Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ab ovo, vom Ei an muß man bei der Seidenerzeugung beginnen.
Vom Ei an . . . oder soll man gar mit jener Tätigkeit anfangen, der das Ei seine Entstehung zu verdanken hat? Das ist die Frage der griechischen Sophisten, ob das Ei früher da war als die Henne. In der Grenage-Anstalt von Taschkent wird jedenfalls nicht nur das Ei des Seidenwurms mit größerer Sorgfalt behandelt als man sonst ein rohes Ei zu behandeln pflegt, sondern die Wissenschaft betätigt sich hier auch als Gelegenheitsmacherin für das Liebesleben der Seidenfalter, denen dieses rohe Ei entspringt.
Keineswegs bloß um der Wissenschaft willen sind all die Mikroskope und Wärmemesser und Apparate da, sie sind vor allem wegen der Industrie da, der Seidenindustrie, deren Quell dieses Institut darstellt. Aus diesem Quell holpert lang und langsam der Bach über Dorf und Berg, holpert im Zickzack durch ganz Mittelasien, bevor er zum großen Strom aus Seide wird.
Im April kommen die Leute hierher in den Grenaschni-Sawod von Taschkent oder in die ihm unterstellten 103 Kokonstellen in Usbekistan und in Tadschikistan und holen sich die Eier des Seidenwurms, Bombyx mori.
Erst wenige Jahre bestehen die Verteilungsstellen. Trotzdem läßt sich ihre Geschichte bereits in drei Zeitalter einteilen. Zunächst – sozusagen Altertum – waren es die Männer, die die Eier abholten, und nach Monatsfrist die fertigen Kokons gegen Geld ablieferten; die Frauen hatten nur die Arbeit: Fütterung und Pflege der Raupen. Die zweite Phase – sozusagen Mittelalter – der Muselman erhöhte das Arbeitspensum seiner angetrauten Sklavin und vereinfachte sein eigenes, indem er sie auch die Eier abholen schickte. Er selbst brachte nur die Kokons in die Fabrik und steckte den Preis ein. Aber hier erfolgte der dialektische Umschlag: in der Kokonanstalt wurden die Frauen darüber aufgeklärt, daß dem, der die Arbeit leistet, die Bezahlung gebührt. So kamen das nächste Mal – sozusagen Neuzeit – die Frauen selbst, um Kokons abzugeben und Geld zu erhalten. Nunmehr besteht fast die ganze Klientel aus Frauen, sie sind es, mit denen man die Verträge abschließt; auch mit Schulen schließen die Kokonstellen Verträge ab.
Wie der Fieberkranke das Thermometer, so klemmen die Frauen auf dem Heimweg das Schächtelchen mit den Eiern in die Achselhöhle, sie behaupten, das sei die richtige Temperatur, in freier Luft wäre es zu warm und der Wurm schlüpfe zu frühzeitig aus.
Das Schächtelchen ist so groß wie eines für 25 Zigaretten und wiegt auch nur 20 Gramm. Immerhin sind diese 25 Gramm nicht weniger als 35.000 bis 40.000 Eier, und wenn man sie aus der Achselhöhle und aus dem Schächtelchen nimmt, entwickeln sich bald in der warmen Stube ebensoviele winzige mehlweiße Raupen. 104
Mit feingeschnittenen Maulbeerblättern werden sie dreimal täglich gefüttert, auf daß das Würmchen ein Wurm werde. Es wird einer und frißt weiter. Bis es besagtem Wurm langweilig wird, immerfort zu fressen und sich zu häuten, und er sich Mitte Mai, also ungefähr dreißig Tage, nachdem er aus dem Ei geschlüpft ist, dazu entschließt, wieder in ein Ei zu schlüpfen. Das muß freilich größer sein, als das, dem er entsprossen. Und er muß es selber bauen, er legt es, einen sturmfreien Rundbau, mit Geduld und Spucke um sich herum. Binnen zwölf Tagen ist er fertig.
Während die Raupe nun darangeht, sich in ihrem Eigenheim zu verpuppen, wird dieses und die Eigenheime ihrer aus dem gleichen Schächtelchen entstammenden Mitbürger in die Grenage-Anstalt zurückgebracht.
Dazu genügt nicht mehr ein Schächtelchen, das man in die Achselhöhle pressen kann. Die Arba wird angespannt, der Wagen, dessen Räder zwei Meter hoch sind, aus dem gleichen Grunde, aus dem den Kamelen so lange Beine gegeben sind: damit der Wüstensand die Karosserie nicht spurlos verwehe; der Kutscher sitzt niemals auf dem Wagen, sondern auf dem Rücken des Pferdes, die Beine hochgezogen, die Füße auf die beiden Deichseln stützend. In Tadschikistan, wo sich der Gebrauch des Wagens noch immer nicht überall eingebürgert hat, bringen Maulesel die seidene Last.
Allein könnte ein Mensch die aus den Samen emporgeschossene Ernte nicht weit tragen. Des Schächtelchens Inhalt hat innerhalb von sechs Wochen sein Volumen beträchtlich erhöht, aus 25 Gramm sind 60 Kilogramm geworden, wobei zu bemerken ist, daß auf ein Kilogramm 540 Kokons gehen.
