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Egloff schlief fest und traumlos weit in den Tag hinein, er erwachte davon, daß Klaus vor seinem Bette stand und meldete, es würde bald Zeit zum Mittagessen sein. Egloff blinzelte in den Sonnenschein hinein, der das Zimmer füllte, und streckte sich, in den Gliedern war eine nicht unangenehme Steifigkeit von den Anstrengungen der letzten Nacht zurückgeblieben. »Also gutes Wetter«, konstatierte er. Gab es an diesem Tage etwas, worauf er sich freuen konnte? Ja, er wollte am Abend mit Fastrade im Walde zusammentreffen. Nun, dann lohnte es sich also, diesen Tag zu beginnen. »Gibt es was Neues?« fragte er. »Herr Mehrenstein war da«, berichtete Klaus, »als er hörte, daß der Herr Baron noch schlafen, fuhr er ab.« Egloff verzog sein Gesicht: »Mein Lieber«, sagte er, »ein für allemal, der Name Mehrenstein wird mir nie gleich beim Erwachen serviert, dazu eignet er sich nicht. So, nun werde ich aufstehen.« Als Egloff aus seinem Zimmer herauskam, fand er seine Großmutter und Fräulein von Dussa im Wohnzimmer mit Handarbeit beschäftigt. Sie lächelten ihm beide freundlich zu. Jetzt, wo er verlobt war, zeigten die beiden Damen womöglich noch mehr Freundlichkeit und Rücksicht gegen ihn als sonst, aber in der Freundlichkeit lag etwas wie Wehmut, etwas wie Schonung, die man einem erweist, dem man einen Fehltritt verziehen hat. Egloff setzte sich zu den Damen, sprach von der Jagd, von dem Auerhahn, von Doktor Hansius und erzählte, daß Gertrud Port und Liddy Dachhausen beide krank seien. Die Baronin zog die greisen Augenbrauen in die Höhe und meinte. »Die arme Gertrud hat sich da draußen ihr Leben ruiniert, und Liddy Dachhausen, mein Gott, in den Familien, man weiß nie, was da für Krankheiten herrschen.«
Egloff lachte. »Solche fremde Völker, meinst du, bringen fremde Krankheiten ins Land.« Die Baronin lachte nicht, sondern sagte ernst: »Fastrade, Gott sei Dank, ist wenigstens gesund.«
»Sie ist doch mehr als nur gesund«, wandte Egloff ein. Die beiden Damen beugten erschrocken ihre Köpfe auf die Handarbeiten nieder, und die Baronin murmelte entschuldigend: »Ich meine nur, Gesundheit ist eine wertvolle Gabe Gottes.« Ein ungemütliches Schweigen entstand, bis Fräulein von Dussa wieder den Kopf erhob, nachdenklich zum Fenster hinaussah, wie sie stets tat, wenn sie etwas Geistreiches bemerken wollte, und sagte: »In dieser Baronin Dachhausen ist etwas, das ich nie ganz verstehen kann. Ich will nicht sagen, daß sie ein Buch in fremder Sprache für mich ist, sie ist eher ein Buch, das aus einer fremden Sprache in meine Sprache übersetzt worden ist und in dem doch ein Rest von Unverständlichkeit zurückblieb.«
»Ah, Sie meinen«, versetzte Egloff, »vom Birkmeierschen ins Dachhausensche übersetzt. Aber die kleine Liddy ist doch nicht dazu da, damit man sie studiert, sondern damit man sie ansieht.«
»Allerdings, dieser Anforderung genügt sie«, antwortete Fräulein von Dussa spitz. Dann ging man zum Essen. Bei Tisch wurde von dem Diner gesprochen, das nächstens stattfinden sollte, in letzter Zeit wurde sehr viel von diesem Diner gesprochen, und die Baronin holte ihre Erinnerungen an all die Hofdiners, die sie mitgemacht hatte, heraus und sprach andächtig von Punch glacé, Chevreuil à la providence und Timbale à la Marie Antoinette. Als dieses Thema erschöpft war, kam die Rede auf Hyazinthen, welche in die Fenster gestellt werden sollten, und die Baronin sagte ein wenig feierlich, wie sie das in letzter Zeit öfters tat: »Solange ich hier etwas zu sagen habe, werden hier im Frühjahr immer Hyazinthen in die Fenster gestellt werden. Später, wenn ich meine alten Augen schließe, mögen die anderen tun, was sie wollen.«
Nachmittags beim Kaffee rauchte Egloff still seine Zigarre, der gelbe Nachmittagsonnenschein in den Zimmern, der schwüle Duft des Räucherlämpchens auf dem Kamine hatten von jeher seine Stimmung bedrückt. Die Damen arbeiteten wieder, nur einmal kam es noch zu etwas lebhafterem Gespräch, als die Baronin fragte: »Fährst du nach Paduren?« – »Nein«, erwiderte Egloff, »ich soll ja da hinkommen, um zu zeigen, ob ich mich bewähre, und noch habe ich keine Lust.«
