Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Von den Balladen des blinden Methodius

Mag es auch klingen wie eine Geschichte aus der Zeit der Romantiker, so muß doch damit begonnen werden, daß der blinde Methodius in unserem Hof eine Art von Balladen singt.

Der Flur, der in diesen Hof mündet, ist breit und gewölbt und dennoch voller Dunkelheiten, Eisentüren rechts und links verschließen vier nie betretene Verliese. Am Kellereingang baumelt ein Eisenring mit dem Rest einer geheimnisvollen Kette, und im Keller selbst wissen wir einen Rittersaal mit Nebenräumen, aus denen einstmals zwei Gänge zum Rathaus führten und zur Theinkirche. Wenn wir erwachsen sind, werden wir diese längst verschütteten Gänge wieder freilegen, sie bewaffnet durchschleichen und etwas Großes vollführen, das ist sicher.

Unser Hof ist in der Höhe des ersten Stockwerks von einem Spalier edler Säulen aus dem sechzehnten Jahrhundert umgeben. Über die Balustrade gelehnt, lauschen Frauen und Jungfrauen dem Sang des blinden Methodius, und zwischen den Säulen hängen Lambrequins.

Aber diese Teppiche sind keineswegs zum Schmuck der Fassade ausgelegt, sondern zwecks Entstaubung eben aus den Wohnungen gebracht worden, und die lauschenden Frauen sollten rechtens die Teppiche klopfen, die Bettpolster und Bettdecken lüften oder Wäsche zum Trocknen aufhängen statt zu lauschen.

Allerdings singt der blinde Methodius wunderschön, sein Tremolo flattert das Flurgewölbe entlang, dringt sicherlich, der Eisentüren spottend, in die nie betretenen Verliese, in den unterirdischen Rittersaal hinab und in die verschütteten Gänge der böhmischen Vergangenheit und unserer Zukunft. Gleichzeitig erreicht sein Singen die höheren Regionen, denn wie aus den Arkaden des ersten Stockwerks lehnen sich auch 6 aus den Fenstern des zweiten und dritten die Hausfrauen und Dienstmädchen.

Wenn ich von mir auf andere schließen darf, so ist es nicht allein die schöne Stimme des blinden Methodius, die ihm Auditorium verschafft, und ebensowenig die Melodie seiner Lieder. Nein, der Text siegt über den Ton, die Literatur über die Musik.

Wie schon im ersten Satz gesagt wurde, ist es eine Art von Balladen, was der blinde Methodius singt. Worte, die zu Beginn eines Buches stehen, sind gewöhnlich dazu da, den künftigen Leser festzuhalten, und man soll solche Worte nicht allzu wörtlich nehmen. In unserem Fall aber stimmt die Aussage, daß der blinde Methodius eine Art von Balladen singt, eben nur dann, wenn man sie wörtlich nimmt, das heißt, die Ballade gleichsetzt einer Begebenheit in Gedichtform. In diesem Sinne ist der blinde Methodius so ausschließlich Balladensänger, daß er es verschmäht, etwas anderes zu singen, etwa eine Arie, ein Liebeslied, ein Couplet oder gar einen von den Schmachtfetzen des Tages, obwohl er deren Melodien verwendet. Niemals richtet er an Daisy die Frage »wann wird die Hochzeit sein?«, niemals fordert er vom Glühwürmchen, Glühwürmchen, daß es flimm're, niemals beteuert er, »er hätt' geküßt die Spur von deinem Tritt, hätt' gerne alles für dich hingegeben«. Sein Repertoire besteht durchweg aus Begebenheiten, die mehr oder minder Geschichte waren, Geschichte sind oder Geschichte sein werden, also aus Balladen.

Nun könnte jemand einwenden, daß die Ballade neben der Inhaltsforderung auch bestimmten Formgesetzen gerecht werden müsse, und die Gesänge des blinden Methodius demnach nur Bänkel seien.

Ein solcher Versuch, den blinden Methodius und seine Texte auf ein tieferes Niveau zu verweisen, begegnet unserem Veto. Warum macht man ihm und seinesgleichen die Primitivität, die Naivität, den Mangel an Form zum Vorwurf, wenn all das dem Volkslied, soweit es nur Gefühle ausdrückt, als Vorzug angerechnet wird? Warum gelten jene Balladen von Gottfried August Bürger und Edgar Allan Poe am höchsten, die weder 7 ein geschehenes Geschehen noch ein mögliches Geschehen behandeln, sondern Gespensterspuk? Warum predigt der Balladendichter Friedrich Schiller die Irrealität? Die Antwort lautet: selbst in der Literatur ist eine konkrete Aussage gefährlich, denn jede Wahrheit enthält potentielle Kritik und Auflehnung.

