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Auf die Nachricht von einer Überschwemmung bei Beneschau, die an einem Sonntag in Prag bekannt wurde, fuhr ich hin. Beneschau war wohl eine Reise wert, denn auf Schloß Konopischt bei Beneschau hatte der Erzherzog Franz Ferdinand seine, wie er dachte, provisorische Residenz, dort wartete er mit unverhohlener Ungeduld auf seine Übersiedlung in die Hofburg. Aber in dieser Wiener Wohnung saß ein gar zäher Mieter und dachte nicht daran, sie zu räumen: Kaiser Franz Joseph I.
Als dessen Sohn Kronprinz Rudolph 1880 sich in Mayerling erschoß, wurde sein Vetter Franz Ferdinand Thronfolger von Österreich-Ungarn. Damals war Kaiser Franz Joseph sechzig Jahre alt und schwer krank, und der neue Erbe machte sich bereit, binnen kurzem den Thron zu besteigen. Ein Jahr des Wartens verging, ein Jahrzehnt verging, zwei Jahrzehnte vergingen, ein Vierteljahrhundert, und als 1914 die Schüsse von Sarajevo den Wartenden töteten, lebte der Erblasser Franz Joseph immer noch.
Zur Zeit, da ich nach Konopischt fuhr, um über die Wasserkatastrophe zu berichten, hatte die Wartezeit Franz Ferdinands ihr achtzehntes Jahr erreicht. Um ihn und sein Schloß rankten sich vielerlei Gerüchte, und eben waren sie um eine mystische Note bereichert worden: ein berühmter englischer Pflanzengenetiker war nach Konopischt berufen worden, um durch Kreuzung der Rosa canina mit der Rosa rugosa ein Geschlecht schwarzer Rosen zu züchten. Kaum drang von diesen Versuchen etwas in die Öffentlichkeit, wandten sich Kassandrarufer und Zeichendeuter in Briefen an den Editor der »Times«: Wisse man nicht aus der Geschichte Englands, daß es eine Mordtat mit nachfolgendem Krieg bedeute, wenn die schwarze Rose blühe? Wie erst, wenn sie im Hause des 157 Prinzen blühe, dessen Händen die Zukunft von Mitteleuropa anvertraut ist?
Zum Glück vermochte der Züchter des botanischen Unglücksraben die Zeitgenossen, die Timesgenossen zu beruhigen: Laut der Chromosom-Theorie, die ihrerseits auf der Mendelschen Vererbungslehre fuße, geraten bei Kreuzungen eines wilden Rosenmännchens mit einem rauhen Rosenweibchen von je hundert Kindern fünfundzwanzig dem Vater nach und sind weiß wie dieser, und fünfundzwanzig sind rosarot, ganz die Mama. Von den übrigen fünfzig werden die fünfzehn brünettesten dem Geschlechtsverkehr mit Vater oder Mutter preisgegeben, hernach die fünfzehn dunkelsten dieser Blutschande neuerlich dem Verkehr mit ihren Erzeugern, und erst nach sieben Jahren könne eine völlig schwarz pigmentierte Generation geboren werden. Bis zum Sommer 1914 sei demnach für jene, die an dergleichen Vorzeichen glauben, das Schicksal des österreichischen Thronfolgers wie das des Friedens gesichert.
Wahrscheinlich stand der Editor der »Times« vor diesem Brief wie der Esel Buridans, oder, besser gesagt, Puritans. Einerseits konnte er die shocking Geschichte von Zucht und Inzucht, diese Anleitung zur Erzeugung von Negerbastarden, seinen Leserinnen nicht gut vorsetzen, andererseits aber war die Erklärung des Botanikers geeignet, der City und ihren Aktien ein Limit von sieben Jahren zu gewähren.
Wie immer fiel die Entscheidung zwischen Moral und Wirtschaft zugunsten der letzteren aus, die Öffentlichkeit wurde unterrichtet, daß die Chromosome vorläufig weder Mordabsicht noch Kriegsabsicht im Busen hegten, und niemand konnte annehmen, daß die Wasserkatastrophe bei Konopischt ein Resultat des Rosenexperiments sei. Tatsächlich war sie auch im Vergleich zu jenen, die später folgten, kaum eine Katastrophe zu nennen, und wenn man sie dennoch so nannte, geschah es, weil man die Ausmaße der kommenden nicht kannte.
