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Alle lachen, wenn man den Wunsch äußert, Tiger jagen zu wollen.
»Es gibt keine mehr. Traktorenwirtschaft und Tiger vertragen sich nicht. Ja, vor fünf Jahren! Aber jetzt . . .«
»So? Und das Fell hier an der Wand? Und die Tigerjungen, die man im vorigen Monat nach Moskau geschickt hat? Und der Esel, der in Sarai-Kamar zerfleischt worden ist? Und die Tränke am Wachsch . . .?«
»Bestreitet niemand. Kommt vor. Vor vier Jahren ist in Sokolniki ein Rudel Wölfe aufgetaucht – kann man deshalb sagen, in Moskau gibt es Wölfe? Wie würden die Moskauer lachen, wenn dort jemand auf die Wolfsjagd gehen wollte! Dabei war's doch dort ein ganzes Rudel, und bei uns sind es nur einzelne Tiere, zufällig hierher verirrt, vielleicht sind sie über den Fluß herübergekommen, weiß der Teufel wieso, drüben gibt es freilich Tiger.«
»Wo?«
»Am anderen Ufer des Amu-Darja, das ist aber schon afghanischer Boden. Dort im Dschungel könntest du Tiger treffen, am ehesten bei Nacht.«
»Gut, dann geh' ich hinüber!«
»Das ist noch unmöglicher, als hier auf die Tigerjagd zu gehen.« 230
»Warum?«
»Es gibt keine Brücke und es gibt kein Boot. Unsere Wachposten passen auf, daß niemand hinübergeht oder herüberkommt, kein Spion, kein Schmuggler, kein Bassmatsche, kein Verbrecher.«
»Ihr wollt mir doch nicht erzählen, daß überhaupt kein Mensch über die Grenze geht?«
»Früher war der Verkehr sogar ziemlich stark. Die Leute schwammen auf dem Burdjuk hin und her. Jetzt ist das eingestellt. Natürlich gelingt es einem oder dem anderen; die Grenze ist zu lang, der Amu-Darja allein fließt fast tausend Kilometer zwischen Sowjetunion und Afghanistan. Wenn der Posten jemanden hinüberschwimmen sieht, gibt er Feuer, und der afghanische erst recht.«
»Der afghanische? Wozu der? Der kann doch den Hinüberkommenden einfach gefangennehmen.«
»Glaubst du denn, alle zehn Schritte steht ein Posten? Die Wache kann auch nicht wissen, an welcher Stelle die Strömung den Schwimmenden absetzt. Und im Augenblick der Landung kann jeder im Dschungel spurlos verschwinden. Deshalb schießt der Posten schon vorher.«
»Das muß man eben riskieren . . .«
»Mach' keine Dummheiten, ein Ausländer in Afghanistan, im Grenzwald, mit russischem Gewehr . . .«
»Aber Tiger gibt's drüben?«
»Ja, und noch mehr Giftschlangen und Skorpione.«
*
Zunächst war für solches Unterfangen kein Dolmetsch aufzutreiben, nicht einmal jemand, der einem gesagt hätte, wo die Burdjuk-Fährmänner zu finden seien. Als ich sie 231 endlich ausfindig machte, verhielten sie sich ablehnend, sie hätten kein Pferd (wozu ein Pferd? Ich bringe meines mit), die Nächte seien jetzt zu hell . . . Ich bot vierzig Rubel. Bei sechzig erklärten sie sich bereit.
Niemand wußte, weshalb ich um sieben Uhr abends allein fortritt, hinaus vor das Dorf. Von dort brachen wir im Abenddämmer auf, fünf Männer, fellbehängt, mit großen Stöcken bewehrt, und ich, das Pferd am Halfter führend. Wir kamen an Tadschiken vorüber, die Kanäle bearbeiteten. Am Flußufer machten wir hinter einem Gestrüpp halt. Drei von den fünf zogen den Chalat vom Leib und die Schnabelschuhe von den Füßen, krempelten die Hosen hoch hinauf, zum Schluß nahmen sie sogar die Tjubetejka vom Kopf. Ich wollte mich auch auskleiden, jedoch sie bedeuteten mir, das sei unnötig.