Wir aber setzen dem Wort »Was sich nie und nimmer hat begeben, das allein veraltet nie« entgegen: »Was sich stets und immer wird begeben, das allein veraltet nie«.

Selbstverständlich wird diese Abschweifung hier nicht um des blinden Methodius willen unternommen, der die Worte »Ballade« und »Bänkel« wohl nie gehört hat, und dem es egal sein mag, ob man sein Repertoire der Literatur zurechnet.

Dennoch hat er seine Sängereitelkeit. Da er sein Publikum nicht sehen kann, muß er sich auf andere Weise vergewissern, daß ein solches versammelt ist. »Die Strophe ist schön, nicht wahr?« fragt er nach jeder Strophe, und die Damen vom hohen Balkon bestätigen ihm durch Zuruf, daß die Strophe schön ist, sogar sehr schön.

Mich muß der blinde Methodius nicht fragen, ob ich anwesend bin. Ich stehe den ganzen Tag über neben seinem Schleifrad. Wiederholt ruft meine Mutter mir die Mahnung herunter, nicht so nah heranzugehen, sie befürchtet, Funken könnten mir ins Auge fliegen.

Sein Name flößt mir Bewunderung ein, obwohl in Prag genug Knaben nach einem der Slawenapostel Cyrill oder Methodius heißen. Auch sein Alter imponiert mir, er ist – vor allem am Anfang unserer Bekanntschaft – sehr, sehr alt, wenn auch nicht so alt wie die Erwachsenen, deren Alter überhaupt nicht meßbar ist. Der Haarwuschel auf seinem Kopf ist von dem gleichen Gelb wie die Uniformkragen der Sechser-Dragoner, die in meines Vaters Geschäft einkaufen. Der blinde Methodius ist Lehrling beim Messerschmied Kokoschka in unserem Haus, aber er wohnt im Blindeninstitut und trägt die dicke, dunkelgraue Anstaltskleidung mit den riesigen Hirschhornknöpfen. Wenn er abends nach Hause geht, tappt er mit einem 8 armstarken, zwei Meter langen Bambusstab vor sich her, an dem eine Glocke hängt. Die Droschken halten an, während er die Fahrbahn überschreitet, und die Fußgänger sehen ihm nach wie einem Schwimmer in gefährlichem Wasser, jedoch der blinde Methodius merkt nichts von der Beachtung, die er erregt.

Frühmorgens fegt er den Laden des Herrn Kokoschka, putzt das Schaufenster und stellt sich dann an sein »Velociped«, um die vielen breiten Scheren der Tuchhändler aus dem Ledergäßchen zu schärfen, manchmal auch Rasiermesser, Taschenmesser und Fleischermesser oder gar, wie schön, Sicheln und Sensen aus dem Eisenwarenladen des Herrn Lüftner. Es knirscht das Eisen, es sprüht der Stein, es singt der blinde Methodius, und es hören viele begeistert zu, darunter der künftige Schreiber dieses Buches.

Noch heute weiß ich die methodeischen Lieder auswendig und würde sie gern im Wortlaut hierhersetzen, wären sie nicht zu sehr aus dem Geist der tschechischen Sprache geboren, so daß sie in der Übersetzung sowohl Reim wie Sinn verlören. Das erste, das ich hörte, beginnt so: »Schubsen wir verwegen, Windischgrätz, dieses Kalb, wirft uns von der Kleinseite her Kugeln in den Hinteren«.

Wir Kinder glauben, es seien Murmeln, die Windischgrätz, dieses Kalb, uns in den Hintern wirft, und schubsen verwegen. Nach jeder Silbe des Wortes »Hinteren« macht der blinde Methodius eine Kunstpause, in welche die Zuhörerinnen hineinkreischen und die Funken zwischen Schleifstein und Klinge aufprasseln wie die Raketen am Sankt-Nepomuks-Tag.

Die Aktualität dieses Liedes ist längst verblaßt, es entstammt der Prager Revolution von 1848, ihrem letzten Tag, an dem vom Stadtteil Kleinseite aus der österreichische General Fürst Windischgrätz das Bombardement auf die Bürgerschaft eröffnete.

