Klabund
Roman eines jungen Mannes
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XII

Josua wohnte in einer kleinen Universitätsstadt, nahe Berlin und bezog von Herrn Triebolick eine angemessene Unterstützung.

Er sollte Philologie studieren.

 

Josua hatte seinen Herrenabend.

Jim war da, dann Kolk und aus Berlin war Klaus Tomischil mit einigen Mädchen erschienen.

Man trank Ananasbowle, zu der Jim den Wein und Kolk die Ananas gestohlen hatte.

Kolk hatte die letzte Nacht wieder in der Hundehütte des Holzhändlers Mann mit dem Hunde Cäsar zusammen geschlafen. Cäsar biß sogar seinen Herrn, wenn er gereizt wurde. Kolk war der einzige, den er respektierte.

Kolk mußte, ehe man ihn zur Tafel zuließ, in Josuas Schlafzimmer gereinigt, gekämmt und frisch gekleidet werden, was unter Beihilfe Jims immerhin eine Viertelstunde in Anspruch nahm. Er zeigte sich an der Tafel in einem verschlissenen, braunen Samtjakett mit Husarenschnüren und einer alten Mensurmütze auf dem Haupt. Josua war ein halbes Jahr Mitglied der freien Burschenschaft Marko-Pomerania gewesen, bis man ihn wegen Achtungsverletzung relegiert hatte. Er war vollkommen nüchtern, ohne Mütze und Band abzulegen, am hellichten Tage zur dicken Emma gegangen. Die erste Rede hielt Klaus.

Klein, mager, mit einem Ansatz zum Buckel, rotbraunem, struppigem Vollbart, blaßblauen, aber scharfen Augen erhob er sich zu einem wohl disponierten Vortrag über die deutsche Judenfrage – er, der Jude:

»Ich habe Russen gekannt und es sind die besten ihres Volkes, denen brachen die Tränen aus den Augen, wenn man Rußland nur nannte. Aber ich möchte trotzdem kein Russe sein. Auch wenn ich über mein Vaterland weinen müßte. Ich bin Kosmopolit. Ich liebe Gott und die Welt. Aber ich bin irgendwo geboren. In Brandenburg unten, schon nahe Schlesien, wo die Oder weite, ach wie weite Auen bespült, Weinhügel an ihrem rechten Ufer sich bucklig erheben und spitze, graue Tannen wie gotische Türme in den Himmel stoßen. Davon kann ich nicht weg. Obgleich ich Jude bin. Auch wenn ich es verzweifelt wollte. (Ich will es nicht.) Es ist meine Erde.

Ich bin kein Antisemit (im üblichen Sinne), ich bin Jude.

Die Hälfte meiner Freunde sind Juden.

Ich liebe Goethe – ich bewundere Herzl.

Der Antisemitismus, wie ihn die Politik gezeitigt hat, ist eine große Unwahrheit. Er richtet sich ja gar nicht gegen das Judentum an sich, sondern gegen das Judentum als Geldmarkt, also als Träger der materialistischen Weltauffassung. Man gibt ihn bloß nicht zu: den blaßen Neid. Es ist so komisch, zu sehen, wie der Antisemitismus den deutschen Idealismus beeifert und betreut. Während die andere Seite des Januskopfes (insgeheim) winselt: wenn ich nur das Geld hätte! Ja, Verehrtester, wenn Sie das Geld hätten (und die Macht), Sie würden die Kultur um kein Haar bessern, Sie würden gar nicht daran denken, eine Sache ›um ihrer selbst willen‹ zu tun, wenn Sie einen Prozent Zinsen verlören. Ihr Idealismus (den Sie, bewahre uns der Himmel, deutsch nennen) reicht genau so weit, wie Ihre Geld- und Geistnot.

Aber ich kann es begreifen, wenn einer aus deutsch kulturellen Gründen die Juden bekämpft. Obgleich der Jude, es ist eine Schande für sie, in Deutschland heute der eigentliche Kulturerregerbazillus ist. Wer kauft hauptsächlich gute Bilder und Bücher? Der Jude. Was sind die hauptsächlichsten Verleger und Kunsthändler? Juden. Wer versucht sich in der deutschen Sprache nicht ohne Geschick und mit noch mehr Talent? Der Jude. Und die Zeitungen? Die Zeitschriften, wer schreibt sie? Wer liest sie? Der Jude. Ohne ihn könnten auch die rein deutschen Künstler (siehe Gerhart Hauptmann) nichts ausrichten. Warum tut der Deutsche, und zwar der deutsche Großgrundbesitz und Großkapitalismus nichts für Kultur und Kunst? Warum beharrt er in seiner chronischen Kulturphlegmatik? Aus alter Ahnenmüdigkeit, aus Borniertheit? Etwa: Kultur! Ich habe alles, was ich brauche: meinen Klubsessel, meine Pferde und meinen Kaiser.