Man tauchte die mitgebrachten Felle ins Wasser, worin sie, mit Steinen beschwert, fünf Minuten blieben. Die Männer, jeder mit einem Holzröhrchen im Mund, hauchten dem Vlies Odem ein, und dieses begann ein Körper zu werden, begann zu atmen, begann sich zu bewegen. Stümpfe der Beine, mit Strick und Stäbchen abgeschnürt wie Leberwürste, schaukelten ungeduldig, als sie zum Leben erwachten, sogar der Hodensack straffte sich.
Je atemloser die Bläser, desto körperlicher wurden die Häute. Naß glänzten sie im Mondschein. Der Abend war verteufelt hell. Ich legte mein Gewehr auf den Boden, kletterte die Böschung hinauf und hielt, hinter einem Baumstamm verborgen, Umschau.
Hellviolett beblüht lag das Tal da. Bis hart zu meinen Füßen liefen die mathematisch geraden, mathematisch parallelen Furchen der Baumwollfelder. Vor kurzem hat hier das 232 Raubtier in wildem Dickicht gehaust, Baumwolle gab es nicht, jetzt wendet der Traktor erst knapp am Fluß um. Unendlich das zartbunte Gefild; an seinem fernen Rand zog die Silhouette einer Karawane hafenein.
Über den Hang des Chodscha-tau, des Heiligen Berges, schlangen sich gelb die Windungen der neuen Autostraße, die diese Winkel mit der Welt verbindet. Keine Patrouille zu sehen. Moskitos umschwirrten mich, aber ich steckte, alter Feldsoldat, die mechanisch hervorgeholte Zigarette nicht an, sondern wieder in die Tasche.
Eben wurde mein Pferd losgepflockt und abgesattelt, es muß mitschwimmen. »Mein Pferd« – es gehörte selbstverständlich meinem Gastfreund. Ich hätte es nicht so leichtsinnig zur Verfügung stellen sollen; wenn uns etwas zustößt, wer bezahlt ihm das Pferd? Sollte ich nicht ein Testament zurücklassen, daß ihm der Schaden vergütet werde? Unsinn.
Die aufgeblasenen Häute wurden mit Pfropfen verschlossen und im Wasser zu einem Viereck angeordnet. Sie bildeten ein Floß von einem Meter im Geviert. In der Mitte bestand es freilich aus Wasser, soll das etwa der Sitzplatz sein? Warte nur, wozu hat man die Äste mitgebracht? – man legte sie überquer auf das wässerige Quadrat. »So, darauf setze dich nun, Genosse.«
Unter mir und neben mir schaukelte und schwabberte es, man sitzt keineswegs bequem auf Diagonalen aus Baumstöcken. Eines der Felle hatte etwas Untierisches: es war geflickt, wie eine Fußballseele sah es aus.
Ich war zwar schon auf dem Strom, aber noch war ich am Uferrand. Jener (der Strom) versuchte mich mitzureißen, auf diesem (dem Uferrand) hielten fünf Männer das 233 Floß an zwei Seilen fest, die sie um das Pferd banden. Einer schwang sich auf den sattellosen Pferderücken und trieb das unwillige Tier in die Flut, gleichzeitig sprangen zwei Männer hinein.
*
Die Wellen faßten uns. Ich hatte geglaubt, wir würden schnurstracks auf den gegenüberliegenden Punkt zufahren – ein Blick auf die beiden am Ufer zurückgebliebenen Tadschiken belehrte mich, daß wir stromabwärts jagten. Wir machten 35 Kilometer die Stunde, so schätzte ich (einen Kilometerzähler hat der Burdjuk nicht).
Das Pferd war dem vierblättrigen Fahrzeug vorgespannt und selbst in drei größere Schwimmgürtel aus Ziegenhaut eingebettet. Den Kopf aus den ungestümen Wellen angstvoll emporreißend, strebte das Pferd direkten Wegs dem anderen Ufer zu, dorthin trieb es auch sein Reiter mit Stockschlägen. Aus dieser beabsichtigten Geraden und aus der Strömung ergab sich eine Resultante, die uns fernab führte.