Darüber hat mich – es war in meinem ersten Schuljahr – mein Vater aufgeklärt, als er merkte, daß ich etwas singe, ohne es zu verstehen. Der Windischgrätz, so erzählte mir mein 9 Vater, hat in Prag übel gehaust, und dafür hat ihn Gott bestraft. Mitten im Zimmer wurde seine Frau von einer Kugel getötet, obwohl die Straße vor dem Palais menschenleer war, und niemand einen Schuß gehört hat.

»Die Straße war leer?« fragte ich atemlos, »und niemand hat den Schuß gehört?«

»Nicht einmal der Wachtposten vor dem Haus«, antwortete mein Vater.

»Wer hat sie also erschossen?«

Mein Vater legte den Finger an die Lippen: »Das ist ein Geheimnis, ein sehr großes Geheimnis«.

Aber da ich nicht zu drängen aufhörte, erzählte er:

»Damals war ich ein kleiner Junge, nur vier Jahre älter als du heute bist. Mein Mitschüler Kreibich Eduard wohnte in der Zeltnergasse; sein Vater hatte dort ein Modewarengeschäft, dem Militärkommando gegenüber. Der Edi konnte alles mögliche zusammenbasteln, er war sehr geschickt, nicht so ein Schlemihl wie du. Wir spielten oft miteinander, auch damals im Juni 48, als wir alle sehr aufgeregt waren wegen der Soldaten, die Wien gegen Prag schickte. Der Edi hatte gerade etwas Wunderbares hergestellt: eine Kanone.«

»Eine wirkliche Kanone?«

»Natürlich keine wirkliche, sondern ein Spielzeug. Ihr Lauf war aus unserem Hausschlüssel gemacht und . . .«

Heiß und mit aufgesperrtem Munde hörte ich zu. Eine erschossene Fürstin – ein Geheimnis, das mir enthüllt wurde – eine Geschichte von Buben – eine Kanone aus Kinderhand – und nun gar unser Hausschlüssel! Unser Tor hat solch riesige Schlüssel.

»Aus unserem Hausschlüssel?« unterbrach ich, »wieso hatte er denn unseren Hausschlüssel?«

»Frag nicht so viel«, brummte mein Vater ärgerlich. Hatte er mehr gesagt, als er sagen wollte? »Es war eben ein Hausschlüssel. Aus dem hat der Edi die Kanone gemacht und sie auf einer Lafette befestigt, weißt du, auf einem Gestell mit Rädern, damit sie fahren kann. Und aus einem kleineren Schlüssel haben wir Munition gegossen, das sind Kugeln, und haben im 10 Zimmer geschossen. Als es in Prag losging, hat mir der Edi gesagt: ›Ich bleib' den ganzen Tag am Fenster, und wenn drüben der Obergeneral ins Zimmer kommt, schieß' ich ihn tot‹.«

»Also hat der Edi die Frau Windischgrätz erschossen?«

»Das weiß ich nicht, ich war nicht dabei. Aber als man am Pfingstmontag vom Tode der Fürstin erzählte, haben viele Leute gesagt, das sei sicherlich leeres Gerede, nur ich hab's gleich geglaubt.«

»Papa, kann man denn mit einer Kinderkanone einen Menschen totschießen?«

»Wenn Gott will, schießt ein Besen.«

So schloß mein Vater. Erst lange Jahre hinterher kam ich zur Überzeugung, daß ein Besen nicht schießt, auch wenn Gott will. Ich dachte nach, warum mein Vater die Geschichte erfunden habe und erklärte es mir so: er hatte von einem Geheimnis gesprochen, und hernach konnte er ohne Einbuße seiner väterlichen Autorität nicht eingestehen, daß er das Geheimnis selber nicht kenne.

Jedenfalls ist der Täter nie entdeckt worden, und die Nachforschungen wurden derart geheim gehalten, daß sie nicht einmal der Polizei anvertraut, sondern immediater dem Geheimarchiv der k. k. Statthalterei überwiesen wurden. Dieses Archiv hörte erst auf geheim zu sein, als 1918 die k. k. Statthalterei stattzuhalten aufhörte, weil die österreichische Monarchie zu sein aufgehört hatte. Die alten Schriftstücke übersiedelten in das Archiv des tschechoslowakischen Innenministeriums und waren nicht mehr geheim. Bei einem Besuch in diesem Archiv erinnerte ich mich des Falles, der mich in der Erzählung meines Vaters einstmals so bewegt hatte, und ich ließ mir das Dossier »Tod der Fürstin Eleonora Windischgrätz« holen, ein dickbäuchiges Konvolut.

