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Alle wissen, daß die Mitwelt – wie stets dem großen Neuen gegenüber – sich nur langsam zur Schätzung Goethes durchrang. Daß er von dem großen Publikum nicht verstanden wurde, das Kotzebue als dramatischen Schriftsteller hoch über ihn stellte, ist nicht zu verwundern. Aber daß z. B. ein Lessing von Goethe sagen konnte, er habe eigentlich nur durch die Tollheit seines Werther Aufsehen erregt, und wenn Goethe klug würde, bliebe nicht viel von ihm übrig, das ist bezeichnend, wie auch, daß die erste Sammlung seiner Werke so schlecht ging, daß er sich für die zweite einen neuen Verleger suchen mußte!
Daß Moses Mendelssohn ebensowenig wie Lessing Goethe verstand, daß Klopstock sich kühl verhielt und die alte Schule mit Ausnahme von Wieland gegen ihn war, und daß erst die Romantik von ihm als von dem Dichterfürsten zu sprechen anfing, daran muß man sich erinnern, um zu erkennen, was es am Ende des 18. Jahrhunderts an geistiger Selbständigkeit bedeutete, wenn ein junges Mädchen wie Rahel einen großen leuchtenden Ring um Goethes Namen zog, schon allein durch die Art, wie sie diesen Namen aussprach: als den, der nicht am selben Tag mit irgend einem anderen genannt werden darf.
Jene Sorte von Literarhistorikern, für die der Geist der Dinge eine verborgene Sache ist, sind stets Datenjäger. Für sie ist es z. B. eine höchst wichtige Sache, herauszubekommen, wer Rahel zuerst veranlaßt hat, Goethe zu lesen(!) – als ob Menschen nicht von selbst die Sonne finden könnten – oder festzustellen, ob Rahel oder irgend eine andere der literarisch einflußreichen Frauen zuerst die Aufmerksamkeit auf Goethes Bedeutung lenkte. Gerade weil Rahel eine so tiefe Andacht vor Goethe empfand, ist es wahrscheinlich, daß sie nicht diejenige der tonangebenden Damen Berlins war, die zuerst anfing, von ihm zu sprechen, aus ihm vorzulesen und sich mit ihrer Bewunderung zu drapieren. So z. B. erzählt Rahel, wie sie auch einer echten Goethebewunderin, wie Bettina, gegenüber stumm blieb; wie ihr, als Bettina einmal in dem in der Herbstsonne erglänzenden Monbijou – schön und feurig – von Goethe sprach, »tat, als kennt' ich ihn gar nicht, so ging's mir oft.«
Daß Rahel Goethe selbst entdeckte, in ihm und von ihm lebte und ihm ihre ganze Seele gab, ehe noch irgend ein Mensch nach Rahels Urteil fragte, geht aus ihren eigenen Aussprüchen klar hervor.
Sie sagt von ihrem einfachen Dachstübchen im Elternhause: »Da ist mein Mausoleum. Da hab ich gelebt, geliebt, gelitten, mich empört, Goethe kennen gelernt. Bin mit ihm aufgewachsen, hob ihn unendlich vergöttert! Da wacht' ich und litt, viele, viele Nächte durch, sah Himmel, Gestirn, Welt mit einer Art von Hoffnung; wenigstens mit heftigen Wünschen. War unschuldig.«
»Ein Fest war ein neuer Band Goethe bei mir; ein lieblicher, herrlicher, geliebter, geehrter Gast, der mir neue Lebenspforten zu neuem unbekanntem hellen Leben gewiß erschloß. Durch all mein Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar. Mit seinem Reichtum machte ich Kompagnie, er war ewig mein einziger, gewissester Freund, mein Bürge, daß ich mich nicht unter Gespenstern ängstige; mein superiorer Meister, mein rührendster Freund, von dem ich wußte, welche Hölle» er kannte! – kurz, mit ihm bin ich erwachsen, und nach tausend Trennungen fand ich ihn immer wieder. Und ich, da ich kein Dichter bin, werde es nie aussprechen, was er mir war.«
»Wenn ich mir ihn denke, so treten die Tränen mir ins Auge: alle anderen Menschen lieb' ich nur mit meinen Kräften; er lehrt noch mit seinen lieben. Und ich weiß auch gar nicht, wie sehr ich mich werde lieben müssen. Wie oft dachte ich schon: Mehr trägt dein Wesen nicht: und das Wesen änderte sich. Mein Dichter!«
Rahel lebte lange in Goethe, bevor sie anfing, von ihm zu sprechen. Aber wenn sie – z.B. in ihrem ersten Salon – dies tat, dann geschah es nach der Aussage eines Zuhörers mit Worten der Bewunderung, die alles übertrafen, was er bisher über Goethe gehört. Und das ist das Wichtigste, nicht, ob es – wie Varnhagen meint – Rahel oder, wie andere meinen, Dorothea Schlegel war, die den Goethekult zu verbreiten begann.