Im Hof laden die Züchterinnen, den Roßhaarschleier züchtig vor dem Gesicht, Säcke und Körbe aus dem Wagen. Für 105 weiße Kokons »Bagdada« bekommen sie 1,75 Rubel per Kilogramm, für »Ascoli-piccio«, in deren Innern die Raupe angeklebt ist, 2,20 Rubel, für die chinesischen, die die italienischen Spezialisten »gialla-oro« nennen, 2 Rubel; die einheimischen heißen »Tshoidari«, sie bringen nur 1,50 Rubel per Kilogramm.
Lieferantinnen, verschleierte und unverschleierte, umringen die Wage, sie tauschen auf dem Hof Produktionserfahrungen mit ihren Kolleginnen aus, die über andere Berge nach Taschkent gekommen sind. Schulkinder beteiligen sich an der Produktionsberatung.
Die gold- und silbergefüllten Säcke werden ins Innere der Hallen geschafft. Lang wie ein laufendes Band sind die Sortiermaschinen. Arbeiter überprüfen jeden Kokon, ob er auch schön eirund ist und keine Anomalie aufweist, ob er nicht etwa launisch in der Form eines Herzens gesponnen ist oder in der einer Kugel. Kalibriert werden die Kokons, indem man sie über drei Siebe rollen läßt, die kleinsten fallen durch die Löcher des ersten, die größten durch das letzte, die mittleren aber sind die beste Sorte.
Was nicht für gut befunden wird – oft zum Beispiel hat ein vorwitziger Schmetterling sein Kerkerchen bereits durchbrochen – das geht nach Moskau, wo man Schappeseide daraus macht. Noch vor wenigen Jahren wurde solches Material zweiten Ranges nach Mailand verkauft, heute ist die Sowjetunion mit Hilfe italienischer Spezialisten imstande, alle Halbfabrikate und Fertigware selbst herzustellen und zu exportieren.
Diese schlechten Stücke und auch der überwiegende Teil der guten, der waggonweise in die Spinnereien geht, wird vorher in die Trocknungsöfen geschoben. Sechzig Grad 106 Hitze. Sie dringt durch die seidenen Wände, und der hinter ihnen verborgene Bewohner stirbt.
23 Tonnen der besten Kokons bleiben in einem temperierten Saal zurück, in der Zuchtanstalt für Schmetterlinge. Dort geht es ja schön zu! Aus den grobmaschig vergitterten Rahmen, zwischen die man die Kokons gelegt, springen vom fünften Tage an Hunderttausende, ja Millionen von Faltern heraus. Sie flattern nicht weit.
Kaum daß sie das Licht der Welt erblickt haben, fangen sie an, sich auf den Gitterdrähten oder auf dem Tisch zu paaren. Die Weibchen verbreiten einen Geruch, der die Partner anlockt. Das Weibchen, ein dickes Geschöpf mit kurzen Flügeln, bleibt ziemlich unbeweglich, während das Männchen mit seinem Hinterteil sich ihrem Hinterteil vermählt. Dagegen der Mann – er hat einen aufgezwirbelten Schnurrbart – gibt reichlich an. Unausgesetzt macht er Wellen mit seinen Flügeln, umherwirbelt der Flügelstaub, so daß die Arbeiter ersticken müßten, wenn nicht energische Ventilatoren, Luftschächte an der Decke und im Fußboden, den Puder davon- und Luft zuführen würden.
Nach zweistündiger pausenloser Kopulation hat das Weibchen genug, es weiß, was die Gelehrten der Raupenzucht erst durch langwierige Experimente herausgefunden haben: daß diese Zeitspanne zur Befruchtung eben die richtige ist. Aber glauben sie, der Gatte krallt herunter? Er würde seine Tätigkeit mit staubaufwirbelndem Flügelschlag noch mehr als zwei Tage fortsetzen, Sperma hat er genug; erst nach fünfzigstündigem . . . . . sinkt er, erfüllt von Orgasmus und Euphorie zugleich, tot vom Venusberg. Das weiß man allerdings nur vom Experimentieren her; hier läßt man ihm nicht länger das Vergnügen als es ersprießlich ist. Die rauhe 107 Menschenhand reißt die Männchen nach zwei Stunden aus den Armen der Geliebten, und wirft sie in einen Korb, der in den nächsten Geflügel-Kolchos wandert – Futter für die Hühner.
Infolge sorgfältiger Zuchtwahl ist die Zahl der männlichen und weiblichen Falter ungefähr gleich. Ist ein Männchen überzählig, so versucht es, einen glücklichen Nebenbuhler zu verdrängen, eine Prügelei entspinnt sich, der Stärkere hat den Genuß, der Schwächere hat das Nachsehen. Manchmal greift eine mitfühlende Arbeiterin in diesen Eifersuchtskampf ein und hilft dem Unterlegenen bei seinem Liebeswerben nach.