Die Baronin errötete vor Ärger: »Diese Warthes«, sagte sie, »waren von jeher von einer unbegreiflichen Selbstgerechtigkeit. Sie taten immer so, als sei die Tugend ein Vorwerk von Paduren.«
Egloff zuckte die Achseln und schwieg. Endlich beschlossen die Damen noch ein wenig hinauszugehen, und da es so feucht war, wollte die Baronin in der kleinen Wandelhalle im Garten auf und ab gehen. »Du, mein Junge«, sagte sie, »wirst wohl noch ein wenig ruhen. Ich werde dafür sorgen, daß im Hause Stille ist, da kannst du ruhig sein, solange meine alten Augen offen sind, wird immer dafür gesorgt sein, daß während deiner Nachmittagsruhe im Hause Stille herrscht. Schon dein Vater hielt darauf.«
Egloff zog sich in sein Zimmer zurück, legte sich auf sein Sofa, lehnte den Kopf zurück, so, jetzt war nichts mehr übrig, als still zu liegen und sich auf den Abend zu freuen. Durch sein Fenster konnte er die kleine Wandelhalle im Garten sehen, dort gingen die Baronin und Fräulein von Dussa in schwarze Mäntel gehüllt, schwarze Schale auf dem Kopfe mit kleinen gleichmäßigen Schritten auf und ab. Seit seiner Jugend kannte er dieses Bild, die beiden schwarzen Gestalten, die im Nachmittagsonnenschein dort auf und ab gingen, und immer hatte es ihm bis zur Traurigkeit uninteressant geschienen. Gut, daß das Leben doch noch andere Dinge als die kleine, sonnige Wandelhalle hatte, dachte er.
Die Sonne war schon untergegangen, als Egloff und Fastrade noch Arm in Arm am Waldrande entlanggingen. Es war windstill, regungslos hoben die Birken und Eichen ihre Zweige mit den geschlossenen Knospen und die Ellern ihre über und über mit Blütentrauben geschmückten Wipfel zum bleichen, glashellen Himmel empor. Unter dem Rasen flüsterten und gurgelten unsichtbare Gewässer, und die Luft war feucht und mild. Fastrade, fest in ihre blaue Frühjahrsjacke geknüpft, den blauen Filzhut auf dem Kopfe, öffnete ein wenig die Lippen, um den Duft der Erde und der Knospen voll einzuatmen. Sie fühlte sich seltsam wohl und zu Hause in dieser Frühjahrswelt. Egloff war heute nervös und gereizt, Fastrade spürte es wohl, aber es machte sie stolz, das Unruhige und Wilde in diesem Manne neben sich so in ihrer Gewalt zu haben.
»Natürlich habe ich an dich gedacht«, sagte Egloff, »in der Nacht dort drunten in der Hütte und zu Hause, wenn ich nicht gerade schlief. Angenehm ist das nicht.« Fastrade lächelte: »O wirklich, ist das nicht angenehm?« fragte sie.
»Wie soll das angenehm sein«, erwiderte Egloff ärgerlich, »früher habe ich mir über meine Nebenmenschen nicht viel den Kopf zerbrochen, jetzt muß ich an einem Mädchen herumrechnen, als gälte es einen Monatsabschluß.«
»Du Armer«, sagte Fastrade bedauernd, »aber bin ich denn ein so schweres Exempel?«
»Ja, ja, ich weiß«, höhnte Egloff, »ihr wollt alle klar wie Kristall sein, eine jede hält sich für den berühmten tiefen See, dessen Wasser so klar ist, daß man bis auf seinen Grund sieht. Dabei weiß man von euch gar nichts. Übrigens ist das eine dumme Männerangewohnheit, alles zu Ende denken zu wollen. Ich wollte dich zu Ende denken. Du wirst mir sagen, du hast auch an mich gedacht, ja, wie ihr Frauen schon denkt. Da sind eine Menge kleiner, lächerlicher Sachen, die da ebenso wichtig sind als unsereiner.«
»Man braucht ja nicht immer aneinander zu denken«, meinte Fastrade, »man fühlt einander. Wenn ich bei Papa sitze und die Memoiren lese oder Ruhke zuhöre oder die Ausgaben und Einnahmen anschreibe oder wenn ich Tante Arabella helfe den Wäscheschrank ordnen, immer weiß ich, daß du da bist und daß meine Gedanken jeden Augenblick zu dir zurückkehren können.«
»Gut, gut«, sagte Egloff, »das ist so wie eine Schachtel Pralinee im Schreibtisch, man hat das frohe Bewußtsein, jeden Augenblick herangehen zu können, um ein Stück zu nehmen.«