Nicht wer zuerst Goethe »Herr und Meister« nannte, sondern wer am tiefsten fühlte, daß er es war – das ist das Entscheidende.
Und am allerbedeutungsvollsten ist es, daß Rahels Begeisterung durch ihr eigenes tiefes Verständnis Goethes entflammt wurde; daß er – unabhängig von allen Modeströmungen für oder gegen ihn – der Mittelpunkt ihres geistigen Daseins blieb; daß ihr Gefühl für ihn die vollkommene Bekräftigung ihrer eigenen Worte ist: » Keine Begeisterung muß anwehen von außen, sie muß erglühen von dem heiligen Opferherde unseres eigenen Gemütes.«
Nur so lehrte Rahel ihre Zeitgenossen geistig von und durch Goethe zu leben; lehrte sie, daß er unerschöpflich ist wie die Natur selbst; daß man » bei anderen großen Geistern Wahrheiten empfängt, aber bei ihm die Wahrheit«.
Mit einem Wort: Rahel erkannte wie kein anderer Zeitgenosse Goethes Platz in der Entwicklungsgeschichte des Menschengeistes, und sie weist ihn ihm mit den Worten an: daß die Völker immer gegen ihre Großen murren: Moses, Sokrates, Goethe – soll ich an Christus erinnern?
Und sie vermochte dies einzusehen, was wir hundert Jahre später erst zu erkennen beginnen, nachdem der Zeitabstand seine Gestalt mit einem Goldhintergrund umgeben, und nachdem er bis in die Unendlichkeit durchforscht und gedeutet worden ist! Durch das Verständnis und die religiöse Ehrfurcht ihrer Liebe kam sie in ihrer Goetheanbetung so weit, wie die Menschheit erst nach ein paar Jahrhunderten gekommen sein wird. Das Allermerkwürdigste ist, daß Rahel zu der Tiefe in Goethes Geist vordrang, ohne mehr von ihm zu kennen, als seine damals gedruckten Werke. Alle die Reichtümer, die später an den Tag gekommen sind, vor allem alle seine wunderbaren Briefe, waren ihr unbekannt.
Dazu kommt Rahels Fähigkeit, alle »Wahnbegriffe« zu durchdringen, die sich um Goethe als den Hof mann und Beamten bildeten, die Würden, die die Mitwelt bei Goethe am höchsten schätzte und von denen sie darum ihn selbst am meisten erfüllt glauben konnte. Ich habe in dieser Beziehung eine bezeichnende Aeußerung von Ulrike von Levetzow gehört: daß, wenn sie verstanden hätte, daß er Goethe war, sie ihn vielleicht – aus geschmeicheltem Stolz – geheiratet hätte; nun sah sie wie ihre Umgebung in ihm den vornehmen alten Geheimrat, der von Sternen, Steinen und Blumen sprach, während sie all dies langweilig fand und so schlecht zuhörte, daß Goethe zu sagen pflegte: »Hört mein liebes Kind wieder nicht zu?« – Ja, – als er ihr seine Schriften mit Anmerkungen eigens für sie gab, da ließ sie sie liegen und mußte, als Goethe eines Tages fragte: »Hat mein liebes Kind etwas in mir geblättert?« beschämt Nein antworten. So wenig wußte ein junges Mädchen »aus guter Familie« um 1820 herum von Goethe, obschon sie der Gegenstand seiner Liebe war! Wenn man Ulrike mit Rahel in ihrem Dachstübchen, vierzig Jahre früher vergleicht, steht die Reife von Rahels Goetheverständnis erst im rechten Lichte da.
