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V. Kapitel.
Der Metakritiker.

Florian fuhr nicht einmal, um seine Sachen zu holen, nach Berlin. Er ließ sie durch die Pensionsinhaberin zusammenpacken und nach Reitzenau schicken. Denn er wagte nicht, mit seinem erschütterten Gemüt die Räume zu betreten, in denen er mit Ethel glücklich gewesen war. Er faßte eine krankhafte Abneigung gegen die große Stadt, auf die er undankbar schalt, selbst in späteren Jahren, da er den brennendsten Rausch seines Daseins in ihr erleben sollte.

Er wählte, da sich sein Komplex gegen Berlin allmählich auf ganz Norddeutschland ausdehnte, Freiburg als nächste Universität aus und ging noch während der Ferien dorthin, ohne sich vom Großmeister oder den Brüdern in Berlin zu verabschieden. Er hatte es nunmehr aufgegeben, an die Stunde seiner Erleuchtung zu glauben. Das Übermaß der Meditation und Konzentration hatte sein Geistselbst erschlafft. Er fühlte Müdigkeiten ganzer Jahrhunderte. Nie würde es ihm wieder gelingen, des Hüters der Schwelle ansichtig zu werden. Jene Gewaltschulung Magolimeks hatte sein Hellsehertum für immer vernichtet. Nicht, daß ihm je ein Zweifel an des Großmeisters Macht aufgetaucht wäre, nein, die Schuld lag nur an ihm selbst! In rasender Verschwendung hatte er all die feinen Kräfte der Seele vergeudet und stand nun abgehalftert da.

Beschaute er sich im Spiegel, ekelte ihn sein eigenes Gesicht mit der leichenfahlen, schlaffen Haut, der hypertrophierten Stirn, den welken, dünnen Lippen und den tiefen Furchen der Zerrüttung, dort, wo seinem Alter gemäß festes Fleisch hätte blühen müssen. Starrte er freilich lange genug hin, überfiel ihn hinwiederum ein wilder Triumph ob der dämonischen Lockung, die aus dieser Wüste unheimlich reizte, Männer wie Frauen, und nicht die alltäglichsten!

Immerhin beschloß er, seine Übungen vorläufig aufzustecken und sich vor der übertriebenen Subjektivität zu retten, indem er sich hellfühlend in die äußere Umwelt versenkte. Vielleicht vergaß er auf diese Weise alles Unheil, das ihn betroffen hatte, und konnte neue Kräfte okkulten Erkennens sammeln. In diesem Sinne schrieb er an den Großmeister, der seinen Entschluß billigte und ihm gütig mehrere Meditationen mit auf den Weg gab, die seiner Seele Balsam sein würden. Im übrigen hoffe er, Florian wiederzusehen, wenn er abzuhaltender Vorträge wegen Süddeutschland besuchte.

Sehr zu Florians Gesundung trug eine Begegnung bei, die er gleich in den ersten Tagen auf der Straße machte. Er traf nämlich ganz überraschend einen Schulfreund aus Mirbach, Günther Freiherrn von Deeken, der es inzwischen zum Kustos an einer naturwissenschaftlichen Sammlung der Universität gebracht hatte. Freudig erneuerten sie eine alte Bekanntschaft. Florian, der immer einen dunklen Hang zum Adel verspürt hatte, weil sein krankes Selbstgefühl sich an der bevorrechteten Stellung und der damit gegebenen Überlegenheit seiner adligen Freunde mit in die Höhe ranken konnte, schloß sich in enthusiastischer Weise an Günther von Deeken an. Denn auf diese Art war er der Einsamkeit, die ihn in der fremden Stadt bedrohte und die er aus Unfähigkeit, sich mit Inhalt zu erfüllen, wie eine Krankheit fürchtete, schnellstens überhoben.

Er, der mit sich seines Aussehens halber oft haderte, bewunderte den Freund um seines schönen, schlanken Wuchses und der schmalen Rasse des Gesichtes willen, und sagte ihm das rückhaltlos.

Günther Deeken hörte dieses Lob mit merkwürdigem Lächeln um den edelgeschnittenen Mund an. Da ihm als Biologen die Natur, sei es Tier, Pflanze oder Gestein, in allen Gestalten innig vertraut war, wurden die Forschungsfahrten in die herrliche Umgebung, auf die er Florian mitnahm, für diesen eine Quelle unschuldiger Erkenntnis, wie auch reinsten, künstlerischen Entzückens. Während der letzten warmen Septembertage schaute er, untätig neben dem eifrig sammelnden Freund niedersitzend, von den Bergen in das weite Tal, schaute die graublauen Städte im Dämmer der Ferne und die ragenden Türme des Münsters.

Florian legte sich getreu seinen Vorsätzen Herbarien an, sammelte Steine und fing Schmetterlinge. Nutzte er das große Wissen des Freundes, so erfuhr dieser, verwundert beglückt, von ihm die okkulten Mysterien, die sich hinter erstarrten Steinen, zurückgebliebenen Pflanzen und Tieren gemäß der Lehre verbargen. Da Günther Deeken für solche Erleuchtung nicht unzugänglich war, gaben die Abgründe, die zwischen ihren Weltanschauungen klafften, unendlichen Stoff für Unterhaltungen. Bald sahen sie sich täglich und nahmen auch alle Mahlzeiten gemeinsam. Voll Haßgefühlen gegen das Weib, verschloß sich Florian mit dem Freund vor der Welt.

Günther Deeken, in allen Dingen äußerer Eleganz von sicherstem Geschmack, wurde Florians Vorbild, das er blind ergeben äffte. Bis in die späteste Zeit trug er die Schleifen, die ihm der Freund geschenkt hatte, und band sie, wie es ihm nach vielen Geduldproben von jenem gelehrt war. Und – was keiner Frau gelungen war, gelang Günther Deeken! Florian wurde sauber und wusch sich mehrmals am Tage.

Da sein vergötterter Freund ein Liebhaber köstlicher Seifen und exotischer Düfte war, teilte Florian binnen kurzem auch diese Leidenschaft. Nur überschritt er hierin wie gewöhnlich alles Maß und strömte auf mehrere Riechweiten Duftwolken aus, so daß er auf der Straße und im Kolleg manch boshafte Bemerkung anhören mußte. Allein das verschlug ihm nichts. Spiegelte doch seiner geheimnistrunkenen Seele das Mysterium des Duftes, den er mit dem Freund teilte, eine geläutertere Gemeinsamkeit des Verströmens ins Kosmische vor, als es je Vermischung der Leiber vermocht hatte.

Diese Harmonie wurde erst unterbrochen, als Florian Mitte Dezember zu seinem Schrecken einen Brief erhielt, dessen herrische Handschrift er kannte. Alles Blut staute sich in seinem Herzen! Mit zitternden Fingern riß er den Umschlag auf. Der Brief war von Virginia! Sie schrieb, daß sie Weihnachten in Rom verbringen wolle und daß sie, auf der Durchreise, in München zufällig von Karl-Heinz Ysenstein erfahren habe, daß er in Freiburg studiere. Sie bat ihn dann in herzlichen Worten um ein Wiedersehen, damit sie – wie sie sich ausdrückte – ein altes Unrecht wieder gutmachen könne.

Zunächst geriet Florian in einen Aufruhr, der an die alten Wahnzustände erinnerte. Dann weinte er lange. Er hatte noch nie erfahren, daß das Leben über solche Gnadengeschenke später Genugtuung für unverdiente Kränkung verfügt. Virginia dachte noch an ihn! Virginia kam zu ihm! Virginia bat ihn um Verzeihung!

Kaum waren die eben vergossenen Tränen getrocknet, so erfüllte ihn schon titanischer Triumph! Heute, wo er frei von Virginia war, würde er mit ihr abrechnen, würde sie verächtlich behandeln und sie seelisch erniedrigen, weil sie ihn damals, obwohl sie älter als er gewesen war, mitleidlos versklavt hatte!

Fieberhaft entwarf er Brief auf Brief, die er alle wieder zerriß. Schließlich antwortete er sehr ruhig und kurz, da er vermutete, daß gefaßte Würde den größten Eindruck auf die Stolze machen müßte. Er schrieb also, daß er sich sehr freuen würde, wenn sie nach Freiburg käme. Anderswohin ihr entgegenzufahren, hinderten ihn seine Studien. Wenn es ihr recht wäre, möchte sie ihm Tag und Stunde ihrer Ankunft melden.

*

Günther runzelte die Stirn, als Florian ihm alles unter Zeichen furchtbarster Erregung mitteilte. Er fragte: »Warum bist du nicht eher zu mir gekommen? Ich hätte dir von diesem unüberlegten Brief abgeraten.«

»Warum nur?«

Günther schaute ihn eindringlich an.

Florian verstand seinen Blick nicht und fuhr fort: »Virginia ist die Frau, die mich leben gelehrt hat, insofern sie mich zu meinem mir bis dahin unbekannten wahren Wesen erweckte. Wenn sie wahrscheinlich auch nur mit mir zu spielen gedachte, so habe ich mit ihr Dämonien des Rausches realisiert, die machen, daß ich auf ewig in Haß und Dankbarkeit ihr verbunden bleibe!«

»Ich schmeichelte mir, du hättest inzwischen gelernt, umzudenken und einzusehen, daß unsere Freundschaft, in der es weder Herrschen noch Knechtschaft gibt, unendlich höher steht als all die Schmach, in die einen Frauen zerren!«

»Erlaube mal, Günther! Du bist mein bester und vertrautester Freund, ich schwöre es dir! Aber auch du darfst nicht in so herabsetzenden Ausdrücken von Virginia und meinem einzigartigen Erleben mit ihr sprechen!«

Günther erwiderte scharf: »Ich sehe zu meinem Schmerz, daß du ein Weiberknecht bist und bleibst!« Dann schwieg er.