Ebenso muß man – hier ist es nicht mehr freundliche Gefälligkeit, sondern Pflicht der Arbeiter – dem allenfalls sitzengebliebenen Weibchen einen Partner verschaffen, der anderswo sein Werk bereits getan hat. Denn: zwar legt auch ein unbegattetes Weibchen Eier, aber diese sind nicht befruchtet, so wie es die der Henne nicht sind, die der Hahn liebevoll zu behüpfen tags zuvor nicht würdig befand.
Ist die Massenhochzeit vorbei, klopft eine Menschenhand auf die Gitterstäbchen oder auf den Tisch, und im Nu lösen sich die Ehepaare voneinander und beginnen gleichzeitig zu urinieren. Weiße milchige Flüssigkeit bedeckt den Boden. Würde man die Falter nicht auf diese Weise abhalten, so würden die Männchen nachher den Korb besudeln, was kein Malheur ist, aber die Weibchen ihr Wochenbett, und das muß rein bleiben.
Ihr Wochenbett – jedes Weibchen wird in ein Kuvert gepackt. Am Abend des Hochzeitstages, da die Schmetterlingin geboren, zur Frau gemacht und zugleich zur Witwe ward, wird sie auch Mutter. Sie beginnt Eier zu legen, binnen 108 zwei Tagen 400 bis 700 schiefergrau-bläuliche Eier. Hierauf verliert sie alle innere Feuchtigkeit und stirbt.
Stirbt sie? Nach den Grundsätzen der Naturwissenschaft stirbt sie nicht, obwohl sie ohne Zweifel tot ist. Nach den Grundsätzen der Naturwissenschaft kann man nur auf drei Arten sterben: durch Krankheit, durch Alter oder auf gewaltsame Weise. Von keiner dieser drei Tatsachen kann hier die Rede sein, der Zustand des Weibchens ist normal, es ist jung, auch für einen Falter jung, und weder Liebesverkehr noch Mutterschaft läßt sich als gewaltsamer Tod bezeichnen. Das vermeintliche Hinscheiden ist also nichts anderes als eine Transfiguration des weiblichen Schmetterlings in seine Eier, so wie sich die Eier ihrerseits in Raupen, diese in Puppen und diese wiederum in Falter verwandeln.
Der Leichnam der gestorbenen oder transfigurierten Mutter liegt neben ihren Kindern in dem Kuvert. Doch ist ihr Leid noch nicht vorbei. Man zupft ihr die Flügel ab, zerstampft ihren Leib in einem Mörser und legt ihn unter das Mikroskop, das fünfhundertmal vergrößert. Leicht läßt sich solcherart erkennen, ob die Mutter Spuren von Pebrina auf weist, einer den Seidenwürmern erb- und eigentümlichen Art von Flecktyphus, die Pasteur entdeckt hat, oder ob sie an Fettsucht, Gelbsucht oder Schwindsucht litt. Stellt man eine solche Krankheit fest, dann wird auch der Nachwuchs im Keim vernichtet.
Jene Eier aber, deren Mutter sich bei der Obduktion als unverdächtig erwies, beläßt man bei gleichbleibender Temperatur hier, bis sie im nächsten April wieder in Schächtelchen zu 25 Gramm ausgegeben, in den Dörfern gefüttert und als Kokons zurückgebracht werden, um als Falter zu erstehen, sich zu begatten, zu befruchten, zu gebären und zu sterben im Dienst der Seidenindustrie. 109
Die Anlage der Kokon-Sammelstellen ist überall gleich: am Rand der Bezirksstadt ein Flugdach, darunter Regale, etwas abseits Trocknungsöfen aus Lehm.
Wir kamen an vielen vorbei, in jeder war eine andere Manipulation im Gange. Während in Taschkent die ersten Kokons abgeliefert wurden, war im Süden Tadschikistans, in Sarai-Kamar die Ablieferung längst beendet und die ganze Ausbeute schon in die Spinnereien gesandt, in manchen Berggebieten aber wurden erst die Eier ausgegeben.
Oft sahen wir, wie das eiserne Tablett mit dem schneeweißen oder goldgelben Konfekt in den Backofen geschoben wurde. Mit der steifen Schicht der allgemeinen Hitze mischte sich der Ofenrauch. Das verlockte nicht dazu, hier haltzumachen.
Erst in einem höheren, kühleren Bezirk, in den Vorbergen des Pamir – unter uns sprangen die Wasser des Wachsch blitzend über rotes Geröll, über uns versengte das Weiß der Zar Peter-Berge unseren Blick – stiegen wir vor einer Kokon-Anstalt vom Pferd.
Die Leiterin trug Breeches und hohe Stiefel, was sie uns im Laufe des Gesprächs damit erklärte, daß sie im Bürgerkrieg Uniform getragen habe und sich an Frauenkleidung nicht mehr gewöhnen könne.