Rahel erlebt die Aufklärungsepoche, die Revolutionsepoche, die Romantik, Jung-Deutschland, den Saint-Simonismus und empfängt – wie jedes Kind seiner Zeit – Eindrücke dieser Kulturepochen und Geistesrichtungen. Aber zu allen Zeiten übt Goethe den mit allen anderen unvergleichlichen Einfluß auf Rahels Lebensanschauung aus, wenn sie auch gewissen dieser Zeiterscheinungen näher stand als er, eine Verschiedenheit der Distanz, die teils vom Altersunterschied, teils von Verschiedenheiten des Charakters bedingt wurde. Rahel konnte Goethe mit all dem für eine oberflächliche Anschauung Widerspruchsvollem in Einklang bringen, weil sie so tief in Goethe eindrang, daß sie begriff, daß er den Zeitbewegungen – z. B. dem nationalen Sammlungsgedanken und den sozialen Reformforderungen – nicht feindlich gegenüber stand, sondern daß er sie von einer hohem Warte sah als der der Zeitmeinung.
So auch mit Goethes Lebensanschauung. Während die Romantik in ihrer »Glaubensliebhaberei« – der nach Rahels Meinung die Stille, Keuschheit, Begeisterung, Ehrfurcht fehlte und die nur ein ästhetischer Zeitvertreib war – Goethes Frömmigkeit übersieht, hat Rahel das innigste Verständnis dafür. Im Zusammenhang mit Spinoza – den sie liebt, »weil er den schönen Charakter des Denkers hat, weil er ehrlich, unpersönlich, mild, still ist« – kommt sie z. B. zu Fausts Antwort auf Gretchens Frage nach seiner Religion. Rahel nennt diese Antwort » das schönste Gebet«. » Und wieviele Gebete«, fährt sie fort, » sind nicht durch die Seele gezogen, die diese Antwort gibt!«
Ich möchte die Menschen in drei Gruppen einteilen: die welche »goethereif« sind, die, welche es noch nicht sind und die, welche es niemals werden. Man hat dieses Wort Auerbach zugeschrieben. Aber es hat – nach dem, was mir Frau Professor Furtwaengler gesagt hat – seinen Ursprung von ihrer Mutter, Frau Dorn, die es in einem Kreise aussprach, wo Auerbach anwesend war. Er war so entzückt über das Wort, daß er bat, es adoptieren zu dürfen; und so hat es sich allgemein verbreitet. Rahel kann man im vollsten Sinne des Wortes goethereif nennen: nicht nur weil sie ihn am tiefsten verstand, sondern weil sie ganz in seinem Geist lebte – was man von seinen romantischen Bewunderern und Bewunderinnen nicht sagen kann!! Ihre Lebensweisheit – z. B. in den Worten, » die Gegenwart fühlen und sich mit ihr abgeben können, das ist Lebenstalent« – ist ein goldiger Honigtropfen aus Goethes Bienenstock. Rahel riet einem Betrübten, Wilhelm Meister zu lesen » so wie andere die Bibel lesen«. Und gerade weil Rahel selbst Goethe so las, fand sie mehr in ihm als irgend ein anderer. Wie Goethe ihr Wesen durchdrang, zeigt sich in der Art, wie sie ihn zitiert. In jeder Stimmung – der Trauer oder des Jubels – ist er ihr Meister, ihr Führer, ihr Orakel Sie liest ihn in den Jugendjahren und auf dem Totenbett: das letzte, was sie las und schrieb, war von Goethe und über ihn. Das Goetheverständnis zu fördern, hält sie für ihre Lebensaufgabe.