Der Eisenbahnzug, der mich spätabends an den Schauplatz brachte, war der letzte; kurz nachdem er angelangt war, 158 stiegen längs der Strecke Wlaschin–Beneschau die Fluten zur Höhe des Bahndamms empor, schlugen über den Gleisen zusammen.
In Beneschau recherchierte ich, was zu recherchieren war. Aus den Garnisonen des weitesten Umkreises war auf des Erzherzogs telegrafischen Befehl Militär und Gendarmerie herantransportiert worden. Die Tätigkeit der Gendarmen bestand darin, die Fische zu konfiszieren, die aus dem erzherzoglichen Teich auf die Landstraße geschwemmt und von Landleuten aufgelesen worden waren. Die k. u. k. Pionierregimenter hatten einen Wall aufzuwerfen, um die Kellerräume des Schlosses vor dem Eindringen des Wassers zu schützen.
In der Wirtsstube des Hotels »Zum Löwen«, wo ich die Ergebnisse meiner Nachforschungen notierte, saßen Menschen, deren Gesichter von Verzweiflung durchfurcht waren. Der Wirt flüsterte mir zu, daß jener Mann in der Ecke der Besitzer des überschwemmten Gutes Libesch sei. Die stumm-verstörte Familie am Fenster sei die des Müllers aus dem Dorf Krupitschka, seine Mühle, die nicht versichert gewesen, brannte im vorigen Jahr ab, mit seinen letzten Ersparnissen baute er sie wieder auf, und jetzt habe das Wasser den Neubau vernichtet.
Von mißtrauischem Charakter wie du bist, lieber Leser, wirst du fragen, wieso ich mir die Namen der böhmischen Dörfer Libesch und Krupitschka bis zum heutigen Tag gemerkt habe. In der Tat, hätte mir damals im Gastzimmer des Hotels »Zum Löwen« jemand geweissagt, ich würde nach mehr als einem Menschenalter aus dem Gedächtnis niederschreiben, daß jener Mann in der Ecke der Gutsbesitzer von Libesch, und die Familie am Fenster die des Müllers aus Krupitschka sei, ich hätte einen solchen Propheten für einen Schwätzer gehalten.
Konnte ich denn ahnen, wie lückenlos die Chronik des blinden Methodius war? Noch Jahre später hörte ich ihn das Lied von der Wassernot singen mit den Strophen vom Gutsbesitzer in Libesch und vom Müller aus Krupitschka, welch 159 letzterer – hier hob sich die Stimme des blinden Methodius zur Wehklage eines Trauerchors – nicht versichert gewesen.
Wirt und Gäste des Hotels »Zum Löwen« erzählten schauerliche Szenen, die Überschwemmung war nachts gekommen, die Dorfbewohner rannten davon, ihnen nach setzten die Fluten, waren ihnen auf den Fersen. Über den Dächern der Ziegelhäuser schlugen die Wellen zusammen, ertränkten Menschen, Pferde und Kühe. Holzhäuser wurden weggeschwemmt, die Ernte vernichtet, die eingebrachte in den Scheunen ebenso wie die auf den Feldern.
»Und im Schloß?« fragte ich.
Im Schloß? Nun, selbstverständlich sei auch der Park überflutet und der Staudamm im Teich zerbrochen. Aber dem Schloßgebäude selbst sei nichts passiert. Der Herr Erzherzog sei die ganze Zeit dort geblieben.
Inzwischen war es Nacht geworden, und ich wollte in mein Zimmer hinaufgehen. Im Hausflur goß ein Gendarm mit grimmigem Gesicht sein Bier in sich, es war mein Instruktionskorporal vom 11. Regiment. Ich wollte ihn ausfragen, aber er kam mir zuvor: »Sagen Sie – als ein studierter Mensch werden Sie es wissen –: weshalb müssen wir den armen Leuten die krepierten Fische abnehmen und im Schloß abliefern? Sagen Sie mir, bitte, was macht der Herr Erzherzog mit den toten Fischen?«
Ich konnte keine Antwort auf die Frage geben, trank ein Bier mit meinem ehemaligen Lehrer des Exerzierdienstes und ging zu Bett.
Draußen donnerte und blitzte und goß es, der Wind wollte mit aller Gewalt den Balkon meines Zimmers abbrechen, während Regensträhnen die Fensterscheiben zu zerschlagen versuchten.
Da ich nicht einschlafen konnte, legte ich mir die Tatsachen zurecht, die ich bisher erhoben. Sie bezogen sich auf das Schicksal der Dörfler, die waren brotlos, obdachlos, mittellos geworden. Aber nicht um deren Katastrophe zu beschreiben, war ich hierher entsandt. Für die Zeitung war das kleine 160 Ungemach eines kaiserlichen Prinzen von Wichtigkeit, und nicht das große Ungemach von ein paar hundert Bauern.
