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Wie bei jeder andern ausgeprägten Persönlichkeit lassen sich auch bei Rahel gewisse Bestandteile nachweisen, die aus Rasse und Familie resultieren; und man kann auch den Prozeß des Gusses ahnen. Aber der Verlauf, durch den aus diesen Bestandteilen und dieser Behandlung, die bei anderen ganz andere Formen ergeben hätten, gerade diese Persönlichkeit entsteht, bleibt ewig ein Rätsel. Die besonderen Züge der Persönlichkeit, ihr eigentümlicher Stil, ihr einziger Zauber läßt sich bei dem lebendigen Kunstwerk – der menschlichen Persönlichkeit – ebensowenig beschreiben oder begreifen, wie bei der Statue aus Bronze. Nicht nur das Kunstwerk ist, wie ein Denker sagt, »aus dem Schoß einer flammenden Phantasie entsprungen«: auch die Individualität entspringt einem solchen Schoße, dem der Natur selbst. Ihre Phantasie arbeitet ebenso heiß wie die des Genies, und ihr Stil läßt sich ebenso unmöglich mit den losen grauen Maschen der Worte einfangen. Mehrere von Rahels größten Zeitgenossen haben ihre Persönlichkeit zu schildern versucht. Die dies am besten vermochten, dürften auch zugleich ihrer eigenen Selbstanalyse am nächsten gekommen sein. Denn wenn man von irgend einem Menschen sagen kann, daß er sich selbst wirklich gekannt hat, so ist es Rahel. In der ganzen Frauenwelt gibt es niemand, der sich an Entdeckermut und Entdeckerlust in der eigenen Seele, an Eifer der Selbsterforschung und Ehrlichkeit der Selbstmitteilung mit Rahel vergleichen kann außer Marie Bashkirtseff. Daß Schamlosigkeit nicht mit Ehrlichkeit, Mitteilsamkeit nicht mit Selbsterkenntnis gleichbedeutend ist, das muß ich durch verschiedene moderne Frauenbeichten veranlaßt, scharf betonen.
Rahels nach ihrem Tode herausgegebenen Briefe waren für ihre Zeitgenossen ebensosehr die Offenbarung eines neuen Frauentypus wie Maria Bashkirtseffs Tagebuch für unsere Zeit. Wie verschieden die beiden Naturen auch voneinander sind, so begegnen sie sich doch darin, daß ihr Seelen- und Willensleben so eigenartig, so ausgeprägt war, daß es sich so unmittelbar und zugleich so bewußt offenbarte, daß es mit einem Schlage eine geistige Macht wurde, zu der man in ein, sei es sympathisches, sei es antipathisches Verhältnis treten mußte. Nur Gleichgültigkeit war unmöglich.
Im übrigen ist die Manier der beiden Selbstporträts so verschieden wie die Zeiten, in denen sie hervortraten. Die junge Russin malt sich »plein air«, in schonungslosem, alles verratendem Morgenlicht; Rahels Bild hebt sich von jenem clair-obscur ab, in dem man immer mehr entdeckt, je länger man hineinblickt
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Wenn ich versuchen will, meinen Eindruck von Rahels Persönlichkeit wiederzugeben, bin ich ihrer eigenen Worte eingedenk: daß wir uns selber konkav sehen, andere aber konvex: daß, wenn wir versuchen, uns in einen Menschen zu versetzen, um ihn zu beurteilen, wir immer auf uns selbst stoßen und dies eine wirkliche Objektivität unmöglich macht Denn die Aehnlichkeit, schließt Rahel, die zwischen allen Menschen besteht, »geht nur bis zu den Grenzen des Wesens«! ... Und in diesen tiefen Worten Rahels liegt eben das Geheimnis der Individualität, ihre Unbeschreiblichkeit eingeschlossen.
Wenn man seinen Eindruck einer Persönlichkeit nicht unmittelbar wieder mitteilen kann, versucht man es durch Bilder zu tun. So kann ich z. B. sagen, daß Rahel für mich dieselbe tiefviolette, beinahe schwarze Farbe hat wie Eleonora Duse; daß der Duft, der ihrem Wesen am nächsten kommt, der der gelben Tazette ist während die Musik, die sie am vollsten ausdrückt, Beethovens Apassionata ist. Aber mit diesen Bildern habe ich höchstens jenen, die von dieser Farbe, diesem Duft und dieser Musik Eindrücke mit derselben Gefühlsbetonung wie meine eigene empfangen, eine Ahnung von meiner Empfindung für Rahel gegeben. Stets ist das Bild im Verhältnis zu der großen mystischen Wirklichkeit – der einzigen Persönlichkeit – das, was in der Hieroglyphenschrift das ägyptische Lebenszeichen im Verhältnis zum lebendigen Leben ist. Es gibt nur eine einzige Art, eine persönliche Eigenart zu zeichnen: die eigenen Aussprüche und Handlungen der Persönlichkeit mit dem Eindruck zu vergleichen, den diese Persönlichkeit auf ihre Mitwelt gemacht hat. Denn die eigenen Worte betrügen häufig, die eigenen Handlungen nicht selten, die Urteile anderer am häufigsten. Aber stimmen alle drei überein, dann kann man mit Sicherheit wissen, daß in dem vorliegenden Fall wenigstens die Einheit und Geschlossenheit der Persönlichkeit unzweifelhaft gewesen ist. Und gerade diese oben erwähnte Uebereinstimmung zwischen dem Eindruck, den Rahel auf andere machte, und dem Einblick, den sie in ihr eigenes Wesen gibt, berechtigt zu dem Schlusse, daß sie das war, was sie zu sein behauptet, daß man sich aus ihren eigenen Bekenntnissen das beste Bild von ihr macht.
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Was Rahel vor allem und immer betont, ist, daß »Gott und die Natur« es gut mit ihr gemeint haben, aber daß das Schicksal und das Glück gegen sie gewesen sind; daß die Natur groß, ja übermütig war, als sie zur Welt kam; daß sie eine »Hochgeborene« hätte werden sollen und daß die sprudelnde Kraft zum Glück, die sie besaß, nur ein wenig Befreiung von unmittelbaren Leiden gebraucht hätte, um ihr Lebensfähigkeit zu zeigen. Sie weiß sich dazu geschaffen, das Leben zu genießen, es nicht nur zu durchleiden. Diese Lichtquelle in Rahels Natur, ihre gesunde, schöne Sinnlichkeit, ihr Sonnenwille, ihre »Freude an den nächsten Dingen«, ihre Freude an dem Glück aller Glücklichen macht Rahel so unmittelbar erwärmend. Und nur mit dieser Lebensenergie als Wesensgrund ist ein wirklich tiefes Leiden denkbar, einer Lebensenergie, die sich gegen die Qualen sträubt, die bald besiegt wird, bald siegt, aber niemals dem Schmerz das Recht einräumt, der Sinn des Lebens zu sein. Rahel nennt sich selbst einen »gesünderen, munteren, brünetteren Hamlet«, und ihr Jugendfreund Veit sagt, daß sie mit Philinens fröhlicher Laune Aureliens Geist und Herz verband, ihre Gutmütigkeit und ihren Hang zur Schwermut ... Alle, die Rahel tief verstanden haben, vor allem Varnhagen, heben das, was ich das clair obscur in Rahels Wesen nannte, als das Geheimnis ihres Zaubers hervor. In einem Brief von Jean Paul an Rahel, der mit den Worten beginnt: »Geflügelte – in jedem Sinn« – sagt er: Sie behandeln das Leben poetisch und das Leben daher Sie. Sie bringen die hohe Freiheit der Dichtkunst in die Gebiete der Wirklichkeit und wollen die Schönheiten dort auch als Schönheiten hier wiederfinden.« ...Dies ist ein zentrales Urteil über Rahels Wesen.
Rahel fühlte, daß dieser ihr ursprünglicher Charakter auch ihr Schicksal hätte werden müssen. Nun wurde dieses – infolge der schon erwähnten Ursachen – ein ganz anderes. Sie kann nicht nach ihrem Charakter leben, aber sie stirbt wenigstens danach, so wie es nach ihren Worten im Grunde jeder Mensch tut. Sie weiß: jeder Mensch »hat ein ganz eigenes Schicksal«, da er »ein Moment des Ganzen ist, der nur einmal existieren kann«; und wenigstens dieses ihr besonderes Unglücksschicksal verlangt sie vom Dasein, wenn es ihr ihr Glücksschicksal versagt. So schrieb sie während der Cholera in Berlin: »Ich verlange ein besonderes persönliches Schicksal. Ich kann an keiner Seuche sterben wie ein Halm unter anderen Aehren auf weitem Felde, von Sumpfluft versengt. Ich will allein an meinen Uebeln sterben; das bin ich, mein Charakter, meine Person, mein Physisches, mein Schicksal.«
Und so wie jeder sein Schicksal hat, so war Rahel überzeugt, daß jeder auch seine Eigenart besitzt. Originalität, sagt sie, ist viel häufiger als Ehrlichkeit; ja die meisten könnten originell sein, wenn sie nur wahr sein wollten! Sie kann von sich selbst – ohne daß ihr jemand widerspricht – sagen, daß sie sich einem Gott, der Wahrheit, hingegeben hat; und jedesmal, wenn sie aus dem Elend des Lebens erlöst wird, ist es durch diesen Gott geschehen. Auf keine Frage kommt sie in ihren Briefen häufiger zurück als auf die der Originalität; und wo sie diese findet, verzeiht sie fast alles. »Wer ehrlich fragt und sich selbst antwortet, ist immer mit Wirklichkeiten beschäftigt und entdeckt unaufhörlich ... Um zu denken, bedarf es vor allem der Ehrlichkeit.« ..