Florian war verletzt. Er begriff nicht, warum der Freund, der sonst alles feinfühlend verstand, in dieser weitesttragenden Angelegenheit seines Lebens versagte.

*

Am nächsten Abend fand Florian bereits ein Telegramm von Virginia vor, in dem sie ihre Ankunft für den folgenden Tag meldete.

Von neuem befiel Florian fiebrige Unruhe. Er überlegte vor allem, was er anziehen solle, und wählte lange unter seinen Anzügen, Hemden und Krawatten. Er lächelte bitter. Damals hatte es ihn Mühe gekostet, an alles, was zur Instandsetzung männlicher Eleganz gehörte, zu denken. Heute, wo Gutangezogensein dank des Freundes Vorbild eine Selbstverständlichkeit für ihn bedeutete, war es zu spät!

Was nur mochte Virginia von ihm wollen?

Zur Vorsicht übte er sich, einer alten Gepflogenheit gemäß, eine überlegen herablassende Miene vor dem Spiegel ein und arbeitete in fliegender Hast das Konzept seines erklügelten Verhaltens Virginia gegenüber aus.

Danach bestellte er, kalt trotz wahnsinnigster Erregung, ein Zimmer für sie im besten Hotel der Stadt. Dann ging er im Fieber zum Bahnhof und wartete. Als er sie aus dem Abteil steigen sah, glaubte er gelähmt zu sein. Kalter Schweiß feuchtete gegen das Leder seines Hutes.

Ihr schönes Gesicht deuchte ihn noch ebenso frisch wie vordem, obwohl sie an dreißig Jahre zählen mußte. Nur noch voller war sie geworden. Allein das tat ihrer Schönheit in seinen Augen keinen Abbruch.

Da der Zug am Nachmittag ankam, war die Bahnhofstraße voller Studenten, die Florian vom Ansehen kannten. Triumphierend blitzte er die Vorübergehenden an, weil er sich mit Virginia zeigen durfte, die, einen kostbar mit Skunks abgesetzten Sealmantel lässig elegant übergeworfen, in ihrem aufreizenden Gang königlich neben ihm schritt.

Als sie dann den Tee auf ihr Zimmer bestellte und ihn wie in alter Zeit nach seinen Wünschen fragte, hatte er Mühe, die einstudierte Maske zu wahren.

Sie erzählte, daß sie von Rom aus für lange Zeit nach Chicago zurückkehren wollte. Dann sprach sie so herzlich von der Münchener Zeit, daß Florian näher zu ihr rückte und zart ihren Arm streichelte. Da dehnte sie sich und schloß die Augen: »Nicht, Darling! Du weißt, deine Hände – –«

So arglos Florian auch war, in diesem Augenblick erfaßte er, warum Virginia großmütig, wie nur sie sein konnte, ein letztes Mal vor dem Nimmerwiedersehen zu ihm gekommen war. Diese Erkenntnis verursachte, daß die jahrelangen Leidkomplexe von seiner Seele abstürzten und ihn im Sturze mit solcher Freude überglänzten, als würde er zu neuem Leben geboren. In diesen Sekunden seligster Wiedergeburt hatte er auf einmal sein Selbstgefühl wieder und war ganz Mann. Dieser intim astralische Rausch bewirkte, daß er die Erregte völlig vergaß.

Ganz plötzlich nahm er seine Hand von ihrem Arm und begann ihr des längeren – wobei eine seine Schadenfreude um seine Lippen spielte – den Hegelschen Dreischritt der Entwicklung von Thesis über Antithests zur Synthesis auseinanderzusetzen, über dessen Anwendung auf die neuere Kunstgeschichte er demnächst ein Buch zu schreiben gedächte. Als er durch diese nicht einfachen Darlegungen seine Ruhe völlig wiedergefunden hatte, sagte er ihr noch all das, was er sich zu Hause ausgearbeitet hatte, des Inhalts, daß er durch ihre Lieblosigkeit zwar fast dem Wahnsinn verfallen wäre, daß sie aber durch ihr Kommen nunmehr alles gutgemacht hätte.

Als er endete, schaute Virginia ihn mit dunklem Blick lange an. Dann richtete sie sich auf und nahm seine Hand. »Hab' Dank, Florian, daß du dieses Wiedersehen ermöglicht hast. Ich fühle, daß du auf gutem Wege bist. Du sagst, daß du mir verziehen hast. Ich bin glücklich, daß ich Europa ohne Bedauern verlassen kann. Aber geh jetzt und sei nicht erstaunt über meinen Wunsch. Laß uns ohne Bitterkeit voneinander scheiden und bewahre mir ein gutes Gedenken!«

Florian las aus ihren Worten mehr, als sie dachte. Gerührt küßte er ihre Hand und ging dann schnell.

*

Für die nächsten Wochen wirkte der Schwung, in den Virginias Besuch Florians Ätherleib versetzt hatte, noch nach. Er warf sich tatsächlich auf das Studium der Philosophie, das heißt so wie er es verstand. Er besuchte nämlich eifrig Vorlesungen und stapelte in sein ungeheuerliches Gedächtnis, was immer sich dort verstauen ließ. In Fahrt gekommen, ließ er nun erst den gewaltigen Apparat seiner Beziehungen und seines weiten Bekanntenkreises wirken. Binnen kürzester Frist warm geworden, lernte er die bedeutendsten Geister der kleinen Universität kennen und spielte vermöge seines genialischen Aussehens und seiner dunklen Ausdrucksweise bald in den gelehrten Gesellschaften eine führende Rolle. Denn es getraute sich nicht so leicht jemand, es mit ihm aufzunehmen, da ihn in der Diskussion seine durch den okkulten Wortschatz noch verreichlichte Sophistik hieb- und stichfest gegen alle Angriffe machte. Selbst die Professoren im Privatissimum behandelten ihn achtungsvoll wegen seines scheinbar imponierenden Alters, der gesetzten Würde seines Auftretens und der scharfen Vorstöße, die er gelegentlich auf Gebieten, wo er sich von früheren Fischzügen her beschlagen fühlte, unternahm.

Virginias Besuch hatte, ohne daß Florian es sich eingestehen wollte, einen Schatten auf das bis dahin ungetrübte Verhältnis zu Günther Deeken geworfen. Dazu kam, daß Florian gegen Mitte des Semesters von einem kleinen auserwählten Kreis von Philosophen, der gemeinsame Lektüre pflog und sich in der freien Diskussion schulte, zur Teilnahme aufgefordert wurde und hochgeehrt dieser Einladung Folge leistete.

Notgedrungen sah er den Freund seltener und war es froh. Denn Günther Deeken quälte ihn neuerdings mit Eifersüchteleien fast wie eine Frau. Florian fand, daß er vom Regen in die Traufe geraten war. Er spürte wenig Lust, sich in langweilige Rechenschaftsablegungen einzulassen, wo er den Abend zugebracht und wen er am Nachmittag kennengelernt hätte.

So war denn ein Ereignis, das gegen Ende dieses fruchtbaren Wintersemesters eintrat, nur der äußere Anlaß zum Bruch einer leidenschaftlichen Freundschaft. In dem philosophischen Zirkel, zu dem Florian aufgefordert war, trat nämlich eines Abends eine nicht mehr ganz junge, etwa dreißigjährige Studentin, Vera Manderville, auf, die einen außerordentlich gediegenen Vortrag über das Unterbewußte der slawischen Seele hielt. Vera Manderville entstammte der Ehe eines Amerikaners mit einer Deutschen und war in Rußland aufgewachsen, wo ihr Vater bedeutende amerikanische Kapitalien vertrat. Durch Abstammung und Zufall des Domizils Erbin des Geistesgutes mehrerer Rassen, deren Sprachen sie gleich gewandt beherrschte, hatte es Vera, die durch den frühzeitigen Tod beider Eltern Waise geworden war, zu bemerkenswerter Übersicht und Abgeklärtheit gebracht. Durch den Verlust ihrer Lieben veranlaßt, hatte sie sich in die tröstenden Arme des Okkultismus geworfen, was Florian sofort aus den mystische Tiefen berührenden Sätzen ihres Vortrages merkte.

Als sie geendet hatte, sagte er ein paar bewundernde Worte, aus denen Vera spürte, daß Florian ebenfalls ein Eingeweihter war. Und ihre Seelen grüßten einander!

Zwar war die Glätte von Veras Gesicht schon etwas mitgenommen, was ohne Zweifel von der allzu intensiven Beschäftigung mit geistigen Dingen herrührte. Aber erstens war sie wenigstens zur Hälfte Amerikanerin, zweitens erfüllte sie auf das glücklichste all die bekannten Anforderungen, die Florian an weibliche Schönheit stellte, und drittens geriet Florians Ätherleib, durch Virginias neuerlichen Besuch erotisiert, in Schwingungen. Also kam wieder einmal alles, wie es kommen mußte.

