Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vor dem Kriege hat die Bevölkerung von Chodschent 50.000 Rubel aufgebracht, damit ihre Stadt von der im Bau befindlichen Eisenbahn Taschkent-Kokand nicht berührt werde.
Damit ist folgendes ausgesagt:
I. Daß Chodschent keineswegs wie die übrigen Gebiete des heutigen Tadschikistan fern von allem Verkehr gelegen,
II. daß Chodschent eine sehr reiche Stadt, und
III. daß Chodschent eine sehr reaktionäre Stadt war.
Ad I. Das Gebiet ist beinahe eine Enklave der Sowjetrepublik Tadschikistan innerhalb der Sowjetrepublik Usbekistan, der ersteren zugesprochen, weil die Bevölkerung nicht mongolischen Stammes ist und nicht türkisch-usbekisch spricht, sondern iranischen Stammes ist und persisch-tadschikisch spricht.
Ad II. Das Gebiet besaß eine Seidenindustrie, die von armen Hauswebern getätigt und von reichen Händlern glänzend ausgenützt wurde, sowie umfangreiche Obstgärten und Baumwollfelder, die von Knechten bestellt und von einem Dutzend Beys in Besitz gehalten wurden.
Ad III. Das Gebiet war gesegnet mit Mullahs und Medressen und Moscheen und Minaretts; auf je 400 Einwohner der Stadt kam eine Moschee. Alle Frauen waren verschleiert, 207 der reiche Mann hatte bis zu sechs Ehegattinnen, der arme Mann sah die Möglichkeit, sich eine Frau zu kaufen, nicht vor sich, aber die Sicherheit, der Homosexualität zu verfallen, hinter sich.
Reste solcher Vergangenheit sind zu spüren. Die Eisenbahn sucht nach wie vor ihren Weg durch die Hungersteppe und läßt die Stadt Chodschent zwölf Kilometer weit links liegen. Von den 110 Moscheen sind noch genug in Betrieb. Mehr verschleierte Frauen als in anderen Städten sieht man hier. Viele Seidenweber haben ihre Heimwerkstätten geschlossen und die, die es nicht getan, verdienen wohl nicht mehr daran, als zur Zeit, da sie der Händler ausbeutete.
Was also hat sich geändert?
»Was also hat sich geändert?« Wie oft hat man diese Frage zu hören bekommen, wenn man in den letzten vierzehn Jahren über die Sowjetunion sprach! Wie oft wurde einem diese Frage entgegengehalten, wenn eine ungünstige Meldung, eine wahre oder eine erlogene, durch die Blätter ging! »Was also hat sich geändert?«
»Was also hat sich geändert, wenn es im Wolgagebiet Hungersnot gibt?« (1920.)
»Was also hat sich geändert, wenn man die NEP, den freien Handel wieder eingeführt hat?« (1921.)
»Was also hat sich geändert, wenn die Sowjets das Erbübel der verwahrlosten Kinder nicht aus der Welt schaffen können?« (1922.)
»Was also hat sich geändert, wenn der Arbeiterstaat nicht imstande ist, die Arbeitslosigkeit zu liquidieren . . .?«(1924.)
». . . wenn man Trotzki verbietet, ins Ausland zu reisen . . .?« » . . . wenn man Trotzki zwingt, ins Ausland zu reisen . . .?« 208
». . . wenn man die angeklagten Ingenieure aus rein politischen Gründen erschießen will . . .?« ». . . wenn man die angeklagten Ingenieure aus rein politischen Gründen nicht erschießen will . . .?«
». . . wenn der Fünfjahrplan nicht gelingt, weil er nicht gelingen kann . . .?« ». . . wenn der Fünfjahrplan gelingt, weil er gelingen muß . . .?«
». . . wenn man nicht imstande ist, Waren zu erzeugen . . .?« ». . . wenn man mit den erzeugten Waren in der ganzen Welt Dumping treibt . . .?«
». . . wenn ohne Unternehmerinitiative, ohne Macht der Vorgesetzten und ohne Angst vor Entlassung und Arbeitslosigkeit die Menschen selbstverständlich nicht zur Arbeit gezwungen werden können . . .?« ». . . wenn ohne Unternehmerinitiative, ohne Macht der Vorgesetzten, ohne Angst vor Entlassung und Arbeitslosigkeit selbstverständlich Zwangsarbeit herrscht . . .?«
». . . wenn gleicher Lohn für alle gilt . . .« ». . . wenn nicht gleicher Lohn für alle gilt . . .«
Was also hat sich geändert?
