzlichem Umschlagen seiner Stimmung die Forderung so komisch, daß er zunächst lächelte und dann in ein wieherndes, dröhnendes Lachen ausbrach, das endlich in Kreischen überging. Er wand sich und klatschte dabei auf seine Schenkel. »Ein Guru, der seinen Chela auf Pistolen fordert!«
Verdutzt schaute der Fremde auf Florian. Als ihm dessen Heiterkeit zu lange dauerte, zog er aus dem Schaft eines seiner Reiterstiefel eine kurze Peitsche, erhob sie und trat schnell auf Florian zu.
Jäh befiel da Florian eine Wut, die ihn tapfer machte. Er wollte diesen Spuk möglichst rasch beenden. Wie seine bäuerischen Ahnen bei ländlichen Holzereien, ergriff er den schweren Stuhl, schwang ihn mit unglaubhafter Kraft über seinem Kopf und würde den Schädel seines Gegners unfehlbar zerschmettert haben, wenn dieser nicht nach Wegnahme der Pistolen, die auf dem Tisch lagen, den Rückzug angetreten hätte.
Florian, nunmehr in heldischem Übergewicht, setzte den Stuhl heftig ab, eilte hinter dem Fliehenden her und feuerte mit krumm ausholendem Bein einen gewaltigen Tritt in die Gegend der roten Hosen. Allein er traf nur krachend die Tür, die vor seiner Fußspitze ins Schloß fiel. Der Eindringling war wie zerstoben!
Zunächst hielt Florian seinen schmerzenden Fuß in beiden Händen und hüpfte komisch einige Schritte auf einem Bein. Dann öffnete er die Tür und blickte vorsichtig auf den Flur. Es war nichts zu sehen. Er wagte sich bis zur Flurtür vor und machte sie, auf alles gefaßt, ein wenig auf. Niemand war dort, und auch auf der Treppe war nichts zu hören!
Verdutzt rieb er sich die mächtige Stirn. Was war das? Eine okkulte Spiegelung, eine Angstvision, ein Dämon, Magolimek selbst oder sein Bruder?
Kopfschüttelnd klopfte er an die Zimmertür der Wirtin und fragte, ob nicht vor kurzem die Flurglocke angeschlagen hätte.
Die Frau verneinte erstaunt.
Daraufhin legte sich Florian gelassen nieder und entschlief bald.
Er sah Magolimek nie wieder.