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Roman eines jungen Mannes
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XXXII

Der Arzt entließ Josua als relativ gesund.

»Aber machen Sie keine Dummheiten! Fahren Sie direkt nach Hause! Nicht etwa erst nach Venedig.«

Natürlich fuhren sie gerade nach Venedig. – Josua und ein junger Architekt namens Harry. Josua hatte den letzten Abend fünfhundert Franken im Roulette gewonnen. Die wollten angebracht sein.

Ines war schon vor Monaten nach Südamerika zurückgekehrt.

Man war einfach ausgehungert nach Weibern. Man japste nur noch.

Sie gingen in die Markuskirche, betrachteten die Bauten am neuen Campanile, rannten durch den Dogenpalast, ließen sich bei den Bleikammern und der Seufzerbrücke einige Schauer wie eine kalte Dusche über den Rücken rieseln und bummelten die von Matrosen und Fremden aus aller Herren Länder bevölkerten Riva degli Schiavoni entlang, um im Café Korso einen Pomeranzenschnaps zu nehmen.

»Das tut gut«, sagte Harry, der Architekt, und schmatzte über sein ganzes indianerbraunes Gesicht.

Ein alter Matrose mit blauer Schifferbluse und schwarzsamtenen Pumphosen bekleidet, schob sich dicht an ihrem Tische vorbei. Er betrachtete Josua aufmerksam, aus kleinen, alkoholzerrütteten Seehundaugen.

»Tja Mignon, eccolo la vita.«

Eine Wolke schlechten holländischen Tabaks blies er über ihren Tisch hin.

Es war Josua, als müsse er die Pluderhose des alten Matrosen streicheln.

Aber der war schon im Gewühl verschwunden.

»Min Jung«, tönte es in ihm nach.

Er seufzte.

Mit eiliger Armbewegung zerhieb er die Rauchwolke über dem Tisch. Sehe ich nun besser?

»Zur Academia«, rief Josua.

Sie sprangen in einen der Vaporetti, die den Verkehr auf dem Canal Grande vermitteln.

Als Josua vor den drei Madonnen des Giovanni Bellini stand, schnürte es ihm die Kehle zu. Die mittelste lächelte ihm schon durch sechs Säle entgegen und er lief auf sie zu. Ihre Anmut brannte ihm wie Feuer ins Auge. Begierden peinigten ihn.

Herrgott, wenn man drei Monate kein Weib berührt hat – Madonna, du lehrst mich wieder beten.

Als sie aus der Academia traten, schwamm der Himmel von vielen rosa Wolken. Es schien ihnen, als wären es unzählige nackte Frauenleiber ohne Köpfe, die der Wind zu ihren Häupten dahinführte.

Es wurde Abend.

Sie saßen auf dem Markusplatz vor einem Café.

Musik klang irgendwo her, wie hinter Vorhängen. Tauben schwirrten. Man hörte nur deutsche und englische Laute. Sie speisten im Ristorante alla Negro. Harry aß vier Portionen Salami. Sein Indianergesicht glänzte speckig. Josua trank einen Liter Muscato.

Dann schritten sie Arm in Arm durch die Merceria. Bogen in eine Seitengasse ein, die nach verfaulten Früchten roch. Ein kleiner fünfjähriger Bengel lief ihnen zwischen die Beine: »Casa, casa, soldo, soldo«, schrie er.

»Diese Bengel«, lachte Harry, »was die schon für nationalökonomische Einsicht haben. Wissen die auch schon, daß Frauenfleisch der beste Handelsartikel ist.«

Er gab ihm einen Soldo.

»Deine Casa kannst du für dich behalten. Wir suchen sie uns alleine.«

Sie schritten durch die dunkle Straße.

Wie schwarze Vögel in ihren schwarzen Umhängen huschten die Huren an ihnen vorbei, blieben eine Sekunde stehen, flatterten weiter. Hurenmütter, wie Matronen gekleidet, ächzten dick und schwer hinterdrein.

An einer schmalen Seitengasse links schielte eine solche nach Josua. Es ist Fräulein Doktor, dachte er. Sie hat endlich ihr Schicksal erkannt.