Ich überflog die ersten Aktenstücke: Protokolle über Haus- und Wohnungsdurchsuchungen nach einer allfällig in Betracht kommenden Schußwaffe, vorgenommen in den dem k. u. k. General-Commando gegenüberliegenden Objekten: Einvernahme von zwei auf dem Wege vom Clementinum zu den Barrikaden festgenommenen Courieren Michael Bakunins, 11 der den Aufstand geleitet hatte: Kreuzverhör mit dem Techniker Maur und anderen verdächtigen Civilpersonen; etc. etc.

Da war nicht durchzukommen. Schon wollte ich den Aktenstoß zurückstellen, als mir auffiel, daß von einem Bogen ein Siegel herabbaumle. Zwar sind Hängesiegel in einem Archiv nichts Besonderes, pompöse Petschafte in kostbaren Kapseln hängen an Seidenschnüren von jeder Bulle und jeder Gerechtsame, was aber hatte ein solch mittelalterliches Sigillum an einem Aktenstück aus meines Vaters Zeit zu suchen?

Und siehe da, es war auch kein Siegel, vielmehr war es ein hölzernes Rädchen von einem Kinderspielzeug und hing als corpus delicti herab von einem acht Seiten langen Protokoll, aufgenommen am 19. Juli 1848 mit dem p. Josef Kreibich, Inhaber eines Modewarengeschäftes im Haus Cons.-Nr. 936 – I., Prag, Zeltnergasse. Im Protokoll war die Kanone des kleinen Eduard genau so geschildert, wie sie mein Vater mir geschildert hatte. Neu war mir nur, daß Vater Kreibich laut eigener Angabe seinem zehnjährigen Sohn Eduard, als selbiger einen Schuß aus der Kanone abfeuerte, ein Kopfstück gegeben und der Waffe einen Fußtritt versetzt habe, so daß dieselbe zerstört und hernach weggeworfen worden sei mitsamt zugehöriger Munition. Bei der behördlichen Haussuchung hat sich ein unzweifelhaft von der Lafette stammendes Rädchen vorgefunden und wird hiermit den Akten beigeschlossen.

Seit dem Todesschuß waren also fünf volle Wochen vergangen, ehe sich ein Verdacht gegen Edi lenkte. Obwohl, wie aus dem langatmigen Protokoll hervorgeht, die Untersuchungsbehörde der Sache beträchtliche Bedeutung beimaß, konnte nichts bewiesen werden. » Wenn Gott will, schießt ein Besen« – gut, das mochte auch die hohe Obrigkeit glauben, aber einen solchen Willen Gottes vor Gericht zu stellen und abzuurteilen, wagte sie nicht.

Womit wir wieder zum blinden Methodius zurückkehren wollen, der uns singend über die Weltgeschichte aus Vaters Tagen belehrt. Im Laufe seines Lebens, das von 1838 bis 1901 währte, hat mein Vater nur zwei historische Ereignisse aus der Nähe erlebt, eben jenen Prager Aufstand von 1848 und 12 den Krieg zwischen Österreich und Preußen. Die haben seine Lebensweise wenig verändert, und er pflegte sich wiederholt zu rühmen, seit seiner Jünglingszeit immer im gleichen Bett geschlafen zu haben. Seinen Söhnen gönnte das Schicksal keine so stete Lagerstatt. Einer fiel 1914 jung im Weltkrieg, einer, der für den Anschluß Österreichs und für ein Großdeutschland schwärmte, mag sich darum im Bannbezirk Hitlers nicht glücklicher fühlen, einer ist durch die Invasion der Tschechoslowakei grausam von Frau und Kindern getrennt, einer wirkt als Arzt der chinesischen Armee in Bombardements, Wolkenbrüchen und Erdbeben und einer wurde auf langen Umwegen nach Mexiko verschlagen, wo er diese Memoiren aus anderen Zeiten und Breiten schreibt.