Wenn sich nichts geändert hätte auf diesem Sechstel der Erdoberfläche, als daß die Ausbeutung weggefegt worden ist, – auch ohne die Abschaffung der Arbeitslosigkeit, des Kinderelends, des Analphabetismus, der Religionsverdummung, der Korruption, auch ohne die Erfüllung von hundert Millionen Menschen mit werktätiger Begeisterung, mit Wissen und Kultur, auch ohne all dies, nur um dieser Beseitigung der Ausbeutung willen verlohnte es sich, Zeitgenosse unserer Zeit zu sein.
Aber wer begreift das? Der in kapitalistische Verhältnisse hineingeborene und von ihrer Ideologie benebelte Mensch 209 findet das furchtbarste Unheil nicht furchtbar; er hat sich an die soziale Ungleichheit gewöhnt, die lange vor der Geburt des Menschen beginnt und mit seiner Grablegung noch lange nicht endet. Er empfindet es nicht als grausam, er empfindet es bestenfalls als unabwendbar, daß hunderttausende Menschen für Einen roboten müssen, wer durchschaut die Mittel der Massenverdummung, die diese Verhältnisse künstlich und künstlerisch aufrechterhalten?
Der Leser hat obige Abweichung ins Leitartikelhafte mit Unwillen gelesen. Diese ausnahmsweise Überschreitung ist jedoch notwendig, weil hier unerfreuliche Details nicht nur nicht verschwiegen, sondern oft kraß skizziert wurden, und daher auch angegeben werden muß, daß die verschiedenen Skizzen verschiedene Maßstäbe haben: die Originalgröße der unerfreulichen Details ist verschwindend klein im Verhältnis zum erfreulichen Gesamtbild.
Gewiß, es ist noch vieles von dem unrühmlich Alten da, vieles hat sich wirklich noch nicht geändert, wie zum Beispiel hier in Chodschent und . . . da wären wir glücklich zurück von unserem kurzen Ausflug, wieder in Chodschent, wo die Bahn die Stadt vermeidet, Frauen Schleier tragen, viele Moscheen Moscheen blieben, ja, sogar eine Strafanstalt besteht.
Was also hat sich geändert?
Spät nachts kamen wir mit der Eisenbahn an, unser Wagen wurde abgehängt, wir legten uns schlafen und wollten am Morgen mit dem Autobus in die Stadt fahren. Es kam anders. Ein Chodschenter Freund unserer Stalinabader Freunde erschien mit einem Auto. Abendbrot und Zimmer seien vorbereitet, unseren Rucksack könnten wir am Morgen holen. Gut. Wir fuhren in leinenen Breeches, Pantoffeln 210 und Nachthemd zum Abendbrot. Der Wagen hielt vor einem neuen Hotel, wir betraten einen Speisesaal mit weißgedeckten, blumengeschmückten Tischen – ein Restaurant, in das bei uns keinem Arbeiter im besten Sonntagsanzug Einlaß gewährt werden würde. Die Gäste: Tadschiken, die vor einigen Jahren lieber gleich in den tiefsten Höllenpfuhl gesprungen wären, als mit einem Giaur am gleichen Tisch zu essen; russische Arbeiter, vor einigen Jahren wäre hier jeder Russe lieber Hungers gestorben, als mit einem »Ssarte« am gleichen Tisch zu essen. Nun saßen sie beisammen und starrten auf den eintretenden Repräsentanten der kapitalistischen Welt: eine mangelhaft bekleidete Figur.
Wir waren bereit, lange auf das Essen zu warten, den Plow, der uns in den letzten zwei Monaten sechzigmal als Zeichen besonderer Gastfreundschaft vorgesetzt worden war. Aber was war es, das uns – ohne Warten – vorgesetzt wurde: Suppe mit Leberknödeln.
Wir staunten und schwiegen.
Zweiter Gang: Selchfleisch mit Semmelknödeln und Kraut.
