Eduard von Keyserling
Abendliche Häuser
Eduard von Keyserling

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Fünfzehntes Kapitel

Baron Port und Gertrud machten einen Abendbesuch in Paduren. Langsam ging der Baron Port neben dem Rollstuhle des Barons Warthe hin, und die Herren sprachen von Kreiswahlen. Fastrade und Gertrud folgten ihnen. Sie begaben sich zum kleinen See unten im Park, denn es war die Gewohnheit des Barons Warthe, sobald das Wetter es erlaubte, um Sonnenuntergang dort am kleinen See zu sitzen, um zuzusehen, wie die Wildenten einfielen. Gertrud klagte über ihre Gesundheit: »Der Frühling ist mir zu stark, er regt mich auf und macht mich wieder müde, und die Erinnerungen werden um diese Zeit so laut und deutlich, ich freue mich auf den Sommer; ich will mich um Mittagszeit ins Heidekraut legen, dort wird es dann still und heiß sein.«

An einer geschützten Stelle des Seeufers waren Stühle hingestellt, und man nahm dort Platz. Der Abend war windstill; regungslos standen die Inseln von Schachtelhalm und Röhricht im dunklen Wasser, und die Abendsonne vergoldete ihre Spitzen; regungslos umstanden die großen Bäume den See, hie und da blühte schon eine Kastanie in ihrer weißen Feierlichkeit mitten unter den grün verschleierten Birken. Die Amseln sangen ihr Abendlied, die Fische schnalzten im Wasser, und ab und zu begann im Röhricht ein ungeduldiger Frosch zu quarren, der den Sonnenuntergang nicht abwarten mochte. Die alten Herren sprachen jetzt von Rüben, Gertrud war bei ihren Erinnerungen. Sie erzählte von einem jungen Manne in Dresden, dessen ganzes Wesen sozusagen auf den Schmerz gestimmt war und der ein Weib suchte, das ihm nicht Heiterkeit entgegenbrachte, sondern auch Schmerz, aber gesänftigt und verklärt, sozusagen getröstet. Fastrade hörte nicht zu, sie war unruhig. Dieser Besuch hielt sie davon ab, Egloff im Walde zu treffen, und sie wußte, er erwartete sie dort, sie wußte, er hatte sie heute besonders nötig. Seit jenem Abend in Sirow waren sie nicht beisammen gewesen, und sie sah immer wieder sein Gesicht vor sich mit den flackernden Augen und dem fremden Ausdrucke von Erregung und Qual. Sie sehnte sich darnach, bei ihm zu sein, Ordnung in ihm zu schaffen, »die Passion einer ordnungliebenden Dame« hatte er ihre Liebe genannt, ja das wollte sie, und sie glaubte, daß sie das auch konnte. Mit pfeifendem Flügelschlage kamen jetzt die ersten Enten heran und ließen sich klatschend in das Röhricht ein. Die beiden alten Herren sahen sich lächelnd an, und Baron Port setzte auseinander, daß es früher mehr Enten gegeben habe und daß er nicht wisse, woher das komme. »Ja, es war merkwürdig«, bemerkte der Baron Warthe, und dann saßen sie still da und warteten auf die Enten.

Gertrud sprach weiter mit ihrer dünnen klagenden Stimme: »Und doch, ohne diese Erinnerungen könnte ich nicht leben. Abends, wenn ich im Saal sitze und durch die geöffnete Türe zusehe, wie es im Garten zu dämmern beginnt, dann kommen die Erinnerungen so stark, daß ich ganz vergesse, wo ich bin, und wenn der Diener kommt und die Lampe bringt und Papa ruft, damit wir Treitschke lesen, dann ist es mir, als ob ich plötzlich in einem stillen dunklen Abgrund versinke.«

Die Sonne war untergegangen, sie hatte ein wenig Rot in das dunkle Metall des Wassers gemischt, und es war die klare farblose Dämmerung des Malabends gekommen. »Du siehst wohl den Dietz Egloff häufig, nicht?« fragte Baron Port.