Zunächst bewirkte Florians Eingenommenheit für Vera, daß er sich endlich dazu aufraffte, auch seinerseits einen philosophischen Vortrag in dem Zirkel zu halten. Hatte er es bisher mit größter Kunstfertigkeit verstanden, diese Verpflichtung mit stets erneuten Ausflüchten erfinderischster Art von sich abzuwälzen oder, in die Enge getrieben, sich eine Zusage abringen zu lassen, um im letzten Augenblick abzusagen, indem er sich mit Krankheit oder Todesfall in der Verwandtschaft entschuldigte, so warb er nun, wo er sich auszuzeichnen wünschte, förmlich darum, ans Wort gelassen zu werden.

Der kleine Kreis war sehr gespannt, was Florian, um den der Mythus eines zwar undurchsichtigen, aber außergewöhnlichen Geistes schwebte, vorbringen würde. Nun, bereits der Titel des Vortrages, den Florian wie etwas Alltägliches, Leichtzuverstehendes fallen ließ, als er danach gefragt wurde, reichte hin, daß man sich genugsam die Köpfe zerbrach. Dieser Titel lautete nämlich: Zur Methodologie und Phänomenologie der Intuition als kreativen Organes zur Apperzeption okkulter Tatsachen.

Als es nach neuerlichem Verschieben des Termins endlich zu dem allerorts mit Spannung erwarteten Ereignis kam, brachte Florian einen so schwerverständlichen Gallimathias vor, daß die fürwahr an allerhand Unfaßbares gewöhnten Zuhörer im Laufe einer halben Stunde Kopfschmerzen bekamen und nicht mehr folgen konnten. Es war schlechthin eine Unmöglichkeit, den mit virtuoser Gewandtheit abgehaspelten Knäueln abstrusester Abstraktheiten irgendeinen Sinn zu enthäkeln.

Wenn man eben noch glaubte, die Meinung eines der labyrinthisch verschachtelten Sätze erahnt zu haben, war Florians Redestrom längst weitergerauscht. Als er etwa nach einer Stunde endete, saßen alle mit wüsten, leeren Hirnen, jedoch voll Bewunderung da. Selbst die Autoritäten der kleinen Versammlung wagten nicht zu entscheiden, ob dieser Windmacher ein orphisches Genie oder ein fangballspielender Scharlatan war.

Florian blitzte die Umsitzenden aus Geieraugen, die, berauscht vom nebelnden Schwall der eigenen Worte, aus den Höhlen schwollen, dräuend und kampflustig an. Wie immer, war er seines Erfolges sicher. Ihm sollte einer kommen! Es lächerte ihn, wenn er bedachte, daß es auf der ganzen Welt niemand gab, ausgenommen vielleicht den Großmeister, der solchen Stoff verdauen, geschweige denn behalten oder gar angreifen konnte.

Und siehe, die beabsichtigte Wirkung blieb nicht aus.

Als nach verschiedentlichem Räuspern und Schnäuzen die Erschöpften wieder zu sich kamen, bemerkte Vera Manderville mit ihrer klaren, tiefen Stimme: »Ich glaubte bisher, die deutsche Sprache so gut wie ein in Deutschland Geborener zu beherrschen. Allein ich sehe ein, daß ich noch viele Studien machen muß, um so tiefsinnigen Ausführungen wie den Ihrigen folgen zu können. Dennoch habe ich manche Verwandtschaft zwischen unseren Anschauungen entdeckt. Ich darf Ihnen wohl im Namen aller Anwesenden für Ihren Vortrag danken und bitte Sie nur noch, mir diese oder jene dunkle Stelle zu erläutern!«

Damit zog sie – Florian traute seinen Augen nicht – einen winzigen Notizblock aus der Hand und las ihm einige Sätze, die sie nachstenographiert hatte, vor. Indessen geriet Florian keinen Augenblick in Verlegenheit, sondern befand sich bald in anregendstem Gespräch mit der praktischen Amerikanerin. Er schleuderte mit Namen, Büchertiteln, Früchten seines Anlesens, indischen Urgeheimnissen und okkulten Erscheinungen dergestalt um sich, daß sogar die selbstsichere Vera geblendet wurde. Mit dem Ehrgeiz, der allen Amerikanerinnen eignet, beschloß sie, diesen außergewöhnlichen Menschen an sich zu fesseln. War sie doch trotz ihrer Geistigkeit Frau genug, um nicht längst gespürt zu haben, daß Florian keineswegs unzugänglich für ihre fraulichen Reize war.

Es kam zu den üblichen Einladungen.

Sofort begannen alle erotischen Gebundenheiten Florians zu brodeln und sich zu entfesseln. Bei genauerer Apperzeption von Veras Nase und sonstigen Vollkommenheiten entdeckte er, daß von je zu je Relationen kosmisch-devachanischer Art zwischen ihnen bestanden haben müßten.

Als er diese Erkenntnis zu traulicher Stunde zart vorbrachte, lächelte Vera kokett. Ein so einzigartig merkwürdiger Liebhaber gefiel ihr von Tag zu Tag besser. Sich den Hof selbst in der Präexistenz, mehrere Inkarnationen zurück, gemacht zu wissen, war neu und kam nicht alle Tage vor.

Außerdem ergab sich, daß Veras okkultes Wissen, da sie nie Gelegenheit gehabt hatte, wie Florian Trabant eines Großmeisters zu sein, noch mancherlei Lücken aufwies. Stets begierig, zu lernen, nahm sie, mit echt amerikanisch-digestiven Fähigkeiten begabt, alles, was sie von Florians Überlegenheit abrahmen konnte, heißhungrig auf. So las sie, was auf Florian den tiefsten Eindruck machte, alle Traktate, die er in Häufchen anschleppte, gewissenhaft bis zum letzten Punkt durch.

Oft war Florian voll leiser Besorgnis, wenn er merkte, wie Veras Besitz an Kenntnissen methodisch anschwoll und drohte, den seinen zu überragen. Er sah den Augenblick nahen, wo das gebrechliche Gestänge seines Prunkwissens vor ihrer Gründlichkeit wo nicht zusammenbrechen, so doch einen argen Knick davontragen möchte. Zugleich erfaßte ihn, den Vagabunden und Nichtstuer, eine übermäßige Hochachtung vor Veras Energie, Arbeitskraft und Verstand. Mochten ihr auch die Flügel der Intuition, worin er immerdar der Überlegenere bleiben würde, durch nüchterne, väterliche Merkantilität beschnitten worden sein, so gelang es ihrer bienenhaften Unermüdlichkeit dennoch, ihm auf den geschraubtesten Pfaden okkulter Verwogenheit nachzuklimmen, ja ihm manchmal sogar Widerpart zu halten.

Um Haaresbreite wäre er einige Male von ihr überführt worden, daß er der zahlreichen Bücher, deren Beherrschung er sich rühmte, keines durchgelesen hatte. Allein vermöge der seltenen Hurtigkeit seines Geistes glückte es ihm im gefährlichen Augenblick stets, die rettende Volte ins Unbegreifliche zu schlagen, wo Vera immer noch den Boden unter den Füßen verlor.

*

Mit scheeler Miene hatte Günther Deeken das Anziehen von Florians Verkehr mit Vera beobachtet. Durch den Wortwechsel bei Virginias Besuch vorsichtig geworden, vermied er eine klare Aussprache und begann nur, sich zurückzuziehen. Zu seinem Kummer bemerkte Florian, im neuen Netz gefangen, gar nicht, daß er seinen Freund immer seltener sah. Das aber war für Günther Deeken der deutlichste Beweis des Abfalls.

Noch trauriger wurde er, als Florian ihm in naiv-grausamem Egoismus ausführlich von Vera erzählte. So war es denn kein Wunder, daß es auf einem Spaziergang zum raschen Ende dieser einzigartigen Freundschaft kam.

Günther sagte: »Es war schöner zwischen uns, ehe du in jenen Kreis tratest und jenes Mädchen kennenlerntest!«

Florian brauste schuldbewußt auf: »Willst du mir wie eine eifersüchtige Frau jeden anderen Umgang verbieten?«

»Das nicht. Aber ich glaubte, in dir einen Freund für das ganze Leben gefunden zu haben. Nun aber sehe ich ein, daß wir uns trennen müssen!«

»Trennen müssen? Warum?« schrie Florian.

»Weil – –« Günther zögerte.

»Ich schwöre dir, Günther – –«

»Ich weiß, was ich von deinen Schwüren zu halten habe!«

»Willst du mir nun endlich sagen, was ich dir getan habe?«

»Ich will es tun. Du vernachlässigst mich, weil du Vera Manderville liebst!«

Florian erstarrte. Was meinte Günther nur?

Aber all das dunkel Verhaltene, Unausgesprochene in Günthers Worten schob er von sich fort hinter das Beglückende: Weil du Vera Manderville liebst!

Hatte er recht gehört? Er sollte lieben?

Liebte er wirklich?

Auf einmal war ihm, als sei es Lenz mitten im Winter. Günther hatte recht! Warum nur brauchte er solange Zeit, warum bedurfte es erst eines Dritten, um ihm die Augen zu öffnen? Über seinen Zügen lag ein Glanz wie über dem Gesicht eines Kindes, dem eine große Freude widerfahren ist.

