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Wir begegnen manchmal im Leben oder in der Literatur einem Menschen – zuweilen einem Mann, aber häufiger einer Frau – der nicht die Ausnahmestellung des schaffenden Genies, des ausübenden Künstlertums, der großen Gelehrsamkeit, der Tatkraft oder der Schönheit besitzt. Und doch übt dieser Mensch eine so bestimmende Macht auf unser Schicksal aus, daß unser Leben unter einen unvergänglichen Einfluß kommt, aber einen Einfluß, der nur Selbstbefreiung zur Folge hat.
Denn das Geheimnis der Macht dieser seltenen Menschen besteht darin, daß sie selbst durch und durch Persönlichkeiten sind und bei allen anderen nur die Persönlichkeit suchen. Ein solcher Mensch kann einer verflossenen Zeit angehören und uns doch mit einem wunderbaren Gefühl der Coexistenz beseelen. Weil nichts an ihm zeitgemäß konventionell war, fühlen wir, daß er nicht nur so wie wir Menschen von heute gedacht, sondern auch, was noch seltener ist, so geliebt und gelitten hat. Alles an ihm ist so ursprünglich, so naturstark, daß man ein Spiel der Morgenkraft der Menschheit zu sehen glaubt und zugleich eine Offenbarung der ethischen Tiefe, der ästhetischen Feinfühligkeit und der psychologischen Kompliziertheit empfängt, die das schließliche Resultat der Entwicklung der Menschheit sein wird. Während wir sehen, wie die Gedanken und Gefühle eines solchen herrlichen Wesens in ungezähmter Natürlichkeit dahinstürmen wie ein Dionysoszug, doch nur von Lebenskraft berauscht, fühlen wir uns selbst immer mehr vom Schein und von der Zufälligkeit befreit. Wir lernen glauben, daß das für einen jeden eigentümliche das für das Ganze unentbehrliche ist; unbedenklich, ja gedankenlos beginnen wir wir selbst zu sein, und unter dem Einfluß der Wahrheitsleidenschaft dieser großen Persönlichkeit fassen wir nicht, wie wir unsere schützenden Verkleidungen anlegen konnten – oder wie wir die Maske wieder aufnehmen sollen, hinter der wir unsere wirklichen Züge verborgen haben. Wir ahnen, welche Bedeutung ein Mensch für seine Zeitgenossen besessen haben muß, der uns schon dadurch, daß wir einzelne Züge seines Wesens in einem Tagebuch oder einer Briefsammlung auffangen konnten, in solche Bewegung versetzt hat. Wir sehen ein, daß das bloße Faktum, daß er gelebt hat, ein ungeheurer kulturhistorischer Einsatz war, ein niemals aufhörendes Entwicklungsferment.
Eine solche Persönlichkeit, die in konkreter Fülle das war, was die höchsten Geister unter ihren Zeitgenossen durch ihre Ideen anstrebten, eine Persönlichkeit, die unsere Zeit vorbereitete, indem sie ihre Mitlebenden prophetisch lehrte, auf die Wahrheiten zu hoffen, von denen wir heute leben – war Rahel.
Aber wenn der erste Eindruck, den Rahel mitteilt, ein solch überströmender Lebensreichtum, eine solche Ursprungskraft ist, so ist der nächste, daß hier wie allenthalben die Tragödie der Mittelpunkt der Dionysien war.
Die Wurzel ihres Wesens zeigt – wie die der Orchis maculata – eine lichte und eine dunkle Hand, die eng miteinander verschlungen sind.
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Lange hielt Rahel selbst ihre jüdische Herkunft für den dunklen Teil ihres Schicksals. Und sie hatte in dem Sinne recht, daß ihre Abstammung von einem Jahrtausende hindurch leidenden und gedemütigten Volk ihre eigene Natur und dadurch ihre Erlebnisse bestimmte. Von außen gesehen, war hingegen Rahels Kindheit und Jugend gerade die Zeit der Befreiung, namentlich für die Berliner Juden, eine Zeit, in der sie aus ihrer abgesonderten und verachteten Stellung mit jener Raschheit heraustraten, die selten der Einfluß der Gesetzgebung, wohl aber der des Zeitgeistes ermöglicht.
Friedrich der Große tat nicht viel, um die Stellung der Juden gesetzlich zu ändern. Aber die Vorurteilslosigkeit, die sich von ihm in immer weitere Kreise verbreitete, kam auch den Juden zugute; und zu dieser mittelbaren Einwirkung trat noch die unmittelbare durch Moses Mendelssohn, den Befreier der Juden aus ihren eigenen Vorurteilen, ihren Wecker zur Erkenntnis ihrer eigenen Kräfte. Bisher hatten die Juden nach seinen Worten nur im »Beten und Leiden, nicht im Wirken« ihre Stärke gezeigt. Er weckte in ihnen den Freiheitswillen und den Entwicklungstrieb. Selbst Theist im Geiste der Aufklärungszeit blieb er doch in der jüdischen Religionsgemeinschaft, um von innen heraus Vorurteile jener Art bekämpfen zu können, die z. B. – einige Jahre, ehe Mendelssohns erste Schrift erschien – noch zur Folge hatten, daß ein jüdischer Knabe aus der mosaischen Gemeinde ausgestoßen wurde, weil er jemandem ein deutsches Buch aus einer Gasse in eine andere gebracht hatte! Mendelssohn wagte deutsch zu schreiben und das alte Testament zu übersetzen; er veranlaßte die Eröffnung einer Schule, wo die jüdische Jugend die deutsche Sprache erlernte – die Juden sprachen bis dahin einen Jargon, der weder deutsch noch hebräisch war – und Teil an den Schätzen der deutschen Bildung erlangte. So wurde der erste und stärkste Faden zu dem Bande gesponnen, das die Juden von Jahr zu Jahr immer fester mit dem deutschen Volk verknüpfte.