»Ja«, antwortete Baron Warthe, »er kommt zuweilen her, ich sehe ihn dann zum Tee, aber er gehört zu jenen jungen Leuten, die sich nicht verstehen mit alten Leuten zu unterhalten.« Fastrade hörte das, sie errötete, beugte sich vor und sagte: »Er würde es vielleicht besser verstehen, wenn er mehr ermutigt werden würde.« Der Baron Warthe machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung. »Ich bin gegen alle meine Gäste höflich«, erklärte er, »aber meine Freundlichkeit und meine Achtung müssen erworben werden. Du, meine Tochter, hast ja ein gewisses Recht, ihn zu verteidigen. Du hast dich mit ihm verlobt, und so ist ihn zu verteidigen sozusagen dein Beruf.«

Der Baron Port lachte laut darüber, denn er hielt es für einen guten Witz seines alten Freundes. Es war bereits so finster geworden, daß die Enten nur noch wie große schwarze Schatten in das Wasser fielen, und die Frösche begannen ihr Abendlied. Gertrud erzählte langsam und verträumt weiter: »Sylvia hat auch ihre Erinnerungen, und sie sagt, sie ist glücklich. Sie hat ihre Kindererinnerungen, sie weiß, wie das erste Musselinkleid mit einer Schleppe aussah, das sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag bekam, aber mir würde das nicht mehr genügen.«

»Hat Sylvia nie geliebt?« fragte Fastrade leise.

»Der älteste Teschen machte ihr eine Zeitlang den Hof«, erwiderte Gertrud, »und sie redete sich vielleicht ein, ihn zu lieben, aber es wurde nichts draus, er ist ja auch so furchtbar häßlich.«

»Es wird feucht«, sagte der Baron Warthe, und man machte sich auf den Heimweg. Der niederrinnende Tau raschelte in dem Laube, ein starker, kühler Duft stieg vom Grase auf. Der Baron Port ging wieder neben dem Rollstuhl des Barons Warthe hin, und die Stimmen der alten Herren sprachen ruhig und laut in die Abendstille hinein. Sie sprachen vom Tau: »Wenn wir den starken Tau nicht hätten«, meinte Baron Port, »so wäre der Mai fast trocken.« – »Ja, Ruhke meint das auch«, sagte der Baron Warthe, »aber die Wiesen stehen gut.« Die beiden Mädchen folgten schweigend.

Unterdessen ging Dietz Egloff am Waldrande hin und her, schlug mit seinem Stocke die Blätter von den niederhängenden Zweigen und köpfte die Löwenzahnblüten am Wege, er war wütend, weil Fastrade ausblieb. Die Sonne ging schon unter, und sie war noch nicht da. Aber so war es immer, sie sprach von Helfen und Beistehen, und jetzt, wo er sie nötig hatte wie das tägliche Brot, jetzt kam sie nicht. Im Walde wurde es dunkel, am Himmel standen schon einzelne Sterne. Es blieb ihm nichts übrig, als heimzugehen.

Zu Hause verschloß er sich in seinem Zimmer, er mochte keinen sehen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch mit dem Gefühl, daß er zu rechnen oder unangenehme Briefe zu schreiben habe. Er tat jedoch nichts, er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fraß seinen Grimm in sich hinein. Diese letzten Tage waren gewiß nicht darnach angetan, einem besonderen Appetit auf das Leben zu machen. Lauter Widerwärtigkeiten. Nun und dazu verlobte man sich doch, damit in solchen Zeiten jemand da sei, der in das Leben wieder etwas Hübsches und Reines bringe. Und gerade jetzt mußte sie ausbleiben. Nach Paduren fahren wollte er nicht, er hatte keine Lust, sich mit den Mißbilligungsaugen des alten Warthe ansehen zu lassen. So brütete er vor sich hin, bis es im Hause stille wurde und die Uhr elf schlug. Da klingelte er und befahl Klaus, Ali, den Rapphengst, zu satteln. Klaus wunderte sich nicht, alle im Hause waren an die nächtlichen Fahrten und Ritte des Herrn gewöhnt.

Als Egloff im Sattel saß, wurde ihm wohler, Ali begann munter zu tänzeln, Egloff streichelte den blanken Hals des Tieres. Der war noch ein Kamerad, der stets gut gelaunt bei allem dabei war. Manches Abenteuer hatten sie zusammen unternommen, ja, Ali war die einzige Gesellschaft, die ihm nie Verdruß bereitet hatte. »Nun vorwärts, mein Junge«, rief Egloff, und der Hengst setzte sich in Trab.