Günther sah den Glanz und verstand. Schwermütig sprach er: »Laß uns auseinandergehen, eh alles Schöne, was einst zwischen uns war, dahin ist. Leb' wohl, Florian!«

Er reichte dem Überraschten die Hand und eilte davon. –

Nie und nimmer würde Florian den Freund, den er aufrichtig liebte und bewunderte, haben ziehen lassen, wenn nicht der ichsüchtige Rausch plötzlich erkannter Liebe in ihm geglüht hätte. Auf einmal war ihm, als hätte er immer gewußt, daß er Vera liebte, als hätte er nur aus Angst vor dem Joch des Rausches nicht gewagt, sich sein Gefühl einzugestehen. Nun hatte der Enteilte ihm als letzte Freundestat durch einen Gewaltstreich die Augen geöffnet! Sein Blick wurde feucht, wenn er an das dachte, was er aufgab. Wußte er, was er von Vera zu erwarten hatte?

*

Er ging noch am selben Abend zu ihr, wenn auch Veras Wirtin ein erstauntes Gesicht machte.

Zu seiner Freude war Vera zugegen.

Florian erklärte seinen späten Besuch, indem er des längeren von der Freundschaft zwischen Günther Deeken und sich erzählte.

Vera begriff zunächst durchaus nicht, warum es überhaupt zu einem Bruch hatte kommen müssen, da Florian den Freund mit allen Vollendungen versehen schilderte. Aber es freute sie, daß er just ihr das zu nachtschlafender Zeit mitteilen mußte. Denn sie spürte, daß er zu ihr wie ein verfolgtes Schiff in den letzten befreundeten Port geflüchtet war.

Auf einmal fing Florian unvermittelt an zu schluchzen und beschwichtigte gleichzeitig trotz seiner Tränen die entsetzte Vera: »Es ist nichts. Nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel und reden Sie nicht zu anderen darüber. Aber wir sind ja unter uns, nicht wahr? Es wird gleich vorüber sein. Sie wissen ja, wenn sich der Astralleib im Weinen plötzlich zusammenzieht, dann geraten eben auch Ich und Bewußtseinsseele durcheinander!«

Es schüttelte ihn wieder.

Vera hielt ihn für krank, trat mitleidig näher und legte mütterlich seinen Kopf an ihre Brust. Tröstend fragte sie: »Aber warum hat denn Ihr Freund mit Ihnen gebrochen?«

Da sank Florian herab an ihr, umfaßte sie und stammelte unter Tränen, aber schon glückselig lächelnd: »Weil er nicht dulden kann, daß ich dich liebe!« –

*

Obwohl ruhigen Blutes und eine verständige Walterin der Gärten ihrer Sinne, war Vera nicht etwa unempfindlich. Seit langem hatte sie Florian von weitem andringen gespürt, und das war ihr keineswegs unwillkommen. Denn unter der abgeklärten Okkultistin und nüchternen Internationalen verbarg sich ein gesundes Weib mit Wünschen und Sehnsucht. Daher hatte sie Florians huldigende Blicke wenn auch nicht ermutigt, so doch voll fraulicher List geduldet und manchmal sogar herausgefordert. Denn die Schwierigkeit, diesen trotz seines alten Aussehens so jugendlichen Menschen aus seiner behutsamen Zurückhaltung zu locken, reizte sie.

Nun war sie froh, daß sie ein großes Kind besaß, auf dessen Wartung und Leitung sie alle brachliegende Wärme verwenden konnte.

Und Florian hatte es gut, zum erstenmal in seinem Leben gut bei einer Frau! Dieser Frühling, der nicht zögerte zu kommen, war psycho-physischer Entzückungen voll!

Wie stets, hatte es Florian wieder sehr eilig mit einer Verlobung. Am liebsten hätte er Vera, auf deren Eroberung er nach der Schlappe mit Ethel stolz war, für die Ostertage mit nach Reitzenau genommen. Aber die Freundin wehrte in erhabener Beherrschung seinem Drängen: »Wir kennen uns so wenig! Laß uns erst abwarten, ob wir miteinander zurechtkommen!«

Diese ausweichende Klugheit band Florian noch fester, als es Schwur oder Ring vermocht hätte.

Um etwa möglichen Unannehmlichkeiten von seiten Günther Deekens aus dem Wege zu gehen, beschlossen sie, das Sommersemester in einer anderen Universität zuzubringen. Sie entschieden sich für Marburg.

Vera schlug vor: »Du gehst für ein paar Tage nach Reitzenau. Ich fahre voraus und miete zwei schöne Zimmer mit freiem Ausblick und viel Sonne. Und dann wird gearbeitet!«

Wohlig berührt von ihrem bestimmten Ton, lächelte Florian ihr zu.

»Lache nicht, Dear!« sagte sie ernst, indem sie sich des Namens bediente, der, wie sie von ihm wußte, seiner Virginia-gebundenen Phantastik am meisten zusagte. »Es ist höchste Zeit für einen Mann in deinen Jahren, etwas zu werden!«

»Du als Erleuchtete solltest eigentlich wissen, daß es weniger auf äußere Abstempelung durch ein Examen als auf den Geist ankommt, in dem der Eingeweihte sein Leben zubringt!«

»Auch dem Eingeweihten tut es gut, daß er sich auf eine äußere Aufgabe oder Wirksamkeit hin konzentriert. Jedenfalls ist es ihm besser, als wenn er, wie du, der zufällig seinen Unterhalt nicht zu erwerben braucht, untätig und als intuitiver Parasit vegetiert!«

»Sehr gut hast du das gesagt, Lieblein! Famos, intuitiver Parasit!«

Um sie abzulenken, streichelte er sie zärtlich.

»Sei einmal ernst, Darling!« wehrte sie ihm bestimmt. »Ich will nicht verkennen, daß du viel weißt. Aber dein Wissen ist unerarbeitet und dir ohne Verdienst zugefallen. Es fliegt wie die Fetzen einer zerschlissenen Fahne ohne stützende Stange im Ätherwind deiner oberen Reiche umher!«

»Du sprichst ausgezeichnet, Herzlein!« warf Florian in ehrlicher Bewunderung ein.

»Ein Mann soll einer Frau, die ihn liebt, beweisen, daß er auch wirklich Mann ist!«

»Ich dächte doch, Lieblein – – ich meine, du hast doch selbst gesagt – –«, verteidigte er sich und legte seinen Arm um sie.

»Sei still, bitte!« entzog sie sich ihm. »Ich verkette mein Schicksal nicht eher mit deinem, als bis du einen Beruf hast. Denn das Lungern tut nicht gut!«

»Wir haben doch neulich erst errechnet, daß wir von unserem Geld ausreichend leben können, ohne daß ich etwas dazuverdiene.«

»Alle Ausflüchte nützen dir nichts, Dear! Selbst wenn aus einer dauernden Verbindung zwischen uns nichts werden sollte, würde ich allen Einfluß, den ich auf dich habe, daransetzen, um aus dir einen bürgerlich brauchbaren Menschen zu machen.«

»Du bist so gütig, Herzl!« Florian küßte Deras feine, schlanke Hände. »Du bist praktisch so viel weiter auf dem Pfad der Heiligung als ich. Ich bewundere dich ebensosehr, wie ich dich liebe!«

Er tat sodann willig, was Vera ihn geheißen hatte, und fuhr ein paar Tage nach Reitzenau. Er berichtete dem verwunderten Ökonomierat viel von seinen Plänen. Wie gewöhnlich, genügte seiner Phantastik das kurze Gespräch mit Vera, um sich bereits an das ferne Ziel aller der auf Universitäten verläpperten Jahre zu träumen. Das Doktorat hatte er sozusagen bereits in der Tasche. Die Habilitation war dann nur noch eine Formsache.

Auch machte er hin und wieder Andeutungen, die ein baldiges bürgerliches Glück folgern ließen. Denn so verschwiegen Florian in okkulten Dingen sein konnte, so hemmungslos schwatzte er seine übrigen Angelegenheiten in alle Winde. Desgleichen gab er ohne Bedenken die ihm unter heiligsten Eiden der Verschwiegenheit anvertrauten Geheimnisse seiner Bekannten oft genug preis. Erwuchsen ihm Mißhelligkeiten aus seiner Schwatzsucht, gestand er mit unschuldigster Grimasse ein: »Tja, das habe ich allerdings gesagt. Aber ich wußte nicht, daß Ihnen soviel an der Geheimhaltung lag. Es ist freilich sehr unvorsichtig von mir gewesen. Mein Wort darauf, es soll nicht wieder vorkommen!«

*

In Marburg lebte Florian so ruhig mit Vera, als wären sie längst verheiratete Leute. Vera hatte in einem kleinen Pensionshaus drei im obersten Stockwerk gelegene Zimmer gemietet, wo sie, von keiner Neugier behelligt, wohnten. Das mittlere Zimmer diente ihnen als Speiseraum, da Vera es für nicht angängig erklärte, in einem Raum zu schlafen, wo gegessen oder geraucht worden wäre.

Mit der Zeit lernte Florian diese neutrale Zone zwischen Veras und seinem Zimmer schätzen. Gestattete sie ihm doch die Freizügigkeit gewisser kalibanischer Lebensäußerungen, deren er nun einmal zu völliger Zufriedenheit bedurfte.

Noch nie bisher war Florian neben einer Frau glücklich gewesen. Jetzt hatte er allzeit das sichere Gefühl, daß der Engel seiner Seele deren Schicksal in gute Hände gelegt hätte. Vera sorgte mütterlich für sein Wohlergehen. Sie war bei aller Geistigkeit sparsam und praktisch. Sie hemmte vor allem das gedankenlose Geldvertun, das Florian bisher geübt hatte. Er hegte auch vor ihren fraulichen Gaben die größte Hochachtung.