Das Judentum hat sich seine heutige große Macht im Kampf erworben. Im ständigen Kampf mit seinen Wirtsvölkern, die es zu unterdrücken bestrebt waren. Immer und immer stand und steht es mit all und jedem auf dem Kriegsfuß. Der Krieg hat es gestählt und hart gemacht, und es ist nahe daran, den weicheren Gegner, dem die ewige unerbittliche Anspannung aller Kräfte fehlt, die dem Juden das Dasein überhaupt erst ermöglicht, zu überwinden.

Das Judentum bildet einen Trust. Rein instinktiv. Wir haben mit Zähigkeit und fanatischer Anpassungsfähigkeit zum Beispiel fast die gesamte literarische Kritik in unseren Besitz gebracht. Wenn es so weiter geht, gibt es in fünfundzwanzig Jahren keinen deutschen Kritiker mehr. Der jüdische Kritikertrust hat ihn ausgestoßen. Rein instinktiv. In fünfzig Jahren gibt es keinen deutschen Dichter mehr. Der jüdische Kritikertrust, der (rein instinktiv) nur das Jüdisch-deutsche oder ihm Verwandte zu würdigen weiß, kann ihn nicht erkennen. Er sieht ihn gar nicht. Er schweigt ihn tot. Rein instinktiv.

Wie kann der Deutsche hier (und nicht nur in bezug auf die Literatur, die mir als Beispiel galt) Abhilfe schaffen? Ich, der Jude, verrate Ihnen das einzige wirksame Mittel. Das Element des Judentums ist der Kampf. Entwindet ihm diese Waffe! Schließt mit ihm Frieden! Seit Jahrhunderten an den Krieg gewöhnt gegen sein Wirtsvolk, wird der Jude durch den plötzlichen Frieden stutzig werden. Der Überspannung wird die Abspannung folgen. Macht den Juden zum Reserveoffizier, zum Bürodiener, Richter, Intendanten und Landrat. Er wird die Gleichberechtigung nicht ertragen. Des ruhigen Lebens ungewohnt, wird er verweichlichen, schwach werden und rettungslos im Deutschtum versinken.

Schon der Stolz, es endlich doch noch zum Reserveoffizier gebracht zu haben, wird ihn verrückt, wird ihn kindisch – wird ihn lächerlich machen.

Und diese Lächerlichkeit wird ihn töten.

Auch die jüdischen Kritiker werden dann, aus Mangel an Gemeinsinn, langsam absterben. Und die deutschen Dichter werden wieder von sich reden machen.

In fünfzig Jahren gibt es in Deutschland keine Juden mehr, wenn man ihnen möglichst schnell und plötzlich die bürgerliche Gleichberechtigung mit den Deutschen verleiht. Dann gibt es keine Juden mehr, abgesehen von einigen wenigen, die nach Zion auswandern werden.

Dazu würde ich gehören.«

Klaus setzte sich. Er schnaufte und schwitzte vor Aufregung.

Dröhnender Beifall. Bravo auf allen Seiten.

»Warum bist du noch hier?« schrie Lulu.

Josua stieß mit Klaus klingend an. Sie sahen sich in die Augen. Klaus schluckte an verhaltenen Tränen.

Kolk erhob sich zu einer Rede auf die Damen.

»Dieselben verschönern uns nicht nur das Leben – sondern lassen uns auch den Tod erstrebenswert erscheinen«, sagte Josua.

»Darum hoch die Damen, hoch, hoch, hoch!«

Die Gläser klirrten zusammen. Josua hob Lili mit beiden Armen so hoch, daß ihre Turbanfrisur an die Decke stieß. Margot und Lulu lachten.

Als Josua Lili wieder herabgelassen hatte, weinte sie vor Wut.

»Ich will nicht, daß du so stark bist«, stöhnte sie.

Klaus hatte Lulu auf seinem Schoß und griff ihr mit der Hand vorn in die offene Bluse, wo er Brüste fest und weich wie Pfirsiche vorfand.

»Tochter Zions freue dich«, sang er.

»Au,« sagte Lulu, »Klaus, du hast kalte Hände.«

Kolk trank mit Margot unzählige Weinjungen. Sie waren beide schon maßlos betrunken.

Während die drei Paare sich entsprechend beschäftigten, erzählte Jim zum hundertsten Male die Geschichte, weshalb er in Obertertia von der Schule geschaßt worden sei. Er habe nämlich auf offener Chaussee, beim Kähmener Wäldchen, der Tochter des Direktors, die ihm begegnete, die Röcke hochgehoben und als sie sich angenehmen Erwartungen hingab, ihr die Röcke über dem Kopf zugebunden. Worauf er sie habe stehen lassen. Aus Rache. Weil er zum drittenmal in Obertertia sitzen geblieben war. So sei der Zwang an ihn herangetreten, einen Beruf zu wählen. Und er habe sich, um wenigstens bei der Stange der Wissenschaft zu bleiben, denn für die Wissenschaft hege er die höchste Bewunderung, für den wissenschaftlichen Beruf des Totengräbers entschlossen. Und habe es denn auch schon, Gott sei's gedankt, dazu gebracht, den Direktor sowohl wie sein Fräulein Tochter beide persönlich zu begraben. Welche Handlung er stets für die genußreichste seines Lebens zu halten berechtigt sein werde.

