Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bilderbogen mit Propeller

Dem dunkelroten Mond schwirrt ein Raketenbündel entgegen und zischt oben nach allen Richtungen auseinander. Das sind die Aeroplane, die 4 Uhr 20 morgens, Beginn der Flugzeit, starteten, parallel zueinander vorwärtshüpften, dann in flachem Sprung mondwärts gingen. Jetzt stieben sie auseinander.

Nun sind wir kein Geschwader mehr, sind einzelne Fahrzeuge verschiedener Richtung, nach dem Norden Asiens und dem Süden Europas segelnd, haben nichts mehr miteinander zu tun. Nur der dunkelrote Mond leuchtet ihnen wie uns auf den Weg durch den Äther.

Die Reisegesellschaft, die noch vor wenigen Minuten eine war, ist keine mehr. Vom Auto des Dobrolet aus unseren Wohnungen abgesammelt, saßen wir im Restaurant des Ghodynka-Feldes beisammen, während der dunkelrote Mond auf Neubauten und Hangars, Masten und Tragflächen schien.

Ein Ingenieur, noch vor vierzehn Jahren Analphabet, noch vor fünf Jahren Arbeiter an der Werkbank gewesen, wartet auf das Flugzeug, das ihn in das große Asbest-Werk am Ural zu bringen hat. Ein anderer Arbeiter-Ingenieur muß heute in Dnjeprostroj sein. Zwei deutsche Chemiker, eben aus Berlin gekommen, borgen uns die heutigen Berliner Blätter, 10 morgen sind sie in Kusnezk, Sibirien. Drei Kollegen von der »Prawda« fliegen mit Matrizen nach Rostow, Tiflis und Charkow; von heute ab soll ihr Blatt dort nach den Moskauer Matern am Vormittag gedruckt werden, in Tiflis freilich erst am nächsten Tag. Ein Ingenieur von Ford in Detroit, der nach Erscheinen einer kritischen Beschreibung des Betriebes entlassen wurde: Pinkertons hatten die Meldung erstattet, er habe mir die Informationen gegeben; jetzt erzeugt er Ford-Wagen in Nishnij-Nowgorod. Mit »Glück ab«, dem Fliegergruß, sind wir wieder auseinandergestoben, jetzt kann man einander nicht einmal mehr winken.

Während das Flugzeug seine erste Spirale beschreibt, hebt sich ein mondliches Moskau und neigt sich wieder, um uns nach altrussischer Art zu grüßen. An allen Ecken der Stadt bastionsartig vorspringend, Schutz gegen Heiden und Empörer, ragen hart die Klöster, in den Winkeln der krenelierten Kremlmauer nisten die frommen Festungswerke mit dem goldenen Schwert auf der Turmspitze, dann eine neue Schanze, dann der Wassergraben Moskwafluß. Aber die natürlichen und unnatürlichen Verteidigungslinien wurden überrannt. Abgenommen sind schon die Kuppeln der Erlöser-Kathedrale, errichtet zum Andenken an die Erlösung der Zaren von Napoleons Besuch: dieses Gegenstück zum Dom im Berliner Lustgarten wird bald niedergerissen sein.

Die Arbeitervorstädte sind zum Gegenteil von dem geworden, was man sonst unter diesem Wort versteht. Wir sehen auf die neuen Riesenhäuser, die Parks, die Fabriken, die Alleen.

Es gibt eine Zone, wo die Stadt Dorf wird, das Dorf Stadt. Holzhäuser stehen in strenger Parallele, noch bilden sie Straßen, dann klaffen Lücken zwischen ihnen, hier ein Haus und 11 dort eines, am Wald, in der Wiese, bald eine Gruppe, die Datschen, Landhäuser. Der Mond ist der Sonne gewichen, es wird Tag. Autobusse fahren in die Stadt, und wir fahren in das Land, über Gemüsebeete, Vorstadtbahnhöfe, Felder.