Komische Frage, die des Gendarmen! Wozu braucht der Erzherzog wirklich die krepierten Fische? Ich mußte mich aber mit der Beantwortung nicht plagen, über den erzherzoglichen Befehl zum Einsammeln der Fische durfte ich ohnehin nichts schreiben, ebensowenig wie über die Einsetzung der Truppen zum Schutz des Weinkellers.
Ein so junger Journalist ich auch war, ich hatte schon eine ziemliche Anzahl von Dingen verschweigen müssen, und es sollte eine sehr große Anzahl werden, bevor ich ein alter Journalist wurde. Wenn Kollegen sich brüsten, sie seien nie in ihrem Leben im Schreiben beschränkt worden, nie würde ihnen ein Gedanke gestrichen, so ist das nur ein Beweis dafür, daß sie sich von selbst innerhalb der Zensurgrenzen bewegen, ihre Denkweise nirgends über die Hürden der vorgeschriebenen Ideologie hinausstrebt.
Vom weiten Ausmaß der Katastrophe blieb mir nur eine Parzelle zur Schilderung überlassen: nämlich der Herrensitz des künftigen Kaisers. Aber auch hierfür gab es eine Zensur, vor allem in Prag. Dort hatte sich der Thronfolger beträchtlichen Einfluß zu sichern gewußt: der Chef der politischen Polizei, Bezirkshauptmann Chum, der Konopischter Beichtvater Graf Galen, der Abt von Emmaus Alban Schachleitner und der Generalstabschef Oberstleutnant Alfred Redl waren seine Vertrauensleute und machten katholische und großösterreichische Politik in seinem Sinn; auch der Führer der tschechischen nationalsozialistischen Partei, Dr. Karl Schwiha, stand im Sold des Erzherzogs, was allerdings damals noch geheim war, bald aber zu einem öffentlichen Skandal Anlaß geben sollte.
Was immer mit dem Thronfolger in Zusammenhang stand, ob es die ominösen schwarzen Rosen waren oder das gefälschte Sankt-Georgs-Relief, das ein Kunsthändler dem Erzherzog angehängt, – die Auslandspresse, die Wiener und Budapester Zeitungen berichteten darüber spaltenlang, während einflußreiche »Freunde unseres Blattes« den Chefredakteur der 161 »Bohemia« von der Unzweckmäßigkeit der Veröffentlichung überzeugten. Als die Verlobung des Thronfolgers mit der böhmischen Gräfin Sophie Chotek die Welt beschäftigte, durften wir kaum die Geschichte des Chotekschen Hauses bringen, weder das Echo des Auslands noch die Wiener Blätterstimmen registrieren.
Selbst der knappste Bericht, den ich aus dem Schloß heimbrächte, würde also noch zusammengestrichen werden. Aber ich mußte mein Bestes tun. Am Morgen mietete ich in Beneschau einen Zweispänner und einen Zylinder, um ins Schloß zu fahren. Wie erwartet, ließen die am Gittertor postierten Gendarmen respektvoll den Herrn passieren, der mit arroganter Miene, Zylinder auf dem Kopf, seinem Wagen entstieg. Ungestört ging ich durch den Park.
Ein eigenes langgestrecktes Gebäude barg die Sankt-Georgs-Sammlung. Seit Jahren kaufte der Erzherzog Darstellungen des heiligen Georg zusammen, soweit er sie sich nicht schenken ließ, gotische Holzschnitzereien und billige Gipsfiguren, Renaissancegemälde und Öldrucke, Kunst und Kitsch.
Daß sich der Thronfolger mit dem Drachentöter identifizierte, schien klar, wen aber meinte er mit dem Lindwurm? Was war es, was dieser manische Jäger, der sich mit dem Abschuß von tausend Rehen und Hirschen nicht zufrieden gab, als befriedigende Jagdbeute ersehnte?
Erst nach dem Tod der Doppelmonarchie erschienen des Thronfolgers Briefe, von denen die meisten mit der Floskel »Pardon den Bleistift« begannen, und man erfuhr, daß er unter dem Drachen alles mögliche subsumiert hatte. In cholerischem Ton schreibt er von der Hofkamarilla um Franz Joseph, die sich seiner Ehe widersetzte, und von den unverschämten Politikern und Journalisten, die sich einmischten. Die ungarischen Beschränker der habsburgischen Hausmacht nennt er »Kossuthgesindel«, die italienischen Irredentisten »Katzelmacher«, die Serben »Ziegenschänder« und schimpft außerdem auf Freimaurer, Juden, Parlament und Sozialisten.