Das Selbstgefühl, das unter Friedrich II. die preußische Nation in ihrer Gesamtheit erfüllte, steigerte auch das der Juden. Diese selben Juden, die noch immer unter Ausnahmegesetzen standen, von denen eines – noch 1802 erneuert – sie in einer Hinsicht Dieben und Mördern gleichstellte; diese selben Juden, unter denen noch ein Moses Mendelssohn erlebt hatte, daß auf einer Wanderung außerhalb des Judenviertels auf ihn und seine Kinder Steine geworfen wurden, diese selben Juden wurden jetzt nicht allein große Unternehmer auf ökonomischem und große Wohltäter auf philantropischem Gebiet, sie wurden auch in gesellschaftlicher Hinsicht tonangebend. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts verkehrte nicht nur der männliche Teil der feinen Welt Berlins in den besten Judenfamilien, diese feine Welt suchte sogar eifrig Zutritt in das Heim dieser Familien zu erlangen.
Gewiß waren diese Prinzen, Edelleute und Diplomaten oft zuerst durch Geldanleihen in Berührung mit den jüdischen Bankiers gekommen. Aber wenn diese Bankiers dann den jungen Herren ihre Salons öffneten, fanden diese dort so viel Anziehendes, daß es bald ein gesuchter Vorzug, dann guter Ton, schließlich eine Mode wurde, in diesen jüdischen Kreisen zu verkehren.
Die jungen Männer, die mehr oder weniger von den Ideen der Zeit durchdrungen waren, fanden in den jüdischen Häusern einen inhaltsreicheren, vorurteilsloseren und ungezwungeneren Gesellschaftston als den, den ihre eigenen weiblichen Verwandten anschlugen. Die jungen, schönen, feingebildeten, lebensvollen Frauen, die in den jüdischen Salons den Ton angaben, luden z.B. Schauspieler und Schauspielerinnen ein, die damals in der Regel noch aus der »guten Gesellschaft« verbannt waren. Es wurde viel Musik gemacht, schöne Kunstwerke schmückten die Räume, Gelehrte, Dichter und Künstler fanden sich nicht nur ein, sondern sprachen sich mit mehr Freiheit aus als anderswo, angeregt durch die Damen des Hauses, die eine Ungezwungenheit, eine geistige Regsamkeit, eine Wärme entfalteten, wie sie den deutschen Hausfrauen dieser Zeit in der Regel fehlte. Und bald bringen die jungen Männer eine Schwester, eine Freundin mit, die auch an dem erlesenen Verkehr teilnehmen will, für den die männlichen Verwandten und Freunde so schwärmen. Auf diese Art erlangen die jüdischen Salons auch einen mittelbaren Einfluß auf die Entwicklung des Gesellschaftslebens in weiteren Kreisen.
Die jüdische Frau erfüllt so zum erstenmal eine Kulturmission in der modernen Gesellschaft. In der eigenen europäischen Geschichte der Juden hatte sich schon früher mehr als eine Frau ausgezeichnet. Z. B. Maria Nunez, die zusammen mit Jakob Tirado die erste spanisch-jüdische Gemeinde in Amsterdam gründete; Donna Gracia Mendoza, die allen Heimatlosen ihres Volkes Schutz und Hilfe angedeihen ließ und dadurch zugleich die jüdische Kultur förderte; Berusia, die auf dem Gebiete des Denkens, Rebekka Tiktiner, die auf dem der Schriftstellerei und Sarah Copia Sullam, die auf dem der Dichtung selbständig tätig waren. Aber erst zur Zeit der jüdischen Berliner Salons zeigt sich die rasche Empfänglichkeit der jüdischen Frau für eine Kultur mit anderen Aufgaben als die rein jüdischen. Es zeigte sich, daß » die Saat auf einen ganz neuen, jungfräulichen Boden gefallen war« Henriette Herz. Wo dies der Fall ist – Rußland, Amerika geben Illustrationen zu diesem Satz – sieht man stets ein Sichhinwegsetzen über überlieferte Formen, einen Mangel an Tradition im wertvollen Sinn des Wortes, während diese Nachteile von anderen Vorzügen aufgewogen werden.
Bei der jüdischen Jugend zeigten sich sowohl die erwähnten Nachteile wie die Vorzüge, nämlich Bildungseifer, geistige Regsamkeit und zuweilen große und tiefe Originalität.
Namentlich die jüdischen Frauen, die mehr Zeit und Ruhe hatten als die jüdischen Männer, entwickelten in ihren geistigen Interessen eine Leidenschaft und eine Geschmeidigkeit, der jedoch nicht immer eine entsprechende Eigenart zur Seite stand. Eine solche fand sich wohl bei manchen dieser Jüdinnen, andere hingegen wirkten nur durch Eigenschaften ihrer Rasse originell. Alle standen sie in eigentümlicher Weise unter dem Druck jenes orientalisch-patriarchalischen Despotismus, der noch heute in vielen Familien herrscht und zwar um so mehr, je mehr man sich der östlichen Grenze Europas nähert.
Die jungen jüdischen Mädchen Berlins erhielten durch ihre verheirateten Freundinnen Gelegenheit zu Lektüre, Studium, Verkehr, wie sie das eigene Elternhaus vielleicht nicht bot. Andererseits empfingen sie Eindrücke der Freiheitsgedanken der Zeit und ihrer feinsten Kultur. Sie lasen Voltaire, Shakespeare und Tasso in der Originalsprache; sie schwelgten in der zeitgenössischen deutschen Literatur, sie wurden feurige Goethebewunderinnen. Der ganze geistige Hunger, der Generation für Generation in ihrem Volke stark geworden, konnte jetzt endlich gestillt werden. Sie lebten in einer Zeit, die ihre Farbe und Form von großen Geistern und großen Ereignissen empfing, und ihre Entwicklung wurde wesentlich durch ihre eigene Zeit, nicht mehr durch tausendjährige Traditionen bestimmt. Die Widerstandsfähigsten und Stärksten – wie Dorothea Mendelssohn – formen das Schicksal um, das die väterliche Gewalt ihnen aufgezwungen; und die soziale und intellektuelle Emanzipation, die ihnen unbewußt als eine Folge der Zeit zuteil geworden, wird nun von ihnen selbst auf den tiefstpersönlichen Gebieten bewußt weiter verfolgt.
Henriette Herz – in gewissem Sinne Rahels Nebenbuhlerin im Berliner Gesellschaftsleben – bezeugt, daß die so neuerwachte jüdische Frauenseele in ihrer »höchsten Blüte« in Rahel verkörpert war.