Als Frau von Wolzogen Rahel erzählte, daß ihre Aussprüche über Goethe ihm, der soviel mißverstanden wurde, außerordentlich wohlgetan, fühlte Rahel sich tief dankbar, daß sie ihm eine Freude machen konnte, diesem » König der Deutschen, der Blinden, Unglücklichen, die ein Jahrhundert nach seinem Tode erwachen werden.«
Gleichzeitig spricht Rahel die rührenden Worte aus, die man von ihr als wahr empfindet: »
Wüßte sie jemanden, der ihn mehr lieben, ehren, bewundern, anbeten, ihn besser verstehen, richtiger jedes Wort, jedes Silbe, jedes Ach deuten könnte, der im selben Grade wie sie immer mit ihm einverstanden und zufrieden wäre – dann wolle sie, Rahel, ewig ungekannt von Goethe bleiben und ihm den zuschieben«. Ja, sie versichert, »
gäbe es eine Kaiserin, die so für seine Verehrung geboren wäre, fast wollte ich ihr mein Herz und meine Einsicht geben, leihen gewiß oft.«
»Mein Leben ist an seine Adresse gelangt: daß dieser Mann erlebt von seinen Zeitgenossen, daß er vergöttert, anerkannt, studiert, begriffen, mit dem einsichtigen Herzen geliebt würde, war der Gipfel aller meiner Erdenwünsche und Kommission. Dieser vollständige Mensch, dieser Repräsentant, der alle anderen in sich trägt und so mächtig ist, sie uns zu zeigen. Dieser Priester, dieser wahrhaft Gesandte! Dieser sagt nun befriedigt selbst: er sei verstanden. Das heißt geliebt, geliebt mit einer Liebe, die er nur verschaffen konnte. Dies habe ich ihm verschafft. «
Rahel hat das Recht zu dieser stolzen Gewißheit. Es ist bemerkenswert, daß Emerson das Wort »repräsentative men« ganz im selben Sinne gebraucht, wie Rahel hier von Goethe. Aber während Emerson Goethe nur im eingeschränkten Sinne repräsentativ macht, tut Rahel es uneingeschränkt, und sie zeigt so, daß sie Goethe viel tiefer erfaßt hat.
Es war Rahel eine unaussprechliche Freude, als sie (in »Wahrheit und Dichtung«) sah, wie tief sie Goethe aus seinen Werken verstanden hatte. Denn sie hatte schon aus seinen Werken gewußt, daß sein Leben voll von » großen Drangsalen« gewesen sein mußte; und zu der lächerlichen Mythe von dem olympisch kalten und klaren Goethe hat Rahel nicht mit einer Silbe beigetragen. Eine von Rahels tiefsten Aussprüchen über Goethe ist ihre Bemerkung, daß Goethe mit Wilhelm Meister einen zweiten Don Quichote geschaffen; daß Goethe und Cervantes, weil sie mit reinen Augen sahen, die Verteidiger des Menschengeschlechtes geworden sind. Durch Torheiten und Irrsale hindurch zeigen sie ihrer beiden Helden » eigentliche Gestalt und tiefste Seele«: die reinste, edelste, ehrlichste Seele, während die Welt beide Narren nennt.
In dem Grade, in dem ein Mensch Goethe liebte, war er Rahels Freund. Und wenn ein ihr sympathischer Mensch es nicht schon tat, hatte sie keinen lebhafteren Wunsch, als daß dieser Mensch Goethe kennen und bewundern lernen sollte. Wenn z. B. ein Goethebewunderer Rahels Bekanntschaft zu machen wünscht, läßt sie ihm sagen, er möge wie zu einer alten Bekannten kommen. Denn Goethe war » der Vereinigungspunkt für alles was Mensch heißen kann und will«. Als Prinz Louis Ferdinand Goethe in Weimar getroffen, schrieb er an Rahel, er wüßte, daß er nun für sie »unter Brüdern dreitausend Taler mehr wert war«. Und Rahel freut sich ihrerseits darüber, daß » der menschlichste Prinz seiner Zeit« den größten Dichter schätzen gelernt. Als der junge Heine Rahels Freund wurde, erkundigte sie sich, wie es mit seiner Goethereligion stehe, und bald kann er versichern, daß er nicht mehr »ein blinder Heide, sondern ein sehender ist«
Ueberhaupt empfiehlt Rahel jedem bildbaren jungen Menschen Goethe als den großen Erzieher des Jahrhunderts in echter Bildung. Und sie versäumt keinen Anlaß, um auszurufen: » Es lebe Goethe ewig und bei aller Gelegenheit«.
Als ihr Freund, der schon erwähnte Custine behauptet, sie gehe in ihrer Goethebewunderung so weit, daß sie ihre sonst charakteristischeste Eigenschaft, ihre Unabhängigkeit, verliere, antwortet sie: er irre sich, dem Genie gegenüber sei sie niemals unabhängig, das habe absolute Macht über sie. Ja, sie sieht es gerade als ihr geistiges Glück an, das Gute und Große mit dieser tiefen leidenschaftlichen » Verehrung mit deutlichem Bewußtsein« lieben zu können.
Sie leidet unter jedem Wort gegen Goethe; und als Custine z. B. in einem Briefe einige mißbilligende Urteile ausgesprochen hatte, schickt ihm Rahel den Brief mit der Bemerkung zurück, daß sie keinen Tadel gegen Goethe bei sich behalten könne!
