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Noch immer gehörte ich dem Fußballklub an, mit dem ich einst gegen »Slavia« gespielt hatte, lange bevor der damalige Halfback Eda Benes zum Präsidenten der Republik geworden war. Noch immer spielten wir als einzige deutsche Mannschaft gegen tschechische Mannschaften, obwohl ich nicht nur Redaktionsmitglied einer deutschen Zeitung, sondern jetzt sogar Obmann des Klubs »Sturm« war.
Ein Obmann, ihr wißt ja, erweist den Koryphäen (auch wenn sie Amateure sind) Gefälligkeiten, manchmal zahlt er für sie die Zeche, manchmal kauft er dem einen oder anderen einen Winterrock, manchmal borgt er ihnen bares Geld.
Unser rechter Endback hieß Wagner und war die Stütze der Mannschaft. Es ist also verständlich, daß ich ihm eine der eben erwähnten Gefälligkeiten erwies unmittelbar vor unserem Auswahlspiel gegen die zweitklassige Mannschaft »Union-Holleschowitz«. Vom Ausfall dieses Matchs hing es ab, ob wir oder sie unter die Erstklassigen eingereiht würden.
Das Match fand am Sonntag, dem 25. Mai 1913 statt. D. B. C. »Sturm« verlor und kam nicht in die Reihe der Erstklassigen. Warum? Der Zeitungsbericht formulierte es so:
»Der D. B. C. Sturm I gegen S. K. Union-Holleschowitz 5 : 7 (Halbzeit 3 : 3). Sturm war anfangs seinem Gegner überlegen und seine Stürmerreihe arbeitete, wie sich auch in der großen Zahl seiner Scores ausdrückt, das ganze Spiel hindurch sehr erfreulich. Doch war Sturms Verteidigung durch das Fehlen Mareceks und Wagners derart geschwächt, daß Atja allein nicht imstande war, alle Durchbrüche Unions zu vereiteln.«
Mareceks Nichtantritt war entschuldigt, er hatte eine Sehnenzerrung. Aber Wagner war nicht entschuldigt. Gegen ihn richtete sich unsere Wut nach dem verlorenen Spiel, besonders die meine. Hatte er mir doch, erfreut über mein Geschenk, doppelten Spieleifer versprochen, und nun blieb er schon am 233 ersten Sonntag weg, beim Auswahlspiel, unentschuldigt, unentschuldbar. Deshalb schaute ich gar nicht auf, als mich Wagner am nächsten Vormittag in der Redaktion aufsuchte.
»Ich komm' dir sagen, daß ich gestern nicht antreten konnte.«
»Hab' ich gemerkt. Hau ab!«
»Es war wirklich unmöglich. Ich mußte . . .«
»Ist mir ganz egal, was du mußtest«, schnitt ich ihm das Wort ab.
»Ich war schon angezogen, da kommt ein Soldat in unsere Werkstatt und sagt, jemand von uns muß sofort ins Korpskommando, ein Schloß aufbrechen.«
»Erzähl' mir keine Geschichten! So etwas dauert fünf Minuten. Und wir haben eine geschlagene Stunde mit dem Anstoß gewartet.«
»Drei Stunden hat es gedauert. Ich mußte eine Wohnung aufbrechen, und dann alle Schubfächer und Schränke, es waren nämlich zwei Herren aus Wien da, den einen haben sie »Herr Oberst« genannt. Sie haben nach russischen Papieren gesucht und nach Photographien von Plänen.«
»Wem gehört denn die Wohnung?«
»Ich glaube, einem General. Eine große Wohnung im ersten Stock.«
»Und der General war nicht da?«
»Der, dem die Wohnung gehört? Nein, der war nicht dabei. Aber der Korpskommandant war dabei.«
Obwohl ich Obmann des Fußballklubs bin, der gestern durch die Schuld eines pflichtvergessenen Endback das Wettspiel verloren hat, vergesse ich, dem pflichtvergessenen Endback länger böse zu sein. Ich sage ihm nicht mehr »Erzähl' mir keine Geschichten«, sondern lasse mir die Geschichten von gestern nachmittag ganz genau erzählen, wie der Wiener Oberst die Photographien von Plänen und Aktenstücken dem Prager Korpskommandanten hinüberreichte und wie dieser jedesmal den Kopf geschüttelt und gesagt hat: »Schrecklich, schrecklich! Wer hätte das für möglich gehalten!«
Wagner erzählt, daß die Wohnung ganz merkwürdig ausgesehen habe, »wie von einer Dame«, lauter 234 Toilettengegenstände und Brennscheren und parfümierte Briefe und Photos von jungen Männern.
»Wieso weißt du denn, daß die beiden Offiziere aus Wien waren?«
»Sie haben gesagt, daß sie noch abends nach Wien zurück müssen. Sie glaubten, ich verstehe nicht Deutsch. Der Korpskommandant hat mir immer tschechisch übersetzt, wenn sie wollten, daß ich ein Schloß aufmachen soll.«
Es kann sich nur um die Wohnung von Oberst Alfred Redl, dem Generalstabschef des Prager Korps, handeln, über den das k. u. k. Telegrafen-Korrespondenzbüro heute eine Meldung ausgegeben hat. Die Lobpreisung Redls, die diesem Telegramm beigefügt war, ist also ein Verschleierungsmanöver, denn die Kommission war nach Prag gekommen, weil Oberst Redl des Militärverrats verdächtigt wurde. Der Generalstabschef von Prag ein Spion! Alfred Redl, Kandidat für den Posten des Kriegsministers, der zukünftige Armeekommandant, – eine Kreatur des Feindes! Das ist eine ungeheuerliche Nachricht!
