Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Ausgangsstation

Ich hatte mir Bücher kommen lassen über die Frage, die mich und Millionen anderer Soldaten seit Kriegsbeginn beschäftigte: wie ist unsere Welt umzugestalten in eine Welt ohne Kriege, ohne Greuel und ohne Unrecht? Es waren zwei Arten von Büchern: die eine Gruppe vertraute auf die evolutionäre Entwicklung der Menschheit durch harmonische Allmählichkeit der Reformen, die andere Gruppe setzte ihre Hoffnung auf einen radikalen Umsturz, ähnlich dem, den die Französische Revolution von 1789 herbeigeführt. Gerne hätte ich diese Werke in Ruhe durchstudiert.

Aber mein Dienst in Ungarn erforderte täglich einen mehrstündigen Aufenthalt im Eisenbahnzug und ließ mir wenig Zeit. Wohl hätte ich während der Fahrt lesen können, wenn ich nicht immerfort, immerfort das gleiche Gespräch hätte führen müssen. Es bezog sich keineswegs auf Reformierung oder Revolutionierung der Gesellschaft.

Wäre auch ein Gespräch über diese Fragen mit den meisten Passagieren des Offiziersabteils kaum sehr ergiebig gewesen, so hätte es mich wenigstens nicht so weit von meinem Thema entfernt. Am liebsten hätte ich freilich überhaupt nicht gesprochen, sondern die Bücher gelesen. Das erwies sich jedoch als unmöglich.

Nach Vorschrift mußte sich jeder Offizier oder Offiziersanwärter beim Betreten eines Raumes, also auch eines Eisenbahncoupés, allen Ranghöheren in deutscher Sprache vorstellen. Nur die Ungarn hatten das Recht, sich ungarischen Vorgesetzten in ungarischer Sprache vorzustellen.

In Püspökladany stieg ich in den Zug. Ein Husarenmajor in blauer Uniform saß darin, auf Brustkorb und Taille mit Posamenten verschnürt, eine Art Violinschlüssel auf den prall anliegenden Hosen und goldene Bärentatzen auf den Ärmeln. Wer nicht daran erkannt hätte, daß der Major ein Ungar war, 295 hätte es an seinem Schnurrbart erkennen müssen, der parallel zu den Posamenten der Uniform verlief und über die Ohren hinausreichte. In strammer Haltung meldete ich: »Herr Major, Kadett-Offiziersstellvertreter Kisch stellt sich gehorsamst vor.«

»Mért nem mondod magyarul?« antwortete der blaue Husarenmajor in einem Tonfall, der gutmütig war und darauf schließen ließ, daß er mir eine Frage stelle.

Daraufhin fragte ich meinerseits: »Herr Major befehlen?«

Langsam strich er den Schnurrbart entlang, den ganzen Schnurrbart: »Azt kérdezem, hogy mért nem mondod magyarul!« Das war kein Fragezeichen mehr, das war ohne Zweifel ein Ausrufungszeichen.

Ich erlaubte mir gehorsamst zu äußern, daß ich nicht verstehe. Ich sah sein Erstaunen. Er sagte in ungarischem Deutsch: »Habe ich nicht verstanden Ihre Namen. Wie heißen Sie, Herr Kadett?«

»Melde gehorsamst: Kisch.«

»Warum also stellen Sie nicht vor auf ungarisch?«

Blieb mir gehorsamst zu wiederholen, daß ich nicht ungarisch verstehe. Worauf sein Erstaunen wuchs: »Was? Wieso nicht verstehen Sie ungarisch. Sie sind doch Ungar!«

Eine Dosis von Bedauern, ja Zerknirschung meinem gehorsamsten Tonfall beimischend, gestand ich, daß ich kein Ungar sei, sondern nur ein Prager.

»Aber Herr Vater hat gewesen Ungar?«

Nachdem auch diese Frage meiner kleinlauten Verneinung begegnet war, schüttelte der blaue Husarenmajor den Kopf: da werde man im Kasino Augen machen, wenn er das zum besten gebe! »Herren werden mir einfach nicht glauben. Haben keine Visitkarte zufälligerweise, Herr Kadett?«

Und dann begann er, mir, der ich auf Eduard Bernsteins »Voraussetzungen des Sozialismus«, auf die Theorie des Reformismus neugierig war, und gar nicht neugierig auf ein Gespräch mit dem blauen Husarenmajor, ausführlich auseinanderzuexplizieren: Kisch sei nämlich ein ungarischer Name. 296 Kisch bedeute »klein«. Nagy dagegen bedeute »groß«. Und das seien die beiden häufigsten Namen in Ungarn.