Wir staunten und schwiegen.
Dritter Gang: Kaiserschmarren.
Wir staunten und äußerten unser Staunen. Da kam auch schon der Koch herbei, er hatte im Türrahmen gelehnt, um sich an unserem Appetit und unserer Verwunderung zu weiden: »Nun, verstehe ich mich auf deutsche Küche . . .?«
»Das war doch österreichische!«
»Jessas, saan Sö 'leicht aa an Österreicher wie i?« Ja, mir saan aa so an Österreicher wie er, er war ein erbeingesessener, geborener Ur-Wiener aus Brünn und angesichts des Landsmannes aus Berlin, Wien und Prag brach er in 211 Gelächter aus; unser tadschikischer Gastfreund, der georgische Hotelverwalter und die russischen und tadschikischen Gäste lachten mit, denn sie ahnten etwas von den fröhlichkeitsbildenden Fluidien der Semmelknödel und des Selchfleisches.
Am nächsten Tag gingen wir, einen Verband zu erneuern, hinüber ins Krankenhaus. Der Arzt, wie jedermann, der hier einen Fremden als Fremden erkennt, wollte uns das Spital zeigen, wenigstens die neuen Apparate. Es ist ein Institut für physikalische Methoden der Heilung, keine anderen Medikamente werden angewandt als Elektrizität, Wärme, Wasser und Luft. Wir besahen Quarzlampen, Schwitzkästen mit 48 Lampen, Pantostat, die Franklinsche Elektrische Dusche, die Heydenschen Röntgenröhren, einen Hochleistungsapparat Heliopan, 300.000 Volt, der allein 21.000 Mark ab Berlin gekostet hat, und ähnliche Kombinationen aus Ebonit, Silber und Quarz, gleich uns vom fernen Ausland gekommen, während andere diathermische Apparate schon die Herkunftsbezeichnung »Schwachstrom-Trust, Leningrad« trugen.
Überall, unter den Duschen und in den Galvanisationswannen und unter den Höhensonnen saß die Patientenschaft, Tadschiken und Usbeken. Man behandelt solcherart Lähmungen, Ekzeme, Rheumatismus und andere Krankheiten, und jede Heilung ist mehr als nur ein ärztlicher Erfolg, sie ist Verdrängung der Religion durch die Wissenschaft, ein Sieg, der sich in den Hirnen der primitiven Völker unter Zaubereffekten, blauem Licht und knatternden Funken für immer vollzieht.
Patienten sitzen zeitunglesend, bücherlesend auf ihren Betten, sie spielen im Erholungsraum Schach, sie schreiben. Einige humpeln im Park des Physio-Therapeutischen Instituts, der sich zum Ufer des Ssyr-Darja hinabzieht, auf den 212 Kieswegen. In einem Bassin blüht, o Traum, die Victoria Regia.
Chodschent hat ganze Bezirke von Gärten, man durchwandelt sie, betäubt von Farbe und Duft, hier reift der Granatapfel, dort sproßt die Tuberose, es sind Jasmin, Reseda, Salbei, Lavendel, Muskat, Geranium, vor allem aber Gräser und Kräuter um unsere Narkose bemüht.
Ausgenützt wird diese Orgie der Gerüche. Vor zwei Jahren begann die Fabrik ätherischer Öle, eingerichtet in einem ehemaligen Serail, mit einem einzigen Destillationsapparat und einem Transportauto ihre Tätigkeit, jetzt wird Tag und Nacht ununterbrochen gearbeitet, im analytischen und im synthetischen Laboratorium, in der Extraktion, in der Rektifikation, in der Enfleurage, in der Elektrozentrale, in den Plantagen. Die jährliche Kapazität stellt sich folgendermaßen dar: ätherische Öle 31 Tonnen, Parfüm 540.000 Flakons, Eau de Cologne 1,620.000 Flakons, Toilettewasser 1,080.000 Flakons. Die Fläche, unter der wissenschaftlichen Leitung des Chodschenter Botanischen Instituts mit Pflanzen bebaut, deren Blüten ätherische Öle geben, beträgt 1200 Hektar und soll eine Ernte von 32.301 Tonnen bringen.