Rahel kann in Wahrheit von Goethe sagen: daß sie der Mensch war, der ihn immer angebetet, vergöttert haben würde, auch wenn es keinen anderen Menschen gegeben hätte, der ihn rühmte, verstand und bewunderte!
Sie hat sich so vollkommen in Goethe eingelebt, daß andere deutsche Dichter ihr neben ihm mehr oder weniger überflüssig erscheinen. Sie findet z. B. so wie Nietzsche, daß Schiller neben Goethe verblaßt.
Nachdem sie bewundernd über Schiller gesprochen, fährt sie fort: »Aber da kommt Goethe mit seiner Macht, seinen Zielen, seiner Vollendung und Vorstellung, Denken, Reife, Vollendung und Gewalt des Ausdrucks, kampfgekämpfter Weisheit, beschauender, überschauender Melancholie, weiser, ausgerungener Heiterkeit, mit seiner vue d'oiseau, mit seinem Sternenblick, mit der Götterbrust, an der man nicht allein ruht, sondern Ruhe findet – und allen anderen Dichtem fehlt etwas: – Großes.«
In vorgerücktem Alter schreibt Rahel über eine erste Vorstellung des Tasso:
»Meine Wonne! Es mußten achthundert Menschen Goethes Götterworte hören und in die Seele einnehmen ... Gott, wie verabgöttere ich den immer von neuem: Wie weint' ich im Tasso bei jeder Stelle wie der Souffleur im ›Meister‹: aus Schönheit.«
Rahels viele zentrale Urteile über Goethes Werke zu zitieren, würde mich hier zu weit führen. Ich begnüge mich damit, zu erinnern, welche grundwesentliche Wahrheit sie mit den Worten ausspricht: Die alten Dichter kannten nur die Frau, die Gattin, die Mutter, die Schwester, während Goethe der neue, der moderne Dichter ist, weil er die Frauen kennt, weil er den Individuen ins Herz gesehen und da jeden Winkel und jede Ecke entdeckt hat.
Wie tief sind nicht Rahels Worte, daß, ob nun Goethe es absichtlich oder nicht getan, es die Anschauung eines großen Dichters ist, daß er im Wilhelm Meister die drei Frauen, die lieben können – Marianne, Aurelie und Mignon – sterben läßt; denn » es ist noch keine Anstalt für solche da«. Und in bezug auf Goethes Menschenkenntnis im ganzen sagt sie:
»... Wie er denn überhaupt oft gehorcht haben muß und das Vertrauen aller Arten von Menschen muß zu besitzen gewußt haben, neben seinem einzigen Sehen.«
Noch 1827 schreibt Rahel an Varnhagen über Goethe: »Grüße den Gott«! Wenn andere sich erkühnen, an ihn zu rühren, ihn herabzusetzen, gerade dann, sagt sie, »sehe ich, daß er ein Gott ist: Von Gaben, Größe, Beherrschung, Harmonie, Fülle, Weisheit und ewigem Wachstum.
* * *
Rahels Gefühl für Goethe war eine tiefe geistige Liebe ohne den geringsten Zusatz von Verliebtheit, ohne einen Schimmer des gewöhnlichen weiblichen Interesses für einen großen Mann, des Interesses, das darauf ausgeht, ihn für sie selbst zu interessieren!
Rahel begegnete Goethe zum erstenmal 1795 in Karlsbad. Sie nannte es freilich » Wunder und Glück«, daß der Zufall sie mit Goethe zusammenführte, aber sie fühlte, daß darin auch eine Notwendigkeit lag, daß gewisse Menschen zusammenkommen müssen. Selbst unmittelbar ein Zusammentreffen zu suchen, wenn auch nur schriftlich, davon hatte sie ihre Ehrfurcht abgehalten, wohl auch die Abneigung, in irgend einer Hinsicht mit den vielen Frauen, die jene Anbetung spielten, die bei Rahel der tiefste Ernst war, in einen Topf geworfen zu werden. Rahel schrieb über dieses Zusammentreffen folgende ebenso rührende wie tiefe Worte:
»Ich denke mir immer: gute Wünsche, von den wahr innigen, von denen man so denkt, sie mäßen die Sterne herabziehen, müßten auch was zustande bringen können. War das nicht eigentlich das größte Recht, daß ich Goethe sah? ...