»Das ist eine Schußverletzung, Genossin, auf Ihrer Wange?«
»Ja, das ist ein Schuß, am Halse habe ich auch einen Schuß und zwei am Bein.«
»Da haben Sie viel durchgemacht, Genossin?«
»Was ein Mensch durchmachen kann, das können Sie gar nicht wissen . . . Mein Mann war Führer einer 110 Partisanenabteilung. Schwer verwundet kam er nach Hause. Unser Dorf wurde von den Weißen genommen, das erste Haus, in das sie eine Abteilung schickten, war unseres – vielleicht hat ihn jemand verraten. Sie packten meinen Mann, fesselten ihn und schrien: ›Jetzt wirst du keine Internationale mehr singen.‹ Darauf begann er die Internationale zu singen. ›Wir werden dich gleich zum Schweigen bringen!‹ Sie warfen mich aufs Bett und riefen ihm höhnisch zu: ›Willst du uns vielleicht auch dazu singen?‹ Er sang die Internationale, während sie mich schändeten. Er hörte nicht auf mit dem Singen. Sie brachten unsere beiden Kinder herein und brüllten, sie werden sie erschießen. Zuerst haben sie die Kleine erschossen, die war drei Jahre alt, dann legten sie auf den Buben an, er hieß Mischa, fünf Jahre war er alt. Mein Mann hörte mit dem Singen auf. Jetzt jubelten sie, und dann haben sie auch den Jungen totgeschossen und nachher meinen Mann. Das war in der Ukraine, 1918.«
Sie hat recht gehabt, diese Frau, bei deren kurzer Lebensgeschichte es uns kalt überlief, sie bat recht gehabt, als sie unserer Phrase mit dem Satz begegnete: »Was ein Mensch durchmachen kann, das können Sie gar nicht wissen.«
Was sollen wir ihr sagen, nachdem wir ihr Schicksal erfahren haben? Wir fragen, wie sie hierherkommt, aus der Ukraine auf den Pamir, vom Bürgerkrieg zu den Seidenraupen. Sie dreht sich eine Zigarette.
»Vierzehn Tage später meldete ich mich an die Front. Vier Schüsse habe ich abbekommen. Auch noch schwerere Wunden hätten mich nicht abhalten können, an der Front zu bleiben. Aber leider bekam ich epileptische Anfälle, sobald ich die Internationale hörte. Das hat bis heute nicht aufgehört, – wenn jemand die Internationale singt oder nur 111 pfeift, so bekomme ich schon die Krämpfe. Jede Arbeit wurde mir dadurch unmöglich gemacht. Die Partei hat mir angeboten, mir selbst eine Beschäftigung auszusuchen. Ich habe geantwortet, ich möchte irgendwohin, wo man die Internationale nicht singt. Darauf wurde mir gesagt, gut, ich könne nach Italien. Das wollte ich nicht . . . ›In der Sowjetunion gibt's aber keinen Platz, Genossin, wo man die Internationale nicht singt, – höchstens vielleicht auf dem Pamir.‹ Da habe ich mich eben auf den Pamir schicken lassen. Hier oben gibt es keine Musikkapelle, die Bauern zupfen auf ihrem Du-Tar (tadschikische Gitarre) meist ihre Volkslieder. Jetzt hat es sich freilich schon geändert. Auch Radio ist da, wenn ich abends nach Hause gehe, muß ich mir Straßen aussuchen, wo der Lautsprecher nicht hindringt. Außerdem trage ich fast immer Watte in den Ohren. Ich bin schon zwei Jahre hier und habe erst vier Anfälle gehabt – in Rußland hatte ich jede Woche mindestens einen. Früher konnte ich von diesen Dingen nicht sprechen, aber man hat mir geraten, nicht alles so in mich hineinzufressen, und ich glaube, die Leute haben recht. Nun, genug von mir . . . Sprechen wir davon, was hier gemacht wird.«
Wir sprechen davon, was hier gemacht wird.
Aus der Taschkenter Grenage-Anstalt bekommt die Kokonstelle 4000 Schachteln mit Raupeneiern. »Am 1. Mai haben wir keinen Feiertag. Gerade an diesem Tag fangen wir an, die Schachteln auszugeben; in anderen Bezirken liefert man um diese Zeit schon die Kokons ab. Dort unten in den Tälern entwickeln sich die Raupen bei natürlicher Temperatur, unsere Züchter müssen ihre Stuben oft eigens heizen, um eine Wärme von 26 Grad zu erzielen. Bei uns spinnt sich der Wurm erst im Juni ein. Aus zehn Gramm Eiern werden 112 ungefähr 24 Kilo Kokons, wir haben meist Bagdader Sorte. Die abgelieferten Kokons kommen hier in den Ofen und bleiben fünfzehn Minuten im Dampf, bis der Wurm ganz weiß und tot ist. Anderthalb bis zwei Monate liegen die Kokons zum Trocknen auf unseren Regalen, dann gehen sie in die Garnfabrik.