Aus der begeisterten Würdigung im Telegramm des Korrespondenzbüros geht hervor, daß man diese ungeheuerliche Nachricht unterdrücken will. Ich aber habe keinen Anlaß, sie zu unterdrücken, keinen Anlaß, ein Geheimnis zu hüten, das man mir nicht anvertraut hat.
Allerdings, da ist eine Schwierigkeit, eine schier unüberbrückbare. Die Enthüllung, daß ein österreichischer Generalstabschef im Dienste des Auslands steht, wie bringt man sie in eine österreichische Zeitung, ohne sofort konfisziert zu werden?
Mit einem Überraschungstrick könnte es vielleicht gelingen.
Der Überraschungstrick gelingt, wie wir später sehen werden, meine Nachricht erscheint unkonfisziert im Abendblatt der »Bohemia«, und der Sturm bricht los, Verweigerung des Heeresbudgets nach tobender Parlamentssitzung, Maßnahmen des Thronfolgers, den Generalstab nur aus Mitgliedern des Adels zusammenzusetzen, Pensionierung der höchsten Militärs, Debatten im Inland und Ausland über die Wehrfähigkeit der österreichischen Monarchie, – kurz, all das, was die 235 Eingeweihten hatten vermeiden wollen. Ein Prozeß, der die volle Aufklärung des Verrats gebracht hätte, war verhindert, Spezialeide waren geleistet und ein überschwenglich warmes Lob für einen Verräter war amtlich ausgegeben worden, nur damit die Sache geheim bleibe vor dem Kaiser, dem Thronfolger, dem Kriegsminister und der Welt.
Alle erfuhren davon, aber niemand ahnte meine Quelle. Die Militärbehörde forderte von der Staatspolizei einen Bericht, ob irgendwelche Anzeichen darauf hindeuten, daß ich Beziehungen zu auswärtigen Militärstellen unterhalte. In dem Lokal, in dem ich nach Redaktionsschluß verkehrte, setzten sich zwei ostentativ angeheiterte Herren zu mir und beteuerten ihre Bewunderung für meinen im Fall Redl bewiesenen Spürsinn. Sie boten sich an, mir Zeitungsnachrichten über militärische Dinge zu liefern, aber – Vertrauen gegen Vertrauen – ich möge ihnen sagen, woher ich von der Spionagetätigkeit Redls wußte, vom Eintreffen der Kommission, von ihrem Verhalten in Redls Wohnung, von der Homosexualität.
Das Pariser »Journal des Débats« schrieb, oh, Ruhm meiner Karriere, von einem jungen Wunderjournalisten, der in der Provinzstadt Prag ein internationales Geheimnis nach dem andern zu enthüllen wisse.
So viel aber auch über den Fall Redl gesagt und geflüstert wurde, das meiste mußte ungesagt und ungeflüstert bleiben, solange die österreichisch-ungarische Monarchie bestand. Nach dem Weltkrieg versuchte ich alle Zusammenhänge der Redl-Affäre festzustellen. Unter anderem fuhr ich nach Graz, um Feldmarschalleutnant Urbanski von Ostromiesz aufzusuchen, der 1913 Chef des Evidenzbüros und Oberst im Generalstab gewesen war; er gehörte zu denen, die am Tage nach meiner Veröffentlichung vom Thronfolger Franz Ferdinand aus der Armee gejagt wurden. Ebenso schnell aber wurde Urbanski von Ostromiesz reaktiviert, als aus Sarajewo die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers eintraf. Er machte den Krieg mit und avancierte.
Mehrere Tage lang saß ich bei Feldmarschalleutnant Urbanski von Ostromiesz in seiner Grazer Wohnung, und er gab 236 mir auf alle Fragen geduldig Antwort. Nur bei meiner Frage, wieso das Geheimnis in die Öffentlichkeit gedrungen sei, wurde er unwillig, und erst recht unwillig, als ich meine Auffassung äußerte, wie das geschehen sein konnte. Diese Auffassung schien ihm denn doch zu naiv für einen Journalisten, der den Eingeweihtesten der Affäre interviewt. Die Darstellung Urbanskis von Ostromiesz war nur die militärische Innengeschichte, über die abenteuerliche Verfolgung Redls und manches andere wußte er weniger als ich.
Der Sachverhalt war in Kürze dieser: im Frühjahr 1915 wurden zwei Briefe als verdächtig geöffnet, die postlagernd unter der mit Schreibmaschine geschriebenen Chiffre »Opernball 13« beim Hauptpostamt Wien eingetroffen waren. Sie stammten aus Eydtkuhnen, einem Ort an der deutsch-russischen Grenze und enthielten österreichische Banknoten, der eine sechstausend Kronen, der andere achttausend Kronen. Solche Summen werden nicht postlagernd und anonym geschickt, wenn es sich um rechtmäßiges Gut handelt. Der Absendungsort deutete auf Rußland, es schienen Gelder für Bestechung, vielleicht sogar für Spionage zu sein. Deshalb war es die politische Staatspolizei, die mit der Aufklärung dieser Sendung betraut wurde.
