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In der Zeitungsnotiz über den Einbruchsdiebstahl im Juwelenladen des Herrn Rummel, die in meiner Kindheit so großen Eindruck auf mich machte, stand der Name des Kommissars, der durch das unorthographisch geschriebene Wort »Bezirk« die Identität des verhafteten Einbrechers feststellte.
Nicht zufällig war damals der Name Olitsch in die Zeitung gekommen, Olitsch liebte eine gute Publizität und haßte eine schlechte. Er ließ mich das schon am ersten Tag meiner Polizeireportertätigkeit wissen. An diesem Tag machte ich meine Antrittsvisite beim Chef der Kriminalpolizei, zu welchem Amt jener Held meiner Knabenzeit inzwischen aufgestiegen war.
Olitsch war ein alter Mann von so winziger Statur, wie ich es mir beileibe nicht vorgestellt hätte, er trug eine goldene Brille und war so kurzsichtig, wie ich es mir beileibe nicht vorgestellt hätte. Auch sein Amtszimmer, von dem aus er die Geheimnisse der Unterwelt aufspürte, bot nichts Besonderes, nichts Kriminalistisches, nichts Geheimnisvolles dar, es war ein Büro wie jedes andere.
Nur hinter dem Spiegel steckte ein zusammengefaltetes, vergilbtes Zeitungsblatt, auf das ich neugierig hinschielte. Der alte Olitsch bemerkte meinen Blick, löste den Reißnagel, mit dem das Blatt befestigt war, und reichte es mir.
Es war ein Blatt aus dem sozialdemokratischen »Volksrecht« und stammte aus den Tagen des Mordes an der Juwelierin Gollerstepper, einer Affäre, die ich aus einem Lied des blinden Methodius und aus den Erzählungen des frommen Herrn Adalbert Betzek kannte. Wochenlang hatte man vergeblich die Spur der Täter gesucht, und wochenlang wurde der Kriminalpolizei Unfähigkeit vorgeworfen. 216
Schon hieß es, Olitsch werde in den Ruhestand versetzt werden, als er plötzlich durch seine Glanzleistung in einem anderen Kriminalfall rehabilitiert wurde. In die Wechselstube Eduard Kisch in der Poritscher Straße kamen eines Freitags zur Abendstunde zwei Männer und ließen sich alte Schlicksche Silbermünzen, sogenannte »Joachimsthaler« vorlegen. Diese böhmischen Stammväter aller Thaler und Dollar waren eine spezielle Ware meines Onkels Eduard.
Während er einige Joachimsthaler auf den Ladentisch legte, sprangen die beiden Männer über das Ladenpult, einer schwang eine Axt, um sie auf den Kopf des Wechselstubenbesitzers niedersausen zu lassen und – im gleichen Augenblick tauchten einige versteckt gewesene Detektive mit erhobenen Revolvern auf und machten die Männer dingfest.
Wenige Tage vorher hatte nämlich Olitsch durch die Festnahme eines lange gesuchten Verbrechers erfahren, daß dessen Komplicen die Wechselstube zu berauben beabsichtigten, und zwar am Freitag, an welchem Tage mein Onkel vorzeitig zu schließen pflegte. Daraufhin traf Olitsch Vorkehrungen, und seine Leute traten im Augenblick der Tat, absichtlich erst im Augenblick der Tat in Aktion, um die Räuber in flagranti zu überführen.
So stand es im Polizeibericht, und tagelang bewunderte die Stadt den genialen Schachzug Olitsch'. Bloß das sozialdemokratische »Volksrecht« gab sich nicht zufrieden. Wohl sei der Schachzug genial, jedoch in anderem Sinn, als der Öffentlichkeit weisgemacht werde. Die angeblichen Raubmörder seien Olitsch' Kreaturen, und für ihre Freilassung werde er schon sorgen. Nur um die öffentliche Aufmerksamkeit von dem unaufgehellten Mord an Frau Gollerstepper abzulenken, habe Olitsch die Szene arrangiert. »Das ist so wahr«, schloß der Artikel, »wie es wahr ist, daß sich Herr Olitsch diesen Artikel nicht hinter den Spiegel stecken wird.«
Ich reichte dem Chef der Kriminalpolizei, der noch immer den Reißnagel in der Hand hielt, die Zeitung zurück. 217
»Sehen Sie: bis zum letzten Wort erlogen!« Mit diesen Worten steckte er den Artikel wieder sorgfältig hinter den Spiegel.
