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Rahel schrieb eine klare und schöne Handschrift, so wie sie auch mit klarer und sanfter Stimme sprach. Aber ihre Schriftsprache steht sicherlich weit hinter ihrer Gesprächssprache zurück, obgleich man der ersteren wohl anmerkt, daß sie viel von dem Leben des gesprochenen Wortes behalten hat – vielleicht gerade infolge all der Unregelmäßigkeiten des Satzbaus und der Interpunktion, der Einschiebsel und Ausrufe, die es machen, daß sie schwer zu lesen sind. Aber es ist ihr das gelungen, was sie selbst anstrebt:
»Gespräche, wie sie lebendig im Menschen vorgehen« zu schreiben – Gespräche, die wie jedermann selbst weiß, nicht nach irgend welchen Kompositionsgesetzen vorgehen! Aber Rahel hätte ebensogut Briefe schreiben können – wo, wie sie sagt,
»die Seele spazieren geht« – und dabei mehr künstlerische Gestaltungskraft haben können. Daß sie nicht Deutsch konnte, daß wie sie klagt,
»jeder besser schreiben und reden kann mit viel dümmeren Gedanken«, ist wohl ein Grund für die Schwerflüssigkeit ihres Stils. Aber die Hauptursache ist doch, daß ihr die Formgabe fehlte, die Formgabe, die auch solchen aus der Stimmung geborenen Impromptus, wie es ihre Briefe sind, jenes künstlerische Gepräge hätte verleihen können, das ihnen jetzt fehlt Dieser Mangel an Formgabe hängt jedoch auch mit der unbeugsamen Eigenart zusammen, die es macht, daß Rahel nach ihren eigenen Worten nie etwas von jemand anderem lernen konnte. Wenn Rahel von ihrer
»dicken Unwissenheit« spricht und sagt:
»Mir wurde nichts gelehrt«, so darf man dies nicht so nehmen, als wenn sie keine Gelegenheit gehabt hätte, zu lernen. Sie hat selbst in dieser Beziehung unzweideutig gesagt, daß die Ursache an ihr selbst läge.
»Es ist wahr, daß ich immer an das Wesentliche denke, wovon ich lese, und daß ich alle Mittel dazu nur so schnell als möglich brauche und sie dann ganz vergesse. Ich ordne mir alles, was ich höre und lese, zu einem Ganzen ... Alle, die mir Unterricht geben, fangen mir an, etwas vorzupredigen, was immer aus einem Gesichtspunkt genommen ist, woraus ich diese Sache nicht nehme; nun sprechen sie stundenlang ohne allen Zusammenhang für mich ... So ist mir's noch mit allen Meistern ergangen.
Unsere Sprache ist unser gelebtes heben; ich habe meines selbst erfunden, ich konnte also weniger Gebrauch als viele andere von den einmal fertigen Phrasen machen, darum sind meine oft holperig und in, allerlei Art fehlerhaft, aber immer echt.«
Rahel konnte wahrscheinlich keine Jahreszahlen der griechischen Geschichte, aber sie las Homer in Voß' Uebersetzung, so daß sie sagen kann, »es ist ordentlich ein Schmerz, so schön kommt mir die Odyssee vor«. Sie entdeckt, daß Homer immer groß ist, wenn er vom Wasser spricht, so wie Goethe, wenn er von den Sternen spricht. Sie konnte vermutlich Spaniens Flüsse nicht aufzählen, aber sie erlebte den Don Quijote. Sie hatte mit einem Wort gerade die entgegengesetzte Begabung, wie jene, die gute Examen macht, und imstande ist »mit ganz unversehrten Sprüchen im Kopf« herumzugehen. Was Rahel nicht in Blut von ihrem Blute verwandeln konnte, ging sie nichts an. Es war ein solcher seelenvoller »Zusammenhang zwischen ihren Fähigkeiten«, ein so inniges » Zusammenwirken zwischen ihrem Temperament und ihrer Intelligenz«, daß der ganze unselbständige Ballast, woraus der größte Teil der Ansichten und Urteile anderer Menschen gebildet ist, keinen Platz in ihr hatte: sie konnte nur ihre eigenen behalten und ihre eigenen geben!
Das ist der unvergleichliche Reiz an Rahels Briefen und die einzige Stärke, vor der alle Schwächen verschwinden. Es war natürlich, daß Rahel sich fragte, ob man nicht soviel spreche, weil man das, was man im Innersten meint, nie aussprechen kann; daß sie hoffte, man würde schließlich das Wort finden, das all das Unaussprechliche einschließen könnte; daß sie namentlich die Worte liebte, die »ganze Gedankenfamilien« enthielten. Denn Rahels glücklichste Worte sind gerade jene, die in irgend einer Richtung etwas bisher Unausgesprochenem einen Ausdruck schaffen; diejenigen, von denen man behaupten kann, daß sie nicht nur eine Gedankenfamilie, sondern ein ganzes Gedankenvolk enthalten.