Was sie am allermeisten haßt, ist Pedanterie, denn ihr Ursprung ist innere Leere, und darum klammert sie sich an die Formen.
»Ein Mensch, der nicht wahr, ehrlich und unschuldsvoll ist, kann weder Dichter noch Künstler, Philosoph, Mensch, Freund, Familienmitglied, Gesellschaftsmensch, Geschäftsmensch, Regent sein ... Wahrheitsliebe fehlt uns; das ist der kranke Punkt der Menschheit, der Grund all unsrer Seelenepidemien ... Es hängt von uns selbst ab, Menschen (Originale) zu werden. Aber dazu bedarf es eines unendlichen Mutes ... Es ist ganz einerlei, wie man ist, sobald man nicht sein kann, wie man will.«
»Ein Teil der Menschen hat zu wenig Verstand, die Wahrheit in sich zu finden, ein anderer nicht den Mut, sie zu gestehen, und die allermeisten
weder Mut noch Verstand. Und irren und lügen und tappen oder ruhen das ganze Leben entlang bis nach der Gruft!« Ein andermal ruft sie aus: »Ich bin außer mir: so nennt man es, wenn das wahre Herz spricht!«
Ehrlichkeit ist für sie die Voraussetzung bewahrter Jugendlichkeit:
»Ehrlich sein im Denken: dann ist man wahr. Und nur bei Wahrheit ist Heil! Wer ohne sie ist, altert; die Runzeln allein machen nicht altern.«
Ja, Rahel versichert, daß die treuherzige, reine Roheit sie erquicken kann, wenn die Lügenhaftigkeit sie zur Verzweiflung gebracht hat!
Alle diese Aeußerungen charakterisieren die Natur, die sich in folgender Antwort Varnhagen gegenüber Luft machte, als dieser scherzhaft äußerte, man müsse sie umgießen, damit sie fügsamer werde: »Dann würde ich aus der Gußform spritzen!«
An einen jungen Freund (Bokelmann) schreibt Rahel die tiefen Worte: »Was macht des Menschen Geist und Seele kälter als Stillstand ... Denken Sie immer rastlos! Das ist die einzige Pflicht, das einzige Glück ...«
Und sie fährt fort, ihn anzuflehen, nie aufzuhören, eine Sache stets aufs neue »durchzuackern«, wie oft er sie auch schon durchdacht haben mag; sich von keinen lieben und verehrten Freunden und Freundinnen – nicht einmal von sich selbst – so verführen und beherrschen zu lassen, daß er die Pflicht zu unablässiger geistiger Arbeit vergißt. Immer muß er den Mut haben, sich selbst mit Fragen und Zweifeln zu verwunden, das bequemste und schönste Gedankengebäude, das ein Lebenlang halten könnte, zu zerstören, wenn die Ehrlichkeit es verlangt; es wagen, sich selbst unablässig solche Fragen zu stellen, vor denen jedes Verhältnis zu anderen Menschen in seinen Grundfesten erzittern kann; sich niemals von einer ein für allemal aufgestellten, gutschützenden und kleidsamen Moral einhüllen lassen; niemals nach irgend einer Hinsicht in das Gewohnheitsmäßige herabsinken und so die Pforten seiner Seele verschließen; stets geistig rastlos, unruhig bleiben. Er sollte ihrer – Rahels – ewigen Beweglichkeit und Freiheit, ihrer strengen, untersuchenden Wahrheitsliebe eingedenk sein; sich von niemandem und nichts zu einem Glauben verführen oder von einem Band fesseln lassen, so daß er sein Leben als eine Pflicht durchseufzen muß; nie etwas nur deshalb seinen Tribut zollen, weil es alt und wohlbekannt ist!
Für Rahel selbst war diese Art von ehrlichem Denken und ehrlichem Mitteilen der Gedankenresultate so sehr geistige Lebensbedingung wie das Ein- und Ausatmen es im körperlichen Sinne war. In dieser Lebensnotwendigkeit der Ehrlichkeit liegt das, was Rahel am tiefsten von anderen unterscheidet. Alle denken mehr oder weniger zu gunsten eines bestimmten Glaubens, Gedankens oder Gefühls und enthalten sich selbst und anderen das vor, was diesen widerstreiten könnte. Rahel ist hingegen, wie sie selbst sagt, »unschuldig« in ihrer Gedankenarbeit. Was Rahel bei Angelus Silesius liebt, daß er sich unschuldsvoll fragend an Gott wendet, keine Antwort verlangt, und keine Behauptungen aufstellt, sondern voll von »demütigem Verzicht« ist und zugleich eine »Kinderseele voll Mut«, dies alles kann man von Rahel selbst sagen. Diese Kindlichkeit Rahels heben auch ihre Freunde hervor.
Sie ist die Grundlage ihres Mutes, über alles geradeheraus zu sprechen, unbekümmert wie es wirke, naiv-tiefsinnig wie das Kind es tut, das Kind, dem das Ueberlieferte, das Traditionelle, das Anerkannte noch nicht seinen bewaffneten Hinterhalt, seine Zäune aus Stacheldraht gezeigt hat, sondern das sich unerschrocken und ungezwungen bewegt, solange es voraussetzungslos, selbstdenkend ist, ein Selbstentdecker. Aber das blieb eben Rahel all ihr Lebtag.
Rahels Einfluß auf ihre gleichalterigen Freunde wirkt namentlich in dieser Richtung, wie die angeführte Aeußerung gegen Bokelmann zeigt. Der hochbegabte Arzt Daniel Veit, Rahels ältester Freund, erzählt, wie willig er sich von Rahel leiten ließ, denn sie wollte nicht herrschen, obgleich sie es unbewußt durch die Macht der höchstmenschlichen Natur tat, durch ihre »liebe, fürstliche Seele«.
G. von Brinckmann – ein Schwede von Geburt, der aber an einer deutschen Universität seine Bildung erworben und sich dann als Diplomat in Europas Hauptstädten die feinste Kultur der Zeit angeeignet hatte – ist schon in Rahels Jugend einer ihrer verständnisvollsten Freunde. Er, wie Veit, schreibt Rahel einen tiefen Einfluß auf seine Entwicklung zu. Brinckmann sagte, daß er durch Rahels Ermahnungen zum »Geistesmut« einen so starken Eindruck empfing, als wäre er plötzlich in eine neue Geisteswelt versetzt worden. Rahels Geisteskraft, ihre Selbständigkeit, ihre Ueberzeugung, daß man »höhere Sittlichkeit durch höhere Freiheit« erreicht, all dies wandelte in mehreren Fällen seine eigenen Gesichtspunkte um. »Was ich bei den Weisen, den Frommen vergebens gesucht: unverschleierte Wahrheit, Selbständigkeit des Geistes und Innigkeit des Gefühls, kam mir in dem Dachstübchen dieser seltenen Selbstdenkerin als eine geheiligte Offenbarung entgegen«, schreibt Brinckmann. In ihr »heilig klopfendes Herz« zu blicken, vertrauten Gedankenaustausch mit ihr zu pflegen, wurde ihm, sagt er, ein Bedürfnis, so leidenschaftlich wie eine Liebe. Vor Weisen und Fürsten rühmte er sich, Rahels Schüler gewesen zu sein; und sein ganzes Lebenlang dauerte ihr Einfluß auf ihn gleich »geisteskräftig und hochmenschlich« fort.
Ihr ganzes Lebenlang sagt Rahel in hundert verschiedenen Wendungen, sie habe immer gewußt, daß sie nichts anderes besitzen könne und würde als sich selbst; sie habe sich darum »an die Kraft ihres eigenen Herzens« und an das gehalten, »was mein Geist mir zeigt«; sie habe gewußt, daß nur, wenn sie sich in den ihr von der Natur angewiesenen Gebieten halte, sie »mächtig« sei, in allen andern »nichtig«. Oft spricht sie auch über »den großen durchgehenden Zusammenhang aller meiner Fähigkeiten, den ewig unzerstörbaren Zusammenhang und das unaufhörliche Zusammenwirken meines Gemütes und meines Geistes.«
In diesem Sinne kann sie sagen: »Ich bin so einzig als die größte Erscheinung dieser Erde. Der größte Künstler, Philosoph oder Dichter ist nicht über mir. Wir sind vom selben Element, im selben Rang und gehören zusammen.« Diese Aeußerung Rahels muß im Zusammenhang mit ihrer oben geschilderten Wesensart verstanden werden. Wer die angeführten Worte als Ueberhebung auslegt, weiß nichts von der Selbstgewißheit der großen Individualität, einer Gewißheit, die ebenso gebieterisch ist wie die jeder anderen Genialität.