Sie schwiegen eine Weile und hörten einem Star zu, der auf der Spitze einer Tanne saß und mit Flügelschlagen und Pfeifen aufgeregt sein Abendlied beendete. Als Egloff wieder zu sprechen begann, klang es böse und traurig: »Was weiß ich denn von dir!« Fastrade sah zu ihm empor und lächelte: »Was willst du denn wissen?«
»Nun«, erwiderte Egloff, und Fastrade hörte deutlich aus seiner Stimme heraus, daß er grausam sein wollte, »da ist dieser Kandidat, hast du den geliebt?«
Fastrade errötete, sah ihm aber fest in die Augen: »Ja«, erwiderte sie, »so wie ich damals lieben konnte. Ich hatte so tiefes Mitleid mit ihm, er war so einsam, so leicht verwundbar und hilflos, ich wollte bei ihm sein und ihm Gutes tun.«
»Ich erinnere mich seiner«, sagte Egloff leichthin, »er hatte zu kurz geschnittene Nägel, und das Haar hing ihm hinten über den Rockkragen. Das haben alle Kandidaten.«
»Dann erinnerst du dich seiner nicht«, ereiferte sich Fastrade, »er war immer sehr gut angezogen.«
»Wie sich eben Kandidaten anziehen«, meinte Egloff, »gleichviel, und du reistest zu ihm.«
»Ich reiste zu ihm«, erwiderte Fastrade, und ihre Stimme begann zu zittern, »weil er sterbend war und weil ich versprochen hatte, bei ihm zu sein, wenn er mich braucht. Das kann dich nicht kränken, daß ich ihm mein Versprechen gehalten habe und ihm treu gewesen bin.«
Egloff zuckte die Achseln: »Der Gedanke, daß du einem anderen treu gewesen bist, hat für mich nichts Ansprechendes. Übrigens, du sagst Mitleid. Ist Mitleid und Liebe denn dasselbe?«
»Ich glaube, sie gehören eng zusammen«, erwiderte Fastrade.
»Also hast du für mich auch Mitleid?« forschte Egloff eigensinnig und gereizt weiter.
»Ja«, sagte Fastrade und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen und tapferen Klang zu geben. »Wenn ich sehe, daß du unruhig und gequält bist, daß alle gegen dich sind, dann habe ich Mitleid mit dir, und dann möchte ich etwas dazu tun, daß es um dich klar wird und hell.«
»Oh, ich verstehe«, meinte Egloff noch immer gereizt und spöttisch, »die ordnungsliebende Dame, die in ein ungeordnetes Zimmer kommt und von der Passion ergriffen wird zu ordnen. Du willst also bessern und erziehen, die Liebe ist bei dir ein pädagogischer Trieb, ein – wie soll ich sagen – ein Gouvernantentrieb. Das ist es, was du willst, nicht wahr?«
Sie waren stehen geblieben, Fastrade hatte Egloffs Arm losgelassen und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm einer Birke. Sie fühlte sich elend und verwundet: »Nichts will ich«, sagte sie matt, »nur daß wir zusammengehören.« Ihre Augen wurden feucht, und Tränen rannen an ihren Wangen nieder. Egloff stand vor ihr und betrachtete ernst und bewundernd das weinende Mädchengesicht. Dann nahm er Fastradens Hände: »Unsinn«, sagte er, »da ist nichts zu weinen, man spricht so allerlei, das ist doch nicht wichtig.« Er zog sie an sich, und als er das tränenfeuchte Gesicht küßte, fühlte er, wie der Mädchenkörper in seinen Armen schwer und willenlos wurde.
Über dem Land dämmerte es stark, vom Boden stieg der Nebel auf wie weißer Rauch, und auf der großen Ebene erglommen in den Schlössern schon die Lichtpünktchen. Fastrade wischte sich die Tränen aus den Augen und nahm wieder Egloffs Arm. »Es ist nichts«, sagte sie, »dies Frühlingswetter macht einen schwach.«
»Gott sei Dank«, meinte Egloff, »vom ewigen Starksein hat man auch nicht viel.«
So schlugen sie wieder beruhigt und ein wenig nachdenklich den Heimweg ein.
Als Fastrade nach Hause kam, lief sie in ihrem Zimmer hin und her, ordnete ihre Sachen und begann hell und laut vor sich hin zu singen. Das war sonst nicht ihre Gewohnheit, aber heute tat es ihr wohl. Baronesse Arabella war bei dem Baron, und Ruhke stand vor ihm und berichtete. Ruhke schwieg plötzlich, und alle drei horchten auf. »Sie singt«, sagte die Baronesse. »Das ist neu«, meinte der Baron. Auch Couchon, die bei ihren Karten eingeschlummert war, fuhr auf, neigte den Kopf auf die Schulter und lauschte.