Als Steuerruder lagen die beiden Männer backbord im Wasser, hielten sich mit den Händen an meinem Sitzplatz fest und nur mit den Füßen machten sie froschartige Bewegungen.
Der eine hatte einen gewölbten Rücken, der sich bei jedem Tempo über den Kopf hob, wobei seine hellblauen Augen hervorquollen. Er erinnerte mich an jemanden, ich wußte nicht an wen.
Vorbei flitzten die Ufer. Ein Strich in der Dämmerung war einer der aus Latten gezimmerten Auslugtürme der Wachposten, schon sprang zwischen uns und den Wachturm ein langes Gestrüpp. Am afghanischen Ufer nichts als hohes Röhricht. Unter dem Mond flammte blau der ewige Schnee 234 von Pamir und Hindukusch . . . Das Gewehr war meine Balancierstange. Half nichts. Die Stöcke unter mir verrutschten, und ich saß im Wasser.
Drei Schüsse, scharf hintereinander, knallten. Galten sie uns, kamen sie von hüben oder von drüben? Wir sahen weder, noch hörten wir einen Aufschlag, das Wasser riß uns rasend weg.
Der jüngere der Schwimmer schrie immerfort, der Reiter schrie auch, ich wußte nicht, ob es Schreie des Schreckens über die Schüsse waren, ob man das Pferd anfeuerte, ob man wegen der Fahrtrichtung stritt oder ob irgendeine Gefahr drohe. Aber mit beruhigender Gleichmäßigkeit tauchten der runde Rücken und die blauen Augen meines Nachbarn auf. An wen erinnerte er mich . . . an Neuerl! Natürlich! Plötzlich war es mir eingefallen! Dem Neuerl sah er ähnlich!
*
Neuerl und ich haben einander vor etwa dreißig Jahren kennengelernt. Damals sollte ich Bankbeamter werden. Ich wurde einem Disponenten in der Provinz empfohlen; versagte ich im Bankfach, so konnte ich wieder zu meinem Studium zurückkehren, ohne daß jemand von dem Scheitern meines Versuches erfuhr. Außer mir trat noch ein anderer junger Mann zur Probe ein. Wer von uns beiden sich besser bewährte, sollte die Anstellung bekommen.
Der andere war der Neuerl, und gleich als wir uns kennenlernten, richtete er seine hellblauen Augen mit unverhohlener Angst auf mich, den Rivalen. Wir hatten Prima-Nota zu addieren und Depot-Auszüge zu machen. Neuerl notierte mit feingespitztem Bleistift dünn die Summen, rechnete von links nach rechts und von oben nach unten 235 und von rechts nach links und von unten nach oben, bevor er seine Erkenntnis einer Eintragung mit Tinte würdig befand oder auch nur ein Häkchen – den Richtigkeitsvermerk – auf den Bogen setzte.
Wir saßen an einem Schreibtisch einander gegenüber, und ich sehe noch Neuerls Kopf über dem Journal auftauchen und hinter dem Kopf, wie einen konzentrischen Kreis, seinen gewölbten Rücken. Dann versanken, eins nach dem anderen, Kinn und Rücken wieder in den Papieren, genau so wie jetzt neben mir Kinn und Rücken des Schwimmers nach jedem Tempo in den Wogen versanken.
Die fellenen Säcke schnauften und schnaubten, Pferd und Mensch desgleichen, neben mir schwamm Neuerl, seine Beine machten froschartige Bewegungen, seine Augen waren wasserblauer als das Wasser des Amu-Darja, das sonst nicht blau ist, sondern bräunlich. Blau aber war der Mond, eine Brosche aus Amaryll, dem Wolkenbusen angesteckt.
Ich hatte es mir damals, vor dreißig Jahren wesentlich leichter gemacht als mein Kollege Neuerl. Ich verließ mich auf die Verläßlichkeit des Herrn Primanotisten, wenn es ihn nachzurechnen galt. Gut ist's gegangen. Ich zweifelte nicht, daß mir der Sieg zufallen würde, freute mich darüber, denn die Arbeit gefiel mir.