Auch aus Afghanistan holten die Bauern Schachteln von uns und brachten uns die Kokons. Die waren sehr klein, weil sie drüben wenig Maulbeerbäume haben. In diesem Jahr haben sie überhaupt nichts abgeliefert. Jetzt sind die Grenzen gesperrt. Aber das macht nichts, unsere Produktion nimmt zu, wir erzielen schon fast viermal soviel Kokons wie vor drei Jahren.«
»Sie sind also zufrieden, Genossin?«
»Wie man's nimmt. Die Seidenzucht von Tadschikistan hat sich seit dem vorigen Jahr um 1939 Zentner Kokons erhöht, das ist um 27 Prozent. Daran ist unser Bezirk am stärksten beteiligt, – wir machen fast doppelt soviel Kokons wie das Wilajet Gissar, das Wilajet Kurgan-Tjube und das Wilajet Kuljab. In diesem Jahr haben wir 946 Zentner. Das ist aber viel zu wenig, das Wetter war schlecht, viele Wege ungangbar, die Maulbeerbäume blühten verspätet . . . laut Fünfjahrplan hätten wir 1804 Zentner abliefern sollen und dann hätte unser Bezirk nächstes Jahr eine eigene Spinnerei bekommen. Wir haben aber nur 52 Prozent des Plans erreicht. Machen wir im nächsten Jahr 2200 Zentner, so haben wir den Plan trotzdem erfüllt und bekommen die Fabrik. Es wird uns gelingen. Und wenn man die Fabrik zu bauen anfängt, lasse ich die Internationale spielen. – Dann ist die Vergangenheit vorbei.« 113
In Buchara, wo die Romantik rauh und despotisch war, hat man Teppiche gewebt von altersher, und Waffenschmiede standen am Blasebalg; in Samarkand, wo die Türmchen und Fassaden glitzern wie Spiegel, spann man Seide. In Europa ist eine solche geographisch-ästhetische Einteilung, sofern sie je bestand, längst verlorengegangen, man liest in den Zeitungen von »Schlachthausbrand in Saragossa« oder »Die Weimarer Polizistengreuel«, ohne das als deplaciert zu empfinden. Vielleicht wird auch in Sowjet-Asien die sentimentale Geographie bald verschwunden sein, denn die moderne Industrie sucht sich ihre Wirkungsgebiete nach praktischeren Gesichtspunkten aus. Andererseits aber kann im Reich der Planwirtschaft ein traditionelles Gewerbe nicht durch willkürliche Konkurrenz brachgelegt werden, im Gegenteil, ein traditionelles Gewerbe kann neue Impulse durch den sozialistischen Staat erfahren.
Leider ist das mit der Buchareser Teppichweberei nicht geschehen. Dieses Handwerk hatte in den Hungerjahren, als die Reaktion das Reich des Emirs abschnitt von Sowjet-Turkestan, und Sowjet-Turkestan abschnitt von Europa, zu existieren aufgehört; während des Bürgerkrieges wanderten die Meister mit ihren Webrahmen und Mustern nach Afghanistan aus, und später blieben die Versuche der Sowjets, die Teppichweberei wieder hochzubringen, vergeblich. Buchareser Teppiche sind in Buchara schwerer zu kaufen als in Berlin.
Anders steht es mit der Seidenspinnerei. Es ist geglückt, sie zu beleben, sie zu industrialisieren und sie gleichzeitig einzuordnen in den Prozeß zur Befreiung der Frau. 114 »Chu-dschum – der Sturm« heißt die größte Spinnerei von Samarkand, sie hat 1100 Arbeiter und Arbeiterinnen, ebensoviel wie die Spinnerei »Zehnter Jahrestag der Oktober-Revolution« in Fergana, mit der sie in sozialistischem Wettbewerb steht. Wie bei den Fernpartien der Schachspieler werden die Züge herüber und hinüber telegraphiert, und groß angeschlagen ist in den Betriebsräumen des »Jahrestags« und des »Sturms« der bisherige Verlauf des interurbanen Wettkampfes.
So sehr wir uns auch angesichts der Samarkander Sakralbauten an den Anblick von Gold und Weiß gewöhnt haben, blendet uns doch im Lager der Spinnerei das viele Gold und das viele Weiß der aufgestapelten Kokons, das viele Gold und das viele Weiß der Seide, die ein Wurm gesponnen hat und vom Menschen entsponnen werden muß, um wieder gesponnen zu werden.
Das ist die Aufgabe in der Fabrik. Sobald der Kokonbestand nach Farbe, Art, Größe und Qualität sortiert worden ist, rutscht er auf einer Schütte hinab zu den Spinnerinnen in der Werkhalle. Gründlich getrocknet waren die Kokons, bevor man sie hierher brachte, und nun ist der erste Arbeitsgang der, sie wieder zu befeuchten. Ein Dampfbad löst den Mörtelverputz des seidenen Häuschens, den Leim, und rotierende, zarte Bürstchen fahren die Fassade entlang. Das eirunde Stück glatten Goldes oder carrarischen Marmors hört auf, ein eirundes Stück glatten Goldes oder carrarischen Marmors zu sein, und ist nun das, was es ist: ein Gespinst. Die Struktur liegt bloß und bleibt bloßgelegt, auch wenn man die Stücke nach dem heißen Bad einem kalten aussetzt.
