Eduard von Keyserling
Abendliche Häuser
Eduard von Keyserling

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Der Rappe machte einen großen Seitensprung, der Kutscher rief wütend: »Ho! Ho! Wer ist da, versteht ihr nicht den Weg zu kehren?« Ein kleines Pferd, ein niedriger Schlitten, auf dem verschneite Pakete lagen und eine verschneite Gestalt saß, mühten sich, durch den tiefen Schnee zur Seite auszubiegen. »Laibe«, rief Egloff, »bist du das?« – »Ja, Herr Baron, Laibe«, antwortete eine freundliche Stimme.

»Was tust du hier im Walde?« fragte Egloff.

»Mir ist es schlecht gegangen«, ertönte leise eine klagende Stimme, »verfahren habe ich mich im Walde, und jetzt fahre ich mit der Deichsel in den Schabbes hinein, ai ai, was kann man machen!«

»Das kommt vom Schmuggeln«, meinte Egloff, »aber du kannst zu mir auf den Hof kommen und deinen Schabbes empfangen. Fahr zu, Kutscher.«

»Danke, danke, Herr Baron«, rief Laibe ihm nach.

Auch ein Leben, dachte Egloff, so in der Dunkelheit einsam durch den Wald zu kriechen, na, vielleicht ist das aber nicht übel, sich so herumzuschlagen, wenn man nur daran zu denken hat, ob man im Dunkeln den rechten Weg findet und wo ein Feuer sein kann, vielleicht daß man dann an alle möglichen widerwärtigen Dummheiten nicht zu denken braucht.

Jetzt fuhren sie in den Sirowschen Hof ein, nur wenig Fenster des großen Hauses waren erleuchtet. »Aha, keiner erwartet mich«, sagte Egloff. Sie hielten vor der Freitreppe, Egloff stieg zur Haustüre hinan, öffnete sie laut und rief ein schallendes und ärgerliches: »Holla!« Hunde begannen im Flur zu bellen, Lichter liefen die dunkle Fensterreihe entlang, Klaus und Joseph mit Lichtern in der Hand erschienen und stammelten: »Ah, der Herr Baron, wir haben nicht gewußt.« – »Natürlich habt ihr nicht gewußt«, sagte Egloff und warf seinen Pelz ab, »du, Klaus, ich gehe gleich in mein Zimmer, der Kamin muß angeheizt werden, und du, Joseph, meldest der Frau Baronin, daß ich nicht zum Essen kommen werde, ich bin müde und gehe schlafen. Außerdem bringst du mir eine Flasche Burgunder aufs Zimmer. So, vorwärts.« Er ging in sein Zimmer hinüber, kleidete sich aus, ließ sich von Klaus den Körper mit Kölnischem Wasser abreiben, hüllte sich dann in seinen Schlafrock und streckte sich in seinem Schreibzimmer auf dem Sofa aus. Joseph brachte den Burgunder, im Kamin brannte das Feuer, es wurde behaglich warm. Egloff zündete sich eine Zigarre an, so, nun konnte es gemütlich sein, es gehörte nur noch dazu, daß angenehme Gedanken kamen, Gedanken, die nicht unversehens grob an eine wunde Stelle stießen. Was also? Da war dieser Jude, der durch den dunkelen verschneiten Wald irrte und betete und nach einem fernen Licht ausspähte, das war etwas, woran hier am Kaminfeuer eine Weile zu denken seinen Reiz hatte. Allein das reichte nicht aus, die Gedanken irrten zu anderem. Was mochte wohl die kleine Frau in Barnewitz jetzt tun? Sie erwartete ihn, er sah es deutlich, wie sie sich für ihn ankleidete. Allzu sehr schmücken durfte sie sich nicht, denn keiner im Hause wußte ja, daß sie ihn erwartete, sie zog wohl das dunkelviolette Wollenkleid an und legte die Perlenschnur um. Dann bestellte sie das Abendessen, zündete im Saal die Lampen an mit den schrecklichen hellrosa Gazeschirmen, Frauen aus jenen Kreisen glauben immer, daß, wenn sie verliebt sind, sie Lampen haben müssen mit hellrosa Gazeschleiern. Da saß sie im rosa Lampenschein, das hübsche Wachspuppengesicht ganz feierlich, das Haar glänzend schwarz, in ihrem violetten Kleide wie ganz in weiche Veilchen eingehüllt, und wartete auf ihn. Und es wird immer später, und das Wachspuppengesicht wird immer starrer, und endlich weint sie, wie nur die kleine Lydia Dachhausen weinen kann, ganz mühelos einen Strom von Tränen über das Gesicht schüttend, das sich nicht verzieht, das unbewegt bleibt, sie weint, wie Puppen weinen würden, wenn sie weinen könnten. Egloff lächelte, der Gedanke an die einsam unter ihren rosa Lampen um ihn weinende Frau tat ihm wohl, und dann plötzlich mußte er an Fastrade denken, an die Fastrade der Kindheit, an das kleine Mädchen, das ihn mit der geballten Faust vor die Brust stößt und »Pfui!« sagt. Unruhig drehte er sich auf die Seite, griff nach dem Glase und trank, endlich drückte er auf den Knopf der elektrischen Klingel. Als Klaus erschien, befahl Egloff: »Der Jude Laibe soll zu mir heraufkommen, wenn er seine Zeremonien beendet hat.«