Zwei Geheimpolizisten, Ebinger und Steidl, wurden zu ständiger Dienstleistung in das Postamt entsandt. Ihr Zimmer war durch eine elektrische Klingel mit dem Postschalter verbunden, und auf das Glockenzeichen des Schalterbeamten sollten die beiden den Übernehmer der Briefe sicherstellen. Wochen vergingen, Monate. Der Polizeirat, der diese Überwachung organisiert hatte, war ins Ministerium versetzt worden und hatte die Angelegenheit seinem Nachfolger, dem nachmaligen Bundeskanzler Johann Schober, übergeben. Auch die Beamten am Postschalter wechselten, und die neuen wußten wohl nicht, wie wichtig die Sache sei. Es kam auch niemand, die Briefe zu beheben.
Am Abend des 24. Mai 1913, einem Samstag, fünf Minuten vor Schluß der Amtsstunden, weckte das Glockensignal die beiden Geheimpolizisten aus ihrer gewohnten Ruhe. Bevor 237 sie zum Postrestanteschalter kamen, wo der Beamte zwar langsam, aber doch auch nicht auffallend langsam die Briefe mit der »Opernball«-Chiffre ausgehändigt hatte, war der Beheber fort.
Sie eilten ihm nach, sie erblickten ihn noch, einen stattlichen Herrn, der die Tür des angekurbelt gebliebenen Autos hinter sich zuschlug, der Wagen fuhr davon. Es war ein Taxi.
Ein Auto, das die Verfolgung hätte aufnehmen können, besitzen Ebinger und Steidl nicht. Was hilft es ihnen, daß sie die Nummer des Taxis gelesen haben? Was hilft es ihnen, daß sie den Chauffeur ausforschen und erfahren können, woher und wohin die Fahrt gegangen sei? Sicherlich ist der Mann nicht direkt in seine Wohnung gefahren, sicherlich steigt er unterwegs aus und nimmt einen neuen Wagen. Fest steht für die beiden Detektive nur ihre schimpfliche Entlassung. Aber nun beginnt für sie und die österreichische Wehrmacht eine Kette von unglaublichen Zufällen, »Jägerglück«.
Die beiden Polizeiagenten stehen auf dem Kolowratring und beraten. Sollen sie versuchen, den Chauffeur gleich ausfindig zu machen und im Einvernehmen mit ihm ein Märchen von mißglückter Verfolgung des Unbekannten ausdenken? Oder sollen sie lieber dem Polizeirat Schober ihr Mißgeschick melden? Während sie überlegen, fährt ein Taxi vorbei. Sie lesen die Nummer – es ist der Wagen, der ihnen vor zwanzig Minuten ihre Beute entführt hat. Sie winken, pfeifen, schreien, laufen. Das Auto hält. Es ist leer.
»Wohin haben Sie den Herrn vom Postamt aus geführt?«
»Ins Café Kaiserhof.«
Auf der kurzen Fahrt finden die Detektive im Innern des Wagens das Futteral eines Taschenmessers, eine Hülle aus hellgrauem Tuch. Im Café Kaiserhof, in das sie mit dem Chauffeur eintreten, ist der stattliche Herr nicht mehr. Was nun?
Sie eilen zum nächsten Taxistandplatz. Jawohl, ein Herr, der so aussieht, sei eben weggefahren. Wohin? Wir sind in Wien und dort weiß es einer: der Wasserer. Eigentlich ist er kein Wasserer, denn seit der Fiakerstand zum Autostand 238 degradiert ist, gibt's keine harben Rösser mehr, denen der Wasserer den Tränkeimer servieren kann. So putzt er die Karosserien, holt Würstel für die Chauffeure und übt das altehrwürdige Gewerbe des Wagentüraufmachens aus. Der Wasserer hat gehört, wohin der Herr befohlen hat, »ins Hotel Klomser« hat er befohlen.
Nach ins Hotel Klomser. Im Foyer wird der Hotelportier befragt. »Gerade jetzt sind zwei Herren im Auto angekommen, Kaufleute aus Bulgarien.« – »Und vorher ein Herr allein?« – »Im Auto? Das weiß ich nicht. Vor einer Viertelstunde ist Herr Oberst Redl gekommen. In Zivil war er, das weiß ich. Aber ich weiß nicht, ob er im Auto vorgefahren ist.«
Oberst Redl? Den Polizeiagenten flößt dieser Name Scheu ein. Sie kennen ihn gut. Er hat ihnen keine Sekunde Rast gegönnt, niemals die Notwendigkeit einer Nachtruhe anerkannt, wenn sie seine Treiber waren auf der Jagd nach Spionen. Und wie wußte Oberst Redl sein Wild zur Strecke zu bringen, wie wußte er einen Spionageverdächtigen zu inquirieren, er, der berufene Sachverständige, der Leiter des österreichisch-ungarischen Kundschafterdienstes.
Geheimpolizist Ebinger lacht schallend: »Das ist ja großartig! Jetzt wohnt der Spion mit unserem Oberst Redl Wand an Wand! In einem Kriminalroman würde das heißen: ›In die Falle gegangen.‹ Oder: ›Die Flucht in die Höhle des Löwen.‹ Nein, das kann sich kein Dichter ausdenken, daß ein Spion sich in dem Haus einmietet, wo der allergrößte Verfolger der Spione wohnt.«
Ebinger will gleich zu Oberst Redl hinaufgehen und ihm den spaßigen Zufall melden. Der andere Geheimpolizist, Steidl, hat Bedenken gegen einen solchen selbständigen Schritt. Vielleicht hat das Postamt den Polizeirat bereits verständigt, daß die Briefe behoben wurden. Also muß man ihm berichten, wie die Verfolgung ausgefallen ist.