Er zog Harry mit sich ins Dunkel.

»Na«, sagte Harry, er verstand keinen Brocken Italienisch. Die Dicke pfiff – und im Nu piepste, wie aus der Luft gefallen, ein schwarzer, fettiger Vogel neben ihm. Die würdige Matrone machte eine erläuternde Handbewegung. »Aha,« sagte Harry, »ich soll sie prüfen.«

Er griff dem jungen Weibe vorn an die Brust.

»Sie gefällt mir. Ich gehe mit« – er fühlte aber zur Sicherheit nach seinem Revolver in der Tasche. »Du wartest wohl, Josua, ich bin bald zurück.«

Der Vogel flatterte vorauf. Harry folgte bedächtig, den Genuß im vorhinein auskostend.

Josua machte der dicken Matrone ein paar Komplimente, die sie mit Grandezza aufnahm, wie: »Sie haben hübsche kleine Ferkel, Madonna!« Oder: »Was müssen Sie für eine angenehme Bettgenossin gewesen sein in Ihrer Jugend, noch heute würde ich eine Lira für Sie geben.«

Er empfahl sich mit leichter Verbeugung.

Josua war von einem Dutzend deutscher Bettler angebettelt worden, da stieß Harry wieder zu ihm. Er lachte über sein ganzes indianerbraunes Gesicht.

»Ich gehe nach Hause. Ich bin's zufrieden. Du bleibst noch hier?«

Josua nickte.

»Natürlich. Gib mir deinen Revolver.«

Harry steckte ihm den Revolver in einer dunklen Nische zu.

»Gute Nacht, Harry. Am Dogenpalast immer links halten. In fünf Minuten bist du beim ›Sandwirt‹.«

Josua hielt den Revolvergriff in der Manteltasche fest gepackt, nun war er Herr von Venedig.

Langsam ging er und genoß jeden Schritt, den er tat. Oh! Eine lange Nacht! Und alle Frauen Venedigs gehören ihm. Nicht weit vom Rialto traf er jenes wohlgebaute Frauenzimmer, das Harry eben gehabt hatte. Sie gefiel ihm, wie sie mit unordentlichen Haaren, schlecht zugeknöpfter Bluse und hektisch erhitzten Wangen, mit einem wildlächelnden Blick an ihm vorüberhetzte. Er winkte ihr, als sie einen Moment still stand.

Über zwei funzelerhellte Treppen flogen sie. Ein riesiges zweischläfriges Bett stand abgedeckt in der Mitte des Zimmers. Ein fader, lüsterner, schweißiger Geruch entstieg ihm, wie ein Körper personifiziert.

Wieviele heute wohl schon darin gelegen haben? dachte Josua. Sie ist hübsch – also mindestens zehn.

Aber der Gedanke irritierte ihn nicht weiter. Im Gegenteil, er war sich bewußt, alle zehn auszustechen.

Überwunden hing sie nachher an seinem Hals.

»Du bist mein Freund! Du bist mein Freund! Kommst du morgen wieder? Bitte!«

Es trieb ihn weiter.

Er gab ihr zehn Lire; dem Mädel, das unten aufschloß, eine Lira Torgeld und taumelte in die feuchte, muffige Venediger Nachtluft.

Er war keine zehn Schritte gegangen, da traf er eine andere, die ihm gefiel.

In diesem Hause blieb er eine Stunde.

Er fand darin auch eine große dicke Negerin, namens Sarah, die ihn maßlos reizte. Ihre Brüste hingen fast bis zu den Knien herab. Für zehn Centesimi machte sie allerlei Kunststücke mit ihnen. Warf zum Beispiel die rechte wie ein Gewehr über die Schulter. Dann ging er noch zu dreien. Die letzte war eine Deutsche.

Der heimische Dirnenjargon ekelte ihn an. Er ernüchterte ihn.

Es war ein Uhr geworden.

Die Straßen krochen leer und grell in dunstige Dämmerung.

Er trat in eine Stehbierhalle und goß ein paar Gläser Mailänder Bier hinunter.