Vier Jahre nach dieser meiner Installierung ins Reporteramt traten abermals zwei Männer in Eduard Kischs Wechselstube ein. Diesmal aber konnte leider kein oppositionelles Blatt einen Zweifel daran äußern, daß es sich um Raubmörder handelte, denn diesmal waren keine Polizeibeamten abwehr- und verhaftungsbereit im Laden versteckt, diesmal wurde mein Onkel wirklich erschlagen und sein Geschäft ausgeraubt, und diesmal verschwanden die Täter mit großer Beute.
Unter den Reportern, die sich nach Entdeckung des Mordes am Tatort einfanden, fehlte ich.
Ich war an jenem Abend, einem Freitag, ins Städtische Asyl gegangen, um für die Sonntagsnummer darüber zu schreiben. In dünnen Strähnen rieselte ein Septemberregen auf die hernieder, die ohne Mantel und ohne Sohlen vor dem versperrten Obdach schlotterten.
Als sich endlich das Haustor öffnete, öffnete es sich als Spalte und vorläufig nur denen, die ein Arbeitsbuch besaßen. Nach einer Stunde fand die zweite Schicht Einlaß, die mit Heimatscheinen. Wer weder Arbeitsbuch noch Heimatschein sein eigen nannte, mußte noch länger harren im Regen und vor allem in der Ungewißheit, ob man ihn aufnehmen werde. Aber schließlich ward auch an den letzten der Gnadenakt vollzogen, sofern die Untersuchung nach Läusen ein negatives Ergebnis hatte.
Wir waren unter Dach, bekamen einen Teller warme Suppe, die mehr warm als Suppe war, saßen im Schlafsaal auf den »Kavaletts«, den Feldbetten, spielten Karten oder erzählten, bis das Schlafsignal ertönte. Alle Gasflammen schrumpften gleichzeitig, wie vom Hauch eines unsichtbaren Wesens erstickt, auf das Volumen einer Haselnuß zusammen. 218 Wir krochen unter die dunkelgraue Decke. Einige fingen gleich zu schnarchen an.
Plötzlich der Ruf: »Streifung!« Durch die Tür kommt ein Polizeiinspektor mit zwei Mann, und zu Ehren ihres Eintritts entfalten sich, wie vom Hauch eines unsichtbaren Wesens angefacht, die Haselnüsse fächerförmig und leuchtend.
Die Gestalten der drei Polizisten sind von Radmänteln aus schwarzem, nassem Wachstuch geweitet, auf denen sich die flackernden Gasflammen widerspiegeln.
»Alles aufstehen! Papiere vorweisen!«
Jedermann tritt, seinen Ausweis in der Hand, ans Fußende seines Bettes. Des Inspektors Schnurrbartspitzen bewegen sich, als wären sie es, die die Eintragungen läsen und die Seiten der Arbeitsbücher umblätterten. In Heimatscheinen gibt es wenig zu lesen und nichts umzublättern. Aber jemand, der nur einen Heimatschein besitzt, erlaubt dem Schnurrbart erst recht nicht, ruhig zwischen Oberlippe und Nasenwurzel zu verharren.
»Zeigen Sie die Hände!« knurrt der Schnurrbart und seine Spitzen scheinen zu dieser Handfläche oder zu jenem Handrücken etwas Mißbilligendes zu äußern. Sechs harte Augen prüfen die Schlafanzüge, als könnten sie an diesen dem Städtischen Asyl gehörigen Wäschestücken Spuren einer draußen verübten Ungesetzlichkeit entdecken.
Ich Neuling denke, das ist wahrscheinlich immer so, jeden Abend, kaum daß die Obdachlosen unter Obdach sind, sich ausstrecken und die Augen schließen wollen, kommt die Polizei und sucht nach solchen, die gesucht sind. Ich beschließe, diese allabendliche Razzia und die Sinnlosigkeit der Wäscheprüfung in meinem Artikel zu brandmarken.
Ich ahne nicht, daß ein ganz anderer Stoff meiner Behandlung harrt, ahne nicht, daß vor wenigen Stunden, nah vom Asyl, ein Raubmord verübt worden ist und die Polizei hier die Täter sucht!