Fräulein Freihöfer, die Saldokontistin, die mit uns das Büro teilte, begann mich zu protegieren, vielleicht schien ich, der Fröhlichere, ihr ein wünschenswerterer Arbeitskollege als der befangene Neuerl. Der wurde immer befangener. Einerseits sah er meinen Vorsprung, andererseits bemerkte er erschreckt, daß ich außerdem noch einen Schrittmacher besaß. Ungeschickt bemühte er sich um die Gunst von Fräulein Freihöfer. Wenn sie das Saldokonto aufs 236 Regal zurückstellen wollte, sprang er hinzu, wenn sie ihr Frühstück auspackte, ergriff er das Stullenpapier, um es in den Korb zu werfen. Aber auf Fräulein Freihöfer machte das wenig Eindruck, mir gab sie solide Depots, die aus lauter März-Rente bestanden, während sie Neuerl die Spekulanten-Depots mit Poldihütte und Skoda und Kosmanos und Juli-Süd anhängte, so daß er bei der Berechnung der Depotgebühren ununterbrochen in die Kurszettel tauchen mußte und stoßweise aus ihnen emporstieß, wie jetzt aus dem mondlich beglänzten Fluß.
Der Kampf gegen ihn war mir ungleich erschienen, und deshalb begann ich zu »largieren«: hatte ich anfangs bei der März-Rente die (eigentlich überflüssige) Bemerkung »mit Coupon vom 1. März« unabsichtlich weggelassen, so tat ich es – obwohl der Disponent mir die Auszüge zurückgab – nun absichtlich. Ein paarmal kam ich auch zu spät ins Büro. Nach vierzehn Tagen bekam Neuerl die Stellung, und ich habe mich eine Zeitlang wegen des Mangels an Ausdauer verflucht, den ich im Bankfach erwiesen hatte.
Während ich jetzt, dreißig Jahre später, unbefugt und beschossen, in einem Fahrzeug aus geflickten Ziegenhäuten, aus der Sowjetrepublik Tadschikistan in das Königreich Nadir Chans, aus der rationellen Kollektivwirtschaft in den finsteren Urwald zur Tigerjagd schwamm, kam mir der Neuerl in den Sinn, fiel mir seine Ähnlichkeit mit dem an meiner Seite auf- und niedertauchenden blauäugigen Rücken auf.
Noch immer schrien Reiter und Schwimmer einander zu. Ich merkte, daß sich das Schreien auf das Pferd bezog oder genauer gesagt: auf einen der geblähten Ziegenbäuche, die das Pferd trugen. Er schrumpfte ein, der Reiter versuchte, 237 den Pfropfen fester zu schließen, der Brüller schwamm zu Hilfe und brüllte dabei.
Bis zum Nabel im Wasser, hielt ich das Gewehr hoch, der Verschluß sollte vor Nässe geschützt sein. Neuerl spreizte die Beine, um sie wieder zu strecken. Wir waren dem Ufer schon ganz nah. Der Reiter schlug auf das Pferd ein, das doch ohnehin möglichst schnell an Land wollte, aber der Strom, der Strom bot alle Kraft auf, das fette Opfer drohte ihm ja zu entrinnen. Er warf uns nach links, wir wollten geradeaus. Wohin sausen wir? Sausen wir in den Aral-See?
*
Endlich hatte der Reiter ein Schilfrohr erfaßt. Zwar mußte er es wieder fahren lassen, denn die Strömung stieß uns weiter. Immerhin hatten wir einen Ruck nach vorn gemacht, bald waren es zwei von uns, die das Schilfrohr packen konnten. Wütend zerrte der Amu-Darja. Zu spät. Das Pferd hatte Grund, und so hatten auch wir Grund zu glauben, daß wir in der nächsten Sekunde landen werden. Neuerl stand schon, wohl nur auf den Zehenspitzen, aber der Kopf mit den hellen Augen und der gerundete Oberkörper waren oberhalb des Wasserspiegels. Wir wateten ans Ufer.
