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»Der Teufel soll euch holen alle zusammen!«
»Wer ist das ›euch‹?«
»Das seid ihr: die Europäer, die uns besuchen.«
»Und warum soll uns der Teufel holen, uns Europäer alle zusammen, die euch besuchen?«
»Warum? Da kommen sie her, die Europäer – Arbeiter, Volkswirtschaftler, Marxisten, Gelehrte, Schriftsteller – und keiner will sich unsere technischen Anlagen ansehen, unsere Forschungsinstitute, unsere Fabriken, unsere Neubauten, unser Wasserwerk in Rewat-Chodscha, unsere Klubs, unser Haus der Bauern, unsere Mutterschaftsfürsorge oder unsere Kliniken. Alle kommt ihr nach Samarkand, um Romantik anzuglotzen.«
»Genosse Mustapha . . .«
»Natürlich. Ich weiß selbst, daß es Neubauten und Schulen überall gibt. Aber aus einer Stadt voll blauer Majolika und goldener Koransprüche eine Stadt mit Hygiene und Industrie zu machen, ohne das Alte zu zerstören, das gibt's nicht überall. Schaut euch einmal die Geschichten aus der tausendundzweiten Nacht an! Das ist keine Nacht des Märchens, das ist eine Nacht der Wirklichkeit.«
»Warum sagst du ›Nacht‹, Genosse Mustapha?« 45
»Ich weiß nicht . . . ich habe das nur so gesagt . . . weil es schön klingt . . . man wird ja angesteckt von eurer dummen Romantik. Hier sind die politischen und religiösen Gräber. In Samarkand kann man das asiatische Altertum studieren und das mohammedanische Mittelalter, von Alexander dem Großen bis zum Araberstaat Maweranar, so wie man drüben in Buchara die asiatische Neuzeit kennenlernt, den Despotismus des Emirs und schließlich die neueste Zeit, denn Buchara war der Ausgangspunkt der mittelasiatischen Revolution.«
»Gut, Genosse Mustapha, wir möchten also das asiatische Altertum sehen und das mohammedanische Mittelalter.«
»Der Teufel soll euch holen, ihr wollt nur . . .«
»Ich denke, der Teufel ist abgeschafft, Genosse Mustapha?«
»In Samarkand ist vieles noch nicht abgeschafft, was anderswo abgeschafft ist. Kommt, ich werde es euch zeigen, – ihr Europäer, die der abgeschaffte Teufel abschaffen sollte.«
*
Wir erklimmen die Treppe von Schachi-Sinda, eine Treppe, deren Geländer aus Palästen besteht. Übereinander liegen diese Paläste, marmorbelegt sind sie, mosaikengeschmückt, majolikagekachelt, girlandenumschlungen, säulengestützt, kapitellengekrönt. Der Grundriß ist ein Quadrat, aber die Wände laufen nach oben in ein offenes Achteck zusammen, von dem aus sie in ein Sechzehneck münden. Das trägt die strahlend blaue, goldbetupfte Kuppel, Firmament mit Gestirn.
Bienenwaben, bunte Bienenwaben, abwechselnd rote und blaue und goldene, stumpfen die Ecken ab, so daß man glaubt in einem Rund zu stehen. An Waben erinnern uns 46 diese Nischen oder an zusammengepickte Bonbons, woran sie aber gewiß nicht erinnern, sind Stalaktiten: sie heißen Stalaktiten-Bogen.
Jeder der Paläste hat nur einen Bewohner und dieser Bewohner ist tot. Da liegt Tuglutekim, eine Gattin des Emirs Hussein, da liegt Schirin-Beka-Aka, eine Schwester Tamerlans, und gegenüber eine seiner Frauen namens Turkan-Aka, da liegt ein Heiliger, Prophete rechts, Prophete links.
Und zuoberst der Oberste der Propheten, der Vetter Mohammeds: Kussam ben Abbas. Genau genommen, liegt er gar nicht hier, sein Grab ist das einzige apokryphe Grab der Nekropole. Kussam, wehrhafter Verbreiter des Islams in Mittelasien, war weder vor noch nach seinem Tode (56 n. d. Hedschra) in Samarkand, aber Tatsachen beweisen nichts in Glaubensdingen. Kussams Grab ist Ziel der Wallfahrer. Barfüßig knien sie in der Moschee, die der Seitenraum des Grabgemachs ist, knien nach Südsüdwest gewendet, Mekka zugekehrt, mit gesenktem Haupt, als wollten sie es aus lauter Demut in die Steinfliesen stoßen.