Seit ich in Ungarn war, wußte ich das ganz genau, hundertmal, tausendmal hatte ich das in allen Varianten gehört, mußte aber so tun, als ob ich mit gespannter Aufmerksamkeit den Enthüllungen lausche.

»Haben wir zum Bleistift – haha, wollte sagen: zum Beispiel . . .«

»Haha, haha«, mußte ich gehorsamst mitlachen.

»Haben wir also, bei uns in Satoraljauhély, wo bin ich Garnisonskommandant, einen Dichter, was auch heißt Kisch. Kisch Josef, und der hat zusammengestellt Theaterstück für unseren Kinematographentheater. »Simon Judith« ist Theaterstück übergetitelt. Das heißt, meine Tochter, was ist in Szegedin auf Lyzeum, hat gelernt, daß Dichter Kisch Josef ist schon tot zehn Jahre. Aber versteh ich das nicht, weil vor zehn Jahren hat noch nicht gewesen Kinematographentheater in Satoraljauhély. Verstehen Sie, Herr Kadett, wie kann haben geschrieben Theaterstück, wann ist schon tot?«

Das verstand ich auch nicht, bitte gehorsamst.

Und der blaue Major fuhr fort, sehr viel Kischs gebe es in Ungarn. Auf der ersten Seite jeder Budapester Zeitung stehen täglich zwei Inserate von Lotteriegeschäften, gleich oben neben dem Titel der Zeitung. Der eine Inhaber heiße Kisch und inseriere: »Kisch szerencséje nagy«, was ein Wortspiel sei, weil es bedeute: »Das Glück des Kleinen ist groß.«

Hahaha, hatte ich da wieder zu lachen, denn der blaue Husarenmajor lachte so über den Witz und klatschte sich so auf die Schenkel, daß ich glaubte, er werde sich die Violinschlüssel ins Fleisch schlagen.

Aber es komme noch besser, keuchte er. Die Konkurrenzfirma bleibe dem Kisch die Antwort nicht schuldig. Diese andere Firma heiße Török und inseriere: »Török szerencséje Török.« Das bedeute: »Töröks Glück ist ewig« und reime sich noch dazu. Darüber lachte der blaue Husarenmajor Tränen, die auf Bärentatzen, Prallhosen und Violinschlüssel kullerten. 297

Er wollte mir etwas noch Komischeres erzählen, aber ich entschuldigte mich, daß ich leider jetzt aussteigen müsse. Tatsächlich stieg ich nur aus, um im gleichen Zug ein anderes Abteil aufzusuchen. Wohlweislich wählte ich ein leeres. Kaum war ich in der Fensterecke installiert, als ein blutjunger Rittmeister und zwei uralte Leutnants vom Train hereintorkelten.

Ich stellte mich gehorsamst vor und bekam, wenn auch nicht zu verstehen, so doch zu hören: »Ujra valaki, aki szégyenli, hogy magyar.«

Der ungarische Feudaladel unterdrückte zwar die in seinem Staatsgebiet lebenden Kroaten, Ruthenen, Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, dennoch besaßen die Ungarn ein gerüttelt Maß von nationalem Verfolgungswahn. So glaubten zum Beispiel die drei angeheiterten Train-Offiziere, ich sei ein Ungar, der seine Nation verleugne.

Als ich das aufzuklären versuchte, hörten sie unwillig zu und klärten ihrerseits mich auf: Kisch sei ein kernungarisches Wort und bedeute »klein«, und der Name Kisch sei der verbreitetste Name, zehn Prozent aller Magyaren heißen Kisch, und zehn Prozent heißen Nagy, was wiederum »groß« bedeute. Aber es gäbe keinen Nagy in der Welt, der nicht ein Ungar sei, und ebensowenig hätte man je etwas von einem nichtungarischen Kisch gehört.

Der letzte Satz war besonders scharf, was vielleicht darauf zurückzuführen war, daß ich die Enthüllung über meinen Namen nicht mit so gutgespieltem Staunen entgegennahm, wie vor dem blauen Husarenmajor.