Jemand bat Rahel, ihr Urteil »ganz naiv« zu geben. Sie antwortete, sie könnte dies versprechen, und das Urteil würde doch wirklich naiv ausfallen. Denn sie wußte, daß ihre Ursprünglichkeit so fest in ihrer Natur wurzelte, daß keine Absicht ihr Abbruch tun konnte. »Ich kann mich gar nicht bilden, in nichts, mein tobendes Herz bildet ja alles in und an mir«, sagt sie auch mit bezug auf ihre Briefe. Was hat es zu sagen, ob ein solches Wesen besser deutsch hätte schreiben können? Hätte sie dadurch – ihren wirklichen Lesern – eigentlich mehr geben können als sie jetzt gibt? Ich glaube nicht
Mit einem Worte: Rahel gehörte zu den prophetischen Naturen, die ihre Weisheit stets auf geheimnisvollen Wegen erhalten, so wie man es von Kassandra erzählt, die allhörend, allsehend und allverstehend von dem Augenblick an war, wo man das Kind auf dem Boden des Tempels gefunden, von einer Schlange umringelt, die ihr die Ohren leckte.
* * *
Briefe gehörten zu Rahels Zeit zu den Gesellschaftspflichten und der Gesellschaftskunst Sie waren sozusagen die Supplementblätter der Presse, denn sie zirkulierten in weiten Kreisen und erfüllten, in feiner diskreter Art, die Aufgaben, die die Presse heute in so verschiedenartiger Weise erfüllt Man hatte damals die Ruhe, Mühe auf seine Briefe zu verwenden, denn die tausend Unwichtigkeiten, die jetzt ein Dutzend Postkarten per Tag erfordern, verschlangen damals nicht die Zeit und den Frieden, ohne den das Briefschreiben sich nicht zur Kunst entwickeln kann.
Rahel war durch die Bedeutung, die Freude, die Briefe für sie hatten, in hohem Grade ein Kind ihrer Zeit. Hingegen war sie aber als Briefschreiberin viel mehr Improvisatorin als ihre meisten Zeitgenossen. Sie ist so unmittelbar, daß ihre Briefe zuweilen einem Feuerstrom gleichen, zuweilen einer Tränenflut, zuweilen einem Spiel von Sonnenflecken und Schattenflecken. Vor solchen Naturerscheinungen vergißt man Sprachfehler und Interpunktionslaunen. Tut man dies nicht, dann soll man Rahel nicht lesen. Sie ist ein unfehlbarer Prüfstein für die verschiedenen Menschenarten!
Nach einem Briefe Rahels schreibt Gentz: »Schreiben denn Menschen so? Nein! Auch Götter nicht! Mitteldinge zwischen Göttern und Menschen, kindische große Geister, erhabene Kinder, Seelen, in denen sich immer auf einmal die ganze Welt die hohe und tiefe abspiegelt die die größten Gedanken und die größten Gefühle wie Haselnüsse von ihren ewig vollen Stauden abschütteln und dann ins gemeine Leben werfen ... in jedem Wort blüht die Welt auf ...«
»Es (die Briefe) sind lebendige Menschen, die mit schönen, lieben weichen Händen, kleinen Füßen, göttlichen Augen, besonders göttlich roten Lippen einhergehen.«]
Und ebenso führt Rahel selbst zustimmend eine andere Aeußerung von Gentz an: daß ihre Briefe wie »frische, aromatische Erdbeeren sind, an denen aber noch Sand und Wurzeln hängen«, denn die Pflanze ist unmittelbar aus der Erde genommen. Ihre Briefe berühren eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen. Es ist nichts Angeordnetes darin; große und kleine Dinge kommen kunterbunt; was sie im Augenblick
interessiert, darüber schreibt sie. Und die Behauptung, daß sie in einem Atem über Kant und neue Hüte sprechen kann, ist ganz richtig. Ein französischer Schriftsteller, der sie zugleich einfach und zusammengesetzt, universal und originell, offen wie die Natur und ein Mysterium wie sie genannt hat, faßt damit den Eindruck zusammen, den man aus ihren Briefen empfängt. Immer wird man an die Natur erinnert, durch die Unberechenbarkeit, Unerschöpflichkeit, Ursprünglichkeit, Lebenskraft ihrer Mitteilungen. Und die Natur bildet auch in allen den Hintergrund. Sie beginnt ihre Briefe oft mit einer Schilderung des Wetters, in zwei, drei Zeilen, einer Schilderung, so voll von Wesentlichkeit, daß man mit ein paar Worten gerade in die Stimmung versetzt ist, die diese Art von Wetter hervorruft. »Vater Aether« ist für sie wie für Hölderlin der bedeutungsvollste der Götter:
»Schönes Wetter und Klima ist das Schönste auf Erden. Dies ist ein eigentlicher Gott. Man kann und braucht ihm nichts wieder zu tun, als es genießen, empfinden«, schreibt Rahel. Sehr wahr sagt sie,
»in meiner Lebensgeschichte soll Wetter und meine Gesundheit vorkommen«. Ihre körperliche Reizbarkeit und Empfindlichkeit ist so stark, daß
»zu dicke, zu dünne, zu warme, zu kalte Luft« sie krank macht. Ein rechtes Einverständnis zwischen ihr und der Luft wird ein bewußtes Glück. Man begreift es, daß Rahel schließlich dahinkam, vom Leben nichts anderes zu verlangen, als
»ein halbwegs gutes Verhältnis zur Atmosphäre.« Und man versteht Rahels Briefe nur, wenn man selbst den atmosphärischen Einfluß mit in Rechnung zieht, der ihre augenblickliche Stimmung beeinflußt hat. Die Witterungszustände, mit deren Schilderung die Briefe beginnen,
Hier einige Proben: z. B. im März: »Schnee auf den Dächern und Straßen. Er verdunstet aber schon; die dicken Wolken spalten sich: Helligkeit, wenn auch nicht Sonne, dringt hervor.«
Oder:
»Dezember: Trübes, graues, nasses Herbstwetter. Wärmliche, unbestimmte Temperatur, sehr schwarze Straßen.« sind nicht die einzigen Zustände, die sie beeinflussen. Rahel kann, wie sie sagt, nur schreiben, wenn eine
»gewisse Entzündung« in ihr statt hat. Aber diesen Stimmungsstrom kann die geringste Kleinigkeit hemmen, z. B. eine schlechte Feder oder ein Zittern der Hand. Worte, Ausdruck, Form, Gedankenfolge, Satzbau, alles wird davon beeinflußt:
»Kurs, holprig, fließend, gelinde, streng, scherzhaft, ruhig, je nachdem.«
Aber vor allem darf man nicht vergessen, daß jedes in diesem Grade sensitive Wesen auch ein Instinktwesen ist; daß ihre Sympathie und Antipathie blitzschnell bestimmt wird; daß ihr Auge und Ohr spricht, ehe noch ihre Gedanken gesprochen haben; daß ihre Gefühle so stark sind, daß, wer den Ausdruck dieser Gefühle als den Tatsachen adäquat auffaßt, – während sie nur dem Eindruck, den dieser Mensch von der Tatsache empfängt, adäquat sind – in bezog auf die Tatsache irregeführt werden maß.
Gefühlstiefe, Reizbarkeit der Sinne, Feinheit des Instinkts, eindringende Kraft des Gedankens, all dies liegt in dem orientalischen Seelenzustand, dem Adlerschwung, womit Rahels Gefühl sich seines Gegenstandes bemächtigt. »Gefühl ist viel feiner als das Denken«, sagt sie, und sie verläßt sich blind auf das Gefühl, auch wenn sie dann den Gedanken den einen oder anderen Grund für das Gefühl suchen läßt. Diese Gründe können mehr oder weniger gut sein: das Gefühl selbst ist für immer das Wertvolle, oft das Unfehlbare an Rahels subjektiven Urteilen. Der objektive Wert, den andere ihm beimessen, hängt selbstverständlich von dem Vertrauen ab, das jeder zu Rahels Instinkt für Werte oder Nicht-Werte hat. Ich für mein Teil halte nichts von dem Urteil all jener, die die divinatorische Sicherheit Rahels nicht erkennen.
Und wenn auch Rahels Meinungen widersprochen werden kann, was bedeutet das gegen die strahlende Ehrlichkeit und Echtheit, womit sie nicht nur ihre Meinungen, sondern ihre Seele »zum Genuß und Gebrauch« für ihre Freunde aussendet!
Rahels Briefe und eine Anzahl Aphorismen, von denen einige zu ihren Lebzeiten in Zeitschriften veröffentlicht wurden, sind ihr einziger Beitrag zur Literatur. Daß sie diese Aphorismen einmal Resultate à la Chamfort nennt, ist durchaus kein Grund dafür, daß, wie jemand angenommen hat, Chamfort in besonderem Grade ihr Vorbild gewesen sei. Die französische Literatur hat ja auch ältere – und größere – Schriftsteller in der Form des Aphorisma, Schriftsteller, die Rahel wohl kannte; und sie hatte stets die französische Eleganz und Klarheit des Ausdrucks bewundert, die sie selbst nicht besaß.