Aber der blinde Methodius hält noch bei Vaters Zeit. Durch seine Lieder erlebe ich die Schlacht von Königgrätz, ohne es zu wissen, ähnlich dem Helden der Stendhalschen »Karthause von Parma«, der nicht ahnt, daß er an einer Schlacht teilnimmt und den nahen Ort namens Waterloo nicht kennt. Jahrelang höre ich den blinden Methodius vom Blutvergießen in Sadowa singen, von aufeinander lossprengenden Reitern bei Stezery und von zahl- und namenlosen Holzkreuzen bei Horenoves, aber all das sind mir nur böhmische Dörfer. Denn die deutsche Klio hat die Spitze ihres Zirkels ins Städtchen Königgrätz gespießt und einen Kreis gezogen, in dem die Schauplätze Horenoves und Sadowa und Stezery verschwanden. Dagegen hat die französische Klio das Dorf Sadowa zum namengebenden Mittelpunkt genommen und solcherart Königgrätz im Kreisdunkel versinken lassen. Revanche de Sadowa pour Königgrätz.

Zum Preise eines heimischen Räubers läßt der blinde Methodius ein aufregendes Lied ertönen. In den dramatischen Steigerungen ähnelt es den Puppenspielen auf dem Weihnachtsmarkt, aber es ist noch schöner, weil es gereimt ist und gesungen wird, das Messer am Schleifstein knirscht und goldene Sternchen prasseln. Gar viele edle Moritaten verübt der Räuberhauptmann Babinsky, bevor er gefangen wird und in der Zelle schmachten muß, eiskalte Ketten an Händen und 13 Füßen. Da bekommt er Damenbesuch, eintritt seine jungfräuliche Geliebte. Der Räuber Babinsky enthüllt ihr, er sei der Räuber Babinsky, was sie eigentlich wissen mußte, denn wie hätte sie ihn sonst aufsuchen können. Morgen, fügt er hinzu, werde seine Hinrichtung begangen werden. Daraufhin sinkt sie tot um, und das Schleifrad des blinden Methodius bleibt brüsk stehen.

Eines seiner Lieder, sein Bravourstück, mußte der blinde Methodius viele, viele Jahre später aus seinem Repertoire streichen. Von diesem Lied verstehen wir Kinder überhaupt nichts und geben dem Hannchen, einem kleinen Mädchen aus dem dritten Stock, auf Grund dieses Liedes den Beinamen Hanka Falschheit. In Wirklichkeit gilt der Name Hanka des Liedes einem Mann, und auch der wird nicht der Falschheit beschuldigt, sondern gegen diesen Vorwurf in Schutz genommen.

Es handelt sich um den Museumsbeamten Wenzel Hanka, der 1817 in einem Turm der Königinhofer Kirche eine frühmittelalterliche Handschrift entdeckt hatte. In den Gelehrtenkreisen der Welt erregte dieser Fund Aufsehen und warmes Interesse für die tschechische Kultur, die nun als ein Ahne der europäischen dastand. Deshalb mußte es auf tschechischer Seite Empörung hervorrufen, als fünfzig Jahre hernach in der Prager deutschen Zeitung »Tagesbote« ein anonymer Paläograph (wieder fünfzig Jahre später eruierte ich, daß es der Bibliothekar Zeidler gewesen war) die Echtheit der Handschrift anzweifelte. Der Redakteur des »Tagesbote«, David Kuh, wurde wegen Verleumdung verurteilt, nicht gemildert aber wurde der Kampf zwischen Deutschen und Tschechen, der durch die Verdächtigung der Königinhofer Handschrift entbrannt war. »Verleumder« riefen die einen, »Fälscher« die anderen.

Da verschoben sich plötzlich die Fronten dadurch, daß zwei tschechische Gelehrte, Gebauer und Masaryk, mit vollem Namen und wissenschaftlichen Beweisen die Königinhofer Handschrift als eine von Wenzel Hanka verübte Fälschung erklärten. Gegen Gebauer und Masaryk richteten nun deren 14 Konnationalen ihre Wut in allen Formen, auch in der des Liedes, das der blinde Methodius sang. In dem Lied wird behauptet, die beiden Verräter wollen dem tschechischen Volk das Recht auf nationale Vergangenheit und damit auch auf nationale Zukunft absprechen und sogar bestreiten, daß je ein böhmisches Mädchen einen Blumenstrauß aus einem Bach gefischt habe, wie in der Königinhofer Handschrift geschrieben steht. (Diese Stelle aus dem Hanka'schen Fund hat Goethe unter dem Titel »Das Sträußchen« ins Deutsche übertragen.)