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Rahel besaß die Grundzüge, die die großen Geister ihres Volks auszeichnen: eine tiefe Sehnsucht nach unmittelbarem Leben in Sonne und Glanz, in Glut und Leidenschaft und eine ebenso tiefe Sehnsucht nach Wüstenstille, um über das Leben, seine Wege und Ziele nachzugrübeln. Die geistige Energie, die in ihrer nach außen gerichteten Betätigung durch Unterdrückung gehemmt war, hatte sich bei Rahel – wie bei ihrem Volk – nach innen gewendet Rahel war durch ihr Selbstdenken und ihre Freiheitsleidenschaft den Frauen ihrer Zeit weit voraus, den jüdischen wie den europäischen. Aber im Zusammenhang mit der Entwicklung des Ganzen gesehen, ist Rahel typisch für die große Freiheitsbewegung, die noch heute vor sich geht, die Bewegung, die aus dem weiblichen Geschlechtswesen die vollmenschliche Persönlichkeit entwickeln will. Welche Summen von Kraft dieser Freiheitskampf jede einzelne gekostet hat das zeigt uns Rahel.
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In den unzähligen bewundernden Urteilen, die ihre Zeitgenossen über Rahel fällten, wird – was uns in diesen Zeiten des Antisemitismus beinahe unfaßbar vorkommt – ihrer Rasse kaum Erwähnung getan.
Aber es scheint, daß der Humanismus dieser Zeit so tief war, daß die Rassenfrage zwischen Gebildeten alle Bedeutung verloren hatte. Oder stellte vielleicht Rahels eigene große Persönlichkeit sie außer und über alle gewöhnlichen Gesichtspunkte, die man sonst ihrem Volke gegenüber einnahm? Oder traten bei diesem die Lichtseiten mehr und die Schattenseiten weniger hervor als in unseren Tagen? Mag nun einer dieser Gründe oder alle zusammen ihre Zeitgenossen veranlaßt haben, sie nur als eine ebenso frei wie einzig dastehende Persönlichkeit zu sehen – gewiß ist, daß diese Betrachtungsweise sie selbst nicht von dem Leid befreite, dem solange ausgestoßenen und verachteten Volk anzugehören, um so mehr als sie – wie andere feinorganisierte Juden – doppelt unter all den Folgen litt, die diese Vorgeschichte im Volke selbst hinterlassen hat. Jedes Vorurteil, jede Unfeinheit, jede Niedrigkeit, die ihr in ihrer Umgebung entgegentrat, quälte sie tiefer, als wenn sie ähnlichen Dingen anderswo begegnete.
»Ich habe eine solche Phantasie, als wenn ein außerirdisch Wesen, wie ich in diese Welt getrieben wurde, mir beim Eingang diese Worte mit einem Dolch ins Herz gestoßen hätte: ›Ja, habe Empfindung, sieh die Welt wie sie wenige sehen, sei groß und edel, ein ewiges Denken kann ich dir auch nicht nehmen, eins hat man aber vergessen: sei eine Jüdin!‹ Und nun ist mein ganzes Leben eine Verblutung. Mich ruhig halten kann es fristen; jede Bewegung, sie zu stillen, neuer Tod; und Unbeweglichkeit mir nur im Tode selbst möglich. Diese Raserei ist wahr, ist zu übersetzen. Lächeln Sie oder fühlen Sie Tränen aus Mitleid, ich kann Ihnen jedes Uebel, jedes Unheil, jeden Verdruß da herleiten.«
»Wie ekelhaft herabziehend, beleidigend, unsinnig, niedrig meine Umgebungen, denen ich nicht entfliehen kann; ein einziges Besudeln, eine Berührung macht mich schmutzig, stört meinen Adel. Dieser Kampf dauert ewig! Alles, was mir Schönes im Leben begegnet, geht mir fremd als Besuch vorüber, und mit Unwürdigen soll ich unerkannt leben müssen!«
Im Zusammenhang mit dieser ungeheuren Empfindlichkeit muß man Rahels spätere Worte verstehen, daß »ganze Vegetationen« in ihr von »Eltern, Geschwistern, Freunden und Freundinnen und elenden Geliebten« verwüstet worden seien.
Daß Rahel ihrer Abstammung alle Leiden zuschrieb, die sie trafen, ist nur in einem tieferen Sinne berechtigt, als Rahel es meinte. Von außen gesehen, ist kaum mehr als ein Schmerz in ihrem Leben – und auch dieser nur teilweise – dadurch verursacht, daß sie eine Jüdin war: der Bruch ihrer ersten Verlobung.
Aber das Entscheidende ist, daß Rahels Blut das Blut einer jüdischen Frau ist, und daß dieses Blut nicht nur stark durch die höchsten Kräfte der Rasse war, sondern auch schwer durch ihr tiefstes Unglück.
Jakob Wassermann, der rassebewußteste jüdische Dichter der Gegenwart, hat in einem Essay »Der Tag«, 24. März 1904. dargelegt, daß »die wehmütige Inbrunst und quälerische Schüchternheit«, unter der Rahel selbst leidet, ihr als dem Urbilde der modernen Kulturjüdin eigen ist; daß die Menschenliebe durch ein geheimnisvolles Schuldgefühl vertieft ist, daß Begeisterung bei ihr zur Ekstase wird, daß das Uebermaß ihr Maß ist, daß ihre Hingebung eine Glut hat, die den Gegenstand ganz umschließt, ja, mit ihm verschmilzt; daß der Mangel an Sicherheit und Gleichgewicht, die nervöse Unruhe, das Abrupte für die Kulturjüdin typisch ist. Rahel hat wahrscheinlich in ihrem Auftreten etwas von jener Unausgeglichenheit gehabt, obschon ihr innerstes Wesen im Gegensatz dazu stand.
Wassermann betont mit Recht diese Schwächen der jüdischen Frauen. Ich habe doch öfter Gelegenheit gehabt, ihre Vorzüge zu bewundern.