Während Ebinger aus der Telefonzelle des Hotels, die auf der linken Seite der Halle ist, mit Polizeirat Schober spricht, reicht Steidl auf der rechten Seite der Halle das Messerfutteral 239 dem Portier: »Fragen Sie, wem von den zuletzt angekommenen Gästen das Futteral gehört.«
Eine Freitreppe führt von der Mitte der Halle zu den Etagen. Oberst Redl kommt in Uniform, sich die Handschuhe zuknöpfend, die Treppe herab und legt dem Portier den Schlüssel von Zimmer Nr. 1 auf den Tisch. In der Telefonzelle berichtet Detektiv Ebinger, daß Oberst Redl zufälligerweise auch im Hotel Klomser wohnt, und fragt, ob er ihm die Sache sofort melden solle. »Vielleicht«, meint Ebinger, »hat sich der Spion absichtlich hier eingemietet, um sich an Oberst Redl heranzumachen.«
»Haben Herr Oberst das Futteral Ihres Taschenmessers verloren?« fragt der Portier, während in der Telefonzelle Ebinger seinem Vorgesetzten von dem Fund im Taxi berichtet. »Ja«, antwortet Oberst Redl, holt sein Messer aus der Tasche und stülpt das hellgraue Tuchsäckchen darüber, »ich suche es schon seit einer Viertelstunde. Wo haben Sie es denn gefun . . .«
Er hat die Frage noch nicht beendet, da fällt ihm die Antwort ein. Zuletzt hat er sein Taschenmesser benutzt, als er auf der Fahrt vom Postamt die Umschläge der Geldbriefe aufgeschnitten hat. Dort im Taxi hat er die Messerhülle vergessen. Wieso hat man sie gefunden? Wieso hierhergebracht? Mit einem Ruck wendet er sich um und erblickt einen Mann, der abseits steht und mit betontem Interesse das Gästebuch des Hotels durchblättert. Oberst Redl kennt den Mann.
Oberst Redl wird blaß wie ein Toter, denn er weiß, daß er ein Toter ist.
Er tritt auf die Straße hinaus, geht raschen Schrittes weiter. An der ersten Ecke schaut er zurück, ob niemand aus dem Hoteltor kommt. Niemand kommt aus dem Hoteltor. Aber aus dem Restaurant Klomser treten zwei Männer.
Einer dieser beiden Männer hat, bevor sie das Hotel verließen, dem Portier aufgetragen, die Nummer 12 3 48 anzurufen, die Geheimnummer der politischen Staatspolizei: »Sagen Sie dem Herrn Polizeirat Schober, daß das Futteral dem Herrn Oberst Redl gehört.« 240
Da Ebinger und Steidl die Straßenecke erreichen, sehen sie Oberst Redl nicht mehr. Er ist im Haus der alten Börse verschwunden, das drei Ausgänge hat. Alle Achtung vor einem Mann, der noch vor zwei Minuten ein glanzvolles Leben vor sich sah und seit zwei Minuten einen schimpflichen Tod vor sich sieht und bereits die Möglichkeit des Entkommens kaltblütig ins Auge faßt.
Inzwischen spielt das Telefon vom Hotel Klomser zur Staatspolizei, von der Staatspolizei zum Evidenzbüro des k. u. k. Generalstabs. Oberst Urbanski von Ostromiesz nimmt die Meldung entgegen und kann sich nicht fassen vor Erregung. Oberst Redl!
Der Adjutant Urbanskis von Ostromiesz fährt zur Hauptpost, um den Schalterbeamten zu fragen, wie der Beheber der Briefe ausgesehen habe. Außer der Personenbeschreibung wird ihm ein Zettel gegeben, auf den der Beheber die Chiffre der postlagernden Briefe geschrieben hat, »Opernball 13«.
Im Evidenzbüro suchen Urbanski von Ostromiesz und sein Adjutant Handschriften Redls heraus. Es ist kein Mangel daran: eine »Anweisung zur Anwerbung und Überprüfung von Kundschaftern, verfaßt von Alfred Redl, k. u. k. Hauptmann im Generalstab«, fünfzig Paragraphen lang, ein »Schema für die Beschaffung von Kundschaftermaterial«, »Normen zur Aufdeckung von Spionen im In- und Ausland«, ein dickes Aktenbündel »Gutachten in den Jahren 1900 bis 1905«. Zwar ist auf dem Zettel »Opernball 13« nur leicht und dünn hingeschrieben, jedoch von einer Verstellung kann keine Rede sein, es ist die Schrift des Obersten Redl.
Den verfolgen unterdessen die beiden Geheimpolizisten. In einer Passage haben sie den Verschwundenen wieder erspäht. Auch er sie. Er zerreißt Papiere, wirft sie auf den Boden. Einer der Detektive, nimmt er an, wird sich aufhalten, um sie aufzuklauben, und dem anderen ließe sich allenfalls entkommen. Aber beide gehen ihm weiter nach. Sie halten ein Taxi an und geben dem Chauffeur die Weisung, langsam nachzufahren. Dann erst kehrt Geheimpolizist Steidl in die 241 Passage zurück, sammelt die Papierschnitzel auf und bringt sie zur Polizei.
Von dort fahren die Papierchen sofort im Auto ins Evidenzbüro, wo sie zusammengesetzt werden. Es sind Postbestätigungen über Geldsendungen an einen Ulanenleutnant in Stockerau und über eingeschriebene Briefe nach Brüssel, Warschau und Lausanne. Die Adresse in Lausanne ist, wie vor einigen Tagen festgestellt wurde, eine Deckadresse für die Spionagezentrale Italiens, des »Bundesgenossen«. Jetzt ist es verständlich, daß seit Jahresfrist jede noch so geheime strategische Vorkehrung an der italienischen Grenze mit Gegenvorkehrungen beantwortet wurde, oft sogar, bevor Österreich sein Projekt in Angriff nahm.