Allzu nahe an das Grab von Mohammeds Kusin heranzukommen, verwehrt ein Holzgatter. Eine Mongolenfahne steht im Raum, von einer Stange weht der Schwanz eines Yak, aus Silberblech ist die Kontur einer Harid geschnitten, mystische Symbole. Die Gebetstube daneben ist Frauen und Ungläubigen unzugänglich. Sie darf nur einmal in zehn Jahren aufgeräumt werden und nur vom Mullah persönlich. Was einer Frau geschähe, die sie zu betreten wagte, – solches hat noch kein orientalischer Märchenerzähler auszudenken vermocht. Auch nach dem Tode darf keine Frau in eine Moschee; die Totenpaläste unter uns sind keine Gotteshäuser, selbst die Moschee Bübü-Chanum trägt wohl den Namen von 47 Tamerlans Lieblingsfrau, birgt aber nicht ihren glückspendenden Leib; der ist in einem Mausoleum gegenüber bestattet.
Ans Grab Kussams indes dürfen die Frauen. Sie kommen, um von dem Fluch der Kinderlosigkeit gelöst zu werden. Zu beten ist ihnen, diesen Menschen ohne Seele, selbstverständlich auch hier verboten, doch können sie die kupferne Kugel umfassen, das Widderhorn berühren und einen Faden an die Eichentür knüpfen. Dann gehen sie in das Haus des tempelhütenden Ischan, der bestreicht sie mit heiligen Salben, und nach 277 Tagen schenken sie ihrem Gebieter ein Kind.
Neben dem erklärten Grabgemach des Propheten beten die Männer um Allahs Gunst im Diesseits und im Jenseits. Vierzig Tage lang haben sie gefastet, nur Wasser und Flachbrot zu sich genommen, und sich der Frauen und Knaben enthalten. Wie ein geschwellter Teppich sieht in ihren bunten Chalaten diese Schar der Pilgrime aus, die sich in den Staub geworfen.
Wer sind sie? Häuptlinge der Banden oder Mitglieder der Kollektivwirtschaften? Grundbesitzende Beys oder Wortführer der Dorfarmut? Mullahs oder Mitglieder des Atheistenbundes? Beten sie für oder wider . . .?
Wir möchten ein Photo des Prophetengrabes haben.
Genosse Mustapha Machmudow, Mitglied des Parteisekretariats, zuckt die Achseln: »So weit haben wir es noch nicht gebracht. Da oben restaurieren wir nichts, erforschen nichts und photographieren nichts. Da oben herrscht noch der Glaube, der Aberglaube.«
»?«
»Mit den Mitteln, die der Islam predigt, könnten wir 48 allerdings alles gegen den Islam erzwingen. Aber wozu Gewalt? Man merkt den Übergang vom Islam zum Sozialismus in der Kollektivisierung, im Anwachsen der Partei, in den Schulen, sogar Frauen lernen jetzt, die Mutterschutzstellen werden aufgesucht, der Schleier fällt, die Gerichtsfälle haben sich in diesem Jahr um fast 40 Prozent vermindert.«
»Die Gerichtsfälle? Du glaubst an einen direkten Zusammenhang zwischen Religion und Verbrechen?«
»Direkt oder indirekt. In der ›Iswestija‹ war neulich eine Statistik, daß in Chikago nach dem Kriege so viele Kirchen eröffnet worden sind wie in Moskau gesperrt, und Chikago marschiert an der Spitze der Kriminalität, Moskau aber hat nur sehr wenig Eigentumsverbrechen, steht in der Statistik neben Zürich. Schau dich um, Genosse, welche Pietät und welche Frömmigkeit liegt in den Totenbauten, hier in Schachi-Sinda. Timur hat sie für seine Frauen und seine Angehörigen errichtet, und drüben das Mauerwerk, das ist Bübü-Chanum, das ›Steinerne Liebeslied‹. Ein guter Gatte und Familienvater also, ein gottesfürchtiger Mann, dieser Timur, nicht? Er schlachtete die Bewohner der eroberten Städte zu Tausenden oder begrub sie lebendig. Seine Grausamkeiten waren beispiellos. Und alles geschah nur im Namen Allahs. Den Abgesandten Mekkas setzte er im Mausoleum seines Enkels bei. Später wurde Timur selbst dort begraben, er ruht sozusagen zu heiligen Füßen. Komm, Genosse, du mußt das Grab Timurs sehen!«
»Ist das nicht Romantik, Genosse Mustapha?«
»Der abgeschaffte Teufel hole euch Europäer mit eurer Romantik. Aber das Grab Timurs muß man sehen. Komm, Genosse.« 49
*
Unterwegs . . .