Ein jeder kennt – und viele anerkennen – die Verstandesbegabung, die Schaffenskraft, den Wissensdurst des jüdischen Volkes, seine ausdauernde, zielbewußte Energie. Aber allzuwenig spricht man von dem Zuge, der doch dem, der jüdische Frauen und Männer aus nächster Nähe gesehen hat, am charakteristischesten erscheint: von der Liebeskraft, dem Brüderlichkeitssinne, der Hilfsbereitschaft, der Opferwilligkeit
Nicht zufällig ist Jesus aus dem jüdischen Volk hervorgegangen. Man sucht jetzt zwar den Beweis zu erbringen, daß er ein Arier gewesen sei, aber für den, der wie ich seine Eigenschaften häufiger bei Juden als bei Germanen gefunden hat, hat eine solche Hypothese keinerlei Wahrscheinlichkeit
Rahel besaß alle Vorzüge ihrer Rasse, aber in besonders hohem Grade die zuletzt genannten. Das tiefe, heiße morgenländische Gemüt, das leidenschaftliche Blut bekundete sich besonders in ihrer großen Liebe, die wie jede solche bei der ersten Begegnung entstand und in ihr Wesen so eingriff wie kein früheres oder späteres Gefühl. Aber die morgenländische Liebesstärke tritt in allen ihren Empfindungen hervor: im Familiengefühl, in der Freundschaft, in der Anbetung ihrer großen Meister, in ihrer Mütterlichkeit Sie spricht einmal von Elternschmerzen und sagt, daß sie sie wohl versteht, denn » viele Reiche des Schmerzes habe ich ergründet«. Das heiße Blut, der starke, rasche Puls, der sie ihr ganzes Leben lang in der Liebe leben und durch die Liebe leiden läßt, ist ein bei ihr zur höchsten Potenz gesteigerter Rassezug. Ihre Rasse und ihre Eigenart im Verein lassen sie mit unbedingter Hingabe und Treue an dem Gegenstand ihrer Liebe, Zärtlichkeit oder Freundschaft festhalten, auch wenn sie einsieht, daß sie ihr Gefühl ausschließlich aus eigenen Quellen nährt. Sie war dankbar, solange sie fortfahren konnte zu lieben, sie, die eines der bittersten Geheimnisse der Liebe gefunden: daß die Menschen sich nicht nur nicht verstehen, sondern sich »zu ungleichen Stunden lieben!«
Rahel hatte wohl ein theoretisches Selbstgefühl, ein Gefühl, dem sie ebenso ehrlichen wie berechtigten Ausdruck gibt. Aber wie bei allen Menschen, die aus dem einen oder anderen äußeren Grund – z. B. durch ein unvorteilhaftes Aeußeres, schwere Demütigung, verachtete Geburt – unzählige Male verletzt worden sind, war dieses Selbstgefühl bei ihr eben nur theoretisch. Es entsprang keinem spontanen Gefühl, es reichte weder für die im Alltagsleben notwendige Selbstbehauptung hin, noch für die in außergewöhnlichen Fällen notwendige Rücksichtslosigkeit.
Zwei unaussprechliche Fehler hab' ich,« sagte Rahel mit Beziehung auf das Relief, das Tieck von ihr gemacht hatte. Dieses – wie auch ein anderes Porträt – fand sie sehr ähnlich; und beide waren ihr widerwärtig, weil sie diese beiden Fehler klar ausgedrückt sah: »Eine zu große Dankbarkeit und zuviel Rücksicht für menschlich Angesicht.« – »Eher kann ich nach dem eigenen Herzen mit der Hand fassen und es verletzen als ein Angesicht kränken und ein gekränktes sehen. Und zu dankbar bin ich, weil es mir schlecht ging und ich gleich an lauter Leisten und Vergelten denke.
Dies alles kommt daher, weil die holde, freigebige, sorglose Natur mir eines der feinsten und stärkst organisierten Herzen gegeben hat, die auf der Erde sind; weil ich keine persönliche Liebenswürdigkeit habe und man es also nicht sieht.
Ich habe viele Gaben, aber keinen Mut, nicht den Mut, der meine Gaben zu bewegen vermag, nicht den Mut, der mich genießen lehrte, wenn es auch einem anderen etwas kostet. Ich setzte jenes anderen Persönlichkeit höher als meine; ziehe Frieden dem Genuß vor und habe nie etwas gehabt.«
Man braucht nicht Jüdin zu sein, um die Erfahrung zu machen, daß Rücksicht und Fürsorge, Nachsicht und Güte nicht zur Folge haben, daß andere gegen uns so sind, wie wir gegen sie, falls sich diese Eigenschaften mit Anspruchslosigkeit für uns selbst verbinden. Der Anspruchslose wird übersehen, während der Anspruchsvolle und Rücksichtslose andere lehrt, ihm Rücksicht und Zartheit zu beweisen. Das ist eine Erfahrung, die man auch bei anderen Familien als der Rahels machen kann. Als Rahels Angehörige ihr einmal als Weihnachtsgeschenk einen ebenso unnötigen wie häßlichen Gegenstand gaben – und man sich damit entschuldigte, daß es »so schwer sei, etwas für sie zu finden« – sie, die für die geringste Freundlichkeit dankbar war und sich selbst so wenig als möglich anschaffte – da bricht Rahel in Klagen über ihren eigenen Mangel an Grazie aus, zu dem sie auch ihre Unfähigkeit rechnet, sich geltend zu machen!
Ein Freund Rahels, W. v. Burgsdorf, sagt mit tiefem Verständnis für ihr Wesen, daß er es gleich lernte, sie nicht buchstäblich zu nehmen, daß er hinter ihren Worten, die oft stärker schienen als der Anlaß, bald heraus fand, daß ein langer Schmerz sie erzogen haben müßte.