Unser Schatten fährt über die Spuren des Dampfpflugs, unser Schatten ist ein Auto, das hinter uns herrast, er ist ein Motorboot, das die Flüsse durchschwirrt, er ist ein Paternoster, der die Häuserwände der Baumwollspinnerei von Ramenskoje hinaufklettert, über ihr Dach verläuft und wieder hinabklettert, er ist ein Tank, der die Traktorenstationen überrennt, unser Schatten ist ein Fahrzeug aller Arten, – nur eines ist er nicht: ein Flugzeug. Niemals schwingt er sich in die Luft, immer bleibt er am Boden.

Unser Schatten zerschneidet die Funkmasten von Ljuberzy und die Schlote der Motorenwerke von Kolomna, er huscht zu Füßen der Hochspannungsleitung aus Schatura. Die Räder der Eisenbahn, die parallel zu uns läuft, scheinen über ihn zu stolpern.

Neubauten von Brücken, Bahnhöfen, Häuserblocks, Silos, Fabrikschornsteinen, wir fliegen über den Fünfjahrplan.

Südost ist die Flugrichtung, Seitenwind, sechzig Kilometer hinter Rjasan gehen wir auf einem von Gänsedreck bedeckten Anger nieder, um zu tanken. Kinder spielen Ringelreihen, ein Greis hockt mit dem Rücken zu uns am Bach. Die Kinder hören nicht auf zu spielen, der Alte dreht sich nicht um, die Gänse watscheln gemütlich davon, – Flugzeuge landen hier oft.

Schon dreht sich der Propeller, schon rattert der Motor, Zigaretten auslöschen, einsteigen, aufsteigen. Da drunten das Sowjetgut Baschmakowo, ein ganzes Land.

Nächtigungsstation Pensa. Wir möchten unsere Füße 12 bewegen, möchten vor dem Schlaf im Flugbahnhotel einen Spaziergang machen, aber es bleibt uns versagt, eine horizontale Ansicht der Stadt zu gewinnen, zwischen Flughafen und Stadt liegt das Areal des Bahnhofs, immerfort werden Züge verschoben, Zisternenwaggons mit Naphtha, mit Mac Gormick-Erntemaschinen, Kühlwaggons, Pfiffe von Menschen, Pfiffe von Lokomotiven. Ins Bett, aus dem Bett, einsteigen, aufsteigen, weiter geht die Fahrt.

Wir sehen hinab auf das Dorf, das vor zweihundert Jahren das Räuberdorf Trujewo war, 5000 flüchtige Verbrecher aus aller Welt hausten hier. Nichts Romantisches bietet sich unseren Blicken, es ist ein Dorf wie alle Dörfer. Hunderte solcher überspringen wir. Ein ganzer Tag mit Feldern, Feldern, Speichern, Speichern, Batterien ackernder Raupenschlepper schneiden ihre endlosen Mäander in die russische Erde.

Die Wolga blendet uns wie ein Spiegel, der Sonnenlicht zurückwirft. Bleiern bleibt der Rauch der Dampfer in der Juniluft stecken. Kein Land ist das Ufer, es ist eine Fortsetzung des Stromes mit anderen Mitteln, Inundationsgebiet, Seen. Über Wasser und Erde lugen die Kronen von Bäumen, deren Wurzeln, im Wasser geboren, im Wasser lebend, niemals Land gesehen haben.

In Samara kurze Rast, dann hebt uns der Motor über Weizenland. Ausländische Journalisten, die mit dem »Graf Zeppelin« nach Tokio flogen, sahen aus einer Höhe von achthundert Metern den hungernden russischen Bauer sich unwillig über kahle Felder schleppen. Wir aber können von oben nicht erkennen, daß die Menschen unter uns Hunger leiden, nicht einmal, daß sie unwillig sind, sehen wir. Wir können auch nicht behaupten, daß die Felder kahl sind. 13

Was wir behaupten können, ist das: das flache Land hat sich gewandelt. Die Felder ergeben nicht das bunte Mosaik, das man von überallher kennt; hier herrscht kilometerweit nur eine Farbe, die Äcker sind ein Acker, die Bauern sind ein Bauer geworden, wir sehen langgestreckte Wirtschaftsgebäude, zinngedeckte Stallungen, Maschinen- und Traktorenstationen mit ihren Wagenparks, Kollektivwirtschaften und Sowjetgüter, Elektrostationen, Reihen neuer Einfamilienhäuser mit Gärtchen.