Allerdings wurden zu Florians nicht geringem Schreck für das erübrigte Geld Bücher auf Bücher angeschafft. Denn die sonst maßvolle Vera hatte eine unmäßige Leidenschaft für schönausgestattete und dabei gehaltvolle Werke. Florian geriet in die unangenehmste Verlegenheit, wenn sie ihn bei allen möglichen Anlässen, die nur eine liebende Frau zu entdecken vermag, mit solchen Angebinden geistiger Atzung überhäufte. Er fühlte sowohl die innere Nötigung als auch das zärtliche Bedürfnis, all diese Gaben ihrer Liebe durchzulesen und brachte es, wie stets, nicht fertig.

Vermochte doch seine an freiestes Schweifen gewöhnte Vagabundenseele es nicht über sich zu bringen, das eigene Denken in die Gedankengänge eines anderen zu zwängen, mochten sie noch so erhaben sein. Wollte ihn dieserhalb manchmal Kleinmut befallen, so tröstete ihn bald das Bewußtsein seiner seligen, an keinerlei Ketten gebundenen Freiheit.

Setzte ihn Vera, die methodisch jeden Tag hindurch bestimmte Stunden ihren Studien oblag, hinaus, damit er sie nicht durch sprunghafte Schwatzüberfälle in der Aufmerksamkeit störte, so griff er bisweilen, um notgedrungen die Leere der Einsamkeit auszufüllen, nach einem der kostbar gebundenen mystischen oder auch philosophischen Bücher. Mit Mühe jedoch brachte er es bis zur zwanzigsten, war der Druck weitläufig, wohl auch bis zur dreißigsten Seite. Dann fuhr er hoch, ging in das Städtchen und versuchte, ob er nicht im Café irgendein Gespräch mit einem Bekannten oder auch Unbekannten anknüpfen könnte, das über die höchst unbehagliche Einsamkeit mit sich selber hinweghalf.

Diese Schwäche Florians gab Anlaß zu ersten Reibereien, die für Vera den Beginn der Dekristallisation ihrer Neigung bedeuteten.

An einem Lesezeichen, das er unbesonnen auf der neunzehnten Seite eines kürzlich als Geschenk erhaltenen Buches hatte steckenlassen, erkannte sie, daß er wieder einmal seiner Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, erlegen war.

»Es ist lieblos von dir, Florian, daß du mir zu Gefallen nicht einmal das Leben des heiligen Franziskus zu Ende gelesen hast.«

»Ich werde es bestimmt noch tun, Herzlein, Lieblein, Veralein!« sprudelte er verlegen. »Nur jetzt ist es mir unmöglich. Mir schmerzt heute das Rückgrat. Ich meine, nicht das physische, sondern das des Ätherleibes, weißt du? Das ist viel schlimmer als körperliches Weh. Stell dir vor, daß dein ätherischer Leib leiddurchsäuert schmeckt. Dann kannst du am einfachsten meinen Zustand nachempfinden. Aber das Buch gefällt mir sogar ausgezeichnet! Rührend, dieser kindlich gütige Heilige, mit dem du an Güte wetteiferst.«

Er tätschelte ihre Hände, die er über alles liebte. »Ich verspreche dir – –«

»Du sollst nicht immer Versprechungen machen, die du doch nicht halten kannst! Entweder hast du einen intellektuellen Defekt – aber das kann ich nach der Schärfe deiner Urteilskraft und überhaupt nach deinem geistigen Habitus nicht annehmen – oder aber du bist von einer geradezu unmännlichen, bei deinen ethischen Grundsätzen erst recht unerklärlichen Energielosigkeit.«

»Das kannst du nicht so ohne weiteres behaupten, Lieblein! Denk, was ich für die Bewegung geleistet und sogar, ehe ich in den Mysterien auftrat, gelesen und gelernt habe!«

»Bei deinem rätselhaft schnellfassenden Gedächtnis bedeutet das kein Verdienst. Auch ist das nur papageienhaftes Aneignen fremden Gutes gewesen. Ich verlange von einem Mann mit deinen Gaben, daß er Schöpfer objektiven Geistes ist! Du aber schaffst nichts.«

Da Florian hierauf nichts mehr zu erwidern fand, schlug er, wie er es schon oft als nützlich erprobt hatte, eine Volte in die Hilflosigkeit, was stets Veras mütterliche Gefühle wachrief: »Zank nur mit deinem kleinen Florian, du Muttchen mein!«

Dabei schmiegte er sich wie ein Kind an ihre Brust. Sie mußte über ihren großen Jungen lächeln. »Man kann dir weiß Gott nicht böse sein!«

Durch sein kindisches Schäkern ließ sie sich dann wie gewöhnlich einlullen.

Dennoch nahm sie, nachdem ihr die Überzeugung von Florians Schwäche zur Gewißheit geworden war, sein irdisches Weiterkommen in ihre festen Hände. In vorsichtig geführten Gesprächen verlockte sie ihn, daß er sich zunächst einmal für den Gegenstand seiner Dissertation entschied. Zu weihevoller Stunde gelang es Florian in ekstatischem Formtrieb endlich, das Meer seiner Gedanken in folgenden Titel zu bändigen: Über die transzendentale Polarität der Kategorien der okkulten Initiation in ihrem Verhältnis zur kreativen Intuition.

Vor der Unentwirrbarkeit dieses jenseitigen Themas stand sogar Vera fassungslos. In gütiger Selbstentäußerung stellte sie dem Geliebten den Stoff zusammen, dessen er zur Durcharbeit und zur Anregung bedurfte. Aber weder mit Schmeicheln noch mit Schmollen oder Schmälen vermochte sie Florian zu bewegen, auch nur eines der dickleibigen Bücher anzulesen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als in rührendem Opfer eigene Pläne aufzuschieben und ihre Arbeitskraft für des Freundes höheren Ruhm einzusetzen. Sie machte seine Sache zu der ihren, exzerpierte und kompilierte für ihn. Florian schrieb als einziges ab und zu orphisch geschwollene, orakelhaft tiefe Sätze nieder, die ihm im Gespräch mit Vera auftauchten.

Diese Fragmente, die er auf irgendwelche Fetzen, Zettel von Abreißkalendern oder Zeitungsränder niederwarf, sammelte Vera und kopierte sie mit gewissenhafter Geduld auf schimmernd weiße Bogen von handgeschöpftem Büttenpapier, die sie in blaßblaue Seide binden ließ.

Fragment XIII, um ein Beispiel von Florians Formkraft zu geben, lautete: »Ehe denn die Elohim die sieben Weltalter schufen, ödete das Chaos. Wie den Geistern über den Wassern, oberen Gottheiten, das Chaos als Erbe Ahrimans entgegenstand und nie restlos von den Wesenheiten durchgeistet wurde, da auch sie nicht höchste Stufe des Göttlichen erklommen, so steht im Menschengeiste dem Formwillen, kreativen Vermächtnis der Oberen, die ständige Drohung des Ungeformten, des Empirischen, des Residuums aus dem Chaos, entgegen. Zwei also sind der Pole oder Kategorien, zwischen denen das Drama des transzendenten Denkens abrollt: Vernichtungsdrang des Dumpfen, Formlosen, Chaotischen und Überwältigungsdrang des Schöpferwillens, des Formtriebes, des Geistigen schlechthin! Oder einfacher gesagt: Artikulation und Symbolisation des Unaussprechlichen!«

Allein schon dieses Fragment XIII erregte auf dem Konventikel, das sie sich wie in Freiburg, so auch hier zusammengestellt hatten, kopfschüttelnde Verwunderung. Man erwartete nach diesem seherischen Urschöpfungsbericht das Höchste von dem Kandidaten Windmacher.

Doch erwies sich Florian zu Veras Enttäuschung als unfähig, seine genialischen Findlinge in den Block einer zusammenhängenden Dissertation zu schweißen. Für Vera bedeutete das den ersten, großen Zusammenbruch ihrer Erwartungen bezüglich der von Florian erhofften Leistung, nachdem schon eine lange Reihe von kleineren Ernüchterungen vorangegangen war. Sie sah nunmehr deutlich, daß in seinem Ich irgendwo der Punkt fehlte, auf dem er hätte stehen können, die Klammer, die all die schweifenden, auseinanderstrebenden Strahlungen seiner zweifellos vorhandenen, überragenden Intelligenz zusammenhielt, das Zentrum eines ungeordneten Systems von Emanationen.

Da um diese Zeit auch ihre anfangs stürmischen, leidenschaftlichen Beziehungen verarmten, so spielte sie bereits hie und da mit dem Gedanken an einen Verzicht. Wäre nicht eine große, frauliche Güte und ein mütterliches Verantwortungsgefühl gegenüber ihrem hilflosen, wenig lebensfähigen Kinde in ihr gewesen, wer weiß, ob sie nicht schon damals eine rasche Trennung herbeigeführt hätte.

*

Während dieser Krise tauchte in Marburg ein junger Philosoph, ein Dr. Dreyer, auf, der, außerhalb der Universität stehend, durch seine Vorträge, die in einzigartiger Form abstrakteste Metaphysik mit plastischer Phantasie verbanden, Aufsehen erregte.