»Zu Befehl«, sagte Klaus. Egloff legte sich wieder zurück, zog an seiner Zigarre und wartete ungeduldig auf den Juden Laibe.

Nach einer Weile wurde die Türe vorsichtig geöffnet, und der Jude Laibe schob sich in das Zimmer, er war fest in seinen grüngrauen Rock eingeknöpft, das graue Haar und der dichte, graue Bart waren glatt gestrichen, und sein Gesicht verzog sich zu einem unendlich liebenswürdigen, freundlichen Lächeln. Er verbeugte sich mehrere Male, rieb sich die Hände und sagte: »Gut Schabbes, Herr Baron, gut Schabbes.« – »Du kannst dich da an den Kamin stellen und wärmen«, bedeutete ihm Egloff, »wenn du willst, kannst du dich auch auf den kleinen Stuhl dort setzen.« Laibe setzte sich, legte die Handflächen auf die Kniescheiben und fuhr fort, sein süßes Lächeln vor sich hin zu lächeln. Egloff betrachtete ihn aufmerksam. »Was ist denn geschehn«, fragte er dann, »eben noch kriechst du durch den Schnee im dunkelen Walde wie ein klagender Hase, und jetzt kommst du herein, reibst dir die Hände wie ein Ballherr und machst ein Gesicht, als ob du Hochzeit halten solltest.«

»Ein Dach überm Kopfe, Herr«, sagte Laibe, »ist was Gutes, und eine warme Stube ist auch was Gutes, warum soll ich mich dann nicht freuen?«

»Ist das alles?« meinte Egloff.

Laibe wurde ernster, strich mit der Hand über seinen Bart und rollte seine blanken, sirupfarbenen Augen. »Das nu versteht der Herr Baron nicht, das ist unsere Religion, heute muß man froh sein, ob man will oder nicht.«

»So, so, nur weil es befohlen ist«, sagte Egloff.

»Weil es befohlen ist«, bestätigte Laibe, »die ganze Woche schindet man sich und fürchtet sich, und an einem Tag erinnert man sich, daß alles einmal ganz gut werden wird. Versprochen ist es, nun und man wartet.«

»Wartet«, wiederholte Egloff höhnisch.

»Was kann man anders tun, man wartet«, versetzte Laibe mit Bestimmtheit.

Egloff richtete sich ein wenig auf und sagte plötzlich ungewöhnlich heftig: »Und dieses Warten macht uns alle zum Narren, man wartet und wartet, man tut dies und das, um sich die Zeit zu vertreiben, aber das Große, die Hauptsache, die soll noch kommen. Und die Zeit vergeht, und nichts kommt, und wir sind die Narren.«

Ärgerlich ließ Egloff sich in die Kissen zurückfallen, der Jude warf einen schnellen ängstlichen Blick auf den Baron, krümmte den Rücken und sagte leise und demütig: »Das Warten ist nichts für die großen Herren, ein Edelmann hat hitziges Blut, der wartet nicht gern, aber ein armes Judchen hat nichts anderes.«

»Du hast doch dein Geld«, warf Egloff ein, »das macht dich doch glücklich. Wenn du einen Bauern betrogen hast, dann bist du glücklich, wenn du was über die Grenze geschmuggelt hast, dann bist du glücklich, wenn du ein Kalbsfell unterm Preise gekauft hast, dann bist du glücklich.«

Laibe wiegte bedächtig seinen Kopf: »Glücklich, Spaß, ein schönes Glück. Dann ist der auch glücklich, der recht hungrig ist, und um ihn herum stehen lauter Braten, und die dampfen und die riechen gut, und er darf sie alle riechen und keinen anrühren. Glücklich, wenn ich immer nur an dem Geld der anderen vorübergehen und vorüberfahren muß. Und da fahre ich durch den Wald, schöne, große Stämme, reines Geld, aber nicht mein Geld. Komme ich an einer Scheune vorbei, die ist ganz voll mit Geld, aber nicht mein Geld. Das ist auch so 'n Glück.« Laibe lachte höhnisch in seinen Bart hinein.