»Ihre Familie hat sich austrifiziert, wahrscheinlich nach 1849, als Ungarn niedergeschlagen wurde von den Österreichern und den Kosaken«, sagte der blutjunge Train-Rittmeister verächtlich, und seine beiden Leutnants nickten dazu mit ihren grauen Köpfen. Dennoch wollte er sich seine Diagnose auch von mir bestätigen lassen: »Nicht wahr, Herr Kadett, Ihr Großvater war noch Ungar?«

Nein, sagte ich, meine Familie lebe schon seit dem fünfzehnten Jahrhundert in Prag. 298

Er wurde noch schärfer: »Widersprechen Sie nicht, Herr Kadett! Ich befehle, daß Ihr Großvater Ungar war.«

Vorschriftsmäßig nahm ich diesen, meinen Großvater betreffenden Befehl zur Kenntnis. Damit war noch nicht alles vorbei. Die drei unterhielten sich laut über mich, um mich – wenn ich protestieren sollte – dabei zu ertappen, daß ich ungarisch verstehe. Kein Protest erfolgte von meiner Seite, und ich wollte eben meinen Eduard Bernstein weiterlesen, als mich einer der Leutnants fragte: »Sind Sie vielleicht mit dem Bela Kisch in Czinkota verwandt, Herr Kadett?«

Alle drei bogen sich vor Lachen. Der Massenmörder Bela Kisch hatte in Czinkota nach und nach ein Dutzend Heiratskandidatinnen umgebracht und die Leichen in Zinnfässern verlötet. Der Fall hatte vor einiger Zeit alle Zeitungen gefüllt.

»Nein, Herr Leutnant«, antwortete ich, »ich bin ja kein Ungar, und« – nun betonte ich jedes Wort – »der Bela Kisch war ein Ungar.«

»Ich habe doch befohlen, daß Sie ein Ungar sind, Herr Kadett«, schrie der Train-Rittmeister, wütend über meine Antwort.

Weiß Gott, was noch geschehen wäre, wäre nicht der Zug soeben in eine Station eingefahren und ein eleganter, ordensbesäter Oberstabsarzt eingestiegen. Bald war eine Unterhaltung in ungarischer Sprache zwischen den alten und dem neuen Insassen des Abteils im Gange. Über mich ging sie hinweg. Erst nach der Station, wo die drei Train-Offiziere hinaustorkelten, sprach der Oberstabsarzt mich an und erfuhr so, daß ich nicht ungarisch verstehe.

»Oh, entschuldigen Sie«, sagte er, »,da liegt ein Mißverständnis vor. Ich hatte bei der Vorstellung verstanden, daß Ihr Name Kisch ist.«

Um allem die Spitze abzubrechen, sagte ich, in der Tat führe ich merkwürdigerweise diesen kernmagyarischen und in Ungarn so häufigen Namen, obwohl meine Familie schon seit vielen hundert Jahren in Prag ansässig sei.

Er erwiderte, das sei wirklich sehr merkwürdig und ich hätte ganz recht, wenn ich sage, das sei ein in Ungarn so 299 häufiger Name. Aber ich könne mir gar nicht vorstellen, wie verbreitet der Name sei, zehn Prozent aller Ungarn heißen Kisch, und zehn Prozent heißen Nagy. »Meine Frau«, sagte er, »ist auch eine geborene Kisch, aber eine adlige Kisch, eine Baronin Kisch de Ittebe. Der Onkel meiner Frau, Géza Kisch de Ittebe, ist mit Katharina Schratt verheiratet. Sie wissen doch, wer Katharina Schratt ist?« Ich bejahte mit dem für Mitglieder des Kaiserhauses angebrachten allerhöchsten Respekt, denn Katharina Schratt war die Freundin des Kaisers Franz Joseph.

Aber bürgerliche Kischs gäbe es zum Schweinefüttern, sagte der Neffe der Frau Schratt. In seinem Spital habe er einmal die Krankenzimmer inspiziert. »Da sehe ich einen Mann wachsgelb und ohne Bewegung im Bett liegen. Ich fasse seine Hand, sie ist kalt. Natürlich schlage ich sofort Krach, das geht denn doch nicht, daß einer stirbt, ohne daß man davon weiß, und daß eine Leiche so mir nichts, dir nichts herumliegt. ›Kisch‹, rufe ich nach meinem Regimentsarzt. Und gleich kommt der Kisch gelaufen, alle Kischs auf einmal: der Regimentsarzt, der Sanitätsfeldwebel und zwei Krankenpfleger, die auch Kisch geheißen haben. Alle stehen Habt acht vor mir. Und wissen Sie, wer noch Habt acht vor mir gestanden hat? Der Tote! Er war nämlich gar nicht tot und hat auch Kisch geheißen.«