»Denn – es ist wahr, daß eine Spur des erlittenen Schicksals an Ihnen sichtbar ist, daß man das früh gelernte Schweigen und Verbergen an Ihnen sieht... Jede Narbe, die das Schicksal dem Charakter läßt, stört Ihr Bewußtsein...« Aber er fügte tiefblickend diese Worte hinzu:
»Dieselbe Kraft, die den Schmerz zu erschöpfen strebt, führt Sie auch wieder so schön zur Freude zurück. Sie sind so voll leichten, schönen Lebens.«
Aber dieser lange Schmerz war nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie ihre jüdische Geburt. Daß sie so viel verwundbarer, scheuer, rascher zurückgestoßen, schüchterner ist als die übrigen Jüdinnen ihres Kreises, dies erklärt sich aus den Verhältnissen, die ihre Kindheit und Jugend bestimmten. Rahel bezeichnet selbst die Leiden ihrer Kindheit und Jugend mit den Worten von dem starken Herzen, das die Natur ihr gegeben und das ihr »rauher, strenger, heftiger, launenhafter, genialischer, fast toller Vater übersah und brach. Mir jedes Talent zur Tat zerbrach, ohne solchen Charakter schwächen zu können.« Und so verlor sie auch den »Mut zum Glück«, den die Natur ihr doch gegeben hatte.
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Von diesem Vater, dem Bankier Levin-Markus – die Kinder nahmen später den Namen Robert an – gibt es in Berlin ein Bild, das Intelligenz, Genußsucht, Kraft und Härte zeigt. Das spanische Rohr, das er in der Hand hält war das Szepter, das er über der Familie schwang. Zu dieser Zeit war ja sowohl in christlichen wie in jüdischen Familien die Oberhoheit des Hausvaters ein noch unangetastetes Dogma. Aber dazu kam noch, daß dieser Vater persönlich ein Despot war, der von seiner Umgebung unbedingte Untertänigkeit verlangte, der weder einen selbständigen Willen noch eine der seinen widersprechende Meinung duldete.
Und unter der Gewalt dieses Vaters wuchs Rahel heran, deren Wesensart gerade die ausgeprägteste Selbständigkeit war!
Zu den vielen Machtsprüchen des Vaters gehörte auch der, daß in der Familie keine Geburtstage gefeiert werden durften. Rahel wußte so von dem ihren nur, daß sie am ersten Pfingsttage 1771 geboren war und daß dieser in den Mai gefallen war; ihre Biographen haben festgestellt, daß er in diesem Jahre auf den 19. Mai fiel. Sie war das erste Kind und so überaus zart und schwach, daß sie anfangs in einer Schachtel in Watte lag. Ihren Körper durch geeignete Mittel zu stärken, fiel ihren Eltern ebensowenig ein wie es damals andern Eltern in den Sinn gekommen wäre. Eine Krankheit nach der anderen griff in der Kindheit ihre empfindliche Konstitution an; und diese Empfindlichkeit dauerte das ganze Leben fort, als ein Teil ihrer Leiden, aber auch ihres Glücks. Denn die feine Organisation, die sie durch einen Windhauch erkranken und durch einen Sonnenstrahl genesen ließ, bedingte auch jene ungeheure Empfänglichkeit für alle Sinneseindrücke, durch die ihre Genüsse sich vertausendfachen. Diese Empfänglichkeit, diese »Reizsamkeit« in Lamprechts vertiefter Bedeutung des Wortes, hatte nichts von jener Rücksichtslosigkeit, jenem Mangel an Selbstbeherrschung an sich, den die modernen Menschen mit dem elastischen Begriff »Nervosität« bezeichnen und entschuldigen. Rahel hat vielleicht der Strenge im Hause ihre seltene Selbstbeherrschung zu danken, teils unmittelbar, teils, weil sie ihre Widerstandskraft hervorrief. Trotz alledem zu leben und inhaltsreich zu leben, ihre Umgebung ihre Leiden nicht merken zu lassen, darauf konzentrierte Rahel schon von den Kinderjahren an jene Willenskraft, die sie von ihrer Rasse im allgemeinen und von ihrem Vater im besonderen ererbt hatte.
Die Energie der Selbsterhaltung, die gerade die Kränklichkeit bei ihr noch steigerte, hatte sie in dem noch schwereren Kampf um die Selbständigkeit ihrer Persönlichkeit gegenüber jenem Vater sehr nötig, dessen Zornesausbrüche, unvernünftige Befehle, hohnvolle Worte und rohe Handgreiflichkeiten die ganze Familie vor ihm erzittern ließen. Nur Rahel wagte hie und da Widerstand. Ihre unbestechliche Wahrheitsliebe, ihre unbeugsame Selbständigkeit wurden vom Vater als Trotz und Eigensinn betrachtet, die er – mit demselben Genuß, mit dem der Kannibale Menschenglieder knickt – zu brechen sucht. Man schaudert bei dem Gedanken an die Mißhandlung, die das geistig wie körperlich gleich empfindliche Mädchen durchmachte, die Mißhandlung, die sie in die Worte zusammenfaßt:
»Eine gepeinigtere Jugend erlebt man nicht, kränker war man nicht, dem Wahnwitz näher nicht.«
Jedes Kind, das aus dem einen oder anderen Grande unter schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen ist, hat sein Lebenlang an den Folgen seiner ersten Lebensjahre zu tragen. So auch Rahel. In diesen Jahren litt sie so, daß sie nach ihren eigenen Worten ihre ganze Leidensfähigkeit für immer verbraucht haben sollte! Sie fühlt, daß der Mangel an Grazie – womit sie Freimütigkeit, Selbstvertrauen, Leichtigkeit meint – den sie so bitter empfindet, seinen Grund in dieser mißhandelten und unterdrückten Kindheit hat. Sie weiß, daß das Leben freundlich gegen jene Menschen ist, deren »erste Verhältnisse gesegnet sind«. Und diese nahen in der Tat dem Leben mit sonnigem Vertrauen, während die in der Kindheit Unglücklichen erstarrt und verzagt dastehen, wenn das Glück seine Hand ausstreckt, so wie es ihnen auch an Mut gebricht, sich einen Platz zu erobern und an Kraft, ihn zu behaupten, wenn sie ihn zufällig gefunden haben.