Das Pferd wurde an einen Strauch gebunden, die Ziegenfelle ans Land gezogen, die Schwimmer schüttelten sich, daß das Wasser spritzte, ich winkte Neuerl zu, mit mir zu gehen, er nahm einen der Äste auf die Schulter, wir gingen auf die Tigerjagd.
Anfangs mußten wir Pfützen und Sümpfe durchwaten, gleichsam die Fortsetzung des Stromes auf dem Festland. Als wir festen Boden unter den Füßen hatten, sah ich abwechselnd nach oben und nach unten, suchte nach dem 238 Schlangenvolk und dem Affenvolk des Dschungels. Ich sah nichts von ihnen.
Wohl aber sah ich, die Amaryll-Brosche leuchtete hell, wohl aber sah ich Tausende, Zehntausende, Hunderttausende von Vogelnestern. Zwischen jeder Gabelung der Zweige eines, in jedem Strauch zahllose Nester. Waren wir an der Riviera der Zugvögel, waren wir am Ziel oder in einer Zwischenstation ihrer jährlichen Reise? Oder sind es Vögel aus hiesigen Himmelsstrichen, die hier nisten und brüten? Wahrlich, eine ungestörtere Gegend ließe sich kaum finden. Mücken gibt es genug als Futter, kein Mensch streift vorbei. Nur Tiger schleichen abends durch Gestrüpp, aber das stört die Bewohner der Vogelnester nicht, Tiger können weder schießen noch fliegen. In dem Kampf, der jetzt zwischen dem Menschen und dem Tiger entbrennen wird, kann ich demnach auf die Sympathie der Vögel nicht rechnen.
Dunkel erinnerte ich mich gelesen zu haben, daß zu nächtlicher Tigerjagd (oder ist es Löwenjagd?) eingeborene Treiber mit Fackeln ausrücken, und daß man besonderer Projektile bedarf. Quatsch! Wenn ich der Bestie einen Schuß zwischen die Lichter brenne, also mitten in die Stirn, mitten in das Hirn, was kann sie da noch anderes tun, als tot zu meinen Füßen zu sinken, ein auszuweidender Bettvorleger? Außerdem werde ich nicht bloß einen Schuß abgeben, ich werde mehrere abgeben, zur Sicherheit!
Funkelte nicht etwas im Gezweig? Nichts funkelte im Gezweig, nicht einmal ein Glühwürmchen. Das Gewehr, das ich schon fest gefaßt hatte, konnte ich wieder lockerer fassen. Knackte da nicht etwas im Gezweig? Nichts knackte da im Gezweig, nicht einmal eine Heuschrecke.
Ich war stehengeblieben, Neuerl mit mir, ich ging weiter, 239 Neuerl mit mir. Nein, nicht er, sondern sein asiatisches Gegenstück. Die Ähnlichkeit (falls sie nicht überhaupt nur eine vermeintliche war) war ein grotesker Witz der Natur.
Der Tadschike, der mich, einen fremden Mann in fremdes Land begleitete, dieser Tadschike, der um der Laune eines anderen willen nächtlicherweile in den Dschungel drang, mit einem Stock auf der Schulter ins Tigergebiet, was mag er schon alles erlebt haben, – Sturz des Emirs, Revolution, Bandenüberfälle, Schmuggel, Flüchtlinge aus Afghanistan, Flüchtlinge nach Afghanistan, die Maschine tauchte auf, man lernte lesen und verstehen, die Kollektivisierung kam, die Lehren Marx' und Lenins – die Bewohner dieses Sowjetgebietes an den Grenzen der englischen Kolonie haben mehr erfahren und gelernt, als ihre Vorfahren in tausend Jahren.
Und der andere, der richtige Neuerl? Der sitzt mit seinem feingespitzten Bleistift in Böhmisch-Leipa, addiert Pfandbriefe oder Poldi-Aktien von rechts nach links, von oben nach unten, von links nach rechts, von unten nach oben, vielleicht ist er inzwischen Disponent geworden, hat Fräulein Freihöfer geheiratet und ist davon überzeugt, daß sie ihn damals protegiert hat, weil sie ihn schon damals liebte.