* * *
Weniger hat mich das Vollgefühl, ihn zu sehen und zu genießen, beglücken können als der Gedanke: nun bist du auch einmal glücklich, du hast doch auch Glück, so ist das lange Leben doch in einem Punkt für dich. Denn es ist schrecklich, sich für die einzige in allem verunglückte Kreatur halten zu müssen; das tat ich, denn außerdem ist mir meines Wissens nie etwas geglückt ...«
Goethe sprach zu einigen von Rahels Freunden eine Anerkennung Rahels aus, die zeigt, wie er trotz ihrer Unfähigkeit, sich selbst zur Geltung zu bringen, wenn sie tief ergriffen war, ihr Wesen durchdrungen hatte.
»Sie ist ein Mädchen von außerordentlichem Verstand, die immer denkt, und von Empfindungen – wo findet man das? Es ist etwas Seltenes. O, wir waren auch beständig zusammen, wir haben sehr freundschaftlich und vertraulich miteinander gelebt ... Es ist ein liebevolles Mädchen: sie ist stark in jeder ihrer Empfindungen und doch leicht in jeder Aeußerung; jenes gibt ihr eine hohe Bedeutung, dies macht sie angenehm; jenes macht, daß wir an ihr die große Originalität bewundern und dies, daß diese Originalität liebenswürdig ist, daß sie uns gefällt. Es ist nicht zu leugnen, es gibt viele, wenigstens original scheinende Menschen in der Welt: aber was sichert dafür, daß es nicht bloßer Schein ist? Daß das, was wir für Eingebungen eines höheren Geistes zu halten geneigt sind, nicht bloß Wirkung einer vorübergehenden Laune ist? – Nicht so ist es bei ihr; sie ist – soweit ich sie kenne – in jedem Augenblick sich gleich, immer in einer eigenen Art bewegt und doch ruhig – kurz, sie ist was ich eine schöne Seele nennen möchte; man fühlt sich, je näher man sie kennen lernt, desto mehr angezogen und lieblich gehalten.«
Später nennt Goethe Rahel »eine merkwürdig auffassende, vereinende, nachhelfende Natur ... Sie urteilt nicht, sie hat den Gegenstand, und insofern sie ihn nicht besitzt geht er sie nicht an.«
Diese Aeußerung wurde gefällt als Varnhagen seine und Rahels Aussprüche über Goethe in den aneinander gerichteten Briefen anonym an Goethe gesandt hatte.
Als sie dies erfuhr, schrieb sie: so wenig sie sonst suchte, sich geltend zu machen oder Beifall zu gewinnen, dies habe ihr doch wahrhafte Freude bereitet.
... »Meine wirklich namenlose Liebe und bewundernde Verehrung dem herrlichsten Mann und Menschen einmal zu Füßen legen zu können, war der geheime stille Wunsch meines ganzen Lebens, seiner Dauer und seiner Intensität nach. In einer Sache bin ich meinem tiefsten Innersten gefolgt, mich von Goethe scheu zurückzuhalten. Gott, wie recht war es! Wie keusch, wie unentweiht, wie durch ein ganzes unseliges Leben durch bewahrt, könnt' ich ihm nun die Adoration in meinem Herzen zeigen.«
Und, nachdem sie gesagt, daß diese »Adoration« alles in ihrem Dasein durchdringt, daß fast jedes ihrer geschriebenen Worte sie enthält, hofft sie, daß Goethe ihr nun selbst diese Zurückgezogenheit zum Guten anrechnen wird, weil er einsehen muß, wie schwer es ist. »solch liebende Bewunderung schweigend ein ganzes Leben durch in sich zu verhehlen«.
Es ist von großem Interesse, wie Goethe über die ihm unbekannten Brief Schreiber urteilt: daß der eine (Varnhagen) das rezeptive, der andere (Rahel) das produktive Temperament hat. Beide sehen dies selbst ein, und Varnhagen – dessen Stärke wie dessen Schwächen von weiblicher Art waren – fühlte sich durch Rahel ergänzt, denn ihr Charakter besaß jene Einheit von männlichem und weiblichem Wesen, wie sie das Genie auszeichnet.