Rahels erste Jugend scheint noch dadurch erschwert worden zu sein, daß der Vater stolz auf die von ihm selbst ererbte Begabung der Tochter war, auf die Einfälle, mit denen sie schon früh in seinem ausgewählten Gesellschaftskreis Aufsehen erregte. Seine eigene glänzende Intelligenz und sein scharfer Witz machten ihn und seinen Salon gesucht; und in der Tochter wollte er eine Verstärkung seines eigenen Einflusses gewinnen. Rahel sagt selbst, daß sie bis zu ihrem vierzehnten Jahr witzig war und sich so in ihrem jüdischen Kreise mißliebig machte – eine Aeußerung, die darauf schließen läßt, daß sie auf anderer Kosten witzig gewesen ist. Mit dem Eintritt der Jugend begann vermutlich ihre bewußte Kritik der Art, wie der Vater seinen Witz gebrauchte, und damit auch der stumme oder offene Kampf nicht nur zwischen ihren Willen, sondern zwischen ihren Seelen. Er wollte die Tochter nach seinem eigenen Bilde prägen, dem Bilde eines äußerlichen glänzenden Gesellschaftsmenschen.
Aber gerade diese Umformungsversuche dürften Rahels Selbstbewußtsein geweckt haben, sowohl was die Versuchungen betrifft, denen sie widerstehen mußte, wie das Ideal dem sie nachstreben wollte. Der Abscheu, den der Vater und sein ganzes Wesen ihr einflößte, tilgte jede Möglichkeit der Eitelkeit und Oberflächlichkeit aus und wendete ihren Sinn nach innen, in der Ueberzeugung, daß sie nur auf einsamen Pfaden ihr eigenstes Ich finden und bewahren konnte.
Goethe bemerkt irgendwo, daß »Beharrlichkeit« und »Unmittelbarkeit des Zweckes« Eigenschaften sind, die man auch bei dem geringsten Juden findet. Wenn sich diese Eigenschaften mit einem reichen Persönlichkeitsstoff verbinden, dann bewirken sie jene Einheitlichkeit, Ganzheit, Geschlossenheit, die Rahel bei sich selbst – wie andere bei ihr – als das erkennt, was sie von anderen Menschen in nachdrücklichster Weise unterscheidet »Mein ganzes Leben lang habe ich mich nur für Rahel gehalten und für nichts anderes«, sagte sie, als sie einmal ihre Verwunderung über die Aufmerksamkeit ausdrückte, die man ihr während einer Krankheit erwies.
Aber sie wurde Rahel in jenem »Schmelzofen der Betrübnis«, aus dem ihre Persönlichkeit wie in Bronze gegossen und ihr Wille wie gehärteter Stahl hervorging.
Rahel nennt es eine Gottesgabe, daß sie immer weiß, was sie will, obgleich sie trotz ihrer Willensstärke »überdummt und überschrieen und überhandelt« worden ist – etwas, was doch nur von dem Peripherischen in ihrem Dasein gilt.
Ihre Willensstärke hielt sie nicht nur trotz ihrer Kränklichkeit aufrecht, sondern verzehnfachte ihre Kräfte, wenn sie für andere benötigt wurden, z. B. als Krankenpflegerin. Aber auch einen anderen im täglichen Leben bedeutungsvollen Zug hatte sie von ihrer Rasse: die Sachlichkeit, Geistesgegenwart und Organisationsgabe, die ihr Macht über die stets mit dem Chaos drohende Mannigfaltigkeit der kleinen Aufgaben des Alltagslebens gab. Dieser rasche, zweckmäßig handelnde Wirklichkeitssinn, der das Geheimnis der Erfolge der jüdischen Rasse bildet, wird durch Rahels reiches Gemüt bei ihr zu einer segensbringenden Ausstrahlung eines ewig frischen »aus lauter wahrem Sein geformten Lebens«, wie Varnhagen sich ausdrückt. Diese Eigenschaften machten sie nicht nur gut, sondern wirklich hilfreich. Diese organische Verbindung von Wirklichkeitssinn und Mystik finden wir überall wieder, wo die Mystik tief ist. Ja, ist sie nicht sozusagen der wahre Religionsstifterzug, und hat nicht auch zum Teil darum der Orient der Welt alle großen Religionen gegeben?
Die germanische Natur und Kultur, in der Rahel aufwuchs, trug ganz gewiß dazu bei, ihr Wesen zu vertiefen, ihm eine größere Mannigfaltigkeit zu geben. Aber das Unbändige ihrer Eigenart, ihr unauslöschliches Feuer, ihr blitzschneller klarer, Blick, ihre tiefe Grübelsucht, die Schärfe ihrer Analyse, die Wildheit ihrer Verzweiflung, der Jubel ihrer Dankbarkeit, all dies ist morgenländisch, so wie der Psalter und der Prediger Salomo es ist.
* * *
Nach dem Tode des Vaters, 1789, gestaltete sich Rahels Leben leichter. Von den täglichen Qualen befreit, wurde sie wie durch eine »glückliche Revolution« auch gesünder. Ihre Freude an jugendlichen Vergnügungen erwachte; sie lernte sogar tanzen – aber hatte bald vom Tanz als Gesellschaftsvergnügen genug. In ihrer »Dachstube« im väterlichen Hause hatte sie reichlich Zeit und Ruhe für ihre innere Entwicklung, aber im Familienkreise bestand z. B. die vom Vater auf die Brüder übergegangene Autorität über die weiblichen Mitglieder der Familie noch fort, eine Autorität, die für Rahel namentlich in Geldfragen sehr drückend war, Fragen, in denen außerdem der Sparsamkeitssinn der Mutter im täglichen Leben sich noch unangenehmer fühlbar machte als der Erwerbssinn der Brüder.
Die Mutter scheint eine unbedeutende, durch die Tyrannei des Mannes gebrochene und schwermütig gewordene Frau gewesen zu sein, bei der Rahels Wesen kein Verständnis fand. Von den Geschwistern scheint die Schwester Rose in einem herzlichen Verhältnis zu Rahel zu stehen, doch ohne tiefere Seelengemeinschaft. Eine solche verband sie hingegen mit dem jüngeren Bruder Ludwig – ihrem »Herzensbruder« – der, selbst Schriftsteller, Rahels Verkehr mit der jungen Dichterwelt Berlins vermittelt. Die älteren Brüder, Moritz und Markus, gehen hingegen in der ökonomischen Interessensphäre auf; und obgleich sie sich in dieser Beziehung gegen die Schwestern gut benehmen, ist doch die innere Gemeinschaft gering.