Tadschiken und Tadschikinnen (unverschleiert; wenn die Sirene Feierabend schrillt, werden sie sich verhüllen) hantieren fachkundig am Refraktometer aus Jena und an den Mischapparaten aus Taschkent, als hätten sie nicht noch vor wenigen Jahren »Stiergefechte« mit Ziegenböcken ausgefochten oder Briketts aus Hammelmist gebacken.
In Stoßbrigadenarbeit machen sie Quelques fleurs und Beauté-de-nuit und Chypre, ohne zu ahnen, wieviel Sorgen es der fernen mondänen Welt bereitet, ob sie sich mit Chypre oder mit Quelques fleurs besprengen soll. 213
Im sozialistischen Wettbewerb miteinander stellen sie ganz genau den Duft von Maiglöckchen und Veilchen her, von Blumen also, die sie nie gesehen und nie gerochen haben.
Sie füllen am laufenden Band das Eau de Cologne ein, viertausend Fläschchen am Tag, es ist nicht viel geringer als 4711; am Ufer des Ssyr-Darja geschieht also das gleiche wie am Ufer des Rheins, gegenüber der Moschee von Chodschent das gleiche wie gegenüber dem Dom von Köln.
Sie mischen Amylalkohol mit Feniläthylalkohol, Amylacetat mit Hydroxydcitronelal, Vanilin mit Amylvalerianat, ohne diese unaussprechbaren Benennungen, geschweige denn die zugehörigen Formeln in der Schule gelernt zu haben.
Ja, aber ist es mit den Arbeitern des Herrn Farina oder des Monsieur Coty nicht ebenso? Was hat sich geändert?
Schon öffnet sich uns ein Saal mit Stühlen und Tafel und Podium und Retorten: das Technikum, eine Station des ehemaligen Kräutersammlers und jetzigen Parfümeriearbeiters auf seinem Wege zum Beruf eines Chemikers.
Es ist gerade keine Unterrichtsstunde, nur drei Hörer sind im Lehrsaal, Tadschiken natürlich, einer, der nicht einmal russisch kann, ist mit verzweifelter Anstrengung bemüht, die Geheimnisse der »Deutschen Parfümerie-Zeitung« zu enträtseln. Die beiden anderen kontrollieren – Eprouvetten gegen das Licht und an die Nasenlöcher haltend – die Experimente, die sie gestern gemacht haben. Mit dem einen unterhalten wir uns.
Name: Usman Dschon Gajbow.
Alter: 32 Jahre.
Besuchte die Schule: nein.
Religion: konfessionslos.
Beruf: früher Ziegelarbeiter, jetzt Gerber. 214
Mitglied der Partei: Ja, seit 1928.
Mitglied der Gewerkschaft: Ja.
Funktionen: Vorsitzender der Leder-Gewerkschaft, Gau Chodschent.
Beruf des Vaters: Gerber.
Aber diesen Vater hat Usman Dschon Gajbow schon als Kind verloren, und deshalb war's, daß er sich als Ziegelarbeiter auf einem Bau verdingen mußte. Dabei fand er, der mit ganzem Herzen am Beruf seines Vaters und seiner Ahnen hing, noch immer Zeit, Wurzeln zu sammeln und mit ihnen Gerbversuche zu machen. Jetzt studiert er hier Chemie, um seine Erfindungen allen Gerbern der Sowjetunion zur Kenntnis bringen zu können.
Nicht alle sind so weit. Packträger und Kameltreiber beleben den Hof des ausgedienten Serails. (So stürzen Umstürzler um: aus ehemaligen Herrensitzen und Frauenhäusern machen sie Fabriken und Schulen.) Auf dem Hof entfaltet sich ein Krippenspiel, durch das Tor ziehen Männer und Kamele und Eselchen schwerbepackt herein, wandeln zur Wage, zum Warenlager, und ziehen durch das Tor hinaus, Männer und Kamele und Eselchen.