Daß Rahel unablässig den Wert der Individualität verkündigte, hätte nicht viel bedeutet, wenn sie ihn nicht auch zugleich selbst verkörpert hätte. Vom Beginn ihres Lebens bis zu seinem Ende, von der ersten Stunde eines jeden Tages bis zur letzten, kam bei Rahel niemals das vor, was sie mit einem glücklichen Ausdruck
»Lebenspausen« nannte. Alle erinnern wir uns an Stunden und Zeiten, die nicht vom eigensten Leben der Persönlichkeit durchdrungen waren; wo wir uns aufs Geratewohl treiben ließen, wo der Bogen des Willens erschlafft war oder ein anderer ihn spannte; wo wir in einer Art Halbschlummer der Seele gehandelt, gesprochen, geurteilt haben. Es gibt kaum eine große Persönlichkeit, bei der man solche Pausen nicht nachweisen könnte: bei Rahel niemals. Betrübt oder fröhlich, krank oder gesund, ruhend oder tätig, schenkte sie aus der Fülle ihres Wesens den Becher des Augenblicks bis zum Rande voll. Dies wird uns durch alles bestätigt was Rahel geschrieben und durch alles, was über sie geschrieben worden ist. Daß sie in einem
»Wald von Menschen« lebt, hindert sie wohl wie jedes von uns Gesellschaftswesen ihre eigenen Zweige so weit auszubreiten, als sie reichen könnten. Aber es wandelt ihr Wesen ebensowenig um, als z. B. das Wesen der Buche von dem rings herum wachsenden Tannenwald umgewandelt wird. Sie ist ebenso naturnotwendig und naiv wie der wachsende Baum, sie selbst – wenn auch nicht ihr ganzes Selbst.
»Warum sollt' ich nicht natürlich sein?« ruft Rahel aus: »Ich könnte nichts Besseres und Mannigfaltigeres affektieren.«
Ein andermal:
»Wenn eine Guillotine vor mir stünde, wüßt ich's nicht zu sagen, was ich bin: hilfreich bin ich und atmend, sonst kann ich mich auf nichts besinnen.«
Die hier unten zusammengestellten Aeußerungen sind beide charakteristisch. Denn Rahels Bewußtsein ihres Wesens und Wertes ist ebenso wirklich wie ihre Unbewußtheit, was nur dem in seelischer Beziehung rohen Menschen unmöglich scheint und doch der für alle großen ursprünglichen Naturen charakteristische Zug ist! Gerade weil Rahel in jedem Augenblick einheitlich ist, hält die eine Eigenschaft der anderen das Gleichgewicht: ihre Reizbarkeit wird nicht hysterisch, ihre Empfindsamkeit nicht sentimental, ihr Witz nicht ironisch, ihre Analyse nicht Vivisektion, ihre Unmittelbarkeit nicht kindisch und ihre Bewußtheit nicht Selbstbespiegelung. Geist und Gemüt, Grübeln und Handeln, Ernst und Heiterkeit, alles ist bei ihr aus einem Gusse; nichts widerspricht sich oder hebt sich auf, alles bekräftigt und steigert sich in dieser einheitlichen Natur. Psychologen, vor allem Schleiermacher, betonten gerade diesen Zug als Rahel Grundwesen. Man sehe den Abschnitt »Geselligkeit«
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Daß das Unbewußte die Kraftquelle unserer Natur ist, drückte Rahel unter anderem mit diesen Worten aus: »Im wahren, festen Schlaf geht die Seele nach Hause, sie badet in Gottes See, sonst hielt' sie nicht aus.«
Aber zugleich weiß Rahel, daß der Grundtrieb ihres Wesens der Durst nach Klarheit ist. Ihre ehrliche, scharfsinnige Selbstanalyse sagt ihr, daß dieser Trieb bei ihr nicht nur der allgemeine der Menschennatur ist, sondern zugleich eine Notwehr: nur das Denken über die Dinge hält die Fugen ihres Wesens zusammen, so explosiv wirken die persönlichen Erlebnisse in ihr. Sie kann nichts ruhig nehmen: alles, wofern es überhaupt die Macht hat, sie zu berühren, wird
»unübersteiglich wichtig«; und sie hat ohne Zweifel recht, wenn sie sagt, daß sie dem Wahnsinn nahe wäre, wenn sie nicht zu ihren anderen Leidenschaften auch die hätte, über die Dinge nachzudenken, sie nicht nur zu durchleiden. Mit anderen Worten, zu ihren übrigen Leiden hat sie auch noch die Leiden des Denkens.«
»Ich muß von allem wissen, wie es wird, wie es ist. So habe ich von Kindheit an den größten Trieb gehabt, Leichen zu besehen.«
»Ich wäre ein sehr für aller Augen verkrüppeltes Geschöpf geworden, läge nicht großartige Betrachtung der Natur aller Dinge in mir und jenes Vergessen der Persönlichkeit, ohne welches die genialischsten Menschen auf der Erde und in jeder Wissenschaft keine wären.«
»Von Jugend an ging es reich und der Wahrheit gemäß in mir her. Natur wirkte scharf und richtig auf scharfe Organe: ein felsenfestes, empfindliches Herz hatte sie mir mitgegeben, das alle anderen Organe immerzu und redlich belebte.«
Ein andermal:
»Die Gaben, die ich habe, hat man nicht umsonst: man muß dafür ausstehen! Mein scharfes Wissen, Sondern und Scheiden, das große Meer in mir, mein präziser, tiefer großer Zusammenhang mit der Natur; kurz das bißchen Bewußtsein darüber, was hier doch soviel wert ist, kostet mir was! Welche Schmerzen, welche Unruhe, welches Vermissen läßt das aufschießen und wie muß ich es verarbeiten!«
Rahels obenerwähnte kindliche Unbefangenheit tritt am klarsten auf ethischem Gebiet hervor, wo sie landläufige Werte ebenso freimütig wie gründlich umwertet. Sie weiß wohl, daß das Bedürfnis nach Sittlichkeit ewig fortlebt, aber auch, daß die Begriffe der Sittlichkeit nicht unverändert bleiben können. So sagt sie: ... »Die Gegenwart krankt an solchen alten Vorstellungen ... Das ganze Dasein ist progressiv, gewinnt unaufhörlich an intensiver Anschauung; auf diese Art vervollkommnet sich das Erdenleben und jenes Leben, das nicht in seine Grenzen fällt. Je mehr Einsicht wir erlangen, desto mehr werden wir mit dem Leben selbst übereinstimmen ... Das Leben ist keine tote Wiederholung, sondern eine Entwicklung zu Erkenntnis und durch Erkenntnis.« ...
Aber Rahel meint, daß man gerade auf dem Gebiet der Sittlichkeit diese Entwicklung am allerwenigsten anerkennen will. Und dadurch wird das Dasein disharmonisch, weil man die Handlungen, zu denen man von der Entwicklung getrieben wird – die sogenannten »Verbrechen« – nicht mit Gewissensruhe begeht. »Wir zerstückelten Neuerer! ›Ruchlos‹ müssen wir gleich sein, uns schelten lassen und doch Lumpen bleiben, mit unseren Sittchen und auch Gesetzchen! Kranke Europäer nenn' ich uns immer in meinem Kopf ...«
Unter diesen neuen ethischen Begriffen verkündet Rahel auch den, daß die Freiheit eines Menschen das Recht bedingt, wenn er nicht länger leiden will, aufzuhören, zu leben. Sie ruft im Hinblick auf Selbstüberwindung und Geduld im Leiden aus: Unsere Nerven und Fibern, unsere Wünsche können wir doch nicht unterdrücken; sollten diese allein unheilig sein, sollte man sie nicht mit derselben frommen Scheu betrachten wie andere Werke der Natur, ja, als Ausdrucksformen der tiefen Forderung in uns, das Rechte zu erreichen? Ich weiß, daß es nur ein unerträgliches Uebel gibt: wenn man dieses Bedürfnis nicht befriedigt hat, und das Gewissen darum krank ist. In Heinrich von Kleists letzten Jahren war er oft bei Rahel, die unter seinen Leiden litt. Nach seinem Selbstmord sprach Rahel schon die Anschauung der höchstentwickelten modernen Menschen über einen solchen »Freitod« aus, um F. Mauthners neues und schönes Wort für die verfeinerte Auffassung dieser Tat zu gebrauchen. Sie freut sich, daß ihr Freund »das Unwürdige nicht duldet« und weiß, daß ihr Verständnis das einzige ist, womit sie jetzt noch sein Andenken ehren kann. »Ich mag es nicht, daß die Unglückseligen, die Menschen bis auf die Hefe leiden ... Unglück aller Art dürfte mich berühren! Jedem elenden Fieber, jedem Klotz, jedem Dachstein, jeder Ungeschicklichkeit sollte es erlaubt sein, nur mir nicht? ... Es ist und bleibt ein Mut. Wer verließe nicht das abgetragene, incorrigible Leben, wenn er die dunkeln Möglichkeiten nicht noch mehr fürchtete? Uns loslösen vom Wünschenswerten, das tut der Weltgang schon.«
Aber der freiwillige Tod soll eine bewußte, nicht eine verworrene Handlung der Persönlichkeit sein, meint Rahel. Sie weiß, daß wir nur so mit unseren sogenannten Verbrechen wirklich sittliche Handlungen vollbringen. Sie – die Wahrheitsfanatikerin – kann darum sagen:
»Die Lüge ist schön, wenn wir sie wählen, und ein wichtiger Teil unserer Freiheit; erniedrigend aber, wenn wir dazu gezwungen sind.«
Sie kann mit bezug auf einen hochentwickelten Menschen (W. v. Humboldt) sagen:
»Er ist so weit voraus in seinen Ideen, daß doch nicht mehr die Rede davon sein kann, ob er gut oder nicht gut sei, das liegt fern unter ihm.«
Sie weiß, daß es eine erste Unschuld gibt, die das Böse nicht ahnt; eine zweite, die jenseits von Gut und Böse angelangt ist Und sie sagt:
»Unschuld ist schön: Tugend ist ein Pflaster, eine Narbe, eine Operation.« Sie weiß, wie wenig diese Art von Tugend wert ist:
»Gut sind die Menschen alle, aber sie taugen nichts!« Sie weiß, daß die persönliche Sittlichkeit die verantwortungsvollste ist. Sie spricht einen Gedanken aus, der mit einem von George Eliot zusammenklingt: »Unsere Handlungen sind die Kinder unseres Geistes ... Wie sie auch werden, müssen wir sie uns gefallen lassen, sie haben ein so selbständiges Leben, daß sie uns umbringen können ... Sie haben wieder Kinder und werden zu ganzen Geschlechtern.«
Aber während George Eliot diesen ernstesten ethischen Gedanken der neuen Zeit dazu verwendet, die alte Moral einzuprägen, hat Rahel den Mut, diese in wichtigen Teilen zu verwerfen. Aus dem hier Gesagten geht hervor, daß Rahel mit mehr Berechtigung eine Prä-Nietzscheanerin genannt werden kann als eine Romantikerin. So wie Nietzsche übt sie Rücksicht, Pflichttreue, Selbstzucht. Aber sie wie er wollen eine Umwertung gerade jener Tugenden, die sie ausüben, weil sie an sich selbst erprobt haben, welche Gefahren diese Tugenden für ein vollmenschliches Dasein bergen können.