Von Feldbett zu Feldbett, von Arbeitsbuch zu Arbeitsbuch, von Heimatschein zu Heimatschein, von Händepaar zu Händepaar schreitet der Inspektor und kommt zu mir. 219
»Ihre Papiere.«
»Ich habe keine.«
»Gar keine?«
Seine Schnurrbartspitzen sind von mehr Argwohn bewegt als angesichts der anderen Asylisten. Zweifellos sind ihm die von früher her bekannt, wohl schon oft hat er über sie die Amtshandlung niedergehen lassen. Wo auch immer Geprüfte sich ducken – die Obrigkeit dringt ein, um sie von neuem zu prüfen.
Hier im Schlafsaal sind manche Greise, Veteranen der industriellen Reservearmee, und manche Krüppel, Invaliden der industriellen Reservearmee. Hunger, Alkohol und Obdachlosigkeit haben an den meisten das Ihre getan, einige sehen wie Leichen aus, die kein Geld haben, sich begraben zu lassen. Die Polizei, die im Asyl nach Hochwild pirscht, wird kaum Jagdbeute machen, wohl keinen Wechselfälscher finden, keinen Hoteldieb, keinen Defraudanten, keinen Geldschrankknacker und – wenn sie gar danach jagen würde – keinen Raubmörder. Nein, niemandem ringsumher ist ein solches Verbrechen zuzutrauen. Da schon eher mir.
»Wie heißen Sie?«
»Kisch.«
Der Inspektor taumelt einen Schritt zurück, aber seine Schnurrbartspitzen taumeln diesmal nicht mit, steif stehen sie da, erstarrt. Die beiden Polizisten machen Miene, sich meiner zu bemächtigen.
»Wie heißen . . . wann sind . . .?« Der Inspektor beginnt einige Fragen an mich, ohne sie zu beenden. »Kommen Sie mit hinunter.«
Rechts ein Polizist, links ein Polizist, hinter uns der Inspektor, so durchschreiten wir den langen Schlafsaal.
»Den haben sie«, höre ich die Zimmergenossen sagen, ehe sich hinter unserer Eskorte die Tür schließt.
In der Aufnahmekanzlei gebe ich an, wer ich bin, was ich hier will. Ich gebe es lächelnd an. Kein Gegenlächeln rufe ich hervor, unbewegt verharren die gezwirbelten Spitzen der Behörde. 220
»Weshalb haben Sie sich als Handlungsgehilfe eintragen lassen?«
»Weil ich nicht sagen wollte, daß ich Journalist bin.«
»Hm. Warum haben Sie angegeben, Sie seien aus Reichenberg, wenn Sie aus Prag sind?«
»Weil man mich gefragt hätte, warum ich nicht zu Hause schlafe.«
Langsam, jedes Wort betonend und die Wirkung auf mein Gesicht beobachtend, den entscheidenden Namen an den Schluß setzend, stellt er die Frage: »Sind Sie verwandt mit Herrn Eduard Kisch?«
Wahrscheinlich, denke ich, kennt der Inspektor meinen Onkel Eduard, dessen Laden ja hier im Revier liegt, gleich wird sein Mißtrauen schwinden, wenn ich ihm sage, daß ich der Neffe des soliden Kaufmanns Eduard Kisch bin.
»Und wann haben Sie Ihren Onkel zuletzt gesehen?«
»Gestern oder vorgestern.«
»Wo?«
»In seinem Geschäft – in der Poritscher Straße.«
Wie eine angriffsbereite Schlange züngelt der Schnurrbart des Inspektors: »Was haben Sie dort gemacht?«
Jetzt wird mir das Verhör ungemütlich. »Herr Inspektor«, sage ich, »alle Herren der Polizeidirektion kennen mich, Sie können sich über mich erkundigen.«
Er geht zum Telefon, verlangt die Kriminalpolizei. Ich schüttle den Kopf, denn zu dieser Stunde kann sich dort niemand melden, um acht Uhr abends ist der Dienst zu Ende. Nur im Präsidialbüro hält ein Beamter Nachtdienst, der Inspektor müßte also das Präsidialbüro anrufen.