Nun, der Genosse Mustapha Machmudow hat recht mit seinem Fluch, und wir werden den Registan nicht schildern. Einfach als Axiom sei der Satz hingeschrieben, daß wir in keiner Stadt einen Platz mit so bunten, herrlichen Bauwerken kennen, wie den Registan in Samarkand. Basta.
Der Genosse Mustapha, der die Moskauer Akademie der Ostvölker absolviert hat und alle romantischen Betrachter des Orients zum Teufel wünscht, weist stolz auf die Baugerüste hin: »65.000 Rubel kosten uns die Renovierungen in diesem Jahr, mitten im Fünfjahrplan, wo wir jede Kopeke brauchen.«
Der alte Wassilij Lawrentjewitsch Wjatkin, seit langen Zeiten Hüter und Mehrer der Samarkander Heiligtümer, gesellt sich zu uns und spuckt dem Genossen Mustapha in die Suppe seines Stolzes:
»65.000 Rubel sind gar nichts,« eifert er, »schief aufgestellte Minarette aus Timurs Zeiten kann man mit diesem Geld höchstens stützen, aber nicht renovieren. Dazu kommen die Moscheen, der Basar, die beiden Grüfte auf dem Platz. Die Verzierungen kosten am meisten. Sie sind uns gelungen, was? Hojhoh, unmöglich zu unterscheiden, was aus dem 16. Jahrhundert stammt und was wir in diesem Jahr gemacht haben.«
»Wo nehmen Sie die Farben her, Wassilij Lawrentjewitsch?«
»Hojhoh, das sind die alten Farben. Wir haben die Lehmbrüche ausfindig gemacht, woher sich die alten Samarkander damals ihr Baumaterial holten und ihren Ocker. Nur den Kobalt beziehen wir aus dem Kaukasus. Auch die 50 Farbenküchen haben wir ausgegraben mit Öfen und Ziegeln, und arbeiten jetzt, hojhoh, mit den alten Werkzeugen.«
»Da haben Sie Glück gehabt, Wassilij Lawrentjewitsch.«
»Hojhoh, das ist noch gar nichts; wir haben sogar Kohle in den Öfen gefunden, und konnten nach ihrem Verbrennungsstadium die Temperatur feststellen, die die Alten angewandt haben. Wir mußten nicht einmal experimentieren, hojhoh.«
Unsere Augen trinken, was die Wimper hält, vom Registan, aber wir werden ihn nicht beschreiben, hojhoh, wir gehen zum Grab Tamerlans.
*
Räumliche Entfernung von Ereignissen wirkt wie zeitliche Entfernung, – asiatische Geschichte scheint uns nur Sage zu sein. Und nun finden wir in dieser Kapuzinergruft der Timuriden alles schwarz auf weiß belegt, es erweist sich: dieser Tamerlan hat wirklich gelebt, nicht im undurchdringlich grauen Nebel der Vorzeit, sondern im späten Mittelalter, bis ins 15. Jahrhundert; wir buchstabieren seine Grabtafel, sie könnte gestern gemeißelt worden sein.
Die Grabmoschee Gur Emir hat Tamerlan seinem Enkel Muchammed Sultan erbaut, den er von seiner ganzen Nachkommenschaft am meisten schätzte, wobei freilich zu bedenken ist, daß die Auswahl nicht sehr groß war, da seine Söhne teils irrsinnig, teils im Kampfe erschlagen wurden. Tamerlan hatte den Enkel, der dem Großpapa durch seine Grausamkeit schon frühzeitig Freude gemacht, zu seinem Stellvertreter und präsumtiven Nachfolger bestimmt. Ach, auch Muchammed Sultan starb ihm auf dem Kriegspfad im Jahre 1403 weg. Damit sich Beter aus dem Volk einstellen, 51 ließ Tamerlan zwei Heilige, deren Gräber Wallfahrtsorte gewesen waren, exhumieren und neben dem Enkel beisetzen; Nur-Addin-Bassur, genannt »der vierzehnte Heilige«, und Scheich-Burchan-Addin sollten dem toten Muchammed Sultan als Schlepper dienen.
Bald nach dem Enkel, am 18. Februar 1405 starb Tamerlan selbst, so wie er gelebt: auf einem Feldzug und im Suff. Obwohl er verfügt hatte, in der Stadt Kesch an der Seite seines Vaters und seiner Söhne begraben zu werden, hielten es die um ihre Macht kämpfenden Nachfolger für politisch klüger, den Leichnam in der Stadt zu lassen, in der sie in seinem Namen regieren wollten. So freigebig im Bau von Mausoleen wie er gewesen, waren die Erben allerdings nicht, und Tamerlan blieb neben dem Enkel liegen.