Vera, müde und ausgehungert durch die Körperlosigkeit Florianischer Dialektik, wurde von Dreyers Anschaulichkeit gepackt und bewog Florian, mit ihr diese Vorträge zu hören, die von allem, was die kleine Universität an geistiger Auslese barg, besucht wurden.

Allein Florian, der solchen Meteoren gegenüber ein aus Anziehung und Abstoßung, Neid und Neugier gemischtes Gefühl empfand, sagte nach dem ersten Vortrag: »Dreyer ist ein Scharlatan und Schwätzer wie alle anderen!«

Dieses Übelwollen stach in Veras Seele ein lange schwärendes Geschwür auf, aus dem nun Enttäuschung und Verachtung zu strömen drohten. Dennoch beherrschte sie sich zunächst noch. »Warum tust du ihn so ungerecht ab?«

»Weil er von okkulter Wissenschaft keine Ahnung hat. Jemand, der sich anmaßt, öffentlich über die höchsten Fragen des menschlichen Denkens zu sprechen, sollte nicht eher zugelassen werden, als bis er eine Prüfung vor einer Kommission von Eingeweihten abgelegt hätte. Dreyer wie auch alle zünftigen Philosophieprofessoren kommen mir vor wie Blinde, die von ihren Farbvisionen erzählen. Sie reden noch heute um Fragen herum, die die Inder bereits vor Jahrtausenden für alle Zeiten und alle Menschheiten gelöst haben!«

»Du tust Dr. Dreyer unrecht! Ich hatte neulich Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Er hat nicht nur alle Schriften des Großmeisters, sondern auch die indische Urweisheit studiert, und zwar gründlicher als du!«

Gereizt erwiderte Florian: »Du kennst Dreyer? Warum verschweigst du mir das?«

»Mach dich nicht lächerlich! Seit wann bin ich verpflichtet, dir über meinen Verkehr Rechenschaft abzulegen?«

»Ich möchte ihn auch kennenlernen!«

»Das wird wenig Zweck haben. Ihr seid von so verschiedener Art. Er ist sehr männlich und schöpferisch. Du hingegen bist rein rezeptiv!«

Florian schwieg.

*

In der Folge nun hörte er immer häufiger Dreyers Namen aus Veras Munde. Ihn befiel weniger rohe Eifersucht als vielmehr seelischer Neid auf den Nebenbuhler in Veras Achtung. Rührte doch diese Bevorzugung des Schaffenden gegenüber ihm, dem Kontemplativen, an die heimlichste Wunde seines Wesens. Da werteten die Menschen nur solche, die arbeiteten, das heißt ihre oft genug platten Gedanken in langweiligen Wälzern der Welt aufnötigten, wie dieser Vielschreiber, der Dreyer! Leute, die wie er durch okkulte Schulung auf höhere Plane gesteigert, von oberen Warten aus weit über der Bewußtseinslage jener tüchtigen Ameisen reine Ideen schauten, ihr Wesen ausmünzten und somit auch dem Atman dienten, wurden belächelt oder verachtet.

Als ob es seine Schuld wäre, daß ihm nicht jene seelische Hartleibigkeit gegeben war, die sein Wesen mit Ausdauer, Sitzfleisch und populärer Arbeitskraft durchdrang. Sollte er, um in Veras Augen als echter Mann dazustehen, seine innere Schau drangeben und Seiten Papiers mit letzten Endes bedeutungslosen Worten füllen? War nicht längst alles gesagt, was sich sagen ließ?

Dennoch gewann er keine Ruhe. Wenn er auch noch nicht um Veras Liebe besorgt war, so wünschte er aus Scheelsucht, sich in ihren Augen gleich dem Nebenbuhler, auf eigene Weise, wohlverstanden, auszuzeichnen. Und mit der nur ihm zukommenden Sprunghaftigkeit gebar er urplötzlich einen Plan. Wie schwer es seiner Mitteilsamkeit auch wurde, Vera nichts von seinen Absichten vorher preiszugeben, er schwieg mit zusammengebissenen Zähnen.

Er berief also alle ihm nahe aber flüchtig bekannten Anhänger der Bewegung zusammen und gründete zunächst einmal, wie weiland in der Heimat, ein Tochtergrüppchen der Weltgemeinde. Bereits auf der ersten ordentlichen Sitzung entwarf er großzügige Arbeitspläne. In unbarmherziger Kritik sollten endlich einmal offizielle und offiziöse Schwätzer philosophischer Kathederweisheit unter die okkulte Lupe genommen werden, Dr. Dreyer nicht zu vergessen.

Florian entfaltete übernatürlichen Eifer und leitete mit anderweitig abgelauschter Routine und selbstsicheren Gesten die Zusammenkünfte. Da niemand in der Ortsgruppe war, der es mit ihm an okkulter Erfahrung hätte aufnehmen können, erbot er sich in freiem Opfer, als erster einen Feldzug gegen die Borniertheit des Neukantianismus zu eröffnen. Seit Jahren schon lag ihm diese Polemik am Herzen. Ideen hatte er wahrlich genug.

Er verpflichtete sich also unbedenklich, in vier Wochen mit dem ersten eines Zyklus von öffentlichen Vorträgen zu beginnen. Flugs wurde Propaganda gemacht. Ein Saal war bald gemietet. In das Lokalblättchen kam unschwer eine Notiz. Von einem bestimmten Tage ab hingen in allen Buchhandlungen und an den Anschlagsäulen hellblaue Plakate:

 

Florian Windmacher-Reitzenau
beginnt am 15. Oktober einen Zyklus über
Metakritik der kantischen Kritik.
Eintritt frei für jedermann!

 

Vera kam mittags atemlos nach Haus: »Was soll denn das heißen? Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

Florian lächelte. Veras Erstaunen war süßester Lohn. Etwas von oben herab berichtete er mit künstlicher Bescheidenheit von seiner Gründung und den damit bezweckten Zielen.

Vera konnte sich nicht fassen. »So sehr ich mich über deine endlich erwachte Tatkraft freue, so sehr betrübt es mich, daß du mich hintergangen hast! Ich wußte nicht, daß du dich so geschickt verstellen könntest!«

Er tätschelte sie: »Ich wollte dich überraschen, Herzlein!«

Vera schmollte ein wenig, dennoch voll neuer Hoffnung: »Ich hätte dir so gern dabei geholfen!«

»Deine Güte ist wirklich rührend, Lieblein!«

Die Wirtin brachte die Suppe, und zwar gelbe Erbsen, die Florian liebte. Sie löffelten in schweigendem Glück. Vera bewunderte Florians plötzliche Wandlung so aufrichtig, die nahe bevorstehende Verwirklichung ihrer ehrgeizigen Träume von ihres Geliebten Ruf frischte ihre eingedörrte Neigung wieder so auf, daß fast ein gelinder Rausch die Nüchterne befiel. Jedenfalls wurde Dr. Dreyer noch einmal ins Hintertreffen gedrängt, da auch ihr die okkulte Wissenschaft mehr am Herzen lag als die Metaphysik.

Plötzlich ließ sie ein wenig erschrocken den Löffel sinken: »Hast du dir denn klargemacht, was es heißt, in vier Wochen einen Zyklus von Vorträgen auszuarbeiten?«

Florian spie virtuos eine hartgebliebene Erbse durch das ganze Zimmer: »Ich habe ja alles jederzeit fertig in mir! Wie du weißt, arbeite ich seit Jahren innerlich in dieser Richtung. Es handelt sich nur noch darum, meine fertigen Ideen zu Papier zu bringen.«

Vera schaute den Freund besorgt an. Jedoch machte sie sich ihrer tatkräftigen Art gemäß noch denselben Tag daran, Florian mit allem, was er zur Vorbereitung brauchte, zu versorgen. Sie setzte ihm täglich zu, mit der Niederschrift des Textes zu beginnen. Allein Florian erfand, seiner beweglichen Art gemäß, immer neue Ausflüchte. Heut war er nicht aufgelegt. Morgen hatte er Migräne, nicht etwa im physischen, sondern weit komplizierter im Ätherleib. Übermorgen waren es noch drei lange Wochen bis zu dem festgesetzten Termin. Bekam Vera ihn mit vielen Bitten dahin, daß er sich mit einem Buch an den Schreibtisch setzte, so fand sie ihn, wenn sie eine Stunde später nach ihm sah, wie er aus dem Fenster starrte oder sich auf dem Kopf kraute. Das Buch aber war noch auf der Seite aufgeschlagen, die sie ihm vorgelegt hatte. Machte sie ihm Vorwürfe, fertigte er sie grob ab, so daß sie, an ihm verzweifelnd, fast weinend das Feld räumte.

In der letzten Woche endlich stoppelte Florian, dem der Zwang im Nacken saß, mehrere Seiten faseliger Konfusionen zusammen. Vera hieß ihn vorlesen, ließ sich in rührender Geduld alles erklären, was sie nicht verstand, und wunderte sich nur darüber, daß er immerhin imstande war, das scheinbar Unsinnige sinnvoll auszulegen. Nicht genug damit, daß sie ihn nötigte, das fahrige Durcheinander der Beweisführung nach ihren Angaben zu ordnen und sich endlich den Text Satz für Satz einzuprägen, ließ sie sich den Vortrag mehrmals von ihm aufsagen, immer wieder versöhnt durch die Feststellung, mit welch unfaßbarer Leichtigkeit er die schwierigsten Perioden nach kurzem Durchlesen beherrschte. Sie mußte lächeln, wenn sie ihn voller Genuß vor dem Spiegel dieselben Gesten bei denselben Gelegenheiten schwungvoll wiederholen sah. Er war und blieb eben ihr großes Kind.