Eine Tugend, sagt Rahel, kann viel schlimmer sein als eine Leidenschaft, und die Pflichterfüllung ist oft nichts anderes als eine Form der Umständlichkeit und Wichtigtuerei. Sie
verabscheut die Lehre, daß Leiden und Dulden unbedingt eine Tugend sei. Mutig anzugreifen, was unsere Natur leidenschaftlich verlangt, ist für sie eine größere Tugend, und sie unterschreibt mit vollster Zustimmung Goethes Worte: »In allen Stücken billig sein, heißt sein eigenes Selbst zerstören.« Rahel war zu ehrlich, um zu glauben, daß wir andere ebenso lieben können wie uns selbst, außer in einem sehr großen und seltenen Gefühl. Und sie wußte, daß ihre eigene Neigung, andere höher zu stellen als sich selbst, sich selbst aufzuopfern, eine Schwäche, nicht eine Tugend war.
Durch diese allzugroße Rücksicht, sagt Rahel, »zerstör ich mich denn wirklich, die in manchen Stücken stark und zu was anderem von der sorglos verschwenderischen Natur bestimmt war: So ist's! So muß ich weiter sterben: viel bin ich schon gestorben ...«
Im Zusammenhang mit diesen Worten macht sie die Bemerkung, sie wisse, daß »etwas von Adlernatur« unentbehrlich sei, um das Leben zu leben, aber ihr fehle leider diese Art Natur.
Wenn Rahel sich der übertriebenen Rücksicht beschuldigt, die sie gehindert hat – im vollsten Sinne des Wortes – zu leben, dann darf man nicht vergessen, daß sie stets ihren unbedingten Mut auf dem Gebiet des Denkens und der Meinungen betont. Für keines Menschen Liebe opfert sie je ihre »besseren Ueberzeugungen«, sagt sie. Mit Recht sagte F. Schlegel – in bezug auf ihr Fernhalten von den vielen Brüderschaften der Zeit – von ihr: Sie war zu »eminent eine Person«, um sich in irgend einen Zwang finden zu können, der auf ihre geistige Freiheit ausgeübt wurde. Wenn sie also selbst ihre Feigheit tadelt, ist es ausschließlich in dem Sinne, daß sie ihre »persönlichen Lebensforderungen« in jenen Fällen unerfüllt gelassen, wo diese Erfüllung eine Verletzung anderer oder der überlieferten Moral gewesen wäre.
In einer Beziehung fallen die ethischen Ideale Goethes, der Romantik, Rahels und Nietzsches vollständig zusammen: in dem Gefühl, daß echte Sittlichkeit erst dann eintritt, wenn man seine eigene Wesentlichkeit gefunden und das gute Gewissen hat, nach dieser seiner Wesentlichkeit zu leben. Aber während die Romantiker ein »Sich-Ausleben« derselben Art gutheißen, wie heute Nietzsches schlechte Schüler – d. h. ein Sich-Ausleben, wo nicht die Wesentlichkeit, sondern der Zufall die Triebkraft ist – war Rahel wie Goethe, wie Nietzsche durchdrungen von der Notwendigkeit, seine Wahl zwischen der Wesentlichkeit und dem zu treffen, was in unseren Neigungen nur Roheit oder Zufall oder Laune oder Zeitrichtung ist.
So z. B. mißbilligte Rahel wie Goethe das romantische Spielen mit Liebe und Ehe, deren Auflösung beide berechtigt fanden, wenn ein echtes Gefühl sie verlangte, nicht aber auf Grund von Moderichtungen im Gefühlsleben, Richtungen, denen sogar der Ernst zu einer Leidenschaft fehlte. Die Sittlichkeitsfanatiker bedienen sich jetzt einiger – gerade durch eine der leichtsinnigen Scheidungen der Zeit veranlaßt er – Worte Goethes über die Heiligkeit der Ehe, um ihn als Hüter der Heiligkeit der Ehe hinzustellen. Daß er das tiefste Gefühl seines Lebens einer verheirateten Frau entgegenbrachte und sich nur sehr spät entschließen konnte, seine eigene »freie Liebe« zu legalisieren, das müßten doch Tatsachen sein, die Goethe von dem Verdacht befreien, daß er in der Ehe die unerschütterliche Norm der erotischen Sittlichkeit gesehen habe – falls man nicht behaupten will, daß sein Leben und seine Lehren in schreiendem Widerspruch miteinander standen! Aber er, der wollte, daß jede Aufgabe mit Ernst erfüllt werde, betrachtete auch die Aufgabe der Ehe als eine ernste, eine für die er selbst nach seinen eigenen Worten nicht taugte, und die er auch darum erst sehr spät im Leben auf sich nahm.
Aber viel bestimmter als Goethe verficht Rahel in jedem Alter ihres Lebens die Freiheit der Liebe; und daß die Romantiker, sowie später Jungdeutschland dasselbe taten, hat mit ihren Ansichten über diese Dinge nichts zu schaffen. Wie Rousseau, wie Goethe, wie die Romantiker, wie die ganze neue Zeit schöpft sie ihre erotischen Lehren aus ihren eigenen Beobachtungen, aus ihrer eigenen Seele und deren Macht persönlich und leidenschaftlich zu lieben: keiner ist des anderen Lehrer, wenn auch der Zeitgeist den Mut gibt, seine Ansichten zu bekennen und nach ihnen zu handeln. In jeder Epoche ihres Lebens vertritt Rahel das, was man die Weisheit des Herzens nennen möchte, unter der Voraussetzung, daß man wirklich seinem Herzen folgt, nicht eines jener »Simulacres« veranstaltet, deren Jämmerlichkeit die Liebe selbst in Verruf bringt.
»Das Herz ist ganz im Dunkeln, ganz allein, möchte man sagen, und weiß ganz allein alles besser. Nur wenn man dahin sieht, findet man Erkenntnis; weil die verwirrenden Lichter der ganzen Welt nicht hinlangen; und es wie ein Maß einer anderen Welt in uns lebet; als ein Ja oder Nein: sonst nichts.«
»Immer toller, alle Tage wahnsinniger kommt es mir vor, je mehr ich die Welthändel sehe und bedenke, daß man seinem innersten Herzen, nicht lebt. Dies zu tun, hat solchen schlechten Ruf, weil Simulacres von ihm herumlaufen ... Aber rein wie ein Keimblättchen in einer Mandel, so zart ist der innere wahre Wunsch, wie heilig!« ...
Bei Rahel wie bei den Romantikern – wie auch bei Schleiermacher – ist die Forderung der Freiheit der Liebe eine notwendige Folge der Forderung des Individualismus, der Eigenart in allen Lebensäußerungen, vor allem auf den Gebieten, wo die Persönlichkeit ihren höchsten Ausdruck findet: der Liebe, dem Glauben, dem Schaffen. Rahel bringt ihre Ueberzeugung – daß der Mensch nur, wenn er den innersten Forderungen seiner Natur folgt, sich selbst treu ist, und nur wenn er sich selbst treu ist, sittlich ist – mit größter Konsequenz in ihrem Urteil über Menschen, die auf erotischem Gebiet nach ihrem Herzen leben, zur Anwendung. Eine ihrer Freundinnen sagte, daß kein Mensch in dem Grade alles verstand wie Rahel. Aber dabei gilt ein Vorbehalt: Nur da, wo sie Natur und Wahrheit begegnete; denn das Gemachte und Unechte hatten in ihr einen unerbittlichen Richter.