Seltsam – der Inspektor bekommt die Verbindung. Er spricht mit einem Kommissar, macht die Meldung: »Hier Städtisches Asyl . . . Mann ohne Papiere . . . gibt sich für einen Journalisten Kisch aus . . . Wie? . . . Bitte? . . . Jawohl, Egon Erwin, sagt er . . .«
Pause. Der Schnurrbart verrät erstaunten Unmut. »Jawohl, Herr Kommissar, er steht neben mir.« Sich zu mir wendend: »Sie sollen ans Telefon kommen.« 221
Ich: »Hallo, ah, Herr Kommissar Wasanek, noch so spät im Dienst? Ist denn was passiert? Zu dumm, daß ich nicht hinkommen kann.«
Im Schlafsaal, in den ich zurückkehre, sind die Gasflammen wieder auf Haselnußgröße zusammengeschrumpft.
Die Mörder meines Onkels hat man nicht gefunden, obwohl der Tatort reichliche Spuren aufwies. An alle Polizeibehörden des In- und Auslands wurden die Photos der Fingerabdrücke gesandt; Berlin telegrafierte die Antwort: »Abdrücke stammen von Einbrecher Rudolf Hauser aus Innsbruck.«
Nachforschungen ergaben, daß der Einbrecher Rudolf Hauser mit einem gewissen Karl Josef Hess aus Amstetten vor kurzem dem Zuchthaus entsprungen war. Wahrscheinlich hatten die beiden während ihrer Haft von einem Teilnehmer des ersten, des mißglückten Überfalls auf Eduard Kisch erfahren, welche Chance dessen Wechselstube am Freitagabend biete, und hatten ihre Flucht auf dieses Ziel hin unternommen.
In den Umsturztagen von 1918 bereitete das neugeschaffene Volksheer die Besetzung der monarchistischen Stützpunkte in Wien vor, darunter auch des k. u. k. Militärkommandos. Die neu in die Maschinengewehrgruppe Eingeteilten standen in der Bataillonskanzlei, ihre Personalien wurden aufgenommen, und jeder bekam eine Anweisung auf Stahlhelm und Ledergamaschen. Wer seinen Schein hatte, wartete auf die anderen, denn alle sollten gemeinsam in das Monturmagazin hinübergehen.
Eben hatte ich den Schein für »Weigend Alois« unterschrieben, dem Soldaten dieses Namens gereicht und wandte mich dem nächsten zu. Weigend las meine Unterschrift und fügte wie für sich hinzu: »Eduard Kisch.«
Schreibend fragte ich ihn: »Kennst du einen Eduard Kisch?«
»Hab' mal einen gekannt, das ist schon lang her, das war in Prag . . .«
»Den Wechselstubenbesitzer?« sagte ich; »der ist tot.« 222
Weigend, ein untersetzter Mann, verlor jäh alle Gesichtsfarbe. »Nein, nein, kein Wechselstubenbesitzer«, stotterte er, »ich weiß gar nicht, was er war.«
Ich tat uninteressiert, unterschrieb den nächsten Schein. Weigend trat auf mich zu und sagte: »Der Kisch, den ich gekannt hab', das war ein Schlosser. Jetzt hab' ich mich erinnert, daß er ein Schlosser war. Er war nicht aus Prag, ich hab' mich geirrt, er war aus Ternitz. In Ternitz hab' ich mit ihm gearbeitet.«
Ich nickte, schrieb weiter, bis alle fertig waren und die Kanzlei verließen. Dann ging ich ins Monturdepot hinüber, um mit Weigend zu sprechen. Ich sah ihn nicht und fragte nach ihm. Der Gewehrmeister sagte: »Einer ist zum Tor gegangen, weil seine Frau dort auf ihn wartet.«
Bei der Torwache erkundigte ich mich, ob jemand die Kaserne verlassen habe. \
»Ja, ein Weigend Alois, aber der kommt gleich zurück, er hat seinen Fassungsschein für die Ledergamaschen als Pfand dagelassen.«
Wie triftig die Gründe für den angeblichen Weigend waren, auf neue Ledergamaschen zu verzichten und aus der Kaserne für immer zu verschwinden, konnte der Wachtposten nicht wissen.
In der Stammrolle waren alle Adressen der Soldaten verzeichnet. Weigend hatte angegeben: Neubaugürtel 72. Ich schickte jemanden hin, um ihn zu suchen. Ein Weigend war im Haus Neubaugürtel 72 unbekannt.
Weitere Nachforschungen unterließ ich. Die Kischs sind kein sizilianisches Bauerngeschlecht, und keine Tradition verpflichtet mich, Blutrache zu üben. 223