Aber hätte auch kein Mensch vor Rahel in aphoristischer Form geschrieben, sie hätte sie erfunden; denn diese Form war die notwendige Ausdrucksform ihrer Natur, wie überhaupt für alle Dichter ohne Dichtergabe und alle Denker ohne Lust zu systematisieren. Selbst bezeichnet sie ihre schriftlichen Mitteilungen am besten durch die Worte: » Explosionen haben sie herausgeworfen, es sind Edelsteine darunter.« Varnhagen gab nach Rahels Tod eine ausgewählte Sammlung ihrer Briefe unter dem Titel heraus: »Rahel, ein Buch des Andenkens für ihre Freunde«, mit dem Motto aus Hyperion: Still und bewegt! Später gab ihre Nichte, Ludmilla Assing, das Buch »Aus Rahels Herzensleben« heraus. Ferner haben wir den vollständigen Briefwechsel Rahels mit David Veit und ihren Briefwechsel mit Varnhagen. Jenen, die nicht Zeit haben, sich in all dies zu vertiefen, empfehle ich als unumgängliche Ergänzung meiner Schilderung den Auszug von Varnhagens Rahelbuch, bearbeitet und eingeleitet von Dr. Hans Landsberg. Das ist das Minimum dessen, was jeder Gebildete – Mann oder Frau – von Rahel lesen muß.
Varnhagen gab Rahels Briefe als »ein Buch des Andenkens für ihre Freunde« heraus. Aber er fühlte, daß das Buch einen größeren Leserkreis und eine weiter hallende Wirkung haben würde. Er sprach die Hoffnung aus, daß, wenn die deutsche Nation zu »den schönen Anfängen ihrer Geistesbildung« zurückkehrt, Rahel recht verstanden werden wird: Man wird dann einsehen, daß bei ihr alles bedeutend und wichtig ist, weil ihre ursprüngliche und reine Natur sich in allem zeigt, von ihrer Fürsorge und Ordnung in den kleinsten täglichen Dingen bis zu ihren Gedanken über die höchsten Dinge. Aber nicht nur die eben erwähnte Rückkehr hält Varnhagen für eine Bedingung eines wahren Verständnisses für Rahel: es ist auch notwendig, daß die konventionelle Sittlichkeit nicht mehr gilt; daß Liebe und Ehe aus anderen Gesichtspunkten betrachtet werden; daß man sich dessen schämt, was man heute ehrt und das ehrt, wessen man sich heute schämt. Erst dann, meint Varnhagen, werden die Blätter recht verstanden werden, auf denen sich Rahel frei und großzügig, wunderbar in ihrer reinen Vorurteilslosigkeit offenbart, in ihrer Erhabenheit über jede Ziererei und eitle Scheinsamkeit, wahr und offen, ehrlich beichtend, was andere verschwiegen haben.
Wir wissen alle, daß diese Zeit noch nicht angebrochen ist, daß Rahel noch eine sehr Unzeitgemäße genannt werden muß! Der schon erwähnte Custine sagte von Rahel:
In einer höher organisierten Gesellschaft würde Rahel für die Völker das gewesen sein, was sie hier für einen kleinen Kreis vertrauter Freunde war: eine Leuchte der Geister, eine Führerin der Seelen.
Leider hat unsere Zeit diese höhere Organisation noch nicht erreicht: es ist im Gegenteil wahrscheinlich, daß Rahel heute weniger geschätzt werden würde als in ihrer eigenen Zeit. Denn Kultur war das höchste Ziel jener Zeit, während man heute beinahe den Begriff dafür verloren hat, was Kultur in Goethes und Rahels Geist bedeutete.
* * *
Rahels Briefe offenbaren ihre Seele von früher Jugend an. Und durch diese Briefe wissen wir, daß »Tränen, Glans und Wut« ihr ganzes Leben, vor allem seine erste Hälfte bezeichnen.