Nicht durch Raine gespalten ist der Weizenfelder Unendlichkeit. Nicht gehört dieses Stück dir, jenes Stück dem anderen. Wir fliegen über den Fünfjahrplan.

Kilometerlange Furchen biegen sich am Ende, um sich wieder in einer kilometerlangen Furche fortzusetzen, diese Parabel des Traktors, der für alle pflügt, begleitet uns immerfort, bis sich der Mond von Moskau von neuem entfacht.

Wir fliegen über den Fünfjahrplan.

Orenburg, eine Stadt, dem Lineal entsprossen, ein Rechteck mit Rechtecken; kompanieweise stehen die Häuser. Am Kai des Uralflusses ein steinernes Tor, ein Dom mit einer Riesenperle als Kuppel, und ein Palast, wahrscheinlich einst Sitz des General-Gouverneurs, der immer noch mehr General war als Gouverneur. Man regierte mit Waffen. Der General von Orenburg war örtlich der letzte Europas, Armeekommandant gegen Asien.

Hier soll irgendwo ein Grenzstein stehen mit zwei Pfeilen: Asien – Europa. Wir sehen ihn nicht, aber wir sehen vor der Stadt eine kleine Festung mit Söllern, Bastionen, Sturmmauern. Der Bordmonteur, der neben dem Piloten sitzt, reicht uns einen Zettel nach hinten: »Menowoj Dwor«. Das war also der Tauschhof: der wahre Grenzstein zwischen 14 Europa und Asien. Hierher kamen die Karawanen des Ostens, brachten Seide und Teppiche, Reis und Wolle, Hammel und Ziegen, und bekamen innerhalb der Mauern von den russischen Händlern die Güter Europas dafür: Schnaps und Geld. Dann zogen die Asiaten durch das Tor, durch das sie gekommen waren, nach Asien zurück, die Europäer durch das andere Tor nach Europa zurück.

Denn Ost ist Ost, und West ist West,
Nie kommen die beiden zusammen.

So lautet die Weisheit der weißen Kolonisatoren in Kiplings Fassung.

Wir aber sehen den Abgrund nicht zwischen Ost und West, wir sehen den Tauschhof nicht mehr, der längst aufgehört hat, einer zu sein, wir sehen die Bahn weiterziehen, wir sehen die neuen Bahnhofsgebäude mit den Silos, auf die einfarbige Unendlichkeit der Gemeinschaftsgüter leuchtet der dunkelrote Moskauer Mond.

1500 Kilometer haben wir hinter uns und noch immer fahren wir über den Fünfjahrplan. Europa – Asien? Wir merken keinen Unterschied. Im Winter vorigen Jahres waren wir gezwungen, in dem ukrainischen Grenzdorf Schepetowka einen ganzen Tag zuzubringen und gleich darauf im polnischen Grenzdorf Zdolbunowo einige Stunden. Da sahen wir freilich einen Unterschied. Hüben Werkschulen, Abendkurse, Neubauten, drüben der Geistliche, dem man die Hand küßt, Händler, die dem Reisenden Kaviar und Rubel abkaufen wollten, ein Schlepper, der dem Reisenden ein Bordell empfahl, Zollbeamte und Grenzpolizisten mit silbernen Schnallen, goldenen Fangschnüren, lackierten Stiefeln und offenen Händen. Da unter uns würden wohl selbst die 15 weitsichtigen Journalisten vom »Graf Zeppelin« schwerlich dergleichen erkennen können.

Allerdings ist es schon dunkel geworden, in Aktjubinsk windet sich der Gleitflug über die Köpfe weidender Kamele zur Nachtruhe hinab. Ein unbewegliches, unbewegbares Blechgerüst: unser Flugzeug auf der Steppe. Die beiden Pneumatikräder, die sich rechts und links von uns stundenlang im Gegenwind gedreht haben, obwohl ihr Zweck nur der ist, sich auf dem Erdboden zu drehen, stehen starr auf dem Erdboden und drehen sich nicht. Die Schalttafel ist nun kein zuckender, atmender Organismus mehr, sondern ein Brett. Die Steuerhebel, bislang Gliedmaßen, sind plumpe Knüppel. Der Propeller, vorher eine Scheibe aus Wind, gleicht einer Latte im Mund des apportierenden Hundes. Flugzeug »L 31«, tagsüber, fahrtüber, eine sonnendurchleuchtete, geäderte, froh fliegende Libelle, – was ist es jetzt, eine zinnerne schräg aufgestützte Kiste.