Und Rahel scheint darauf gefaßt zu sein, im Familienkreise kein Verständnis zu finden. Was sie verlangt, ist, daß man sie in Frieden läßt. Aber wie gewöhnlich sehen Mutter und Geschwister, auch nachdem Rahel die berühmte Rahel geworden ist, in ihr nur die Tochter und Schwester, auf deren jüdischstarke Familienliebe sie stets rechnen konnten, wenn sie in Krankheit oder Mühe, Kummer oder Unruhe ihrer bedurften. In der Zwischenzeit fühlt sie sich übersehen, getadelt, überstimmt, mißverstanden. Die Verwandten ermahnen oder mißbilligen Rahel mit jener Unzartheit, die Familienglieder noch heute als das unbestreitbare Familienprivilegium betrachten.
Einem Freunde gegenüber spricht Rahel sich ans: »Ich bin krank durch Gêne, durch Zwang, solange ich lebe; ich lebe wider meine Neigung ... Mein ewiges Verstellen, meine Vernünftigkeit, mein Nachgeben verzehren mich; ich halte es nicht mehr aus, und nichts und niemand kann mir helfen.«
... »Kein Schlag, kein Stich, kein Nagel und kein Stachel blieb mir erspart,« sagt sie in diesem Zusammenhang.
Es ist anzunehmen, daß Rahel wie die meisten starken Naturen solange als möglich duldete, bis sie – aus irgend einem für die übrigen unbedeutenden Anlaß – aufbraust. Sie sagt selbst: »Wenige sind explosiver als ich: zurückhalten kann ich es lange, aber früher oder später kommt es hervor.« Es ist wahrscheinlich, daß sie gegen die Ihren – wie gegen Varnhagen – heftig, ungleich und überempfindlich in Fragen sein konnte, in denen sie doch im Innersten Recht hatte. Sie besaß eben wie andere les défauts de ses qualités.
Im großen ganzen zeigt sie durch die Tat, wie tief ihr Familiengefühl ist. Sie schreibt an die Ihren: »Teil' ich Euch nicht alles mit? Ruhe ich eher, eh' Ihr Intellektuelles, Angenehmes, Geselliges, alles habt, was ich nur erreichen konnte; hab' ich je ich, nicht immer wir gesagt? Und Gott weiß, wie ewig gedacht. Ich bin kein stockiger Selbstler, sondern ein freudiger, empfindlicher Lebensverbreiter.«
Rahel hat das Bedürfnis anzubeten, zu Menschen aufzusehen.
»Ich kann nicht über ihn sprechen – denn ich kann nur gerecht sein«, äußert sie sich einmal. »Bei meiner Natur habe ich mich genug gerächt, wenn ich nicht mehr lieben kann.« Sie ist immer von Anfang an gläubig. »Es gehört zu meinen achtungswerten Dummheiten, die Leute immer ernst zu nehmen«, sagt sie. »Meine einzige Eigenschaft ist, die Dinge im Großen sehen zu können, mein einziger Reiz – und einziger Leichtsinn – mich selbst zu vergessen«, schreibt sie ein andermal. Und diese Eigenschaften konnten auch ihre Nächsten mitgenießen. Aber gerade ihre Eigenschaft der »Lebensverbreiterin« mißfiel vor allem der ängstlichen und kleinlichen Mutter, die eine kühle und dumpfe geistige Atmosphäre um sich verbreitete. Rahels Liebe zu den Ihren war, was sie selbst »Faserliebe« nennt, das Gefühl, das die Natur mit den Fibern unseres Wesens verwebt, und das auch noch dann seine Stärke bewahrt, wenn man kaum mehr einen Gedanken gemeinsam hat. Zeit, Kräfte, Geld, Vergnügen kann sie für ihre Familie opfern, wenn es nötig ist; und alle ihre wirklichen Interessen gehen ihr »durch und durch ins Herz«.
Aber der Kleinlichkeit und Engherzigkeit will sie nicht nachgeben. Der nähere wie der weitere Familienkreis ließ sich von dem Gesichtspunkt bestimmen, den Rahel haßte: »was sich schickt«. Für diese Bewertung wurde das Unbedeutende groß und das Bedeutungsvolle klein. Wenn Rahel sie selbst war – kühn, lebensvoll, überschäumend, vorurteilslos – dann hielt sich der geringste aus dem Verwandtenkreis für berechtigt, ihr Pflichtgefühl, Rücksicht, Maß, Klugheit zu predigen!
Indessen sammelte sich der Zorn in ihr an. Wenn dann der »schwer gefüllte Horizont« ihrer Seele »losgewittert«, ist es selbstverständlich, daß sie durch die leidenschaftliche Heftigkeit ihrer Meinungen erschreckte; daß man sie hochmütig oder herrschsüchtig nannte, wie eben die Menschen, die einer tiefen Ueberzeugung unfähig sind, die starken Ueberzeugungsmenschen zu nennen pflegen. Doch alle jene, die selbst eigene Ansichten hatten, fanden Rahel feinfühlig, taktvoll, nachsichtig, duldsam gegen alles außer gegen die anspruchsvolle Dummheit, Verleumdung und Lüge in jeder – mehr oder weniger bewußten, mehr oder weniger frechen – Form. Wenn Rahel sich z. B. schulmädchenhaft daran freut, »am hellen Sabbath« mit einer Opernsängerin im Wagen zu einer Generalprobe zu fahren, dann begreift man, wie sich der Druck der jüdischen Sitte mit dem des Familienlebens verband. Im ganzen blieb doch Rahels Verhältnis zu den Brüdern ein gutes; und wenn sie ausruft, daß sie sie »weder achteten noch liebten«, dürfen diese Worte nicht absolut genommen werden, sondern nur relativ, im Verhältnis zu Rahels eigener Fähigkeit der Hingebung.