Sie erreicht niemals jene Harmonie, die nur ein volles Glück schenkt. Aber sie erreicht das Gleichgewicht, das entsteht, wenn es uns gelungen ist, dem Dasein zu verzeihen, wenn auch nicht es zu verstehen! Diese innere Entwicklung erleben wir in den Briefen mit. Varnhagen, der mit Berechtigung sagen konnte, daß er von Rahel alles wisse, was ein Mensch von einem anderen wissen kann, widmete ihr den Nachruf, daß er einen unschuldigeren, zärtlicheren, reineren, zarteren, rechtschaffeneren, aufrichtigeren, frommeren, in des Wortes höchster Bedeutung keuscheren Menschen niemals gekannt habe. Die Echtheit, die in allem lag, was Rahel war und tat, war so groß, daß alle anderen ihm neben ihr gemein erschienen.
»Ja,« schreibt er in diesem Zusammenhang, An Goethe. »all ihr Geist und Talent, wie gewaltig er sein möge, verschwindet gegen das quellende Leben ihrer Brust.« Gewiß hat sie auch Scharfsinn, Witz, Einbildungskraft, Vernunft, reines, begeistertes Schauen, die edelste Wahrhaftigkeit. Aber«, schließt er: »Die Unschuld und Kindlichkeit dieses wahrhaften Menschenherzens ist das Schönste, was jemals meinen Augen sich aufgetan hat.«
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Rahels Individualität zieht die festesten Grenzen, und doch hat ihre Sympathie das feinste Verständnis. Sie ist sinnlich mit der reizbarsten Allempfänglichkeit, und doch ist jeder Nerv ihres zarten Organismus unter der Gewalt der Seele; sie ist Geschlechtswesen mit jedem Blutstropfen und dabei ein Vollmensch, bei dem die geistige Kraft eines Mannes, die Unschuld eines Kindes, die Gefühlstiefe eines Weibes in voller Harmonie stehen. Ihr innerstes Wesen ist Stille und ihr äußeres Dasein ein lebhafter Verkehr; sie ist Rationalistin und Mystikerin, subjektivistisch und aufopferungsfähig. Sie ist Aristokratin und Demokratin. Und sie ist nichts von all dem stundenweise und zeitweise, sondern alles zugleich und zu jeder Zeit ihres Daseins.
Sie war mit einem Wort eine von jenen, die die Seelenhöhe erreicht haben, wo die trennenden Zufälligkeiten der Wesentlichkeit Platz gemacht haben, die scheinbar unvereinbaren Gegensätze in jenen höheren Zustand verschmolzen sind, wo der Mensch individuell und sozial ist, zusammengesetzt und einheitlich, in sich versenkt und nach außen wirkend, selbstherrlich und altruistisch, Heide und Christ, Geist und Güte, Sinne und Seele!
Schon jetzt stehen die Schauenden dieser Synthese näher als die Schaffenden.
Rahel ist typisch für die ersteren. Und dadurch auch typisch für den höchsten Wert, den die Frauen bis jetzt der Kultur zugeführt haben: ein Vorvolk des heiligen Geistes zu werden.
An anderer Stelle habe ich betont, daß das hauptsächliche Merkmal des seelenvollen Menschen gerade der Zusammenhang und das Zusammenwirken zwischen allen seinen verschiedenen Eigenschaften ist. Man sehe die »Evolution der Seele« in der »Lebensglaube«.
Schon aus diesem Gesichtspunkt gehört Rahel zu den überaus Seelenvollen. Aber nicht nur durch diesen Zusammenhang und dieses Zusammenwirken zwischen schon bestehenden Seelengaben: sie ist die Verheißung einer seelenvolleren Daseinsform. Ihr ganz einziges Gefühlsleben, ihre visionäre Ahnungsgabe, ihr rascher Blick, ihre Instinktsicherheit künden die Seelenmacht, die vorerst nur Ausnahmemenschen erreicht haben, aber die schließlich die Menschheit erreichen wird.
Ihre Seele hat »große neue Gebärden«; neue tiefere Gefühlstöne vibrieren in ihrem Jubel- und Angstschrei; sie hat Worte für bisher unausgesprochene, innere Erfahrungen gefunden, und ihre Stummheit birgt noch ungeahnte Geheimnisse, von denen ihre Lippen schon erbeben.
Nietzsche schildert einmal den Eindruck, den er empfängt, wenn er eine tiefe schöne Altstimme hört, ohne die Sängerin zu sehen. »Wir glauben mit einem Male«, sagt er, »daß es irgendwo in der Welt Frauen mit hohen, heldenhaften, königlichen Seelen geben könnte, fähig und bereit zu grandiosen Entgegnungen, Entschließungen und Aufopferungen, fähig und bereit zur Herrschaft über Männer, weil in ihnen das Beste vom Mann über das Geschlecht hinaus zum leibhaftigen Ideal geworden ist.«
Rahels tiefe Altstimme ist eine solche Prophezeiung – und zugleich eine Bekräftigung – dieses großen geträumten Zukunftsweibes.