Aber: In unseren Ohren jagt der Propeller, an unseren Flanken drehen sich die Gummiräder, in unseren Augen zucken die Zeiger des Höhenmessers, des Öldruckmanometers, des Kompasses, der Vorratsuhr noch immer, in unserem Gehirn schwingen sich Leib und Flügel der Libelle weiter, das Flugzeug rastet, seine dynamische Kraft hat es den Passagieren abgegeben.

Die fliegen, obwohl sie ostentativ schreiten, übertrieben die Beine bewegen. Korso auf asiatischer Steppe. Leonid Dmitriewitsch, ein Entomologe, der mit uns fliegt, um in Mittelasien Pflanzenschädlinge auszurotten, hebt eine grau und gelb gesprenkelte Heuschrecke aus dem Gras und erklärt uns, es sei ein Phrinacephalus caudivolvolus, den hätte Professor Ramé in Berlin nicht. Ob wir das Tier mitnehmen wollen? Nein, 16 wir wollen es nicht mitnehmen. Phrin. caud. macht einen Luftsprung, er muß nicht nach Berlin.

Wir sind in Kasakstan, der Autonomen Kasakischen Soz. Sowjetrepublik. Das Wort »Kasaken« hat mit »Kosaken« nichts zu tun, es ist der historische Ausdruck für »Kirgisen«. Der Mechaniker des Aerodroms ist ein schwarzer Kasake, der Leiter ein hellerer. Seine Frau bringt uns das Abendbrot, »Bjelischij«, warme Fleischpasteten mit gebackenem Reis, Tee. Der junge Kirgise, der den Flughafen leitet, ist stolz darauf, ein Badezimmer mit Dusche zu haben. Wir dürfen nicht ablehnen. Nach dem Bad gehen wir schlafen. Die Zimmer blitzblank, die Wäsche desgleichen.

Um zwei Uhr nachts fliegen wir weiter, bis Taschkent haben wir noch 1400 Kilometer. Der kleine Held von Newerows Roman hat diesen Weg in die »brotreiche Stadt« fast ganz zu Fuß gemacht. Ein Eisenbahnzug bleibt nicht weit hinter uns zurück, denn der Wind bremst den Flug. Dagegen können sich die Kamelkarawanen, die wir unter uns schaukeln sehen, mit unserem Tempo keineswegs messen.

In Tschelkar trinkt der Motor, rauchen die Passagiere. Die Rast dauert mehr als eine Stunde. Wir gehen in den Aul hinüber, die Menschen wohnen in Lehmhütten, der junge Komsomolze, der mit uns russisch spricht, erzählt uns, er will jetzt fort, in die neuen Betriebe von Karaganda, in das Kohlengebiet, das sich bis an die chinesische Grenze erstreckt. Er heißt Achmed Muntaj, weil sein Vater Muntaj mit dem Vornamen hieß, sein eigener Vorname Achmed wird seines Sohnes Familienname sein.

Der Flughafen ist ein moderner Neubau mit Telephon, Radio, Telegraph und Fremdenzimmer. An den Wänden 17 meteorologische Karten. Unsere Uhren stellen wir um eine Stunde vor, wie wir es in Pensa taten; das muß man tun, nach jedem fünfzehnten Längengrad, nach je fünfzehnmal 111 Kilometern, wenn man nach Osten reist.