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Die Naturen, die man am raschesten bezeichnet, wenn man sie heidnisch-hellenische nennt, besaßen Rahels unbedingte Liebe: Pauline Wiesel, die die Männer als die vollkommenste Offenbarung des »Griechentums« begeisterte, war und blieb Rahels liebste Freundin, durch die volle naive Ehrlichkeit, mit der sie ihrer eigenen heidnischen Natur gemäß lebte. Als Pauline ihren Mann, Kriegsrat Wiesel, verließ, schenkte Rahel ihr ihre volle Zustimmung: »Zum Leiden ist Ihr starkes Herz nicht gemacht«, schrieb Rahel. Als Prinz Louis Ferdinands – und vieler anderen – Geliebte zeigt Pauline in ihrer Liebe eine solche Flatterhaftigkeit, vereint mit einer solchen Unschuld, einer solchen Gewissensruhe, einer solchen Güte, daß sie wie eine lebendig gewordene Philine wirkte. Die Kraft und die Echtheit ihrer Natur flößen Rahel nicht allein unveränderliche Zuneigung ein, sondern auch Bewunderung. Paulinens griechische – oder kindliche oder göttliche – Naivität in bezug auf die Freiheit der Liebe, ein Recht, das ihr ebenso unbestreitbar schien wie den olympischen Göttern, war von Rahels eigener Lebensführung so weit als möglich verschieden. Aber Pauline hatte so nach Rahels Meinung, von der Naturseite gesehen, ein vollmenschlicheres Dasein geführt als Rahel selbst. Ja, sie stellt Pauline mit sich selbst zusammen: »Groß verfuhr die Natur mit uns beiden ... Wir sind geschaffen, die Wahrheit in dieser Welt zu leben ...« Und sie bedauert, daß sie selbst nur auf dem Gebiet des Gedankens in Wahrheit gelebt hat, während Pauline den Mut und das Glück hatte, auch in ihrem Leben wahr gegen ihre innerste Natur zu sein. Damals selbst verheiratet, gab Rahel ihrer Sympathie für Pauline Wiesel unbedingten Ausdruck: Sie sah, was ich sah, verstand, was ich verstand; wir lachten, beobachteten, bewunderten und verachteten zusammen. Sie hatte Gefühl für das bekräftigende, verstandene Dasein in einem anderen. Und wenn sie gefühllos schien, war es nur, weil sie – wie ich selbst – unter ihrem allzutiefen Mitgefühl litt, Sie und ich konnten erschüttert werden wie kein anderer. Sie war eine erobernde, kriegerische, leichtsinnige oder besser leichtlebende Natur; tiefer wahrer, klarer fand ich keine.
Rahel hatte nicht nur das Gefühl, daß sie und Pauline beide in seltenem Grade »der großen, dunkeln, hellen, Leben und immer Leben wirkenden Natur« angehörten; nein, sie meint, »einen wollte die Natur aus uns machen, und zwei mußte sie machen«. »Und darum«, sagt Rahel mit einer jener leichthingeworfenen Aeußerungen, die unendliche psychologische Perspektiven eröffnen, »handelt sie für mich«. Varnhagen, der sich für Rahel durch diese Zusammenstellung ihrer selbst mit Pauline Wiesel verletzt fühlte, betont, daß die letztere eine Doppelnatur war, während Rahel ihre außerordentliche Macht und ihren Zauber durch die vollkommene Einheitlichkeit ihrer Natur ausübte. Und ganz gewiß ist Rahel in einem Grade einheitlich, wie man es selten findet: Genie, Gemüt, Instinkte wirken zusammen und stärken sich gegenseitig, anstatt wie bei den meisten im Kampfe miteinander zu stehen. Aber Rahel selbst hat allzuoft ihren Unmut über die Disharmonie zwischen ihrem Willen und ihrem Mut zum Handeln betont, als daß man sie in dieser Beziehung nicht ernst nehmen müßte, und man darf nicht das an ihr preisen, was sie selbst eine Schwäche nannte: daß sie das nicht wagte, was sie ihrer innersten und von ihrem Gewissen gebilligten Natur nach wollte. Sie weiß, daß oft das »bessere Bewußtsein« das verlangt, was die Gesellschaft »Sünde« nennt, und daß es eine größere Sünde sein kann, sich die Glücksmöglichkeiten des Lebens entgehen zu lassen oder seine Lebensirrtümer geduldig weiterzuschleppen. Keine asketische oder christliche Ueberzeugung hemmt Rahel. Aber die tief im Blut steckende Geduld ihrer Rasse, die väterliche Tyrannei, die körperliche Schwäche, die Ueberzeugung, der Anmut zu entbehren – Rahel hielt ihr Aeußeres für unbedeutend, ohne irgend etwas Einnehmendes – all dies zusammen hatte ihren Lebensmut geknickt.
Und ist dieser einmal geknickt, dann kann er ebensowenig wieder flugtauglich werden wie ein gebrochener Flügel Rahel war wie alle großen Naturen opferwillig und anspruchsvoll geboren. Daß sie die erstere Grundforderung vollauf befriedigen konnte, tröstete sie niemals darüber, daß das Leben ihr soviel schuldig geblieben war. Denn sie war ja überzeugt, daß ihre ganze Natur »etwas Gottgewolltes« war, und ihre Forderungen ebenso heilig wie ihre Opferlust.
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Pauline Wiesel ist jedenfalls der schlagendste Beweis für Rahels Stellung zur Freiheit der Liebe, aber es gibt noch viele andere Beispiele. Zu diesen gehört die böhmische Gräfin Josefine Pachta, die durch ihre blonde Schönheit und ihre frische Liebenswürdigkeit wie eine Naturkraft wirkte, ein sonniges Waldkind. Diese Freundin wurde Rahel noch teurer, als sie ihre glänzende äußere Stellung von sich warf, um Meinert, dem Gegenstand ihrer Liebe zu folgen, der sie Ehre und Ansehen opferte. Wenn Rahel die bedeutendsten Eindrücke zusammenfaßt, die sie von Frauen empfangen, nennt sie Josefine Pachta den größten weiblichen Charakter, den sie gekannt, weil nichts sie abhalten konnte, nach ihrer Ueberzeugung zu handeln. Als Dorothea Mendelssohn sich von ihrem Manne trennte und – ehe sie noch gesetzlich vereint werden konnten – jahrelang in einem freien Verhältnis mit F. Schlegel lebte, stand Rahel ihnen getreulich zur Seite. Eine vierte von Rahels Freundinnen, Auguste Brede, lebte in einem »illegitimen« Verhältnis mit dem Grafen Bentheim, und Rahel billigte nicht nur die Handlungsweise der Freundin, sondern wohnte während ihres eigenen Aufenthaltes in Prag bei ihr. Hingegen konnte sich Rahel nicht mit Henriette Herz' erotisch-ästhetischem Flirt aussöhnen, der niemals die Grenzen der »Tugend« überschritt, aber eine solche Art von kaltem »Simulacre« zeigte, wie es Rahel antipathisch war, während sie versichert: »echte Frivolität lieb ich unaussprechlich!« Auch bei den Männern liebte Rahel die so gearteten Naturen wie Pauline Wiesel. Ihre Günstlinge waren z. B. Prinz Louis Ferdinand und Gentz. Wenn Fanny Lewald in ihrem Roman »Prinz Louis Ferdinand« Rahels Verhältnis zum Prinzen eine erotische Färbung gibt, so ist dies eine vollkommen aus der Luft gegriffene Phantasie ohne jede Begründung in der Wirklichkeit. Rahel selbst nennt das Verhältnis »beinahe fast unpersönlich«. Bei Rahel klagte er über Pauline Wiesel, seine flüchtige Geliebte, und Rahel hatte die undankbare Aufgabe, Beider Vertraute zu sein. Oft kam der Prinz in Rahels »Dachstube«, um eine teilnehmende, tröstende Freundin zu finden, deren Freundschaft ihm »viel süßer als alles übrige« dünkte. Rahel sah seine »Vielverworrenheit« ein, während sie zugleich seine feine Seele liebte und ihr Versprechen hielt, ihm »derbe Dachstubenwahrheiten« zu geben, wenn er sie brauchte. Rahel bedauerte, daß ihr Briefwechsel verloren gegangen war, denn – sagt sie – er ehrte sie beide; sie durch die vollkommene Ehrlichkeit, mit der sie dem Prinzen strenge Wahrheiten sagte, ihn durch den Edelmut, womit er sie aufnahm, in dem Gefühl daß »die Kleine«, wie er sie nannte, stets seine feinere Seele gegen die gröbere beschützte.
Denselben Klarblick für seine vielen Fehler und dieselbe Vorliebe für seine innerste Persönlichkeit zeigt Rahel Gentz gegenüber. Bei diesem so verschieden beurteilten – zumeist verurteilten – Weltmann und Staatsmann hatte Rahel ein echtes »Kindergemüt« entdeckt, mit »der ungetrübten, blumenreinen Wahrhaftigkeit, die ewig Naivität gebiert, zum Lächeln und zum Lieben«. Dieses Gemüt liebte Rahel unveränderlich bei diesem Mann, der gerade dadurch charakterlos wurde, daß er wie ein Kind war, ein sorgloser Mensch des Augenblicks, der alle seine Schwächen mit vollster Offenheit zeigte. Die Frauen verziehen ihm wegen seines bezaubernden Wesens; die Männer wegen seiner glänzenden Gaben, zu denen auch die gehörte, alle seine übrigen nur in diskretester Weise zur Geltung zu bringen. Er ergriff z. B. erst nach längerem Schweigen und Zögern, nach schüchternen Versuchen allmählich den Gesprächsfaden in einer Gesellschaft, um ihn – als einer der glänzendsten Causeure seiner Zeit – seidenfein und farbenschimmernd weiterzuspinnen, so wie es kein anderer im gleichen Grade vermochte.