Aus dem fischt sie die Arbeiterin. Abgelöst wird die äußere Schicht des Kokons, ein bastartiges Zeug, nur gut 115 für Schappegarn. Jetzt macht man den letzten Hauch der Raupe ausfindig, den Endpunkt des von ihr gesponnenen Fadens, erfaßt ihn und leitet ihn durch die Öse eines Achatsteins, der außerdem noch die Fäden fünf anderer Kokons aufnimmt.
Viele Samarkanderinnen tragen das roßhaarne Visier bei ihrem Turnier gegen Fergana, manche nehmen es nicht einmal ab, wenn sie den Faden durch den Achatstein stechen und von dort über die Haspel führen, das Rad, das, mathematisch genommen, ein Achteck ist, aber sich so schnell dreht, daß man seine Ecken übersieht. Es rollt die sechs Kokons ab und zwirnt die sechs Fäden zu einem einzigen Faden von 250 bis 500 Meter Länge.
Über die Köpfe der Arbeitenden hinweg laufen die sich umeinanderwindenden Fäden und schlingen sich um sausende Spulen. Netze zerschneiden den Raum, in dem man die Kokons weicht und bürstet und abwickelt, die Enden der Zwirne knüpft, die Spulen wechselt, die mattglänzenden Strähnen abhebt und zu Docken dreht.
Tausenden und aber Tausenden von verpuppten Würmern wird das Obdach geraubt. Schutzlos liegt der Wurm da, der das teuere Material geliefert, kunstvoll das erste Halbprodukt verfertigt hat, hüllenlos und leblos liegt er da. Er heißt »Chrysolitha«, alles hier hat italienische Bezeichnungen, denn vor drei Jahren wurde die Fabrik von Turiner Spezialisten eingerichtet. Jetzt arbeitet sie schon ohne fremde Hilfe und erfüllt den Fünfjahrplan; aus der Chrysolitha macht man Seife, aus dem Seidenleim Brennöl und in die Seidenweberei nach Chodschent gehen die Rohgarne, die wir hier abrollen und aufrollen sehen.
Aus den Wasserbecken wallt Dampf empor, das Geäder 116 der Fäden, das Kreisen der Haspeln und Spindeln verwirrt unseren Sinn . . .
Wo sind wir?
Ein enges Tal im Mondscheinglanz.
Auf Sträuchern flammt Schlehdorn und Goldregen, Spinnweben hängen im Gezweig.
Nebelschwaden steigen aus dem Wiesengrund.
Nymphen heben silberne und goldene Vogeleier aus Nestern, pflücken Löwenzahn, drehen sich im Reigen zum Schleiertanz.
Durch die Luft weht Altweibersommer.
130 Rubel beträgt der Durchschnittslohn der Arbeiterinnen. Am Abend besuchen sie Unterrichtskurse. Vor ein paar Jahren waren sie eingekerkerte, mittellose, analphabetische Sklavinnen ihres Gatten.
»Es gibt keine antiquarischen oder exotischen Andenken von der Seidenerzeugung . . .«
Das hat vor ein paar Monaten der Direktor des »Musée des tissus« in Lyon geantwortet, als wir erwähnten, diese Galerie unbeschreiblich schöner Gewebe aller Zeiten und Völker würde erst dann auch Nichtfachmänner interessieren, wenn veranschaulicht wäre, unter welchen ökonomischen und technischen Bedingungen diese Meisterwerke entstanden sind.
»Es gibt keine antiquarischen und keine exotischen Andenken von der Seidenerzeugung,« antwortete er, »immer und überall vollzog sich die Herstellung in der gleichen Weise. Joseph Jacquard hat den Webstuhl nur 117 vervollkommnet, der in der ganzen Welt in Gebrauch war. Im Treppenhaus sehen Sie die Modelle seines und des ursprünglichen Systems. Ein Original steht im Musée Gadagne. Mehr Andenken gibt es nicht.«
Seit heute wissen wir, daß das nicht stimmt. Hier, in Chodschent finden sich Geräte, um derentwillen man dem Lyoner Gewebemuseum eine technologische Abteilung angliedern könnte. Über die Rückständigkeit der Spulen, Spindeln und Haspeln, die man da zu sehen bekommt, würde selbst die älteste Spulerin auf der Croix-Rousse, dem Seidenviertel von Lyon, den Kopf schütteln, vor den Handwebstühlen verblaßt deren ehrwürdiger Vetter im Musée Gadagne. Aber der Vertreter des Lyoner Gewebemuseums muß sich beeilen, wenn er sehen will, wie mit diesem vorsintflutlichen Handwerkzeug gearbeitet wird.