»Folgen wir dem Beispiel unseres trefflichen Jim«, schrie Kolk, welcher ein paar Worte aus Jims langer Rede aufgefangen hatte und versuchte, Margots Kleider hochzuheben.

Lili, die nach Josuas Küssen lechzte, ihn aber nicht zuerst zu küssen wagte, sah Kolk strafend an, so daß er zurückzuckte. Dafür erhielt Kolk wieder von Margot einen bösen Blick.

Klaus, von einem fremden Dämon bezwungen, schnellte zu einer zweiten Rede empor.

»Es ist traurig,« sagte er und wiegte seinen Kopf philosophisch bedenksam wie ein Marabu, »daß ich, ein Fünfunddreißigjähriger, mich heutzutage zur letzten Generation zählen muß. Es gibt keine Jugend mehr. Es gibt keine Zwanzigjährigen mehr«, schrie Klaus und sein roter Vollbart sträubte sich in tausend haarigen Nadeln.

»Gott, beruhige dich, Klaus«, sagte Josua. »Was du heiser und fanatisch in die Welt brüllst: Anarchismus! Anarchismus! Das sind wir längst: Anarchisten. Einfach aus uns. Das ist uns eine Selbstverständlichkeit, über die den Mund aufzutun, wir uns genieren würden. So banal ist sie. Wir sind um vieles reifer, als ihr damals waret. Wir haben die Erfahrung der Kämpfe uns nutzbar gemacht. Aber wir brauchen, Gott sei Dank, keine lächerlichen Manifeste, um uns als Gruppen bengalisch beleuchtet unsrer Zeit darzustellen. Die Zeit nach dem Kriege war spezifisch unkünstlerisch. Das ist die unsere nicht mehr. Allem Geschrei von der zunehmenden Mechanisierung und Maschinisierung des Lebens zum Trotz. Im Gegenteil: die Stadt wird zur Landschaft. Und die Welt immer lyrischer. Immer abenteuerlicher. Lyriker und Hochstapler sind bald nur mehr eines. Jeder manifestiert sich selbst. Das ist am ehrlichsten und wirksamsten.

Die Wirkung von Mensch zu Mensch wollen wir wieder zu Ehren bringen, nicht die von Buchstaben zu Buchstaben, von Gesinnung zu Gesinnung. Wir sind auch keine Bohemiens mehr, wie ihr damals, und wenn wir noch so wenig Geld haben. Unsere Abenteuer sind reicher und spielen nicht im Café oder in den Ateliers spindeldürrer geiler Malweiber. Wir haben viele tausend Berufe, zu denen wir in Wahrheit berufen sind, und in denen wir uns nach Bedarf ergehen. Und sind wir heute Lastträger, so sind wir morgen Musiker, übermorgen rote Radler und überübermorgen Privatdozenten. Und alles ohne Ironie, mitten drin sind wir, nicht oben drüber. Was mich betrifft, so werde ich wohl noch einmal Tyrann von Deutschland werden.«

»Totengräber,« schrie Jim, »ist überhaupt der einzige anständige Beruf. Aber ich muß die Gründe, die ich dafür ins Feld führen könnte, leider für mich behalten. Sonst würde der Andrang zum Totengräberberuf zu stark, und seine Exklusivität erschiene gefährdet.«

Und er begann aus den Vorschriften zur Ausübung der Leichenbeschau zu rezitieren, als seien sie eine Schillersche Ballade.

»Komm mit nach Berlin!« flüsterte Lili Josua ins Ohr.

»Ganz sichere Kennzeichen, daß ein Mensch wirklich und nicht bloß scheintot sei, ergeben sich nur aus der bereits eingetretenen Fäulnis. Die Zeichen der eingetretenen Fäulnis sind: der Leichengeruch, das Abfließen faulender Säfte aus den natürlichen Körperöffnungen, die Auftreibung und das grünblaue oder schwarze Anlaufen des Unterleibs.«

»Liebes Kind, ich habe kein Geld dazu.«

»Geld? Ha! Du sollst den Namen deines Gottes nicht unnütz mißbrauchen«, krächzte Klaus.

Lili wisperte eindringlicher in Josua hinein.

Ihre Lippen lagen in seiner Ohrmuschel.

Josua besann sich einen Augenblick.

»Lili,« sagte er dann, »bleibe du hier. Ich nenne dir vertrauenerweckende Geldmagnaten, wie Fabriksbesitzer Kröderlein, Hauptmann Blasewitz, Apotheker Ludwig. Und dann die vielen Offiziere, Studenten, Zollassistenten und Referendare. – Also willst du?«

Lili schwankte.

Triebolick, wer ist das? dachte sie. Woher kenne ich bloß den Namen?

Endlich seufzte sie entschlossen auf: »Gut –ja.«

 

Klaus fuhr am nächsten Tage mit Margot und Lulu nach Berlin zurück, während sich Lili bei Frau Schimmelpfennig in der Aftergasse einmietete.


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