Rahel hinwiederum verzieh ihm wegen jener Eigenschaft, die man nach Belieben Gewissenlosigkeit, Gewissensfreiheit oder Gewissensruhe nennen kann! Rahel war für Gentz wie für Prinz Louis Beichtmutter, Trösterin, Orakel. Er hat dasselbe tiefe Verständnis für ihr Wesen wie sie für das seine. Nichts ist für beide bezeichnender als ihre Briefe, als Gentz sich auf seine alten Tage mit dem Feuer eines Jünglings in die Tänzerin Fanny Elßler verliebte. Rahel beglückwünschte ihn in den wärmsten Worten, daß er in seinem Alter noch zu so schönen Gefühlen imstande war. Während andere für Gentz' Leidenschaft nur frivole Witze hatten, sah Rahel so tief in seine Natur, daß sie sein Gefühl mit ihrem eigenen für ihre Nichte vergleicht, Rahel fühlte durch diese, daß sie noch ein »Liebherz« hatte, aller Qualen und Freuden der Liebe fähig. Mit vollem Recht schrieb Gentz, daß Rahel die einzige war, der er das Gefühl zu beichten wagt, das ihn aus einem Greise wieder zu einem Jüngling gemacht, denn sie allein war tief genug, um darin den Beweis zu sehen, daß er in sich »eine reine und echte Menschlichkeit« bewahrt habe. Durch die »Segensströme«, die durch seine »paradiesischen Briefe« veranlaßt, ihm aus Rahels Herzen entgegeneilen, findet man auch, daß Rahel in der ewigen Jugend des Gefühls – vor allem in der nicht einmal von den Jahren zu besiegenden Stärke der Liebe – den stärksten Beweis für die Unsterblichkeit sieht. »Gut bestellte Herzen können immer verliebt sein, wollen es immer«, das sind Rahels Schlußworte über Gentz' neue Liebe. Und als Fanny Elßler nach Berlin kam, behandelte Rahel die junge Tänzerin – die zugleich eine Meisterin in der Kunst war, die Rahel so sehr bewunderte – wie eine Tochter.
Ob eine Liebe von der Welt unvernünftig oder vernünftig, unsittlich oder sittlich, unglücklich oder glücklich genannt wird, das bedeutet für Rahel nichts gegen die Gewißheit, die sie ungefähr mit diesen Worten ausspricht: Liebe ist der Lebenszustand, der unsere Tage reich, hell, bedeutungsvoll macht; nur durch die Liebe empfindet man sein eigenes Dasein; ja die Liebe ist in dem Grade der innerste Kern des Lebens, daß sogar ein Schein davon unsere Teilnahme erwecken kann. Jemand tadelte in Rahels Gegenwart eine Frau, die einen Mann um Liebe angefleht hatte, ja, nannte dies eine Schmach. Rahel rief aus: »Dumm war es, da es nichts half – aber warum schmachvoll?« Rahel setzte das Gespräch fort und schwor bei Gott, daß sie nie in ihrem Leben eine Schwäche beherrscht habe. Und wie sollte man, sagt sie, dies können? »Seine Handlungen kann man beherrschen, aber das Herz, das weich, das aus Fleisch und Blut ist, wie soll man es zu Messing machen können?« Wie tief der Gegenstand Rahel ergriff, geht daraus hervor, daß sie unmittelbar nach dem Gespräch an einem Fieberanfall erkrankte.
Eine andere der heidnischen Naturen, für die Rahel große Vorliebe empfand, war Heine. Er besaß einige von den Fehlern, die Rahel besonders liebte, einige von den Vorzügen, die sie hochschätzte, aber auch jene rücksichtslose »Ich-Moral«, die sie nur dann verzieh, wenn sie, wie bei Pauline Wiesel und Gentz, mit voller Naivität verbunden war. Diese fehlte Heine, denn er litt an der »Ruhmsucht«, in der Rahel die Ursache seiner Haltlosigkeit, seiner mangelnden Aufrichtigkeit, seiner Eitelkeit und Unberechenbarkeit sah. Rahel faßte ihr eigenes höchstes ethisches Gebot – das Gebot des Individualismus – in einem einzigen Satz zusammen: »Heine muß, wesentlich werden«. Das Wort »wesentlich« entlehnt Rahel einer Strophe Angelus Silesius': »Mensch, werde wesentlich« usw. Weil er nicht »die Tiefe, den Ernst« besaß, fehlte seiner Persönlichkeit« der Zusammenhang und ein einheitlicher Ueberblick des Daseins«; und dies machte Rahel besorgt für seine Zukunft. Trotz dieser Mängel, die – durch Rahels Aufrichtigkeit – zu vorübergehenden Abkühlungsperioden in ihrer Freundschaft führten, blieb Heine doch ihr zärtlich verhätschelter Liebling, an den sie glaubte, den sie tröstete und für dessen Schicksal sie eine »vorahnende Unruhe« empfand.
Aus alledem dürfte hervorgehen, daß Rahel ihre erste und größte Forderung an andere wie an sich selbst: »Wahr, redlich zu sein«, ernst nahm. Aber sie betonte zugleich, daß diese Ehrlichkeit die Selbsttätigkeit, ohne die niemand sein wesentliches Wesen erreicht, nicht ausschließt, sondern geradezu verlangt. Sie weiß wie Goethe, daß »der Mensch ein Kunstwerk ist ... Stoff, Künstler und Werkstatt in uns selbst: wie schön fühlt man jedes Gelingen, wie hart das andere!«
Sie sieht in den Jugendjahren »die tugendsamsten, schönsten und auf flammendsten«, und darum verzeiht sie der Jugend nichts Schlechtes, wohl aber viele Torheiten. Sie findet die älteren Menschen tief ungerecht gegen die Jugend, wenn sie verlangen, daß diese weise sein soll, ohne noch Gelegenheit gehabt zu haben »aus dem Baum des Lebens diese Essenz zu destillieren«. Denn, sagt Rahel ein andermal: »Die Ergebnisse sind roh«; sie sind nur das wert, wozu wir sie veredeln können.
Und außerdem: was ist denn in der Regel die Vernünftigkeit der Eltern? Selten Weisheit, meint Rahel mit vollem Recht, sondern gewöhnlich nur »Mutgebrochenheit«. Im übrigen sagt ihr ihre Erfahrung, daß, wie man sich auch anstellen möge, man doch in allen Lebensaltern schließlich nach seinem Charakter handelt. Das heißt, sagt Rahel, nach der Summe und der Zusammensetzung seiner Eigenschaften, denn die Menschen bewegen sich wie die Luft nach ewigen Gesetzen. Und »Charakter haben« bedeutet für sie nur Mut haben, denn dieser setzt die übrigen Fähigkeiten in Bewegung.
Während so alle anderen einen Gentz, eine Pauline Wiesel charakterlos nannten, waren sie für Rahel Charaktere: ihr Mut, nach der Summe und der Zusammensetzung ihrer Eigenschaften zu handeln, machte sie dazu. Während andere sie treulos, unzuverlässig und schwach schalten, nannte Rahel sie aufrichtig. Bei den meisten anderen fand sie nicht weniger Schwächen – wohl aber weniger Ehrlichkeit!
* * *
Ehrlichkeit und Natürlichkeit vermißt Rahel am meisten bei der europäischen Geschlechtsmoral; und auf Grund dieser Mängel verlangt sie so tiefgehende Umgestaltungen, daß man sie noch heute »gesellschaftsumstürzlerisch« nennen würde. Freiheit für die Liebe – die für sie Sittlichkeit ist – aber Kampf gegen die Unzucht – unter der sie Geschlechtsverhältnisse ohne Liebe versteht – das ist Rahels Grundgedanke von ihren einsamen Jugendgrübeleien in ihrer Dachstube an bis zu dem späten Zeitpunkt in ihrem Leben, wo George Sand schon gleich einem Feuerstreifen am Horizont auftaucht.
Rahels Freiheitssinn, Wahrheitssinn und Schönheitssinn empörten sich gegen die gesellschaftlich geschützte Geschlechtsmoral. Die Ehe ist für Rahel eine Unterdrückung, mit
»Geisterzwang« vergleichbar; eine Unterdrückung, die wieder die Zweiteilung in männliche und weibliche Geschlechtsmoral hervorgerufen hat, jene Zwangstreue, in der die Gesellschaftslüge triumphiert. Bald mit Ernst, bald mit Ironie, berührt Rahel diesen Gegenstand.