Josua floh in eine Nebengasse. Ließ sich durch sie wehen. Hin und wieder blinkte ein Stern zwischen den hohen schwarzen Wänden. Er mochte eine halbe Stunde dahingestürmt sein und sich in der Nähe der Academia befinden – als er in eine Sackgasse plumpste. Er stand wie auf einem Hofe. Vor ihm floß der Kanal. Gegenüber, jenseits erhob sich ein vierstöckiges Haus. Ganz oben biegt sich jemand aus einem erleuchteten Fenster.

Josua geriet in leise moussierenden Rausch. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder ein Weib war.

Er fühlte plötzlich den Eisengriff des Revolvers in der Tasche.

Er entsicherte ihn. Ich werde den Schatten da oben erschießen, dachte er, oh – nicht aus Haß oder aus Rache –:

Motive sind gemein ... ich kenne ihn gar nicht ... weiß nicht, ob es ein Mann oder eine Frau ist ... ich will ihn erschießen aus einer grenzenlosen Begierde, die keinen anderen Ausweg mehr weiß ... Niemand wird wissen, wer es getan und warum er es tat ... kein Mensch ist in der Nähe ... die Sbirren sind weit ...

Er griff in die Tasche, lehnte sich an die Mauer, zielte leidenschaftlich und schoß.

Einmal nur.

Der Schatten verschwand vom Fenster.

Eine Lampe wurde sichtbar.

Drüben klatschte etwas in den Kanal.

Im Hause wurde es lebendig.

Lichter flogen durch dunkle Zimmer wie helle Falter.

Geschrei erklang.

Josua wartete einen Augenblick.

Dann ging er langsam die Straße zurück, die er gekommen war. Jetzt war er müde und wollte schlafen. Nicht weit von dem »Pilsener Bierhaus« sah er auf den Wellen eines kleinen Kanals eine einsame, schwarze Gondel sich schaukeln. Vielleicht war sie nicht angekettet? Der Zufall gab ihm recht. Die Kette war nur ein paar Mal lose um den Pfahl geschlungen. Er sprang hinein, tat seinen Mantel ab, den Revolver steckte er griffbereit in die hintere Hosentasche und packte das Ruder. Er hatte auf dem See seiner Heimat das »Pitscheln« gelernt. Diese Kunst kam ihm jetzt zu statten. Es gelang ihm, nach einigen hundert Metern die richtige Drehung herauszubringen.

Er fuhr dahin wie ein gelernter Gondelier.

Bei Bauer-Grünwald stieß er auf den Canale Grande. Nun nahm er die Richtung zum Lido. Dunkelviolett glitt vor ihm die Wasserfläche.

Die Müdigkeit wich von ihm.

Mit kräftigen Drehungen trieb er den Kahn.

Ich fürchte den Tod nicht.

Noch ist er mir nicht beschieden.

Jetzt blähte der Wind Nebelschwaden vor ihm auf.

Es wurde kalt. Er dachte an die Madonna des Bellini.

Du hast mich heute gesegnet, so führe auch den Tag zum guten Ende.

Die Gondel knirschte auf den Sand des Lido. Er sprang hinaus und gab ihr einen festen Stoß mit dem Fuße. Bald tanzte sie wie eine schwarze Wasserlinse draußen auf den wilder gewordenen Wellen.

Er schritt kräftig aus, den Lido zu durchqueren. Dunkel schwang die Glocke der Nacht über ihm. Als er an das Adriatische Meer kam, zogen leise gelbe und purpurne Streifen am Saum des Horizonts vorüber.

Jauchzend warf er seine Kleider ab und tanzte ihm nackt durch die Fluten entgegen, bis der Boden unter seinem Fuße sank und er schwimmen mußte.

Er war fünfhundert Meter geschwommen, als er Stechen in den Seiten fühlte ... He, lachte er, Tod, so leicht überwindest du mich nicht.

Er legte sich auf den Rücken und ließ sich an den Strand spülen.

Mit dem ersten Vaporetto fuhr er nach Venedig zurück.

Harry im Nebenzimmer schnarchte. Erschöpft warf er sich mit den Kleidern auf sein Bett und verfiel sofort in einen traumlosen Schlaf.


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