Soll man die Verhaftung von Oberst Redl sofort anordnen? Militärische oder polizeiliche Verhaftung? Soll man die Militärkanzleien des Kaisers und des Thronfolgers benachrichtigen? Oder soll man das Ergebnis der Untersuchung abwarten?
Oberst Redl geht zum Franz-Josephs-Kai. Von Zeit zu Zeit sieht er sich um, ob sein Schatten ihm folgt. Sein Schatten folgt ihm. Oberst Redl will zum Brigittaplatz. Dort ist er heute um vier Uhr nachmittags in einem Daimler-Tourenwagen, den er im August 1911 für 18 000 Kronen gekauft hatte, aus Prag angekommen. Ein schönes Auto. A. R. in Goldbuchstaben auf dem Wagenschlag; der Querstrich des A besteht aus zwei schrägen Linien und sieht wie ein »v« aus, ein abgekürztes »von«. Über dem Monogramm schwebt eine Krone, zwar nur die fünfzackige Bürgerkrone, aber wer merkt das? Oberst Redl hat sein Auto beim Karosseriemacher Zednitschek auf dem Brigittaplatz eingestellt, damit der die Seitenwände des Chassis unten mit Glanzleder und oben mit bordeauxroter Seide tapeziere.
Im Hotel Klomser empfing Oberst Redl den Besuch von Leutnant Stefan Hromadka, einem hübschen Ulanenoffizier aus Stockerau, und hatte eine lange Auseinandersetzung mit dem geliebten Freund, der sich von ihm trennen und heiraten wollte. Um halb sechs ging Leutnant Stefan Hromadka fort, zehn Minuten später Oberst Redl. Er mußte aufs Postamt. Das 242 Geld beheben. Wochenlang hatte er es aufgeschoben, weil es riskant war. Jetzt blieb keine Wahl. Er hat seinem Stefan ein Auto versprochen. Er will mit ihm über Land fahren, ihn von seiner Braut loslösen, ihn die Heiratsabsicht vergessen machen.
»Über Land fahren . . .« Und jetzt hastet Redl zu Fuß mit unheimlichem Gefolge den Donaukanal entlang und denkt, wie gut es wäre, in seinem Tourenwagen zu sitzen und, auch ohne Glanzlederbelag und ohne bordeauxrote Seide, über Land fahren zu können. Über Land fahren. Daran ist jetzt nicht mehr zu denken. Er kehrt, beschattet, ins Hotel Klomser zurück.
Zur gleichen Zeit fährt Oberst Urbanski von Ostromiesz bei einem anderen Hotel vor. Im Grandhotel sitzt der Chef der Chefs, der Oberkommandierende des Generalstabs, mit Freunden im Speisesaal. »Was bringst du mir Schönes?« fragt General Conrad von Hötzendorf seinen Evidenzchef und Freund. Die Zigeunerkapelle Rigos, des Geigers, der die belgische Königstochter entführt hat, spielt ein Potpourri aus der neuen Operette »Graf von Luxemburg«.
»Dürfte ich Eure Exzellenz gehorsamst um ein Gespräch unter vier Augen bitten?«
»Was, mitten im Abendessen? Ist's wirklich so dringend? Na, alsdann gehn wir.«
In einem Nebenraum erstattet Urbanski von Ostromiesz die Meldung, daß die Opernballbriefe behoben wurden, der Beheber, von Detektiven verfolgt, habe unterwegs Postbestätigungen zerrissen, darunter eine aus Lausanne.
»Lausanne auch!« seufzt General Conrad von Hötzendorf. »Dachte ich mir schon lange. Ist der Mann verhaftet?«
»Er wurde sichergestellt, Exzellenz.«
»Nur sichergestellt? Wer ist es denn?«
»Exzellenz . . .«
»Nun? Wer der Mann ist, will ich wissen.«
»Es ist . . .«
»Heraus mit der Sprache, August. Ich bin ja darauf vorbereitet, daß es nicht der erste beste ist.« 243
»Exzellenz, es ist Oberst Redl.«
»Wer? Sind Sie wahnsinnig geworden?« Conrad von Hötzendorf schreit: »Nehmen Sie sich in acht, Herr Oberst!«
»Exzellenz . . .«
»Entschuldige, August. Oberst Redl! Ist denn das sicher?«
General Conrad von Hötzendorf ist auf einen Stuhl gesunken, er preßt beide Hände aufs Herz. »Wenn doch wenigstens«, sagt er, nachdem er sich etwas gefaßt hat, »wenn doch wenigstens dieser widerliche Rigo mit seinem Gefiedel aufhören würde.« Dann spricht der General lange kein Wort. Er versucht, sich die Tragweite auszumalen. Wenn die Schmach bekannt wird, – das Kriegsministerium und der Thronfolger hassen den Generalstab ohnedies, die »Auserwählten«, – was wird das Ausland sagen! Der Feind! Alles schon morsch, sagt man gern der Doppelmonarchie nach – die Überheblichkeit des verbündeten Deutschland wird noch größer werden. Und die oppositionellen Nationen! Was wird geschehen, wenn in dieses Pulverfaß ein Zündstoff fällt? Gerade jetzt, da die Lage kritisch ist.