»Daß in Europa Männer und Weiber zwei verschiedene Nationen sind, ist hart. Die einen sittlich, die anderen nicht: das geht nimmermehr – ohne Verstellung. Und das war die Chevalerie. Diese wenigen Worte sind sehr wahr: enthalten viel Unglück und viel Schlechtes. Es schreib einmal einer solch Buch.«
»Ich sehe jetzt auch ein, die Menschen sind so verworfen, daß sie ihre déclaration d'amour mit einem Priester und vor dem Kammergericht machen müssen. Sie kennen einander!«
»Ist intimes Zusammenleben ohne Zauber und Entzücken nicht unanständiger als Extase irgend einer Art? ... Ist ein Zustand, wo die Wahrheit, die Grazie, die Unschuld nicht möglich sind, nicht dadurch allein verwerflich?«
Ein andermal über die Ehe:
»Weg mit der Mauer! Weg mit ihrem Schutt. Der Erde gleich sei dieses Unwesen gemacht und alles wird auf ihr erblühen, was leben soll. Eine Vegetation!«
Sie faßt Europas Schandflecken mit folgenden Worten zusammen:
»Negerhandel, Krieg, Ehe – und sie wundern sich und flicken.«
Weil die höchste Sittlichkeit des Menschen darin besteht, in jeder geringsten Kleinigkeit und in jedem Augenblick wahr zu sein, »immer auf das Sein und nicht nur auf den Schein auszugehen«, ist die Zwangsehe für Rahel die große Gesellschaftslüge vor allen anderen!
Rahel fragt, wie »eine Neigung bestehen kann ohne Anreiz?« Sie fragt, warum man sich nicht auch für geschlossene und bekannte Freundschaftsverhältnisse eine gesetzliche Garantie verschafft, sondern hier die Dauer durch die Gefühle bestimmen läßt? Und auf den Einwand, was aus den Kindern würde, fragt sie, ob ein »Hausstand« an und für sich heilig sei? Ob die Kinder wirklich schon dadurch geschützt sind, daß sie in ihrer Familie leben, wenn die Eltern die Möglichkeit haben, sie innerhalb derselben physisch und moralisch zu Tode zu martern? Sie macht darauf aufmerksam, daß es ebenso lächerlich wie unmöglich und unbillig ist, zu versuchen, durch seine Liebe ein menschliches Wesen in irgend einer Handlung oder zu irgend einem Zeitpunkt seines Daseins zu binden und zu hemmen. Nur die Ehen, die aus gegenseitiger Liebe geschlossen werden, nur diejenigen, wo beider freie Einwilligung, nicht das Recht des einen das Zusammenleben bestimmt, nur die, in denen volle klare Wahrheit herrscht, sind nach Rahel sittlich. Und gerade in diesem »geschlossenen« Zustand ist die vollste Freiheit unerläßlich. Wie wenig Rahel an die Möglichkeit einer solchen Freiheit und Wahrheit in der jetzigen Ehe glaubte, erhellt aus ihrem Ausruf: Die schon einmal verheiratet sind, mögen es bleiben, aber sie für ihr Teil würde ihrem Kind niemals ihre Sanktion zur Schließung einer Ehe erteilen wollen. Sie verhöhnt »vorgefaßte Luxusmeinungen« in jeder Richtung, und sie haßt jene, die den Unterschied zwischen legitimen und illegitimen Kindern geschaffen hat, und will diesen Unterschied ebenso radikal ausrotten wie die heute für das Mutterrecht Kämpfenden. »Kinder sollten nur Mütter haben und deren Namen tragen, und die Mütter das Vermögen und die Macht der Familie: so bestellt es die Natur. Man muß diese nur sittlicher machen; ihr zuwider zu handeln gelingt – bis zur Lösung der Aufgabe – doch nie. Fürchterlich ist die Natur darin, daß eine Frau gemißbraucht werden kann und wider Lust und Willen einen Menschen erzeugen kann. Diese große Kränkung muß durch menschliche Anstalten und Einrichtungen wieder gutgemacht werden und zeigt an, wie sehr das Kind der Frau gehört. Jesus hat nur eine Mutter. Allen Kindern sollte ein ideeller Vater konstituiert werden und alle Mütter so unschuldig und in Ehren gehalten werden wie Maria.«
* * *
Es ist für Rahels Stellung zu ihrem eigenen Geschlecht bezeichnend, daß sie – die selbst vollkommen tadellose – ihre besten Freundinnen nicht unter den Tadellosen fand. Auch rühren die feinsten, verständnisvollsten Urteile über Rahel nicht von ihren eigenen Geschlechtsgenossinnen her, sondern von Männern. Rahel selbst hat keinen Anlaß, sich darüber zu beklagen, daß es einer Frau nicht gestattet sei, zu denken oder ihre Gedanken auszusprechen. Denn sie hatte in den hervorragendsten Männern der Zeit ebenso eifrige wie bewundernde Zuhörer. Es ist ein schlechter Grund, mit dem Rahel das Recht der Frau, ihre Seelenkräfte zu betätigen, verteidigt, wenn sie fragt, ob Fichtes Werke schlechter wären, wenn Frau Fichte sie geschrieben hätte? Denn diese Frage hätte nur dann Gewicht, wenn es bewiesen wäre, daß Frau Fichte – oder irgend eine andere Frau – Fichtes Werke wirklich geschrieben hätte! Ganz gewiß hätten die Männer dann die Denkkraft dieses Weibes ebenso willig anerkannt als sie jetzt Rahels eigene anerkannten.
Glücklicherweise verteidigt Rahel sonst nicht mit so schwachen Gründen das Recht der Frau, ihre Seelenkräfte zu betätigen; das Recht, gesetzlich und sozial
»Raum für ihre eigenen Füße zu erhalten« und davor bewahrt zu sein, sich nur mit
»Stückeleien« zu beschäftigen oder im geistigen Sinn von der
»Existenz des Mannes oder Sohnes zehren« zu müssen. Sie wußte, daß die Frauen durch die erotische Roheit der Männer zu Unwahrheit und Koketterie gezwungen sind, daß sie durch ihre Erziehung und ihre soziale Stellung minderwertig bleiben.
Rahel sagt von den Frauen:
»Sie sind so erstaunlich matt, beinahe unklug aus Zusammenhanglosigkeit; lügen tun sie auch, weil sie's oft so nötig haben und weil Verstand zur Wahrheit gehört. Und lügen ennuyiert mich bis zur Krankheit ...«
Ein andermal:
»Ich kenne die Weiber: das Edle in der Mischung hält Unsinn oder Wahnsinn zusammen ...«
Ein drittesmal spricht sie von der »plumpen, gräßlichen Dummheit der Frauen im Lügen«.
Daß die Frauen sich doch schon damals »Raum für ihre eigenen Füße« schaffen konnten, wenn sie dies nur ernst genug wollten, dafür ist Rahel selbst der beste Beweis. Ohne ökonomische Unabhängigkeit bringt sie es doch dahin, im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren mit derselben Freiheit zu studieren, zu korrespondieren, zu reisen, ihre Freundinnen zu wählen, einen Salon zu gründen, wie dies nur eine ökonomisch selbständige Frau heute tun könnte! Wenn Rahel nach dem Tode des Vaters noch von Zwang spricht, dann ist das nur in dem Sinn, daß eine verständnislose und unzarte Kritik, ein anspruchsvolles, leicht reizbares Solidaritätsgefühl stets ein Zwang verbleibt. Damals wurde dieser Zwang nur von der Familie ausgeübt: heute übt ihn noch immer die Familie und überdies auch noch Vereine und andere Formen des sozialen Zusammenwirkens.
Aus jedem durchdachten Individualismus – und der Rahels war ebenso durchdacht als er instinktiv war – ergibt sich mit Notwendigkeit: daß jedes von der Gesellschaft für ein einziges ihrer Mitglieder aufgestellte Hindernis, seine Kraft zu betätigen, ein Uebergriff ist bis zu jenem Punkt, wo die Kraftentwicklung dem Rechte anderer zu nahe tritt. Um soviel mehr, wenn Gesetze und Vorurteile der Hälfte des Menschengeschlechts solche Hindernisse in den Weg gestellt haben! Als Individualistin ist Rahel darum von ganzem Herzen »Feministin«. Sie richtet ihre Ironie gegen all jene, die auf Grund vorgefaßter Meinungen über das Wesen der Frau sie von den sogenannten männlichen Arbeits- und Gedankengebieten ausschließen wollen.
»Ist es aus der Organisation bewiesen, daß eine Frau nicht denken und ihre Gedanken nicht ausdrücken kann? Wäre dies, so bliebe es dennoch Pflicht, den Versuch immer von neuem zu machen.«
»Es verfehlen soviele Weiber ihre Bestimmung, daß es wohl wird mit eingerechnet werden können, wenn einige sie durch Schreiben verfehlen; und es wird noch Vorteil herauskommen und viel von dem sonst nicht vergeudeten Mitleid mit ihnen erspart werden.«
Und in folgerichtigem Anschluß an ihren Individualismus fährt Rahel fort:
»Ist sie ein großer Autor, so
muß sie es tun.«
Rahel macht den Frauen – in ihrer Zeit war Anlaß dazu vorhanden – den Vorwurf, daß sie sich demütig entschuldigten, wenn sie es wagten, ein Buch zu schreiben! Warum sollte eine Frau nicht Bücher schreiben, nicht an der Universität studieren, wenn sie den »Geist und die Gaben hat, wodurch allein das Studium Früchte trägt?« Warum sich nicht auf wissenschaftlichem Gebiete betätigen, fragt Rahel mit Recht, Aber heutzutage hätte Rahel gefragt: Warum muß eine Frau Bücher schreiben, studieren, Wissenschaft betreiben – auch wenn sie nicht Geist und Gaben hat? Wie hätte nicht Rahel – die meinte, daß die Natur mit jedem Menschen ein Original hervorbringen will, kein »gemachtes Fabrikwesen«, die meinte, daß jeder selbst seine Bildung produzieren müsse – das Schul-, Examen-, Universitätswesen von heute verabscheut, jene Fabriksarbeit, durch die Dutzendmenschen hervorgebracht werden.