Gewiß ist er Disponent geworden. Ich stelle mir vor, daß ich bei ihm als Volontär arbeite. Wieder habe ich bei der März-Rente die Anmerkung »mit Coupon vom 1. März« weggelassen und er läßt mich rufen. Er sieht mich vorwurfsvoll an, er drückt den Bleistift auf die Tischplatte, gleich wird die feine Spitze abbrechen, knacks, er hockt da, geduckt, den Rücken hochgezogen, sprungbereit, wie ein . . .
Knackte da nicht etwas? Etwas knackte, aber die funkelnden Lichter einer Raubkatze, so scharf ich auch nach 240 ihnen ausspähte, funkelten nirgends. Ja, ja, ein afghanischer Königstiger tut einem nicht den Gefallen, sich sprungbereit, das heißt, schußempfangsbereit zu ducken. Man muß sich anschleichen. Ich schlich nicht. Ich trat fest auf, ich wollte Spuren hinterlassen, um den Rückweg zum Burdjuk zu finden; zwar ging ich nach meinem Kompaß genau südlich, jedoch wenn es zu regnen anfinge, könnte ich die Nadel nicht mehr erkennen und müßte hier nächtigen.
War es die Sehnsucht nach Neuerls Seßhaftigkeit, was mich immerfort an ihn denken ließ? Oder war es das Gegenteil? War ich froh darüber, während der Bürostunden den Dschungel durchstreifen zu können? Das kann der Neuerl freilich nicht. Aber andererseits: was ist mein Abenteuer gegen all das, was der andere Neuerl, der an meiner Seite, hier im umkämpften Mittelasien an Abenteuer und Schicksal erlebt haben muß!
Nichts fauchte oder krauchte im Gestrüpp. Kein Raubtier ließ sich abknallen. Wir wandten uns zum Gehen. Es war überflüssig auf den Kompaß zu schauen, überflüssig unseren Spuren zu folgen, – vor uns in der Richtung unserer Landungsstelle brannte es lichterloh. Wir eilten hin.
Was sahen wir? Was hörten wir? Die braven Fährleute hatten ein Lagerfeuer angefacht und sangen aus Leibeskräften, – um die Tiger zu verscheuchen. Das war ihnen gelungen!
Die Burdjuks lagen schon aufgeblasen und aneinandergefügt in den Schachtelhalmen, die Stangen waren wieder diagonal darübergebreitet. Man spannte das Pferd vor, trieb es ins Wasser, stieß ab. Nicht dorthin, woher wir herangeschwommen waren, kehrten wir zurück. Noch weiter stromabwärts riß uns der Amu-Darja, noch drei Kilometer 241 mußten wir rudern, reiten und balancieren, bevor wir ans Sowjetufer kamen.
Ich übergab einem meiner Begleiter die sechzig Rubel, er reichte sie dem Neuerl. Der schien also der Führer zu sein. Ich kletterte auf das Pferd. (Den Sattel morgen zu bringen, hatte ein Tadschike übernommen, der nicht mitgeschwommen war.)
»Todi-dana – auf Wiedersehen!« grüßte ich und sie erwiderten den Gruß im Chor. Nur Neuerl brummte etwas für sich, während sich mein Pferd in Trab setzte.
*
Zweimal wurde ich von Posten angehalten, denen der Reiter am Amu-Darja verdächtig vorkam, selbst nachdem er sich legitimiert hatte: ein Mann mit Gewehr auf sattellosem Pferd. Durchnäßt war mein Hinterteil und klebte am Rücken des Pferdes. Die argwöhnischen Patrouillen argwöhnten nicht, daß ich eine unbefugte Grenzüberschreitung begangen hatte, drüben in Afghanistan auf der Tigerjagd war.
Doch nicht von diesem Erlebnis war ich bewegt, sondern von dem Zweifel darüber, ob das, was der bucklige Tadschike eben zum Abschied gebrummt hatte, wirklich die Worte »Servus, Kisch« waren oder ob sie nur so klangen . . .? 242