Sie ziehen hinaus, um auf wilden Wiesen wiederum wohlriechende Korbblütler, hierorts Burgan genannt, zu pflücken, sie in Bündel zu schnüren, den Menschenrücken, den Kamelrücken, den Eselsrücken aufzupacken und damit von neuem durchs Fabriktor einzuziehen, zur Wage und zum Magazin zu wandeln und durchs Fabriktor hinauszuziehen. Solange, bis die Plantagen der Parfümerie genügend Rohmaterial, veredelteres Rohmaterial geben werden oder gar – Wunschtraum der Chemiker – alles synthetisch hergestellt, die Natur entbehrt werden kann. 215 Kisten mit Flakons treffen von fernher ein, aus Moskau, jedoch die Glasfabrik im nahen Degmay geht ihrer Fertigstellung entgegen.
Stolz zeigt man uns die Etiketten: sie sind schon hier gedruckt! In drei Farben! »Schön, nicht wahr?!« Na. In den Schaukästen der Rue de la Paix würden sie nicht viel Käufer anlocken. Aber das ist ja Exportware, geht aus Tadschikistan nach primitiven Ländern, nach Westchina und nach Afghanistan, und dort würden die Frauen angesichts einer Aufmachung von Chanel und Worth nur »na« sagen.
Aufgeladen auf Lastautos wird die Fertigware, Toilettewässer, Haarwässer, Pomaden. »An die Friseur-Kooperative in Leningrad«, »An die Friseur-Kooperative in Kiew«, »An die . . . (Nebenbei bemerkt: Wissen Sie schon, daß Friseur auf russisch »Perückenmacher« heißt?)
Aus der Parfümfabrik auf die Straße tretend, schöpfen wir mit geblähten Nasenflügeln Luft, zauberhaft aromatische Luft. Welch eine Wohltat nach dem Aufenthalt in den Fabrikräumen! Denn nirgendwo stinkt es so bestialisch wie in einer Parfümfabrik.
Wir denken an den tadschikischen Arbeiter, der die »Deutsche Parfümerie-Zeitung« zu entziffern bemüht war. Er will erkunden, wie man im fernen Westen Wohlgerüche erzeugt, und es kommt doch von hier, aus dem nahen Osten, dieses Gewerbe. Hier salbte man sich mit Ambra und Balsam, hier besprengte man sich einst mit Rosenöl, hier räucherte man die Gemächer mit Myrrhenduft. Der ferne Westen hat den nahen Osten gründlich plagiiert.
Sahen wir nicht im Physio-Therapeutischen Institut die einheimischen Patienten beim Schach, beim Spiel ihrer Urväter oder ihrer persischen Vettern? Die heutige Generation 216 hat das Spiel erst jetzt von den Russen wiedergelernt, so wie sie die Kunst, Balsame herzustellen, von ihnen wiedererfahren hat. Vielleicht hat sich unendlich viel geändert gegen gestern, aber nichts geändert gegen vorgestern?
Das Volk der Tadschiken, Iraner, Väter der arischen Völker Europas, wird aus Dumpfheit und Sklaverei gerissen und lernt, es erfindet sogar. Nicht mehr nur für den Westen, aber auch nicht mehr für sich allein, sondern für Ost und West.
Obstgärten: mit lässiger Hand kann man Granatäpfel pflücken. Weingärten: mit lässiger Hand kann man langgestreckte Weinbeeren pflücken, die im Reich der Bolschewisten, wo es den Begriff der »Dame« nicht gibt, »Damenfinger« heißen.
Eine Stickstoff-Fabrik, Kostenpunkt 600.000 Rubel. Eine dreistöckige Garage für 400 Autos. Ein Stadion. Das Seidenkombinat. Fabriken für Obstkonserven. Feuerwehrzentrale. Pädagogium. Alles eben vollendet oder noch im Bau.
Durch ein offenes Tor schauen wir in einen alten Park, beschließen einzutreten. Alte Parks! Die Sträucher, einst von des pedantischen Gärtners Schere beschnitten, atmen auf und wachsen nun nach Herzenslust. Die Beete brauchen keine Rücksicht mehr zu nehmen auf den ornamentalen Sinn und den Symmetriewahnsinn ihres Herrn und sprengen ihre Konturen. Die Wege, ehedem Schnittwunden in den Rasenplätzen, sind verharscht durch Blumen und Gras. Der befreite Park, er blüht viel blühender als er je in seinem goldenen Käfig geblüht haben kann.