Der Oberstabsarzt lachte schallend in Erinnerung an die Szene, und dann kam noch ein Epilog: »Der Regimentsarzt Kisch war der längste Mann, den Sie sich denken können: ein Meter zweiundneunzig, und wir hatten einen ganz kleinen Assistenzarzt, ein Meter fünfundfünfzig, und der hat Nagy geheißen. Das ist doch großartig, nicht wahr? Ach so«, – er schlug sich auf die Stirn – »Sie verstehen ja gar nicht, warum das großartig ist! Kisch bedeutet nämlich auf ungarisch ›klein‹ und Nagy bedeutet ›groß‹. Jeden Tag inseriert ein Lotteriegeschäft in allen Budapester Zeitungen . . .«

In der nächsten Station mußte ich umsteigen. Gerade vor meinem Waggon lief ich dem blauen Husarenmajor, dem ich entflohen war, in die Arme. Ich wollte mich verdrücken, aber 300 er stellte mich: »Kadett Kisch!« – »Befehlen, Herr Major?« – »Wieso Sie kommen in diesen Zug? Zuerst Sie lügen, daß verstehen nicht ungarische Sprache, trotzdem Sie heißen Kisch, und dann Sie steigen in anderes Coupé. Paßt Ihnen nicht Unterhaltung mit Ungarn! Habe ich das gleich bemerkt. Ist unerhört!«

Sein Gesicht war jetzt so blau wie seine Uniform. »Wie heißen mit Taufnamen und was ist Nummer von Ihr Regiment? Werde ich Anzeige machen wegen respektwidriges Verhalten.«

Zur Hölle mit meinem Namen! Ich werde ihn reformieren im Sinne Eduard Bernsteins, dann wird Schluß sein mit dem Ärger. Ich muß meinen Namen leicht verändern, damit ich im Falle einer Entdeckung behaupten kann, ich sei falsch verstanden worden.

»Herr Oberintendant«, sagte ich im neuen Abteil, »Kadett-Offiziersstellvertreter Klisch stellt sich gehorsamst vor.«

»Wie heißen Sie?« fragte er, als ob er nicht recht gehört hätte.

Ich erschrak. Kannte er mich vielleicht? Wenn auch: es war zu spät. Ich wiederholte: »Klisch, melde gehorsamst.«

»Komisch«, sagte der Oberintendant, »wenn Ihnen ein Buchstabe fehlen würde, wären Sie ein Ungar.«

Ich nickte höflich und setzte mich, um die Theorie des Reformismus weiterzulesen.

»Sie fragen ja gar nicht, welcher Buchstabe Ihnen fehlen müßte, damit Sie ein Ungar wären, Herr Kadett.«

Worauf ich mir, innerlich die Zähne knirschend, gehorsamst die Frage erlaubte, welcher Buchstabe mich daran verhindere, ein Ungar zu sein.

»Der Buchstabe l, lieber Freund.«

Ich dankte gehorsamst für die Aufklärung und griff zu meinem Buch.

»Interessiert es Sie denn nicht, zu erfahren, was der Buchstabe l mit Ihrem Ungarntum zu tun hat?«

»Selbstverständlich interessiert es mich, Herr Oberintendant.« 301

»Also, werde ich es Ihnen sagen, wenn es Sie so sehr interessiert. Sie heißen Klisch, nicht wahr? Ohne das l aber würden Sie Kisch heißen, und Kisch ist ein ungarischer Name; und zwar ein sehr häufiger Name. Zehn Prozent . . .«

Auf der nächsten Station stieg ich wieder um. Sie hieß Bekescaba und ich werde sie mir für mein Leben merken, denn sie bedeutet eine Ausgangsstation für mich. Es war mir klar geworden, daß reformistische Lösungen keine Lösungen sind.

Im neuen Abteil lag ein fuchsteufelswild aussehender Honvedoberst ausgestreckt auf der einzigen Bank und funkelte den Kadetten an, der einstieg, um ihn seiner Einsamkeit und Schlafmöglichkeit zu berauben.

»Herr Oberst«, meldete ich, »Kadett-Offiziersstellvertreter Weitemeyer stellt sich gehorsamst vor.«

Er stand auf. »Oberst von Kisch«, sagte er und reichte mir die Hand, »freut mich sehr.« Dann setzte er sich still in die Fensterecke.

So. Jetzt konnte ich lesen, aber es war nicht mehr die Theorie des Reformismus, die ich las.

 


 


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