Wir fliegen der Sonn' entgegen. »L 31« hat Rückenwind, es steigt nicht hoch, oben ist die Strömung nicht so günstig, und im Bedarfsfalle braucht es nicht lange nach einem Landungsplatz zu suchen, alles ist flach. Kaum zweihundert Meter unter uns ein ethnographisches Museum. Kreisrunde Hütten, luftdicht umflochten, punktieren die Landschaft. Da steht eine, dort eine andere, abseits eine dritte Jurte. Spärlicher Rasen umgibt sie, eine niedrige Hürde den Grasplatz. Darauf weiden ein paar Hammel oder Ziegen. Wenn die Grasnarbe aufgefressen ist, wird das Haus eingerollt und man wandert weiter. Hundert Jahre, tausend Jahre. Spuren ehemaliger Siedlungen sind runde Löcher, dort wurde das Heu versteckt, damit das Vieh es nicht fresse. Hier und da ist der Abriß eines abgerissenen Dorfes in den Steppenboden gezeichnet.

Näher am Bahndamm, an den Jurten der Halbnomaden, sind unregelmäßige weiße Flächen, als wäre dort Linnen zum Trocknen ausgebreitet. Man erkennt sie als Beete unter Wasser – sollten es Salinen oder Reisfelder sein? Manchmal sind diese Trapeze grün von flockigen Olivensträuchern. Windmühlen stehen auf hohen Postamenten.

Will die Steppe niemals enden? Plötzlich grüßt vom Westen her eine neue Farbe. Das ist der Aral-See. Ein Hafen in eine Bucht eingebettet. Fischerboote, ein Dampferchen, ein Seglerchen, ein winziger Leuchtturm, der Ort heißt Malyj Ssary-Tschagan. Unser Schatten durchschwimmt die Wellen. Rechts ist die Küste, links ist das Land, links ist die Wüste, 18 rechts ist der Strand, bis weithin nach rechts sieht man den See, weither von links leuchtet der Schnee.

Der Schnee leuchtet noch immer, während der See zurückbleibt. Nur dort, wo er einmal ins Land gedrungen war, liegen Pfützen da, Karneolen gleich, verschiedenfarbig getönte Kurven durchglänzen sie. Auch hier leben Halbnomaden nicht weit; sie benützen die Bewässerung um ihre kleinen Beete zu bebauen.

Nächste Nächtigungsstation: Ksyl-Orda. Zwei Passagiere warten schon, die nach Tschimkent wollen, in ein neu entdecktes Bleibergwerk. Dagegen steigt der Insektentöter aus und fährt in die Stadt. Wir mit ihm. Kara-Agatsch, das schwarze Dorf, ist die Peripherie. Lehmhütten, nackte Kinder, Patriarchenbärte. Eine riesige Ziegelfabrik arbeitet noch zu später Abendstunde. Stoßbrigadiere mit geschlitzten Augen, den Zweizack unter dem Kinn, wetteifern in der Herstellung von Lehmziegeln.

Kamele, unbeaufsichtigt, strecken in der Pappelallee ihre Hälse hoch ins Gezweig und lassen sich das Grün gut schmecken. Gespanne kommen uns entgegen, die Kalmückenkühe haben nach innen gebogene Hörner.

Immer anders und immer gleich ist der Weg des Matrosen nach Feierabend im fremden Port. Er kennt bestenfalls den Namen des Hafens, weiß nicht, ob er in ein Fischerdorf kommt oder in eine Großstadt. Diesmal fanden wir uns in einer Stadt mit Villen und breiten Straßen und schönen Neubauten; auf schwarzen Glastafeln standen mit goldenen Lettern die Namen von Ärzten oder Wirtschaftsgesellschaften; Männer in Tropenanzügen und Mädchen in Sommerkleidern lustwandelten im Park unter den Eukalyptusbäumen und Pappeln. Ein Springbrunnen sprudelte vor dem Cafépavillon, 19 Kellnerinnen bedienten und die Büfettdame saß hinter einer nickelnen Registrierkasse. Blumen mit aquarellenen Blättern wurden feilgeboten.

Es ist in Ksyl-Orda, wie es vor zwei Jahren in Savannah gewesen war. Und dennoch ist es nicht so. In Savannah sind die Indianer ausgerottet. Hier freuen sich die Ureinwohner inmitten der Europäer ihres Landes.