*
Die letzten Handweber hausen in der Altstadt von Chodschent. Ihre langgestreckten Werkstätten aus Lehm durchläuft ein Draht. Unter dem Scherbaum und an der gegenüberliegenden Wand hängt je ein steinernes Gewicht an diesem Draht und spannt das gewebte Seidenstück. So alt wie die Arbeitsweise sieht der Weber aus, sein Bart: als wären Docken von Schappeseide auf Kinn und Backen geklebt, sein Nacken: als drückten auch ihn die steinernen Gewichte nieder. Dennoch ist der Alte rüstig und gelenk. Mit den Füßen hebt er den Scherbaum, mit den Händen wirft er ein Weberschiffchen unter den Faden; dergestalt erzeugt er die Kette mit dem Fuß, den Schuß mit der Hand, Tritt und Wurf, Tritt und Wurf ein Menschenleben lang, ein Greisenleben lang, Tritt und Wurf, das gleiche Gewebe aus grünem und118 blauem und violettem Garn, ein Greisenleben, zehn Greisenleben lang.
Noch bizarrer als der Webstuhl, diese Kombination von Kamm und Bürste, wirkt eine kleine Apparatur: in den Scherbaum ist eine Latte senkrecht eingerammt und von ihr baumelt ein Fell, das bei jeder Bewegung des Pedals dem Weber sanft ins Gesicht schlägt.
Das ist, endlich begreifen wir's, eine Vorrichtung zum Verscheuchen der Fliegen, auf daß sie den Meister nicht stören, wenn er das Weberschiffchen schnellt. Fliegen sind genug da, der Dampf, der den Raum erfüllt, verjagt sie nicht. Der Dampf kommt aus zwei Töpfen, in denen ununterbrochen zwei Flüssigkeiten kochen, Stärke und grüner Tee.
Sechs Meter am Tag macht der Weber und verdient kaum die Hälfte von dem Lohn eines Fabrikarbeiters. Obwohl die handgewebte Ware teuerer ist als die industriell erzeugte, läßt sie sich leicht an den Mann bringen, weil die Produktion der Großbetriebe den gesteigerten Bedarf noch nicht deckt. Nicht lange mehr werden Weber unter fellnem Fliegenwedel hocken. Schon weben die Fabriken den Hauswebern das Leichentuch.
Drüben rattern bereits die Webstühle im Vielklang, drüben arbeiten die jüngeren Kollegen der weißbärtigen Heimarbeiter, – Überläufer vom Handwebstuhl zum halbmechanischen, vom Handwerk zur Fabrik. Die Seidenfabrik »Roter Weber« ist ein Artjel, eine Produktionsgenossenschaft von 413 ehemaligen Heimwebern. Außer ihnen sind noch 116 Arbeiter und Arbeiterinnen in der Fabrik tätig.
Die Einnahmen der Mitglieder richten sich nach der Produktion, fallen aber niemals unter die Löhne der Kategorie, 119 in der sie arbeiten: der Taglohn in der Weberei beträgt 6 Rubel, in der Hasplerei 6 Rubel 58 Kopeken und in der Fransennäherei 5 Rubel 50 Kopeken.
*
Grellglänzende, buntbemusterte Seiden werden gewebt, grün-blau-violett gestreifte Stoffe für die Chalate der Männer, bordeauxrot-golden geblümte Tücher für die Frauen. Tausendlöchrig sind die Kartonrollen zu Häupten der Arbeiter, durch die die verschiedenfarbigen Fäden in verschiedene Richtungen laufen, um sich in der Luft wiederzufinden, aneinanderzuschließen, als Fläche zu vereinigen und in der ihnen streng vorgezeichneten Weise eine Figur zu bilden.
132 Webstühle. Ein Zug an der Schnur, und das Weberschiffchen schnellt an das andere Ufer des seidenen Stromes, der ewig die gleichen Reflexe wirft und ewig dasselbe Bett durchrinnt, also ewig der gleiche ist und doch ewig ein anderer, da er aus immer neuen Rinnsalen immer neu ersteht. Auch der auf einem Wellenkreis schaukelnde Strauß, der sich allmählich glättende und wieder versinkende Blumenstrauß, ist ein anderer Blumenstrauß als die gleichen Blumensträuße, die vor ihm und nach ihm schwimmen und im sachten Wasserfall versinken.
*
Tadschiken übertragen in der Zeichenkammer die Entwürfe für die Dessins auf winzig quadrierte Bogen und stanzen das Sujet in die Schablonenrollen. Das ist die Männerarbeit. Tadschikinnen sitzen auf der Erde. So saßen sie jahrhundertelang im Tatschkari, dem Frauenhaus ihres 120 Gebieters, auf der Erde. Und an den Geräten, mit denen sie die aus der Spinnerei von Samarkand ankommenden Garne aufspulen, mögen schon ihre Mütter und Großmütter gesessen haben: schwarze Spindeln, jede in anderer Manier gedrechselt und geschnitzt. Das Lyoner Gewebemuseum sei auf diese Stücke besonders hingewiesen, sowie auf die skulptierten Gestelle der quadratischen und achteckigen Riesenhaspeln.