Mit der Mutter hingegen wurde das Verhältnis schließlich so gespannt, daß diese verlangte, Rahel solle das ihr trotz allem liebgewordene Vaterhaus in der Jägerstraße verlassen, wo die Mutter dann in eine »düstere, ruppige, unbequeme« Einsamkeit versank, in »erbarmungswürdigen Geiz«. Aber täglich suchte die so vertriebene Rahel die Mutter auf, obgleich diese sie mit der größten Gleichgültigkeit aufnahm; bis die Mutter 1809 auf dem Totenbett lag und Rahel sie vier Monate hindurch Tag und Nacht pflegte. Die Nähe des Todes zerstreute die kleinen Mißverständnisse, die ihr das wirkliche Wesen der Tochter verborgen hatten. Die dankbare Liebe, die die Mutter Rahel endlich zeigte, sowie die Geduld, die sie im Leiden bewies, ließ Rahel sie mit einer »Leidenschaft von Schmerz« betrauern, obgleich Rahel ihr Verhältnis zu ihr ebensowenig umdichtete wie das zum Vater: ein jeder von ihnen hatte seinen Anteil an den Leiden der Kindheit und Jugend gehabt, unter denen ihr Herz gewehklagt hatte. Aber während sie dem Vater niemals verzeihen konnte, verzieh sie der Mutter, die ebenso wie sie selbst ein Opfer des Vaters gewesen war.
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Die Leiden, die die engherzige Natur der Mutter nur umdüstern konnten, entzündeten in Rahels Natur eine große Glut, die Glut des Mitgefühls und gaben ihr eine große Kraft: die der Einsamkeit. Die Innerlichkeit und Vertiefung, die die Einsamkeit – und nur sie – schenkt, hat Rahels Wesen in entscheidender Weise bestimmt. Wie sehr sie auch später Gesellschafts- und Geselligkeitsmensch wird, so lebt sie doch, bis Varnhagen kommt, in einer steten inneren Einsamkeit, geschaffen durch die Schicksale, von denen sie sagt, daß ihr ganzes Leben durch sie mörderisch beraubt oder unmenschlich zertreten wurde, oder daß sie unwürdig um das Leben selbst bestohlen worden ist. Und die Folge davon ist jener Mangel an Grazie, den sie so bitter empfindet. In einem Brief an Varnhagen, sagt Rahel: »Diese Woche habe ich empfunden, was ein Paradox ist: eine Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann, sich darzustellen; die gewaltsam in die Welt drängt und mit einer Verrenkung hervorbricht. So bin ich leider. Hierin liegt mein Tod. Nie kann mein Gemüt in schönen Schwingungen sanft einherfließen, wozu diese Schöne in der Tiefe meines geistigen Seins wie in den tiefen Eingeweiden der Erde verzaubert liegt. Wie richtig, geliebter Freund, und wie traurig vergleichst Du mich einem Baum, den man aus der Erde gerissen hat und dann seinen Wipfel hineingegraben; zu stark hat mich die Natur angelegt.«
Und sowie man Rahels besondere Denkkraft nur aus der Einsamkeit versteht, so versteht man ihren besonderen Gefühlston nur aus dem Leiden.
Rahel gehörte in geistiger Hinsicht zu derselben Art von Menschen, die man körperlich »Bluter« nennt. Eine Schramme, die bei einem anderen leicht heilt, kann bei ihnen zu Verblutung führen, und jedes Häutchen über einer Wunde ist so dünn, daß es bei dem leichtesten Stoß reißt und einen neuen Blutstrom verursacht.
Wer dies nicht einsieht, wird Rahel nie verstehen können, wenn sie mit den stärksten Worten von längstverflossenen Leiden spricht, oder wenn sie durch etwas, das anderen unwesentlich erscheint, zu Tode betrübt wird. Denn mit dieser kleinen Wunde gehen alle anderen Wunden auf, und in dieser Klage widerhallt die Klage ihres ganzen Volkes.
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Ob nun Rahel erkennen lernte, was sie ihrer Rasse zu danken hatte oder nicht: gewiß ist, daß die Bitterkeit, mit der sie in der Jugend von ihrer Geburt spricht, mit den Jahren verschwindet. Vielleicht kam dies ganz einfach von der Entwicklung jenes amor fati, der für den Menschen das ist, was die Blüte für die Aloe: ihre große Kraftprobe vor dem Tode. »Ich beneide keinen Menschen mehr als um Dinge, die niemand hat.« Diese Worte Rahels sind für ihren Seelenzustand in ihrem letzten Lebensabschnitt bezeichnend.
Rahel war stets bereit gewesen, für ihre Herkunft einzustehen. Ja, in Paris hatte sie sogar betont, daß sie eine »Jüdin aus Berlin« sei, und sich gefreut, daß sie ihrer Vaterstadt Ehre machte. So freute sie sich auch, als sie – in den Kriegsjahren – sowohl selbst wie durch ihre Glaubensgenossen den Christen die patriotische Opferwilligkeit der Juden zeigen konnte. Daß sie bei ihrer Verheiratung zum Christentum übertrat, war weder ein Abfall vom Judentum – dem sie nie gläubig angehangen – noch ein Glaubensakt gegenüber dem Christentum, sondern nur die Schaffung eines Gleichheitszeichens zwischen ihr und dem Manne, dessen Lebensstellung sie teilen sollte.
Als der patriotische Taumel nach dem Freiheitskriege Ausbrüche des Antisemitismus hervorrief, war sie tief empört und hielt auch bei ihren christlichen Freunden ihren eigenen Abscheu vor dieser Roheit wach. Je mehr sie – von der Abhängigkeit von ihren eigenen Angehörigen befreit – das Judentum objektiv sehen lernt, desto mehr söhnt sie sich auch mit dem Schicksal aus, das sie zu einem Mitglied dieses Volkes gemacht hat. Und auf dem Totenbette – als sie schließlich ihr ganzes Leben aus dem Gesichtspunkte der Ewigkeit sieht – preist sie in ergreifenden Worten das wunderbare Schicksal, das sie, »den Flüchtling aus dem Lande Aegypten und Kanaan« so geliebt gemacht wie sie es nun von ihren Teuern war. Schön sind diese ihre letzten Worte über die tiefe Qual ihres Lebens: »Mit erhabenem Entzücken denk' ich an diesen meinen Ursprung, und diesen ganzen Zusammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechtes mit der neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumformen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht' ich das jetzt missen.«