Was freilich aus den weiteren Vorträgen werden sollte, wußte sie nicht. Denn sie stand am Ende ihrer Kraft! In Wirklichkeit hatte sie die tatsächliche Leistung geschafft. Allein bei Florians unbegreiflichen Möglichkeiten brachte sie auch für den zweiten Vortrag, der acht Tage darauf stattfinden sollte, einige Hoffnung auf.

*

Florians Gründung sowie sein Vorhaben, mit den Waffen der okkulten Wissenschaft gegen die offizielle Metaphysik zu Felde zu ziehen, war das Tagesgespräch der kleinen Stadt. Alles, was mitzählte, wollte zu Florians Vortrag kommen. Selbst die angegriffenen Professoren hatten ihr Erscheinen in Aussicht gestellt.

Als die Liebenden sich am Vorabend des großen Tages gute Nacht wünschten, äußerte Vera besorgt: »Hast du auch kein Lampenfieber? Wirst du nicht steckenbleiben?«

»Im Gegenteil! Ich freue mich auf den Vortrag! Das Publikum läßt mich völlig kalt! Du wirst sehen, daß ich genau dieselben unterstreichenden Bewegungen mache, die ich beim Aufsagen ausgeführt habe!«

Vera schlief beruhigt ein.

Am anderen Morgen bekam sie Florian nicht zu Gesicht. Er unternahm einen Spaziergang, um sich für den Abend zu kräftigen. Als er zum Mittagessen nicht erschien, wurde sie besorgt. Sie fragte bei allen Bekannten an, allein niemand hatte ihn gesehen. Sie suchte überall, wo sie ihn vermuten konnte. Ihr Suchen blieb erfolglos! In qualvoller Unruhe verging langsam der Nachmittag.

Endlich, eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung, erhielt sie eine Depesche aus einem nahen Ausflugsort: »Völliger Zusammenbruch! Kann unmöglich Vortrag halten. Bitte, übernimm Absage. Brief folgt. Dein kleiner Florian.«

Die sehr ruhige Vera, durch die Anstrengung und Willensverausgabung der letzten Tage überreizt, verfiel in heftiges Weinen, weil ihr solche Schmach widerfuhr. In diesem Augenblick haßte sie Florian. Er war nicht mehr als ein Feigling, ein kläglicher Aufschneider!

In tiefer Beschämung, als ob sie die Alleinschuldige an diesem Fiasko ihres Geliebten wäre, eilte sie zum Zweiten Vorsitzenden des Grüppchens.

Dieser noch sehr jugendliche Herr trat, da es zu spät war, die Versammlung abzusagen und man die Bewegung nicht lächerlich machen wollte, mutig vor die zahlreiche Zuhörerschaft und gab an, daß zu seinem größten Bedauern Herr Windmacher-Reitzenau durch ein plötzliches Unwohlsein verhindert wäre, den angekündigten Vortrag zu halten.

Das Publikum, das durch Florians auffallende Person und durch die vielverheißenden Gerüchte, welche die neugegründete Gruppe umschwirrten, in großer Spannung auf einen sensationellen Jux hergekommen war, geriet durch die Enttäuschung in gelinde Heiterkeit. Allenthalben glommen beim Erklingen von Florians Vaternamen billige Wortwitze auf, die Veras Seele wie Dolche zerstachen.

Höchst aufgeräumt strömte nun eben alles eine Stunde eher den sowieso geplanten Bierbänken zu.

Der okkulten Sache aber war, in dieser Diözese jedenfalls, ein nicht leicht wieder auszuwetzender Schade angetan worden.

Dera ging in trostloser Erbitterung heim.

Nach zwei Tagen erhielt sie einen langen Brief von Florian, in dem unter anderem folgendes stand: »Glaube mir, Herzl, ich hätte den Vortrag kaltblütig gehalten und gut gesprochen. Du kennst ja meine rezitatorische Begabung! Auch tut es mir um die Mühe leid, die du Dir vergeblich um mich gemacht hast. Sieh, auf dem morgendlichen Spaziergang kam es wie eine intuitive Erleuchtung über mich: Ich darf nicht gegen die Windmühlenflügel der Metaphysik anrennen! Die Urweisheit fordert, daß man jedem seinen Glauben beläßt, und Proselyten zu machen, ist der Lehre geradeswegs zuwider.

Und dann, ich bin buchstäblich körperlich zusammengebrochen, wenn ich bedachte, daß ich mich noch auf Wochen hinaus zu etwas zwingen sollte, wozu ich nach dem Grad meiner Erleuchtung keine unmittelbare Berufung mehr in mir spürte. Denn ich sah es deutlicher denn je: mein Ziel liegt auf ganz anderem Gebiet. Ich bin dazu da, mein Atman, mein Tao zu realisieren, nämlich mein Bewußtsein zu immer höheren Sphären zu steigern.

Wenn ich mich von dem Schreck erholt habe, den ich empfand, als ich die imaginative Last der übernommenen Aufgabe, der ich mich nur durch die Flucht zu erwehren vermochte, auf meiner Seele wuchten sah, gedenke ich in geduldiger Meditation weiter an meinem Geistselbst zu arbeiten.« – –

Voll Unwillen legte Vera den Brief fort. Florian war de facto nichts als ein Flausenmacher, ein Windmacher, wie die Witzbolde im Kolleg hinter ihr herflüsterten, wo immer sie sich blicken ließ. Er durfte sich unmöglich wieder in Marburg neben ihr zeigen. Sie jedenfalls wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das schrieb sie ihm sofort unmißverständlich.

Aus Trotz und um Trost zu finden, suchte sie von neuem Dr. Dreyer auf. Als dieser merkte, wie es um Vera stand, nutzte er kundig die gute Gelegenheit und trug unschwer den Sieg über den abwesenden Florian davon. Da es sich zufällig fügte, daß ein Zimmer in dem Haus, wo Vera und Florian wohnten, frei wurde, und sie keineswegs mit einer Rückkehr Florians nach ihrem rücksichtslos offenen Brief rechnete, mietete sich Dr. Dreyer der Einfachheit halber im Erdgeschoß ein.

Als Florian nach etwa drei Wochen trotz Veras dringendem Abraten zurückkehrte und, als ob nichts geschehen wäre, unangefochten durch die spöttischen Blicke, die ihn trafen, ging, fand er sich verdrängt. Erst raste er und sprach von Zur-Rechenschaft-Ziehen und Über-den-Haufen-Schießen. Als dann aber Vera mit scharfen Nadeln gereizten Hohnes zustach, fügte er sich kleinmütig. Er gab zu, daß es für einen Erleuchteten unziemlich wäre, sich in einem solchen Falle wie ein blinder Banause zu benehmen. Mit einigem guten Willen gelang es ihm sogar, in großen Gefühlen von Entsagung und heiligem Wandel zu schwelgen.

*

Eines Tages nun erzählte Vera wohl unabsichtlich, aber doch rücksichtslos von Dreyers neuestem Buch und ihrer Mitarbeit daran. »Ich bin sehr stolz. Erich wird meinen Namen im Vorwort erwähnen!«

In Florian brandete häßlicher Neid hoch: »Es ist doch wohl das mindeste, daß er deinen Namen nennt, wenn du ihm die Hauptarbeit abnimmst!«

»Du beleidigst und verleumdest Erich! Ich verbiete dir hiermit, jemals zu irgend jemand solche lügenhaften Äußerungen zu tun. Erich ist durch und durch Mann. Er arbeitet aus eigenstem, innerstem Drang und ohne angetrieben zu werden! Ich habe nur Exzerpte und Abschriften angefertigt und den Index besorgt!«

»Wenn ich, obwohl ich über solchen Spielereien stehe, jemals Bücher schriebe, würde ich überhaupt niemandes Hilfe in Anspruch nehmen.«

»Denk an deine Vorträge!« höhnte sie, aufgebracht durch seine pathologische Undankbarkeit.

»Es ist gemein von dir – –«, schrie Florian, unangenehm an seine Schlappe erinnert.

»Nun, dann denk an die kläglichen Anläufe zu deiner Dissertation«, fuhr sie fort.

Hilflos gemacht, brüllte er: »Scher' dich zu deinem Dreyer oder Sechser, hörst du? Und verlaß augenblicklich mein Zimmer! Ich schwöre dir, daß ich in spätestens fünf Monaten eine Dissertation ohne deine Hilfe abfassen werde! Hältst du dich etwa für unentbehrlich? Soviel wie dein Dreyer kann ich lange! Dreimal soviel!« Er feixte schreckenerregend.

»Du wirst niemals ein Examen hinter dich bringen«, schloß Vera unerbittlich.

»Nun, du sollst es erleben!«

Gesagt, getan! Neid und Eifersucht brachten Florian geradezu in einen Zustand ehrgeiziger Raserei. Und was alle Güte und Bemühung Veras nicht vermocht hatten, vermochte der Komplex, der sich in seiner Seele festsetzte, dessen gefräßiges Maul er allein durch fieberhafte Tätigkeit stopfen konnte. Zwar war es keine hochstrebende, metaphysische Abhandlung mehr, die Florian schuf, sondern nur eine höchst alltägliche Untersuchung »Über die Straßenzölle im Mittelalter«. Denn er hatte entdeckt, daß die Historie bequemere Möglichkeiten bot, seinen Schwur zu halten, als die Metaphysik.