Beide empfanden Goethes Sympathie für ihr Bündnis als eine Weihe desselben. Ja, Rahel schrieb, daß nichts ihr besser beweisen könne, daß Varnhagen sie liebe, als daß auch er Goethe liebte. Denn, fährt sie fort, » man kann nicht lieben, ohne Goethe zu lieben: er ist das Ideal, durch wirkliche Mittel dargestellt: das Leben selbst.«
Und Varnhagen schreibt wieder, daß er Rahel in Goethes Schriften ebenso sehr begegnet wie in ihren eigenen Briefen. Denn in den ersterern findet er »dieselbe rein schauende, tüchtige, wahrhafte Natur, alles zunächst real, dann aber auch lieblich und überschwenglich idealisch«. Er trifft den Mittelpunkt von Rahels geistiger Verwandtschaft mit Goethe, wenn er sagt, daß sie ihn gelehrt hat, »alle Zeit in die Gewallt der Gegenwart zu bringen« und einzusehen, daß diese Gegenwart »gerade so mächtig, so reizend ist, weil sie eben ist.«
Zwanzig Jahre verstrichen, ehe Rahel Goethe das nächstemal sah, bei ihrem Aufenthalt in Frankfurt 1815.
Brandes hat mit großer Feinheit hervorgehoben, wie Rahel unbewußt ihr ganzes, großes, reines, demütiges Gefühl für Goethe charakterisiert, wenn sie – die wußte, daß Goethe in der Gerbermühle war – ihn nicht aufsuchte, weil sie sich ihm nicht aufdrängen wollte: » Ich habe unendliches von ihm gehabt, er nichts von mir.«
Aber der Zufall kam ihr zu Hilfe, so daß ein Zusammentreffen sich natürlich ergab, so wie sie es gewünscht hatte. Eines Tages, als Goethe zu einem der Lieblingsplätzchen seiner Jugend wallfahrtete, sah Rahel ihn vorbeifahren, und rief aus: » Da ist Goethe!« Sie schildert, wie sie zuerst purpurrot, dann bleich wurde, wie alle ihre Glieder eine halbe Stunde zitterten, wie sie fühlte, daß sie ihre Augen liebte, die ihn gesehen hatten!
So erfuhr Goethe, der Rahel auch erkannte hatte, daß sie in der Gegend war, und drei Tage später machte er ihr einen Besuch. Sie kleidete sich gerade an. » Mich opfernd, um ihn nicht einen Moment warten zu lassen,« eilte sie in ihrem Morgenrock hinunter. Später bereute sie bitter, daß sie diesem Impuls gefolgt war, denn das Bewußtsein ihres Negligés, ihrer »Ungrazie«, machte sie noch befangener, so daß sie – wie bei ihrer früheren Begegnung – ihm gar nicht die Freude zeigen konnte, die sie empfand.
So geht es, fährt sie fort, wenn man nach »so langjähriger Liebe und Leben und Beten« endlich einen Augenblick hat Sie fühlte, daß seine bloße Gegenwart ihr den Ritterschlag erteilte, ja kein olympischer Gott hätte sie durch seinen Besuch mehr ehren können. Und nachdem er gegangen, kleidete sie sich sehr schön an, um ihr Selbstbewußtsein zum Ausdruck zu bringen. »Denn«, sagt sie, »wie einst Prinz Louis habe ich jetzt das Gefühl »unter Brüdern zehntausend Taler mehr wert zu sein: Goethe war bei mir.«
Wer nach dieser Schilderung Rahels Gefühl für Goethe mit dem irgend eines anderen Zeitgenossen vergleichen kann, der weiß weder was Gefühl, noch was Rahel noch was Goethe ist!!
Zehn Jahre später sah Rahel Goethe zum letztenmal, als sie und Varnhagen ihn 1825 auf einer Reise in Weimar besuchten und in seinem Hause einen ganzen, inhaltsreichen Abend verbrachten. Als Rahel den Besuch schildert – und zuerst einige mädchenhafte Ausdrücke ihrer Bewunderung einflicht – schließt sie mit den Worten:
»Uebrigens fließt er wahr und wahrhaftig in meinem Blut.«
Keiner von Rahels Zeitgenossen und kein ihr nachfolgender Goetheanbeter konnte mit vollerer Wahrheit diese Worte sagen, die bei Rahel nicht größer waren als die lebenslängliche Treue und Liebe, die sie ausdrückten.
Was Gentz von Rahel und von der Romantik sagt: »Sie sind die Romantik selbst, Sie waren es, ehe das Wort erfunden wurde« – dasselbe kann man noch zutreffender von Rahels Goethekult sagen.