Ich lugte durchs Fenster in die merkwürdige Georgskapelle. Das Wasser hatte das aus den Drachenmäulern züngelnde 162 Feuer nicht verlöscht, und nicht aus Angst vor den steigenden Fluten richteten sich die heiligen George in den Steigbügeln hoch. Nur wenn das Hochwasser noch höher steigen würde, so notierte ich mir mit journalistischem Konditional, könnten sie Roß und Reiter ersäufen. Dagegen war das Rosarium nicht einmal bedingungsweise gefährdet, das breite Holztor war geschlossen und durchaus geeignet, einem Wassersturm Trotz zu bieten, so daß die düstere Blume ruhig ihrer Entfaltung entgegenreifen konnte. Und auch die Schätze der berühmten estensischen Waffensammlung in den oberen Stockwerken des Schlosses hatten nichts zu befürchten.
Forschenden Schrittes patrouillierte ich durch den nassen Park. Jenseits eines wappenförmigen Blumenbeets standen zwei Herren. In dem einen erkannte ich den Thronfolger, der andere kam auf mich zu und fragte, was ich hier tue. Ich erwiderte, daß ich Zeitungsberichterstatter aus Prag sei. Er eilte zum Thronfolger und kehrte, diesmal zur Energie versteift, zu mir zurück. In scharfem Ton, dessen Stimmlage er von seinem Herrn empfangen, erklärte er: »Über das Schloß darf kein Wort in die Presse. Verlassen Sie sofort die Domäne!«
Worauf ich denn sofort die Domäne verließ. Den ersten Teil des Befehls zu befolgen war nicht meine Sache, darum würden sich schon die Prager Vertrauensleute Franz Ferdinands bemühen.
Kaum hatte ich vom Beneschauer Postamt das letzte Wort meines mageren Berichts abdiktiert, erschien die Stimme des alten Hermann Katz in der Hörmuschel. Hermann Katz war Mitglied unserer Redaktion und gleichzeitig Prager Korrespondent der Wiener »Neuen Freien Presse«. Er hatte mir mitzuteilen, daß ich noch heute eine ganze Zeitungsseite über die Wirkung der Überschwemmung auf das Schloß direkt an die »Neue Freie Presse« telefonieren müsse, einen Originalbericht, verschieden von dem, den ich soeben nach Prag gegeben.
Bevor ich antworten konnte, eröffnete mir Hermann Katz mit geradezu feierlicher Betonung, Herr Benedikt habe sich erkundigt, wer von der »Bohemia« nach Konopischt gefahren 163 sei, und wörtlich gesagt: »Sagen Sie Herrn Kisch, daß das mein persönlicher Auftrag ist.«
De jure hatte Herr Benedikt mir gar keinen Auftrag zu geben. De jure hatte ich nichts mit der »Neuen Freien Presse« zu tun, deren Herausgeber Moriz Benedikt war. De facto aber lag die Sache anders. De facto gehörte es zu den Obliegenheiten unserer Redaktion, den leisesten Winken von Moriz Benedikt zu gehorchen, sonst konnte er seinen Prager Korrespondenten aus dem Redaktionsstab einer anderen Zeitung wählen. In diesem Falle wären uns jene politischen Informationen verlorengegangen, die Hermann Katz als Vertreter des einzigen österreichischen Weltblatts überall willfährig erhielt. Auch war es dem Ansehn der »Bohemia« förderlich, daß ihre politische Auffassung in den Berichten von Hermann Katz regelmäßig zitiert wurde.
Darüber hinaus aber war Moriz Benedikt ein Begriff, der Begriff von Einfluß und Macht, obwohl seine journalistische Alleinherrschaft zu bröckeln begann. Der Liberalismus und der österreichische Zentralismus, die Periode des Freihandels lagen in den letzten Zügen, das Wiener Kleinbürgertum hatte sich reaktionär, die Arbeiterschaft sozialistisch organisiert, die Nationen Österreichs machten den Deutschen Österreichs die Hegemonie streitig, und eine hauptsächlich gegen Moriz Benedikt gerichtete Zeitschrift, »Die Fackel« des Satirikers Karl Kraus, hatte eine fanatische Gemeinde von Tausenden.