Der blätterbesäte Weg mündet in ein Rondeau. In dessen Mitte ein großer offener Pavillon, in dem Feldbetten aufgestellt sind. Auf der Treppenstufe sitzt ein Mann, andere hocken zu seinen Füßen. Sie beachten den sich nähernden 217 Fremden kaum, erst da dieser sich vorstellt, tut Genosse Azimow ein Gleiches, er ist Rektor der Mittelasiatischen Universität in Taschkent und hält hier einen Kurs ab für Leiter und Funktionäre wirtschaftlicher Unternehmungen.
Ein Hörer arbeitet im Obst-Trust, der andere in der örtlichen Arbeiter- und Bauerninspektion, ein dritter in der Filiale des Goß-Torg (Staatshandel), ein vierter ist Mitglied des Baumwoll-Komitees, ein fünfter Vorsitzender eines Hausweber-Artjels, die meisten anderen Leiter von Konsumgenossenschaften und Kolchosen.
In dem Kursus, in den wir spazierend hineingeraten sind, wird Geschäftsführung der Kollektivwirtschaften sowie die Grundbegriffe der Parteigeschichte und des Leninismus gelehrt – Fächer, die auf Europas hohen und niederen Schulen unbekannt sind. Im nächsten Kursus werden die Teilnehmer auch Histmat lernen – so kürzt man in der Sowjetunion den Gebrauchsbegriff »Historischer Materialismus« ab, ähnlich wie man im Berliner Westen schlicht »Miko« statt »Minderwertigkeitskomplex« sagt.
Die Schüler sind rote Wirtschaftskapitäne oder werden es bald sein. Sie leiten Unternehmungen, die ökonomische Lage ganzer Bezirke ist ihnen anvertraut, sie müssen organisieren, sie bauen, sie verwalten Millionen von Rubeln, sie bewilligen Ausgaben, sie führen Beschlüsse durch.
Bi-Dodo-Chudo, das heißt »Nicht-von-Gott-Geschenkter« – früher hieß er »Dodo-Chudo«, der »Von-Gott-Geschenkte«, lernt erst jetzt die Künste des Lesens und Schreibens, obwohl er schon seit zwei Jahren Leiter eines Gemüsekolchoses von 40 Wirtschaften mit 140 Hektar ist.
»Wie kannst du ein solches Amt ausfüllen, wenn du nicht lesen und schreiben kannst, Bi-Dodo-Chudo?« 218
Er lächelt: »Meine Methode habe ich an dieser Stelle gelernt.«
»Du warst schon früher hier in einem Kurs?«
Er lächelt wieder: »Ich habe vor der Revolution als Gärtner in diesem Park gearbeitet, zehn Jahre lang. Er hat dem Distriktsverwalter der Stadt Chodschent gehört. Mirza Bogadir Mujinow war allmächtig, er hatte sechs Frauen, und trotzdem hatte ihm jeder seiner Arbeiter, der heiraten wollte, die Braut zuerst zu bringen. Die verheirateten mußten ihm ihre Töchter zuführen, wenn sie elf Jahre alt waren. Auch die Frauen der in Haft befindlichen Männer und ihre Töchter ließ er sich kommen. Von den Verwandten der reichen Verbrecher nahm er Geld. So wurde er der reichste Mann des Bezirks.«
»Ist es das?« rufen lachend die anderen, »ist es das, Bi-Dodo-Chudo, was du von ihm gelernt hast?«
»Nein, nicht das ist es, was ich von ihm gelernt habe. Etwas anderes. Er war schlau, und weil er nicht lesen und schreiben konnte, ließ er sich alles, was er einem Schreiber diktiert hatte, von einem anderen Schreiber vorlesen. So verhinderte er, daß eine Eigenmächtigkeit oder ein Fehler vorfalle oder gar ein Versuch, ihn zu hintergehen. So mache ich es auch – genau wie Mirza Bogadir Mujinow.«
»Was also hat sich geändert?« äußern wir, gleichsam im Scherz. Da Rektor Azimow sogar diese Bemerkung einer Übersetzung ins Tadschikische für würdig hält, antwortet der Nicht-von-Gott-Geschenkte, indem er uns zwei beschriebene Schulhefte reicht:
»Mirza Bogadir Mujinow starb als Analphabet und ich werde nicht als Analphabet sterben. Das also hat sich geändert.« 219