Indem er wie üblich aus zweihundert Büchern das zweihundertunderste zusammenstellte, sudelte er in kürzester Frist ein nichtsnutziges Opuskel von Dissertation herunter und passierte vermöge seines sagenhaften Gedächtnisses unangefochten alle Fährnisse des Rigorosums. Wie er geschworen, war er binnen fünf Monaten zum Doktor der Philosophie promoviert, im neunundzwanzigsten Jahr seines Lebens.

Auf Vera machte dieser Schwung einen solchen Eindruck, daß sie neuerdings ihre Neigung auch Florian wieder zuwandte.

Da er lange nicht daheim gewesen war, nahm er vorläufig Abschied von Vera, um sich in Reitzenau gebührend feiern zu lassen.

Dem Ökonomierat, der mittlerweile die Schwelle des Greisenalters überschritten hatte, traten Tränen in die Augen, als er Florian die Hand drückte, weil er nun nicht mit Spott und Leid in die hoffentlich noch ferne Grube zu fahren brauchte. War doch Florians Tat nach soviel Anläufen ein erster Schritt zum Weiterkommen. Freudig bewilligte er zunächst üppige Geldmittel, damit Florian seiner neuen Würde gemäß auftreten könne.

Trotz alledem hielt Florian es nicht lange in Reitzenau aus. Die Leichname der Geister vergangener Streitigkeiten lungerten noch um das Herrenhaus. Er konnte im Bann des Vaters nicht warm werden!

Immerhin kehrte er an Selbstgefühl bereichert nach Marburg zurück und nahm das alte Leben voll nichtstuerischer Beschaulichkeit wieder auf, indem er sich von der Freundin pflegen und leiten ließ. Als Etikette über diesen Lebensabschnitt klebte er, daß er auf eine Privatdozentur hinarbeite. Er schwankte nur noch zwischen Philosophie und Geschichte.

*

Ganz plötzlich wurde das Idyll durch ein recht folgenschweres Ereignis gestört. Durch irgendeinen Umstand erhielt Dreyer die unumstößliche Gewißheit, daß Vera entgegen allen Versicherungen ihre Beziehungen zu Florian wieder aufgenommen hatte. Kurz entschlossen löste er ein Bündnis, das nach seinem Wunsch und Versprechen zu einer Ehe hatte führen sollen.

Vera, die zwar Dreyer liebte, aber aus Mitleid und Verantwortungsgefühl gegenüber Florians Hilflosigkeit auch diesen nicht hatte verstoßen mögen, war untröstlich. Florian fiel die ebenso undankbare wie für ihn unlösbare Aufgabe zu, nicht nur Dreyer zu ersetzen, sondern auch Vera über den Verlust hinwegzuhelfen.

Außerdem war Vera trotz ihrer metaphysischen und okkulten Schulung immerhin praktisch denkende Frau genug, um bei vorgeschrittenem Lebenssommer auch die verlorene Aussicht auf ein Geborgensein an des wohlhabenden Mannes Seite zu beklagen. Zu taktvoll, um Florian dies offen zu sagen, ließ sie es seine Weltfremdheit auf Umwegen spüren.

Florians Edelmut, gesättigt vom Triumph über das endgültige Ausstechen seines Nebenbuhlers, ging in hohen Wogen. Er zögerte nicht, Vera für das durch seinen Sieg entgangene Glück zu entschädigen. Zwar war sie nicht mehr die jüngste, und ihre tiefste Neigung gehörte, wie er genau wußte, dem anderen. Aber die Gewohnheit der letzten Jahre und die wohltuende Leitung fesselten ihn an die reife Frau. Vor allem hegte Florian für Veras Charakter tiefste Achtung. Hatte sie nicht stets, selbst in den kritischsten Zeiten ihres Bundes, mütterlich für ihn gesorgt? Wo würde er besser aufgehoben sein? Auch besaß sie ein ansehnliches Vermögen. Nicht zuletzt kitzelte der Ehrgeiz, daß er es, ohne dem Alten etwas zu verraten, aus eigener Kraft zu einer Ehe mit einer verständigen Frau, gegen die sich kein haltbarer Einwand erheben ließ, gebracht hatte. So war denn sein Entschluß gefaßt. Er schlug Vera eine sofortige Heirat vor!

Vera, auch jetzt noch von erhabener Beherrschung, machte ihm klar, daß er, da die Zustimmung des Ökonomierats nicht allzu gewiß schien, unbedingt noch ein Staatsexamen ablegen müsse, das ihn durch Berechtigung auf eine Anstellung vom Vater als der alleinigen Geldquelle unabhängig mache. Und Florian, noch immer in Schwung, bestand in dieser hohen Zeit seines Lebens nach einem weiteren halben Jahr die Staatsprüfung für das Amt eines Lehrers, das ja seinen Kenntnissen am meisten entsprach.

Am Tage nach dem Examen wurde er mit Vera standesamtlich getraut und legte ihr somit für die nur ihrer Führung zu verdankende endliche Rangierung seines Lebensganges den Lohn in Gestalt eines freilich recht locker sitzenden Eheringes in den Schoß. Er bereute nicht einen Augenblick, wie nach der Verlobung mit Ethel, diese Wendung seines Geschickes. Zwar spürte er hellfühlend, daß noch immer die Neigung zu dem anderen Veras Seele beschattete, aber durch räumliche Trennung und mit der Zeit würde sich auch das geben.

So drahtete er denn wohlgemut dem Vater alle diese Ereignisse, indem er sich auf Veras Rat der Überraschung als des besten Schrittmachers bediente.

Der Ökonomierat hielt das Telegramm in der Hand und las es wieder und wieder, mit einem heiteren und einem nassen Auge. Wenn auch sein Einziger einen Beruf ergreifen wollte, für den er die höchst herrenmäßige Nichtachtung des Agrariers und die Ranküne des Hartschädeligen hegte, so hatte sich der Teufelsjunge doch immerhin aus eigener Kraft sein Leben gezimmert. Aber was für eine Dummheit war nun wieder diese überstürzte Ehe! Wer in aller Welt mochte Vera Manderville sein? Nun, da war nichts zu machen! Man mußte zu allem ja und amen sagen. Man wollte doch den Jungen in die Arme schließen.

Vera kam also und machte auf beide Eltern einen ausgezeichneten Eindruck. Dazu half mit, daß Florian, stolz auf seine junge Frau, Veras Verdienste um seine Erfolge herausstrich. Als gar der Ökonomierat erfuhr, daß Vera nicht unbemittelt war, söhnte er sich völlig mit dem Fehlschlagen kühnerer Hoffnungen aus. Hatte er doch, von nicht eingetroffenen Verheißungen und gebrochenen Versprechungen durchlöchert wie ein Sieb, nichts mehr zu hoffen gewagt!

Noch immer elastisch und bald der heimatlichen Luft überdrüssig, beschloß Florian, um sich von der Zwangsjacke des Lernens an sich gleichgültiger Dinge zu erholen, die Zeit bis zum Eintritt in den Staatsdienst zu benutzen, um endlich das umstürzende Buch zu schreiben, das er als Werk seines Lebens immer wieder geplant hatte. Zu schöpferischer Stunde fand er in mühsamer Ausprägung den Titel: Metakritische Prolegomena zu einer geplanten Kritik des Neukantianismus vom Standpunkt der okkulten Wissenschaft aus.

Um seine Stimmung zu steigern, hielt er es für angebracht, die Luft, in der Kant gelebt hatte, zu atmen, und begab sich, im Besitz reichlicher Mittel, die der ob so viel Fleißes hocherfreute Vater gestiftet hatte, mit Vera nach Königsberg.

Dort erlitt er, wahrscheinlich infolge der unerhörten Überspannung seiner Konzentration, einen seiner seltsamen Zusammenbrüche, die mit der schwer berechenbaren Periodizität schweifender Sterne auftraten und für die das landläufige Wissen der Heilkundigen keinen Namen wußte. Ohne Schmerzen lag er zu Bett und erklärte der bestürzten Vera: »Ich kann kein Glied rühren. Mein Astralleib hat sich, wahrscheinlich infolge des Hasses, den Dreyer bis hierher ausstrahlt – widersprich nicht, ich spüre es genau –, vom Ätherleib gelockert. Wenn er sich von ihm trennen sollte, büße ich meinen Ichleib ein und werde wahnsinnig! Mir kann höchstens noch der Großmeister helfen!«

Zu Tode erschrocken, suchte Vera einen Psychopathen Dr. Biedermann auf, dem es in der Tat glückte, Florians Astralleib nach einiger Zeit durch vorsichtiges Analysieren zu säubern und somit den okkulten Mechanismus wieder instand zu setzen.

Aus dieser überraschenden Heilung ergab sich ein freundschaftlicher Verkehr mit dem Helfer. Florian bekundete, nachdem er Biedermanns Frau, Cordula mit Namen, bei einem ersten Besuch kennengelernt hatte, seine Dankbarkeit gegen ihren Mann dadurch, daß er sich alsbald heimlich mit ihr traf.

Nach weiteren vierzehn Tagen, in der zwölften Woche seiner ersten Ehe, entlief er mit Cordula nach Berlin, und zwar, wie nicht anders zu vermuten, am einundzwanzigsten des betreffenden Monats!


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