Wie hätte nicht Rahel, die wußte, daß die Befreiung unserer wirklichen Eigenart »ein ganzes Leben voll Anstrengung kostet«, das moderne Vereinsleben, den Parlamentarismus, die Komitees verabscheut, wo die Anstrengung darin besteht, die Persönlichkeit um der sogenannten Ideen willen zurückzudrängen; Wie hätte nicht Rahel – die ausruft: »In Anstalten bringt man das Leben zu, man verschwendet's!« – jene Verschwendung des Lebens verabscheut, die alle die modernen Anstalten mit sich bringen! Wie hätte sie es nicht verabscheut, die von der Brotnot getriebenen Frauen zusammen mit den Männern in jener großen Herde zu sehen, die nur »weidebegierig und weideberuhigt« ist! Wie hätte sie nicht alle diese Frauenrechtlerinnen verabscheut, die heute Rahels Beobachtung bestätigen, »daß unbedeutende Menschen mit wenig Gemüt mit den Jahren immer härter werden, während eine zunehmende Milde das Kennzeichen des bedeutenden Menschen und des bewegten Gemütes ist!« Wie hätte nicht Rahel die Tyrannei über die Meinungen, den persönlichkeitshemmenden Kleinsinn, das neidische Beiseitestoßen, die Wichtignehmerei von Unbedeutendheiten verabscheut, die die Frauenfrage heute überall zeigt, seit sie aus einer Freiheitsbewegung in großen Frauenseelen wie Rahels eigener, eine Vereinsbewegung geworden ist, wo die kleinen Seelen bald die Führung an sich reißen.
* * *
In der Erfüllung gesellschaftsmütterlicher Aufgaben – Krankenpflege und Linderung der Not – wünschte sich Rahel ein »ordentlich Besorgnis«. Aber niemand würde sich unglücklicher gefühlt haben als Rahel, wenn dieses »Besorgnis« wie es bei jeder organisierten gemeinsamen Arbeit der Fall ist, die Freiheit ihrer eigenen Initiative und ihrer Handlungen beeinträchtigt hätte. Und Rahel wäre die erste gewesen, jetzt hervorzuheben: daß es andere Formen der Unfreiheit und der Unselbständigkeit gibt als die, welche Gesetz und Sitte schaffen, nämlich jene, die durch Moderichtungen und Zeitströmungen entstehen, durch die der Mensch seinem tiefsten Wesen entfremdet wird, so daß er die Fähigkeit der Selbstbegrenzung auf sein wesentliches Gebiet verliert! Wie hätte nicht Rahel mit ihrer Gedankenklarheit den modernen Aberglauben bloßgelegt: daß die Frau nur auf außerhäuslichen Arbeitsgebieten ihre menschliche »Individualität« ausdrücke, während sie als Mutter bloß als Geschlechtswesen wirke! Wie jämmerlich hätte Rahel nicht den modernen Amerikanismus gefunden, der das Heim zu einem Sonntagsvergnügen reduziert und die Mutterschaft zu einem Gebären! Wie tief sieht nicht Rahel, wenn sie auf den entscheidenden Unterschied zwischen Mannes- und Frauenwesen hinweist, wenn sie sagt, daß die Natur – sie wisse nicht aus welcher Oekonomie – die Frau der Pflanze näher erhalte!
Diese »Oekonomie« ist leicht zu begreifen: weil das werdende Leben die Schöpfung der Frau ist und weil dieses Leben Stille braucht, um zu werden und zu wachsen; weil der starke Naturgrund, die tiefen Gefühle, die innigen Verhältnisse alle nur da entstehen, wo Ruhe und Wärme, Geschlossenheit und Einheit zu finden ist; weil eine von den Aufgaben des äußeren Lebens erfüllte, von öffentlichen Arbeitspflichten gebundene, von der Konkurrenz oder dem Kampf ums Dasein gehetzte Frau nicht mehr die psychologischen Bedingungen besitzt, die unumgänglich notwendig sind, damit eine Kinderseele in Frieden und Freude, in Ernst und Zärtlichkeit heranwachse; weil mit einem Wort Kinder Mütter brauchen, nicht nur um körperlich geboren, sondern um menschlich erzogen zu werden. Rahel trifft selbst den Kernpunkt der geistigen Aufgabe der Mutterschaft, wenn sie sagt, daß sie, wenn sie ein Kind hätte, diesem helfen würde, seinem eigenen innersten Ich zu lauschen; alles andere würde sie dafür opfern. Dies zu erzielen, sagt Rahel, ist die höchste Aufgabe der Mutter, ihr größtes Talent. Und die diese Aufgabe nicht erfüllen, dieses Talent nicht haben, sind es nicht wert, Mütter genannt zu werden, sondern nur Kindergebärerinnen. Daß eine Menge Mütter nur solche Kindergebärerinnen sind; daß eine Menge Kinder – Rahel wußte es nur zu gut – im Schutze der Familie mißhandelt werden; daß bis auf weiteres wenige Mütter ihr hohes Amt richtig verwalten, all das betont Rahel, ohne daß es sie zu einem der törichten Vorschläge der Gegenwart verleitet, um dem Uebel abzuhelfen. Weit davon entfernt, die Mütter für unverbesserlich zu halten, will Rahel ihre Macht und damit auch ihre Verantwortung verdoppeln. Denn der Fortschritt der Menschheit oder ihr Untergang hängen nach Rahels prophetischem Blick von der Tüchtigkeit der Mütter ab, ihre Aufgabe zu erfüllen. An anderer Stelle Man sehe den Abschnitt »Liebe«. habe ich Rahels eigenes tiefes Mütterlichkeitsgefühl geschildert, das Gefühl, das es zu einem der Schmerzen ihres Lebens machte, selbst nie ein Kind besessen zu haben und das sie ihre Gefühle auf die Kinder ihrer Angehörigen konzentrieren ließ. Und jede Frau, die das hat, was Rahel ein »Liebherz« nennt, weiß, daß die allgemeine Menschenliebe nicht genügt, daß nur die persönliche innige Liebe unser Glück ausmacht. Oder, wie die gealterte Rahel es ausdrückt: »Dieses Leben des Herzens ist allein wahr, reell, das wußt' ich, als ich ein Kind war, ein wirkliches Kind, dem Alter nach; und Triumph! ich weiß es noch!« Aber die Natur, die so beschaffen ist, daß sie nur aus vollem Herzen empfangen und geben will, ist im Leben, wie es noch heute ist, eine tragische Gestalt. Und als eine solche werden wir im folgenden Rahel nach ihrer eigenen, unübertroffenen Deutung des Tragischen erkennen. »Tragisch ist das, was wir durchaus nicht verstehen, worin wir uns ergeben müssen; welches keine Klugheit, keine Weisheit zerstören noch vermeiden kann; wohin unsere innerste Natur uns treibt, reißt, lockt, Unvermeidlich führt und hält: wenn dies uns zerstört und wir mit der Frage sitzen bleiben: Warum? Warum mir das, warum Ich dazu gemacht? Und aller Geist und alle Kraft nur dazu dient, die Zerstörung zu fassen, zu fühlen oder sich über sie zu zerstreuen.«
* * *
Als Zusammenfassung möchte ich die Behauptung aufstellen, daß Rahel ganz gewiß, so wie Fichte, das »Radikal-Böse« in der Trägheit und Feigheit sah, den Weg des Lebens aber in dem Mut und dem Willen; dem Mut, alle Forderungen und alle Lebensentscheidungen ganz ernst zu nehmen, dem Willen, in allen Lebenslagen seine ganze Persönlichkeit einzusetzen und allen Lebensfragen mit vollster Ehrlichkeit entgegenzutreten.
Aber damit ist Rahel in ihrer Ethik gerade das, als was ich sie bezeichnet habe: eine Prä-Nietzscheanerin. Auch für Nietzsche war Mut, Wahrhaftigkeit, geistige Redlichkeit die Grundlage aller Sittlichkeit. Und wenn Rahel sagt, daß sie sich in »ihrem Adel gestört« fühlt oder Gott dankt, daß sie »adelig geboren« ist, dann legt sie dem Wort dieselbe Bedeutung bei, wie Nietzsche, als er nachwies, daß das Wort »edel« im Griechischen ursprünglich den bedeutete, der »etwas ist«, der eine festgeschlossene Wirklichkeit hat, die der feige und lügenhafte Mensch nicht besitzt. Daß Rahels Gedankengang derselbe war, wird unter anderem dadurch bewiesen, daß sie die »Zusammenhanglosigkeit« der Frauen von ihrer Lügenhaftigkeit herleitet.
Das Endurteil über Rahels Individualität wird also das sein, daß sie ein geborener Adelsmensch war, sich jedoch durch ihre Geburt und ihr Schicksal darin behindert fühlte, der Welt, sorglos und frei, wie sie es gewollt, ihr ganzes Wesen zu zeigen, daß sie aber trotzdem – zu jeder Zeit ihres Lebens und in jeder Lebenslage – »Rahel und nichts anderes« blieb. Und wer sich in Wahrheit selbst dieses Zeugnis ausstellen kann, den hat man das Recht, mit dem großen, unendlich mißbrauchten Worte zu bezeichnen: Eine Persönlichkeit.