Eigentlich hieß er gar nicht Tamerlan, er hieß Timuri-l-enk, »der eiserne Krüppel«. Er hinkte von Jugend auf, sein rechter Arm war gelähmt. Aus dieser Tatsache werden die Psycho-Analytiker kinderleicht erklären können, warum Timur zwangsläufig die Unterwerfung Asiens bewerkstelligen mußte. Sollten die Freudianer noch erfahren, daß ihm an der linken Hand zwei Finger fehlten, so wird ihnen vollends klarwerden, weshalb er diese Minderwertigkeit nicht anders kompensieren konnte, als indem er die Bewohner widersetzlicher Ortschaften, auch Greise, Frauen und Kinder blutig auszupeitschen befahl, und zehntausend gefangene Soldaten als Baumaterial für Festungswerke benützte: er ließ sie aneinander und an Pflöcken festbinden und mit Lehm und Mörtel übergießen.
Er war aus armem Hause. Aber anders als Napoleon, der eine ihm überreichte phantasievolle Genealogie mit den Worten ins Feuer warf, »mein Stammbaum beginnt bei mir«, 52 behauptete Tamerlan, sein Vater hätte auf den Titel eines Emirs Anspruch gehabt. Dieser Wunschtraum ist auf der Grabplatte weitergeführt, Tamerlan stammt hier nicht nur von lauter puren Emiren ab, sondern auch von Dschingis-Chan, und schließlich entziffern wir sogar, daß sein Urahn von einem Mädchen unbefleckt geboren wurde: ein durch die Türritze dringender Sonnenstrahl habe Fräulein Alankuw befruchtet.
Tamerlan konnte zeit seines Lebens nicht lesen und schreiben, was ihn nicht hinderte, mehr Kunstgeschmack zu verraten, als mancher, der in Potsdam von Hofmeistern unterrichtet wurde. All die Bauten der irdischen und himmlischen Liebe, all die Berufungen von Gottesgelahrten und Künstlern beglückten das grenzenlos ausgepowerte Volk freilich nicht; elende Lehmhütte neben elender Lehmhütte, Schmutz auf Schmutz, Sklaverei über Sklaverei, das war das Samarkand unter den Globen, die so hell und so blau seit des Weltbeherrschers Tagen über schön gezierten Mauern der Moscheen leuchten.
Religion . . . Zu Füßen des kriegerischen Tamerlan liegt ein anderer seiner Enkel, Ulug-Beg, der ihn vierzig Jahre als Herrscher überlebte, ein gelehrter Mann war und sich ein Observatorium einrichtete, dessen Quadrant vor kurzem ausgegraben wurde. Ulug-Beg korrespondierte mit Galilei und anderen Weisen des Abendlandes. Damit war das Morgenland nicht zufrieden, er wurde mit dem Bannfluch des Ketzers belegt, weil seine astronomischen Forschungen dem Koran widersprachen: Ulug-Beg leugne das Vorhandensein eines Siebenten Himmels! Eine Verschwörung ballte sich zusammen, an deren Spitze sein ältester Sohn Abd-al-Latif stand. Der nahm den Vater gefangen, tat so, als ob er ihn vor das 53 Hohe Gericht nach Mekka schaffen wolle, ließ ihn aber unterwegs ermorden. Einen Monat später baumelte Abd-al-Latifs Haupt auf dem von Ulug-Beg gegründeten Seminar, sein Neffe Abdullah kam auf den Thron und wurde seinerseits von den Soldaten seines Vetters Abu-Said binnen Jahresfrist erschlagen.
So ging's den Timuriden, wie sollte es da erst ihrem Volk ergehen! Die Herrscher wurden wenigstens schön begraben; angeordnet um den großen Ahnen und um die Heiligen liegen sie friedlich beisammen in porphyrnen und nephritnen Särgen. Man kann zur Krypta hinabsteigen. Senkrecht über jedem Grab steht im Erdgeschoß der entsprechende Sarkophag, und an der Balustrade, die die Grabmäler umgibt, knien Beter.
»Hierher wollte Enver Pascha, hierher wollte Ibrahim Beg . . . Vom Grabe des mächtigsten Muselmans, des kriegerischesten Asiaten aus gedachten sie sein Weltreich wieder aufzurichten. Aber jetzt sind alle tamerlanischen und großturkmenischen und panislamitischen Ideen begraben wie Tamerlan selbst. Die Besucher kommen entweder, um zu den Heiligen zu beten, oder sie sind Europäer, die in Romantik schwelgen wollen, – der Teufel soll sie holen.« 54