General Conrad von Hötzendorf erhebt sich: »Dieser Schuft hat sofort zu sterben.«
»Er soll selbst . . . Exzellenz?«
»Ja«, entscheidet Conrad von Hötzendorf. Diese zwei Buchstaben sind Todesurteil und Befehl zur Vollstreckung, bei der der Verurteilte als sein eigener Henker zu fungieren hat. Niemand darf etwas über die Todesursache erfahren, niemand! Bin ich verstanden worden, Herr Oberst?«
»Zu Befehl, Exzellenz!«
»Noch heute nacht.«
»Zu Befehl, Exzellenz.«
»Sie werden sofort eine Kommission zusammenstellen, Herr Oberst, bestehend aus Höfer als Leiter, aus Chefauditor Worlitschek, Ihnen und Ihrem Adjutanten. Über den Vollzug ist morgen früh direkt an mich zu melden.«
Um Mitternacht erscheinen vier hohe Offiziere im Hotel Klomser. Sie klopfen an die Tür von Zimmer Nr. 1. Während ein heiseres »herein« hörbar wird, öffnen sie. Oberst Redl, 244 der am Tisch sitzt, macht zweimal den Versuch aufzustehen und fällt in den Stuhl zurück. Endlich erhebt er sich wankend. »Ich weiß, weshalb die Herren kommen«, bringt er hervor, »ich bin im Begriff, Abschiedsbriefe zu schreiben.«
Ein Brief an seinen Bruder ist kuvertiert, ein angefangener Brief ist an General von Giesl, den Kommandanten des Prager Korps, gerichtet. Auf dem Nachttisch liegt das Taschenmesser mit dem hellgrauen Futteral und ein Stück Bindfaden. (»Ein dolchartiges Messer und eine Rebschnur hatte Redl zur Verübung des Selbstmords vorbereitet«, antwortet zwei Tage später Landesverteidigungsminister Georgi im Parlament auf die Beschuldigung, der Selbstmord Redls sei vom Generalstab befohlen worden.)
Die Kommission befragt Redl nach seinen Komplicen.
»Ich habe keine«, erwidert er.
»Wer hat Sie für die Spionage geworben?«
»Der russische Militärattaché in Wien. Er zwang mich dazu, denn er – denn er wußte, daß – daß ich – homosexuell bin.«
Die vier Offiziere schütteln sich vor Ekel. Homosexuell? Entsetzlich!
Auf die Frage nach dem Umfang seiner Tätigkeit, nach deren Details und Dauer antwortet er, alle Beweise würden sich in seiner Prager Dienstwohnung finden. Damit gibt sich die Kommission zufrieden. Bevor sie das Zimmer verläßt, fragt General Höfer: »Herr Redl, haben Sie . . .«
Redls Finger tasten nach seinem goldenen und besternten Kragen. Dort ist er noch kein Herr Redl, dort ist er noch Oberst.
». . . eine Schußwaffe?« vollendet General Höfer die Frage.
»Nein.«
Der General: »Sie dürfen um eine Schußwaffe bitten, Herr Redl.«
Redl: »Ich bitte – gehorsamst – um einen – Revolver.«
Niemand hat einen bei sich. »Sie werden einen bekommen.« Oberst Urbanski von Ostromiesz fährt nach Hause, seinen Browning zu holen, um ihn »Herrn Redl« einzuhändigen. 245
Die vier Offiziere warten an der Straßenecke. Sie können die Fenster von Zimmer Nr. 1 nicht sehen, denn es ist ein Hofzimmer. Kein Lärm, keine Aufregung, kein Schuß verrät, daß das Urteil vollstreckt ist. Abwechselnd fahren die Kommissionsmitglieder nach Hause, um Zivil anzulegen, denn vier auf und ab gehende Stabsoffiziere würden auffallen. Die Stunden verrinnen. Nichts.
Zeitig morgens will General Conrad von Hötzendorf die Meldung haben, daß die Angelegenheit beendet ist. Oberst Urbanski von Ostromiesz und Chefauditor Worlitschek müssen mit dem Schnellzug 6 Uhr 15 nach Prag fahren, die Haussuchung vorzunehmen. Aber andererseits kann man nicht gut hinaufgehen und zu Redl sagen: »Erschießen Sie sich rasch, wir können nicht so lange warten.«
Um fünf Uhr wird ein Detektiv der Staatspolizei telefonisch herbeigerufen, einer von den beiden, die gestern die Verfolgung Redls durchgeführt und noch in der Nacht einen »Spezialschwur auf Diensteid« geleistet hatten, kein Wort über die Angelegenheit zu sprechen. Das Geheimnis soll auf neun Personen beschränkt bleiben, und kein zehnter soll auch nur ahnen, daß ein Generalstabschef Verrat beging-
Der herbeigekommene Detektiv ist Ebinger, er wird angewiesen, zu Oberst Redl hinaufzugehen. Was immer er auch im Zimmer sehen würde, er möge im Hotel nichts davon sagen. So will man Diskussionen darüber verhindern, daß die Leiche von einem Polizeiagenten entdeckt wurde. Ebinger sagt dem Nachtportier, er sei vom Herrn Oberst Redl bestellt. Der Portier, seines vergeblichen Einspruchs gegen den nächtlichen Besuch der vier Offiziere eingedenk, läßt Ebinger passieren.