Alles was auf der Welt existiert – so höhnt der Refrain des blinden Methodius – ist eine Fälschung Hankas, und als Schlußakkord ergeht die Aufforderung, den beiden Volksfeinden den Kopf zurechtzusetzen. »Laßt die Herren es verspüren, Daß sie nicht mehr masarykieren, Was verehrt ein jeder Tschech! Sonst droht ihnen großes Pech, Wie mit dieser Schreiberei, Daß alles Hankas Fälschung sei.«

Dennoch hat jener Masaryk all das weiter »masarykiert«, was verblendeten Nationalisten heilig war, und er hatte deshalb mehr als bloß Spottlieder zu überwinden, ehe er seinem Volk einen eigenen Staat schuf. In diesem Staat konnte der blinde Methodius das Lied nicht mehr singen. Das aber ist Zukunft vom Standpunkt meiner Knabenzeit gesehen.

Als Gegenwart, als eine des Besingens würdige Gegenwart bringt uns der Moldaufluß die Zeit zum Bewußtsein, da er rasend und reißend wird und das altstädtische Festland in einen Archipel verwandelt. Einige Tage vorher hat uns Hannchen, genannt Hanka Falschheit, im Keller über die Geheimnisse der Liebe aufzuklären versucht (sie zog die Sache von der verkehrten Seite auf), und heute ist der unterirdische Rittersaal überschwemmt, als hätte der Himmel die Sintflut über dieses Sodom und Gomorrha geschickt. Bis hinauf zum Kellereingang schaukelt das durch die Kanalröhren eingedrungene Wasser, der Hof ward zum Teich, und der blinde Methodius muß samt seinem Schleifrad in die Loggia des ersten Stocks übersiedeln. Mit blitzblanken Helmen, schnaubenden Pferden und einer riesengroßen Pumpe fährt die Feuerwehr in unserem Hof auf, um das Wasser auszupumpen. 15

Uns genügt diese Sensation nicht, allzu aufregende Nachrichten dringen aus der Gegend des Kais, wohin es für Kinderbeine kaum zehn Minuten zu rennen ist. Wir rennen unter der Führung Hannchens, genannt Hanka Falschheit, zunächst zum Bethlehemsplatz und an den Rand der Postgasse, in der die Leute beneidenswerterweise auf Schinakeln fahren. Hernach wagen wir uns zum Moldau-Ufer vor. Dieses kommt uns allerdings auf halbem Weg entgegen. Kaiser Karl IV., der bisher auf dem Festland gestanden, steht jetzt im Wasser, die Wellen spielen um die Goldene Bulle in seiner herabhängenden Hand, und es sieht sehr unanständig aus, wie von dieser Bulle die Tropfen fallen. Jubelnd sehen wir, daß die Fluten die ewige Karlsbrücke so zerbrochen haben, wie wir unsere Spielzeuge zu zerbrechen pflegen, bums. Verschwunden sind die Heiligenstatuen.

Was die Wogen alles vor sich hertreiben! Möbelstücke, Hütten, Bäume, Balken, Fässer, Telegrafenstangen! Und auf einem schwimmenden Dach bellt verzweifelt ein weißer Hund.

Pioniertruppen mit Pontons sind von überallher herangezogen, um zu retten, was zu retten ist.

Kaum drei Wochen später singt der blinde Methodius, mit seinem Schleifrad in unserem Hof stehend, der wieder ein Hof und kein Teich mehr ist, ein Lied von der großen Prager Wassernot. Es ist ein parodistisch Lied »von dem Schrank, der ertrank« und dem ein Pionier nachschwamm, und von einer Bank, auf der Großmama saß. Auch der weiße Hund hat eine Strophe, die ihn verspottet: er belle, um Brandstifter fernzuhalten. Von den Brückenheiligen wird gesungen, daß sie es vergeblich dem Sankt Nepomuk gleichzutun versuchen, der seinerzeit hier ertränkt wurde und von strahlenden Sternen umgeben wieder zum Vorschein kam. Und Karl IV. erkältet sich den Bauch mitsamt seiner Bulle.

Wir Kinder haben all das, was das Lied behandelt, mit eigenen Augen gesehen, drei Wochen lang haben wir das Geschaute lärmend und gestikulierend besprochen, und nun, nun singt uns der, der nicht dabei war, den Bericht.

Das kommt mir komisch vor. 16

 


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