Die Wiesen, an denen sie vorüberkamen, hauchten eine köstliche Kühle aus voller Duft, auf der Weide standen Pferde, große dunkele Gestalten, die in den weißen Nebelstreifen zu waten schienen, die über dem feuchten Klee lagen. Ali begrüßte sie mit lautem Wiehern. In einem Birkenwäldchen schütteten die Zweige den Tau wie ein Duschebad auf sie nieder, irgendwo in den Erlen sang eine Nachtigall, rief wach und erregt ihre Töne in das schlafende Land hinein. Dann ging es an kleinen Dorfgärten vorüber, aus denen es ganz süß nach blühenden Bohnen herausduftete. Auf den Türschwellen der Katen saßen Burschen und spielten Harmonika, die hellen Nächte ließen sie nicht schlafen. Plötzlich hielt Ali still, es war vor dem Kruge, Egloff lachte. »Alter Verführer«, sagte er, »gut, gut, feiern wir Erinnerungen.« Und er stieg ab. Die schwarze Lene trat aus der Türe, sie lachte Egloff mit ihrem breiten Lachen an: »Herr Baron sind wieder unterwegs«, meinte sie.

»Ja, Lene«, erwiderte Egloff, »nimm Ali, er will wieder bei dir bleiben. Wer kann in diesen Nächten schlafen, dir läßt das Blut wohl auch keine Ruh?« Lene hob die Arme empor und streckte sich: »Kurios ist's in so einer Nacht«, meinte sie, dann griff sie nach dem Zügel des Pferdes, um es in den Schuppen zu führen.

Egloff ging langsam die Landstraße hinab, Barnewitz zu. Er wollte am Gartengitter sehen, ob Lydia wirklich auf der Bank sitzt und wartet, und dann, es war gleich, nach Hause konnte er nicht, und etwas mußte in einer solchen Nacht unternommen werden. Die kleine, hintere Pforte des Parkgitters fand er wie voriges Jahr offen. Er trat ein und ging die gewohnten Wege entlang. Da war der kleine Springbrunnen mit seinem dünnen Strahle im Sandsteinbecken, die geschorenen Buchsbaumhecken mit ihrem starken, bitteren Geruch, immer, wenn er den Geruch von Buchsbaum spürte, mußte er an Lydia denken. Er bog in die große Allee ein, und wirklich, auf der Bank unter dem Fliederbusche saß sie. Als er vor sie hintrat, sprang sie auf, hing sich an seinen Hals, umschlang ihn, wie Kinder zu umschlingen pflegen, mit dem ganzen Arm, hing an ihm leicht und zitternd: »Da bist du ja«, flüsterte sie mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung, »schon vom Tore ab hörte ich dich kommen, schon als wir herauskamen, wußte ich, daß du kommen würdest. Ich sagte zu Amalie: ›Heute geschieht etwas, der ganze Garten fiebert.‹«

Egloff hielt die kleine Gestalt so an sich emporgehoben und trug sie zu der Bank, über die der Flieder seine Blüten niederneigte, wie eine weiße, duftige Gardine. Der Garten war so still, daß man deutlich das Plätschern des kleinen Springbrunnens hörte, wie eine flüsternde, eifrig erzählende Stimme.

»Was auch geschieht«, sagte Lydia, als Egloff von ihr Abschied nahm, »ich sitze hier und warte.« Egloff ging denselben Weg zurück, den er gekommen war, er ging langsam und bemühte sich, dieses traumhafte Fühlen, das ihn die Zeit über beherrscht hatte, festzuhalten. »Nur nicht ganz wach werden«, sagte er sich, »nur das nicht.« Als er in den von Buchsbaum eingehegten Weg einbog, kam mit schnellen Schritten Dachhausen ihm entgegen. Die beiden Männer standen sich in der Dämmerung einen Augenblick schweigend gegenüber. Egloff überlegte, daß er etwas sagen müsse, als er hörte, wie Dachhausen ihm deutlich und zischend »Schuft!« zurief. Dann gingen sie aneinander vorüber.