»Das Zimmer war nicht versperrt«, meldet Ebinger einige Minuten später der Kommission, »ich habe also die Tür geöffnet. Neben dem Sofa liegt der Herr Oberst tot.«
Damit ist der Straßendienst der vier Stabsoffiziere zu Ende, genau zwölf Stunden nach Behebung der postlagernden Briefe. Noch vor Tagesanbruch soll die Leiche gefunden werden, deshalb wird das Hotel angerufen: Herr Oberst Redl möge ans Telefon kommen. 246
Das Hotel Klomser verständigt die Polizei von einem im Hause vorgefallenen Selbstmord. Redl hat sich, vor dem Spiegel stehend, in den Mund geschossen, das Projektil durchbohrte das Gaumendach und drang schräg von rechts nach links in das Gehirn; im linken Scheitelknochen blieb das Geschoß stecken, die Ausblutung erfolgte durch die linke Nasenhöhle. Neben der Leiche lag ein Browning.
Am Sonntag gab das k. k.Telegrafen-Korrespondenzbüro die Meldung vom Selbstmord des Oberst Alfred Redl aus und fügte einen Nekrolog hinzu, der aus dem Büro des Generalstabs stammte. »Der hochbegabte Offizier«, hieß es darin, »dem eine große Karriere bevorstand, hat sich in einem Anfall von Geistesverwirrung . . .«, ». . . in der letzten Zeit an außergewöhnlicher Schlaflosigkeit litt . . .«, ». . . in Wien, wohin ihn dienstliche Aufgaben geführt hatten . . .«, ». . . an dem Leichenbegängnis werden die gesamte in Wien weilende Generalität und die dienstfreien Truppen und Militäranstalten . . .«
Der Chef des Evidenzbüros, Urbanski von Ostromiesz, und der Chefauditor Worlitschek fuhren nach Prag und meldeten sich beim Korpskommandanten Baron Giesl. Der war telegrafisch vom Selbstmord seines Generalstabschefs in Kenntnis gesetzt worden, nicht aber vom Motiv der Tat. Tags vorher hatte Korpskommandant Baron Giesl von seinem Bruder, dem österreichisch-ungarischen Gesandten in Belgrad, die Mitteilung bekommen, daß die serbischen Regierungskreise den Krieg als unvermeidlich betrachten.
Für »Fall 3« (Krieg gegen Serbien) war das Prager Korps zum Vormarsch zwischen Drinamündung und Savemündung bestimmt. Um so größer war die Erschütterung des Korpskommandanten Baron Giesl, als er nun von den beiden Wiener Stabsoffizieren erfuhr, daß die Pläne seines Korps verraten seien und gewiß auch die vertraulichen Mitteilungen seines Bruders, verraten von seinem Vertrauensmann.
Nach dem Essen ging Korpskommandant Baron Giesl mit Oberst Urbanski von Ostromiesz und Chefauditor Worlitschek in die Wohnung Redls. Sie war versperrt und niemand hatte die Schlüssel. 247
Während die Kommission vor der Tür steht, stehe ich auf dem Fußballplatz in Holleschowitz. Das Wettspiel soll beginnen, aber unser Endback Wagner ist noch nicht da.
Ohne zu ahnen, daß sein Interviewer mit den Gedanken auf einem Fußballfeld ist, erzählt Feldmarschalleutnant Urbanski von Ostromiesz von der Hausdurchsuchung: »Wir mußten die Tür aufbrechen lassen, die Schränke und den Schreibtisch.«
»Von einem Zivilschlosser?« frage ich.
»Ich glaube. Es war Sonntagnachmittag und wahrscheinlich kein Professionist anwesend.«
»Exzellenz wissen nicht mehr, woher man den Schlosser holte?«
»Nein. Von irgendwo aus der Nachbarschaft, das ist doch wirklich unwichtig.«
Feldmarschalleutnant Urbanski von Ostromiesz runzelt ärgerlich die Stirn. Deshalb bemühe ich mich, meine Frage zu entschuldigen: »Der Schlosser hätte doch die gewaltsame Öffnung der Wohnung und der Schubfächer verraten können.«
Urbanski von Ostromiesz verzieht spöttisch die Mundwinkel: »Wem verraten?«
»Der Presse zum Beispiel.«
»Mein lieber Freund«, seufzt Urbanski von Ostromiesz, »Sie sehen den Fall als Kriminalfall an! Es war aber ein Fall der internationalen Wehrpolitik. Da spielt kein Schlossergehilfe mit.«
»Und wie glauben Eure Exzellenz, ist die Sache in die Presse gekommen?«
»Ja, das war allerdings das ärgste an der Katastrophe. Zuerst dachten wir an den privaten Racheakt eines in Prag tätigen Spions, etwa eines Geliebten von Redl. Nachher mußten wir annehmen, daß eine ausländische Spionagestelle auf die Nachricht von der Erledigung ihres Vertrauensmanns Redl der Zeitung »Bohemia« das Material gab, um sich am Generalstab zu rächen. Aber erst während des Krieges hat mir Exzellenz Conrad von Hötzendorf anvertraut, daß die Sache auf 248 ganz andere Weise in die Zeitung gekommen war. Es war schlimmer.«
»Wieso schlimmer, Exzellenz?«
»Der Polizeirat Schober hat trotz seinem Spezialeid den Vorfall dem Kriegsminister gemeldet, und der Kriegsminister fuhr noch am Sonntag im Auto nach Prag, inkognito natürlich. Er haßte den Generalstab, weil wir ihm nicht unterstellt waren, obwohl er das immerfort beantragte. So wollte er uns in der Öffentlichkeit schaden und vor allem beim Thronfolger, ohne uns direkt bei ihm zu denunzieren. In Prag übergab der Kriegsminister die Nachricht einem befreundeten Redakteur von der ›Bohemia‹, einem gewissen Kisch . . .«
Urbanski von Ostromiesz fällt ein, daß ich auch »Kisch« heiße. »War das Ihr Herr Vater?« unterbricht er sich.