Frauen mit starren Augen, des unvergitterten, ungesiebten Lichtes ungewohnt, Mädchen mit aneinandergeschminkten Augenbrauen, jung, ihrer Wirkung froh, singen bei der Arbeit. Text und Melodie sind fremd dem Fremden, er weiß nicht, ob da zum Gesurr und Geschnurr der Spindeln das warnende Lied der Atropos gesungen wird oder das zufriedene der Klotho oder das vorsichtig ordnende der Lachesis:
Fäden kommen, Fäden weifen,
Jeden lenk' ich seine Bahn,
Keinen lass' ich überschweifen
Füg' er sich im Kreis heran.
Schließlich erweist sich, daß das Lied kein Parzengesang ist, die Worte »Lenin« und »Fabrika« lassen sich verstehen, und der Gesang nimmt den Rhythmus der Räder an, die zum Finale jubelnd zu sausen beginnen.
Die Fabrik, eingerichtet im ehemaligen Tuskulum eines Gendarmeriegewaltigen, liefert für 5,109.000 Rubel Seidenstoffe im Jahr. Doch wie die Hausweber der Nachbarschaft technisch rückständiger sind als ihre rückständigsten Kollegen von der Croix-Rousse, so kann diese Fabrik mit ihrem handbewegten Antriebsrad, ihren hockenden Spulerinnen 121 und ihren stehend arbeitenden Webern keineswegs einen Vergleich mit den Lyoner Großbetrieben aushalten.
*
Wir müssen noch weitergehen, um in das dritte Zeitalter der Seidenweberei zu kommen. Es ist nicht fern. In einem Komplex mächtiger Bauten wird sich jener Werdegang der Seide vollziehen, den zu verfolgen wir ganz Mittelasien durchreisten, von der Raupenzuchtanstalt in Taschkent zu den Kokon-Trocknungsstellen an der afghanischen Grenze, von ihnen zur Spinnerei in Samarkand und schließlich zu den Handwebern und zu den halbmechanischen Webstühlen in Chodschent.
Alle diese Arbeitsgänge und noch neue werden nun vereinigt, auch die Verarbeitung der Nebenprodukte findet hier ihren Platz. Man nennt das bekanntlich »vertikale Gliederung«. Im Raum äußert sich eine solche Vertikalität horizontal. Nebeneinander angeordnet sind die Betriebe, zwei Hallen für die Spinnerei mit 384 Kokonbecken, die Zwirnfabrik mit 1800 Spindeln und die Weberei mit 400 Webstühlen.
Schon baulich ist das Kombinat als Fabrik des Arbeiters angelegt. Das Hauptportal dient als Eingang für die Belegschaft (die Verwaltungsräume liegen in einem anderen Block) und führt in einen kreisrunden Portikus von nicht weniger als 48 Meter Durchmesser; in einer Höhe von elf Metern schwebt die Kuppel darüber. Rings um diese Säulenhalle sind die Arbeiter-Institutionen untergebracht, der Betriebsrat, die Zellen der Partei, der Gewerkschaft und anderer Organisationen, die Inspektion für Arbeitsschutz, die Lohnkasse, die Garderoben mit 5000 verschließbaren Schränken und das Schwimmbassin mit den Duschen. 122
Fast in der Mitte der hellen, riesenfenstrigen Werkhallen, Achtung, eine senkrechte Schlucht, fünf Meter tief, unten ein Talkessel, zwanzig Meter lang, zwölf Meter breit. Das sind die Ventilationskammern, sie werden mit ihren elektrischen Anlagen einem ähnlichen Zweck dienen, wie die Fliegenwedel der benachbarten Handweber.
Vier Millionen Rubel kostet der Bau des Seidenkombinats, das Hunderte von Tonnen Seide liefern wird. Mit Volldampf arbeitet die Zementmaschine, Stämme werden zu Pfosten gehackt (nicht gehobelt), es wird gewalzt, dachgedeckt und gezimmert. Die Spinnmaschinen sind schon da, amerikanischer, französischer und einheimischer Faktur, auf die Fabrikmarke »Grusinischer Metalltrust, Tiflis« weist der alte Sekretär der Parteizelle besonders hin. Der Alte unterrichtet im Fab-Sa-Utsch, der Werkschule, die bereits 400 Schüler, darunter mehr als ein Drittel Mädchen aus Tadschikistan, hat, wogegen er selbst nicht aus Tadschikistan ist, sondern aus dem Rheinland. Freilich ist schon viel Wasser den Rhein hinabgeflossen, seit er, Cäsar Storch, nach Turkestan kam, um in Taschkent die ersten Maschinen von Krupp zu montieren. Er ist hier geblieben und hat fünf Kinder, alle Kommunisten, wie er als braver Familienvater sofort hervorhebt. Ein Sohn ist Chefchemiker, ein anderer, Adolf Cäsarowitsch, ist roter Direktor des Öl- und Fett-Instituts in Saka-Andischan. Ja, ja. Es sind schon 34 Jahre her, seitdem Genosse Cäsar die Maschinenfabrik Ackersdorf am Rhein verlassen hat. Sein Bruder ist zu Hause geblieben und arbeitet noch immer in dieser Fabrik. Genosse Cäsar bezweifelt, daß auch die Söhne seines Bruders inzwischen studierte Leute und Fabrikdirektoren geworden sind. 123