Der Ort hieß Ak-Metschet, weiße Moschee, der General Perowski, der ihn für den Zaren eroberte, nannte ihn nach sich »Perowsk«. 1925, da er Regierungssitz von Kasakstan wurde, bekam er den Namen Ksyl-Orda, Rote Hauptstadt; jetzt ist Alma Ata die Hauptstadt dieser Republik, die ziemlich groß ist, 3,000.000 Quadratkilometer, sechsmal so groß wie Deutschland.

Kasaken gehen vor ihren Kamelen, auf denen Frauen mit langen Zöpfen sitzen und ärmellosen, bordeauxroten oder violetten Samtjacken. Aber es gibt andere Frauen, die tragen die Jacke der Jungkommunisten und kurzes Haar, es gibt solche, die nehmen in der Schule des Ortskomitees wissenschaftlichen Unterricht.

Über dem Straßengraben der Friedrich Engels-Straße stehen die Kioske der Flickschuster und der Zeitungshändler. Die Zeitung »Ssyr boj« ist in lateinischen Lettern gedruckt, aber einige unbekannte Zeichen sind dabei, ein verkehrtes e, ein verkehrtes q und viele Buchstaben mit Cedille. Wir verstehen nur, daß kamsomol Komsomol bedeutet, ijen Juni und tijin Kopeke.

Elektrische Uhren an den Straßenecken. Die, von denen wir vor fünf Jahren in Baku die Zeit ablasen, waren aus Berlin, die Buchstaben AEG sagten das. Jetzt begegnet man überall denen der Zweiten Moskauer Uhrenfabrik »Ernst 20 Thälmann«. Die Tatsache, daß aus einem Schlauch die Straße besprengt wird, bedeutet ein Gaudium für Ksyl-Orda. Kinder duschen, Erwachsene betrachten kopfschüttelnd die Aktion: worauf die Europäer alles kommen! Der »Gosisdat«, der Staatsverlag, hat hier Bücher in kasakischer Sprache unter seinem wie überall schwarzrotgoldenen Ladenschild, Weltliteratur in Übersetzungen, Bücher über Marx, Leninismus, Motoren, Baumwolle, Reis, Heuschreckenvertilgung und Anweisungen für die Bildungsarbeit unter den Nomaden. Plakate von »Gastrollen« – das ist das russische Wort für Gastspiele – Sänger und Virtuosen aus Moskau, alle angeblich ehemalige Mitglieder des Staatstheaters, des Künstlertheaters, des Philharmonischen Orchesters.

Auf ihren Kutschböcken sitzen die Iswostschiks, ihre runden Pelzmützen scheinen Miniaturausgaben der Jurten zu sein. Man fragt einen, wieviel er für eine Fahrt auf den Flugplatz verlange. Er schätzt den Fremden ab. Ergebnis: 15 Rubel. Man bietet fünf. Hohnlachen: »Vielleicht für ein Glas Tee?« Man bietet sechs Rubel. Ein vorbeigehender Russe klärt uns auf: »Wenn ein Kasake einmal 15 Rubel gesagt hat, so fährt er auch nicht für 14,50.« Der Fußmarsch in unseren Hafen tut gut nach so viel Flug, und auch der Schlaf tut gut.

Durch die Morgenluft fahren wir weiter entlang des Ssyr-Darja-Tales. Rechts hat die Steppe der Wüste Ksyl-Kum Platz gemacht. Das alles, vom Aral-See nach Süden, ist das Land der Kara-Kalpaken, der Schwarzmützen, ihr Hauptsitz ist im Delta des Amu-Darja, aber als sie die Autonomie bekamen, bekamen sie das Land dazu, über das ihre Volksgenossen seit einer Ewigkeit tippeln, die schwarzen Mützen auf 21 der roten Wüste. Das ist ein Gebiet, so groß wie Bayern und Württemberg zusammen.

Wir fliegen darüber hin, bis sich ein jähes Wunder vollzieht, die Wüstenei grün wird, eine Oase emporschießt, ein riesenhafter Park, und in seiner Mitte eine Stadt liegt, mächtig und herrlich. Taschkent steht, sich verneigend, am Fuß der Wendeltreppe, die wir hinabsteigen. 22

 


 << zurück weiter >>