Ich nicke bejahend. Ich bin nicht hier, Informationen zu geben, sondern zu empfangen.
»Dann wissen Sie ja, daß die Sache stimmt.«
Durch neuerliches Kopfnicken bestätige ich die kleine Verwechslung des Schlossergehilfen mit dem Kriegsminister.
»Sehen Sie«, fährt Urbanski von Ostromiesz fort, »deshalb war in der ›Bohemia‹ der Artikel mit dem Vermerk versehen: ›Von hoher Stelle‹. Vielleicht erinnern Sie sich daran?«
Gewiß, ich erinnerte mich sehr genau. Kaum hatte damals Wagner das Redaktionszimmer verlassen, als ich zum Chefredakteur stürzte, Beratung. Sollen wir die große Meldung bringen, trotz der Gewißheit, beschlagnahmt zu werden? Oder sollen wir die große Meldung einfach weglassen?
Wir entschlossen uns zu einem Kompromiß: die Konfiskation der Abendausgabe zu riskieren, indem wir die Nachricht in Form eines Dementis bringen. So erschien ein Dementi in Fettdruck an der Spitze des Blattes: »Von hoher Stelle werden wir um Widerlegung der speziell in Militärkreisen aufgetauchten Gerüchte ersucht, daß der Generalstabschef des Prager Korps, Oberst Alfred Redl, der vorgestern in Wien Selbstmord verübte, einen Verrat militärischer Geheimnisse begangen und für Rußland Spionage getrieben habe. Die aus Wien nach Prag entsandte Kommission, die, geleitet von einem 249 Oberst, am gestrigen Sonntagnachmittag in Gegenwart des Korpskommandanten Baron Giesl die Dienstwohnung des Obersten Redl, die Schränke und Schubfächer aufbrechen ließ und eine dreistündige Durchsuchung vornahm, hatte nach Verfehlungen ganz anderer Art zu forschen, usw. . . .«
Solche Dementis versteht der Leser, es ist so, wie wenn man sagt: »Der X. ist kein Falschspieler.« Aber konfiszieren ließ sich ein solches Dementi schwer. Der Presse-Staatsanwalt mußte annehmen, es stamme vom Korpskommando oder aus Wien, von einem Ministerium.
Als die Nachricht in Wien ankam, läutete die Presse Sturm beim Kriegministerium. Dort las der diensthabende Telefonist jedem anrufenden Journalisten folgendes vor: »Hieramts ist von irgendwelchen Verfehlungen des verstorbenen Herrn Generalstabsoberst Alfred Redl nichts bekannt und stehen solche Gerüchte im Widerspruch zum untadeligen Charakter des Verewigten. Ebensowenig ist hieramts von einer Entsendung einer Kommission nach Prag etwas bekannt und kann es sich sohin nur um eine normale Inventaraufnahme in der Dienstwohnung des verstorbenen Herrn Oberst Redl handeln.«
Aber fast gleichzeitig sagte das Platzkommando von Wien das militärische Leichenbegängnis ab – ein Mehr an Eingeständnis war nicht nötig. In der Nacht zog das, Kriegsministerium seine Erklärung zurück, so daß von ihr nur ein Detail zurückblieb: Dem Kriegsministerium war die Spionageaffäre unbekannt gewesen.
Von den Wolken des Vorkriegs war die Redl-Affäre die dunkelste: wie soll die k. k. Armee einen Krieg bestehen, wenn ihre Aufmarschpläne bis ins letzte Detail verraten sind? Mit ebensoviel Energie wie Ahnungslosigkeit wurde in Presse und Parlament die unverzügliche Änderung der Kriegspläne gefordert, und der Landesverteidigungsminister beeilte sich, beruhigende Versicherungen in diesem Sinne zu geben. Aber ein Kriegsplan läßt sich nicht willkürlich ändern, denn er stellt die Lösung der strategischen Aufgabe auf Grund ethnographischer und militärischer Gegebenheiten dar. 250
Der Thronfolger ließ ein Telegramm nach dem andern los: »Ich bin zu der unumstößlichen Gewißheit gelangt, daß die geistige Spannkraft des Oberst Urbanski von Ostromiesz in derartigem Maße gelitten hat, daß er für eine aktive Verwendung nicht mehr in Betracht kommt, und ist er der Superarbitrierung zu unterziehen.« Auch gegen General Conrad von Hötzendorf, gegen Höfer und Worlitschek richtete sich die Wut Franz Ferdinands, also gegen alle, die ihrem Generalstabskollegen zu nächtlicher Stunde den Selbstmord befahlen, ihm keine Gelegenheit zur Beichte und zum Heiligen Abendmahl gaben und sich Spezialeide leisten ließen, nur damit er, der Thronfolger, nichts erfahre. Ja, sie hatten ihm sogar den Vorschlag unterbreitet, an dem Leichenbegängnis von Oberst Redl teilzunehmen.
Aber nicht einmal diese Geheimhaltung hatten sie durchzuführen vermocht. Anderthalb Tage später wußte die ganze Welt davon.
Die ganze Welt wußte davon, weil ein Endback, ein Fußballer, ein Wettspiel versäumte. Das Spiel gegen Union-Holleschowitz, eine zweitklassige Mannschaft. 251