»Sag mal«, begann Egloff nachdenklich, »hast du immer an Geld gedacht? Du bist doch auch jung gewesen, und in der Jugend hat man doch auch andere Gedanken im Kopf, da gibt es doch lustige Sachen.« Aber Laibe lachte wieder sein leises, höhnisches Lachen: »Ei, ei, meine Jugend, lieber Herr, was war das schon für eine Jugend. Ich war ein Bocher von fünfzehn Jahren, als der Vater mir das Bündel auf den Rücken hing und sagte: ›Geh verdienen.‹ Nun, und ich ging, und auf der Landstraße hatte ich Angst vor den Gendarmen und vor den Grenzreitern und im Walde vor den Waldhütern, und wenn es dunkel wurde im Walde, dann kamen große schwarze Vögel, flogen ganz niedrig und bliesen – die Angst! Und wenn ich dann zum Bauern kam, hatte ich Angst, an die Tür zu klopfen, und wenn ich doch klopfte, der Bauer kam aufmachen, hatte ich wieder Angst. Und ich glaubte, der Kaiser und die Minister und die Herren und die Bauern, alle sind nur dazu da, um dem armen Judenbocher Angst zu machen.«

»Aber dachtest du nicht manchmal«, unterbrach ihn Egloff, »dachtest du nicht an Mädchen, an solche Sachen?«

»Mädchen waren schon da«, erwiderte Laibe. »Wenn ich sonntags in eine Bauernstube kam, dann saßen sie da am Tisch, die Mädchen in ihren guten Kleidern, reingewaschen, die Gesichter wie die roten Äpfel, und Jungen waren da und spaßten mit ihnen, und ich saß am Ofen und sah zu, wie einer ein Bild ansieht, er kann nicht in das Bild hinein, und das Bild kann nicht zu ihm herauskommen. Ach Gott, meine Jugend! Auf der einen Seite steht das bißchen Verdienst, und auf der anderen Seite steht die große Angst.«

Beide schwiegen jetzt, Laibe schaute sorgenvoll vor sich hin und strich mit den Händen sanft über seine Knie, als wolle er sich selber trösten. Egloff zog nachdenklich an seiner Zigarre. »Hm«, sagte er endlich, »nicht schlecht. Der Judenjunge im dunkelen Walde, ganz klein unter den hohen Bäumen, und die großen schwarzen Vögel, die vor sich hinblasen. Aber mit eurer ewigen Angst habt ihr vielleicht recht. Ihr behaltet die gefährliche Bestie immer im Auge, wir anderen, wir fürchten uns nicht, und uns fällt sie hinterrücks an.«

»Bitte, Herr Baron«, fragte Laibe einschmeichelnd, »was ist das wohl für eine Bestie?« Egloff seufzte: »Ach, mein lieber Laibe, Sinn für das, was man so ein poetisches Bild nennt, hast du nicht. Was soll denn die Bestie sein? Das Leben ist diese Bestie.«

»Sehr hübsch«, bemerkte Laibe und machte sein liebenswürdigstes Gesicht, »aber ich habe nicht einen feinen Kopf wie der Herr Baron, ich habe nur einen armen Judenkopf voller Sorgen, der kann nicht so feine Gedanken denken.«

»Gut, gut«, unterbrach ihn Egloff, »du wirst uninteressant, mein Lieber, es ist Zeit, daß du schlafen gehst, gute Nacht.« Laibe erhob sich, rieb sich die Hände, verbeugte sich und sagte: »Eine sehr gute Nacht, Herr Baron«, dann ging er.

Egloff blieb noch eine Weile liegen, die Wärme des Kaminfeuers hatte ihn ganz schlaff gemacht, und der Burgunder gab ihm einen angenehmen, leichten Schwindel. Man wird schlafen können, dachte er, und dann klang ihm plötzlich Fastradens Stimme im Ohr, »das sieht aus wie ein Schlachtfeld«, hatte sie vom Walde gesagt, und das klang so zornig wie das »Pfui!« damals, als er den Hund schlug. Er lächelte vor sich hin. Dieses Mädchen einmal so böse zu machen, daß es ganz heiß und wild wird, das müßte hübsch sein. Dann schellte er nach Klaus, um zu Bette zu gehen.


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