Moriz Benedikt nahm all das nicht zur Kenntnis. Nach wie vor sollte seine Zeitung als Bibel und er selbst als Hoherpriester gelten. Als ihm einer seiner Parlamentsberichterstatter eine Nachricht mitteilte und hinzufügte, er habe sich unter Eid verpflichtet, sie vorläufig nicht zu veröffentlichen, erhob sich Moriz Benedikt, streckte priesterlich die Arme aus und sprach: »Hiermit entbinde ich Sie Ihres Eides.«
Unentwegt betrachteten die alten Abonnenten das Blatt so, wie dessen Herausgeber es betrachtet wissen wollte: sie schworen auf jedes Wort. Der Schriftsteller Arthur Holitscher schilderte mir einmal, wie sich seine Familie von ihm lossagte, 164 weil er statt Kaufmann zu werden oder zu studieren, sich der Literatur zuwandte. Briefe an seine Mutter kamen uneröffnet zurück, seine Annäherungen an die Geschwister begegneten der beleidigendsten Ablehnung, auch als er schon mit Büchern und Dramen Erfolge hatte. Um so erstaunter war Arthur Holitscher, plötzlich von seiner Familie Briefe zu bekommen, die ihn geradezu um Verzeihung baten. Was war geschehen? Geschehen war, daß die »Neue Freie Presse« unter den prominenten Besuchern einer Veranstaltung seinen Namen genannt hatte.
Man erzählte sich in Wien, daß bei einer Audienz Kaiser Franz Joseph den Komponisten Anton Bruckner fragte, ob er einen Wunsch habe, worauf Bruckner tränenüberströmt ausrief: »Majestät, könnten's nicht beim Herrn Hanslick ein Wört'l für mich einlegen, daß er mich nicht immer so tadeln tut?«
Nein, das konnte Majestät nicht, hier hatte der Kaiser sein Recht verloren. Und dabei war Eduard Hanslick in der »Neuen Freien Presse« nur der Musikkritiker!
Theodor Herzl, der alsbald angesichts einer staunenden Welt mit dem Kaiser von Deutschland vor den Toren Jerusalems das Projekt einer gesicherten jüdischen Heimstätte in Palästina diskutieren sollte, Theodor Herzl, der am Hof des Sultans in Konstantinopel und am Hof des Zaren in St. Petersburg die Regelung des Judenproblems verfocht, selbiger Theodor Herzl trug gewissenhaft in sein Tagebuch ein, wie ihm der Herausgeber der »Neuen Freien Presse« jeweils begegnete, glücklich, wenn dieser ihn eines Gesprächs würdigte, unglücklich, wenn er auf seinen Gruß nur kühl dankte.
Und nun bekam ich, ein junger Mann aus der Provinz, vom Pontifex Maximus Benedictus einen persönlichen Auftrag, den Auftrag, eine ganze Seite zu füllen. Diese Seite würde der Zensur der Prager Erzherzogsclique nicht zum Opfer fallen, denn vor kurzem hatte sich zwischen Franz Ferdinand und Moriz Benedikt ein Kampf abgespielt, aus dem der Thronfolger keineswegs als Sieger hervorgegangen war. 165
Moriz Benedikt hatte in der Verlobung Franz Ferdinands mit der Gräfin Chotek den Anlaß zu künftigen Komplikationen in der Thronfolge erblickt. Nur eine öffentliche und beschworene Verzichterklärung des Thronfolgers für Frau und Deszendenz könne Österreich vor einer Wiederholung der Maria-Theresianischen Erbfolgekriege bewahren. Selbstverständlich durfte ein solcher Standpunkt nicht offen ausgesprochen werden, aber Moriz Benedikt konnte ausländische Blätterstimmen und Parlamentsreden dieser Tendenz groß zitieren. Außerdem bestellte er bei berühmten Juristen und Historikern »allgemein gehaltene«, »unaktuelle« Artikel über die Frage, ob die Gemahlin eines Kaisers, die gemäß den habsburgischen Erbfolgegesetzen nicht Kaiserin von Österreich sei, dennoch als Königin über Ungarn und Böhmen regieren dürfe, und welche Folgen das mit sich brächte.
So gelehrt und zeitlos diese Frage behandelt wurde, so wütend und drohend antwortete das Organ Franz Ferdinands, die christlich-soziale Wiener »Reichspost«, und ihre Experten, meist hohe Geistliche, griffen Moriz Benedikt persönlich mit ganz und gar unpriesterlicher Gehässigkeit an.