Dachhausen lauschte auf die Schritte, die sich entfernten, bis er wußte, daß sie am Tore angelangt waren. Sein erstes Gefühl war das einer großen Befreiung, jetzt hatte er Klarheit, Klarheit nach allem qualvollen Zweifeln, Wachen und Spionieren. Jetzt hatte das Gespenst Fleisch und Blut angenommen, jetzt hatte er einen, an den er sich halten konnte. Fast angenehm war es, wie der Zorn ihm heiß ins Blut fuhr, es war, als mache es ihn größer und breiter. Er richtete sich gerade auf, und seine Schritte wurden hart und fest. Eilig ging er die Allee hinunter, und als er Lydia auf der Bank sitzen sah, überraschte es ihn nicht und ergriff ihn nicht. Als müsse es so sein, trat er vor sie hin, reichte ihr seinen Arm und sagte: »Komm.« Lydia erhob sich und nahm den Arm, so gingen sie schweigend dem Hause zu, stiegen die Treppe hinauf und traten durch die Glastüre in den Saal, der nur von einer einzigen Kerze erhellt wurde. Dachhausen führte Lydia zu einem Sessel, auf den sie niedersank, sie lehnte den Kopf zurück, die Arme lagen schlaff auf den Seitenlehnen des Stuhles. Diese Liebesstunde, nach der sie sich so heiß gesehnt, hatte sie gebrochen, sie begann zu weinen in ihrer stillen, unbewegten Art, nicht aus Schmerz oder Furcht, sondern wie Kinder weinen, weil sie müde sind. Dachhausen stand vor ihr und sah sie an. Wie bleich er ist, dachte Lydia, und wie es in seinem Gesichte zuckt, ob er mich schlagen wird? Er jedoch wandte sich ab und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Lydia bemerkte noch, daß er seine türkischen Pantoffeln mit den auf gebogenen Spitzen an den Füßen hatte, dann schloß sie die Augen. Jetzt sprach er, anfangs leise und mühsam, Lydia verstand ihn nicht, allmählich wurde die Stimme lauter, drohender, die Worte überstürzten sich: »Hast du dich je über mich zu beklagen gehabt? Habe ich je einen anderen Gedanken gehabt als dich, dein Glück, deine Stellung, dein Vergnügen, deine Kleider, was weiß ich? Und du bringst Schande über unser ganzes Haus, und mit diesem Buben von Egloff! Das geht wohl schon lange so, jetzt ist mir alles klar, ich sah es nur nicht, weil ich an so viel Gemeinheit nicht glauben konnte.« Lydia öffnete die Augen wieder, Dachhausen ging sehr schnell vor ihr auf und ab, zuweilen fuhr er mit beiden Armen heftig durch die Luft, und neben ihm an der Wand lief sein Schatten hin und her, ein kleiner, breiter Schatten, der die Füße hoch hob, an denen die Pantoffeln mit den aufgebogenen Spitzen seltsam groß erschienen. »Und die anderen«, fuhr Dachhausen fort, »die anderen wissen es wohl schon lange, sie weisen wohl mit den Fingern auf uns. Ich habe mein Leben immer rein und einwandfrei gehalten, und nun kommst du und machst daraus eine Lächerlichkeit und eine Schande. Es ekelt mir vor meinem Leben, vor dir, vor mir, vor diesem ganzen Hause.« Er blieb stehen und stampfte mit dem Fuße auf, und hinter ihm blieb der kleine, breite Schatten stehen und stampfte auch mit dem Fuße auf.

Das ist alles schrecklich und traurig, dachte Lydia, aber wenn es nur zu Ende wäre! Was auch kommen mag, jetzt nur ein wenig Ruhe.

Dachhausen hatte eine Weile geschwiegen, nun blieb er vor Lydia stehen und sagte mit einer Stimme, die plötzlich ganz ruhig tief und würdevoll klang: »Ich gebe dir einen Tag Zeit, um deine Angelegenheiten zu ordnen. Ich fahre morgen aus, ich mag dir nicht mehr begegnen. Wenn ich zurückkomme, wirst du das Haus verlassen haben, du wirst zu deiner Mutter reisen und meine Dispositionen abwarten.« Er wollte gehen, aber er wandte sich noch einmal um, in seinem Gesichte zuckte es, wird er weinen? dachte Lydia.

»Lydia«, sagte er mit zitternder Stimme, »mußte das sein?«, aber er schämte sich seiner Schwäche und verließ schnell das Zimmer.

Lydia blieb in ihrem Sessel mit geschlossenen Augen liegen, die Stille tat ihr wohl, schon begannen ihr die Gedanken zu vergehen, da hörte sie Amaliens sanfte Stimme: »Frau Baronin müssen jetzt schlafen gehen.«

»Ja, Amalie, schlafen«, sagte Lydia mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung.


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