Der Erzherzog durfte die Gräfin Chotek wohl heiraten, aber er mußte vor der Trauung beschwören, daß er für seine Gattin auf den Titel einer Kaiserin und Königin und für seine zukünftigen Kinder auf die Thronfolge verzichte. Diesen Schwur konnte Moriz Benedikt als seinen Erfolg buchen, freilich als einen Erfolg, den ihm Franz Ferdinand nach der Machtübernahme bitter heimzahlen würde.
Vorläufig war es Moriz Benedikt, der an der Macht war, und ich war hier und heute an seiner Statt. Mit Zylinder und Zweispänner fuhr ich zum zweitenmal ins Schloß hinaus. Wiederum ließ die Wache mich passieren, was weniger überraschend war als das erstemal, denn jetzt spiegelte sich sicherlich in meinen Mienen der Stolz, Beauftragter eines Weltblatts zu sein.
Von den Bäumen tropfte der Regen auf meinen Zylinder, aus den Pfützen spritzte es meine Hosenbeine hinauf, ich jedoch achtete nicht darauf, ich war vollauf damit beschäftigt, 166 Eindrücke zu hamstern. Mein Bericht sollte ein Bericht werden, wie ihn nicht einmal die ältesten Abonnenten der »Neuen Freien Presse« je gelesen!
Das Ufer des angeschwollenen Fischteichs, das aufgehört hatte ein Ufer zu sein, ging ich entlang, die Füße im Lehm, den Kopf im Parnaß. Ich dichtete für Moriz Benedikt, der auf meinen Bericht wartete, ich dichtete gegen Erzherzog Franz Ferdinand.
Dem vielfachen St. Georg will ich einheitliche Züge geben, seine Jünglingshaftigkeit schildern, seine schmale Gestalt und sein bartloses Gesicht, und sein Blick wird erkennen lassen, wie ihm der Wille, ein Tier zu töten, bisher fern gelegen . . . kurzum, all das soll hervorgehoben sein, was den Unterschied zwischen dem Ritter Georg und dem dicken, schnauzbärtigen, jagdfanatischen Schloßherrn ausmacht. Boshaft schmunzelnd beschließe ich, von wohlgeformten Gipsfiguren und von besonders schönen Farbendrucken des heiligen Georg zu schreiben.
Diesmal war das breite Holztor des Rosariums geöffnet, zwei Handkarren voll mit toten Fischen fuhren eben ein.
»Für drinnen?« fragte ich einen Gärtnergehilfen.
»Ja, wir düngen immer mit Fischresten und gelegentlich auch mit toten Fischen. So teure aber und so viel auf einmal haben wir noch nie gehabt.«
Würdiger Dünger, dachte ich bei mir, würdiger Dünger für die schwarze Rose: tote Fische, entrissen hungernden Menschen. Das darf ich freilich auch in Wien nicht aussprechen. Aber selbst ohne den Dünger wird in meinem Bericht die schwarze Rose aufblühen, inmitten fröhlicher und heller Blumen des Friedens und der Freude, das unheilverkündende Gewächs.
Ich betrete den Damm. Der ist in der Mitte geborsten, nur bis zu der etwa drei Meter breiten Bruchstelle kann ich vorwärtsgehen. Zu meinen Füßen tobt ein Wirbel, als wollten flüssige Krallen den Rest des steinernen Hindernisses packen, um ihn abzureißen. Während ich mich umwende, mir 167 panoramische Notizen mache, ist auf der anderen Seite der Bresche jemand erschienen. Der Erzherzog!
»Unerhört! Ich habe Ihnen doch sagen lassen: ich dulde nicht, daß über das Schloß etwas in die Zeitung kommt«, schreit er.
Aus seinen Pupillen blitzen Drohungen, die ihre Wirkung gewohnt sind. Aber sie verfehlen ihre Wirkung auf mich, der ich von höherer Seite gesandt bin.
Über den klaffenden Abgrund hinweg schallt meine Antwort: »Kaiserliche Hoheit, was in der ›Neuen Freien Presse‹ erscheint, bestimmt niemand anderer . . .«
Bei dem Wort »Neue Freie Presse« wird sein Gesicht puterrot vor Wut, seine Finger krampfen sich zusammen, als wollten sie jemanden erwürgen.
». . . bestimmt niemand anderer als Herr Moriz Benedikt.«
Damit wende ich dem Erben des Weltreichs den Rücken zu und schreite über den ungeborstenen Teil des geborstenen Dammes in die Richtung zum Tor. 168