Von Rahels eigenem, innerstem Wesen wurde ihre Wahlverwandtschaft mit Goethe und mit der Romantik bestimmt, soweit diese letztere mit der Renaissance zusammenfiel, deren Inbegriff Goethe ist.
Individualismus in der Kunst, in der Religion, im Leben – das war der Inhalt dieser Renaissance. Ja, dieser Zug ist so entscheidend, daß Lamprecht mit gutem Grund für diesen neuen Seelenzustand das Wort Subjektivismus als vollständiger bezeichnend gewählt hat.
Mit Werther, Götz, Stella beginnt Goethe jenen Kampf des Individuums gegen die ethischen und ästhetischen Konventionen, den die Romantik, den Jung-Deutschland, den alle sogenannten revolutionären Geister in allen Ländern bis zum heutigen Tage fortgeführt haben. Einen unbedingteren Anhänger unter den Zeitgenossen als Rahel hatte keiner der Kämpfenden. Noch heute ist Rahel vor allem durch ihren Subjektivismus unsere Zeitgenossin!
Gegen jene, die heute versuchen, Goethe zu einem christlichen Moralisten zu stempeln, hat man nicht nur unzählige unmittelbare Beweise aus seinem eigenen Leben und seinen Schriften, man hat auch Massen von mittelbaren Beweisen. Und darunter wenig überzeugendere als Rahel, die nie einen Widerspruch zwischen seiner und ihrer Ethik fand. Die Losung für sein sittliches Handeln, die der junge Goethe schon in einem Brief an Lavater gab: »Alle Deine Ideale sollen mich nicht irre führen, wahr zu sein und gut und böse wie die Natur« – dieser Losung wurde Goethe niemals untreu, er vertiefte nur ihren Inhalt. Und wie aus dem kleinen gefiederten Samen in tausend Jahren ein Wald entsteht, so ist der ganze Individualismus der neuen Zeit – sogar Nietzsches Umwertung der ethischen Werte – aus der Grundanschauung erwachsen, die in Goethes eben angeführten Jugendworten liegt. Rahel ist vor allem nach dieser Richtung diejenige von Goethes Zeitgenossen, die für ihn das tiefste Verständnis hat.
Rahel empfand die lebhafteste »Satisfaktion«, als sie in Goethes Werken Recht in ihrem Kampf gegen die Welt erhielt, ihrem Streben, zur Wesentlichkeit vorzudringen, ihrer Leidenschaft für jene Werte, die andere Hirngespinste nannten. Bei ihm stärkt sie ihre eigene Ueberzeugung, daß es vor allem darauf ankommt, etwas zu sein und daß dies nur sehr langsam geschieht, daß man »sich damit nicht übereilen soll, etwas zu sein.« Von Goethe hat sie die Weisheit gelernt, die sie selbst einem Freunde beibrachte: nachdem man sein wirkliches Selbst entdeckt hat, muß man zuerst den Boden seiner Seele aufpflügen, ihn dann langsam und von selbst wieder fest werden lassen und schließlich – durch »Unwetter und Schönwetter« – fruchtbringend. Das Werk Goethes, das Rahel am meisten las, Wilhelm Meister, ist ein einziges großes Handbuch dieses Ackerbaus der Seele.
Rahel hat es ohne Zweifel Goethe zu verdanken, daß sie nicht in Disharmonie mit dem Dasein blieb, sondern sich zu jener geklärten Lebensliebe durchrang, die die edelste Frucht des Leids ist Sie, die glaubte, daß es ihr Schicksal sei, sich an ihrem Judentum zu verbluten, sie, die nach Goethes Urteil »stärkere Empfindungen hatte«, als er bei irgend jemand anderem beobachtet und »zugleich die Kraft, sie in jedem Augenblick zu unterdrücken« – wie vergrämt, wie versunken in die Dunkelheit ihres Schicksals hätte Rahel nicht werden können, wenn ihre Brust nicht durch die Luft befreit worden wäre, die sie in Goethes Welt atmete.
»Was ich nicht bekommen habe, kann ich vergessen, was mir aber geschehen ist, kann ich nicht vergessen; behüt Gott jeden, dies zu verstehen! «
Das schrieb Rahel 1799 und ihr Lebenlang wandert sie sich mit Goethe, daß so viel Mögliches den Menschen versagt sei.
Allmählich lernt Rahel vor dem Schmerzlichsten in ihrem Leben und im Menschenleben zu resignieren: daß wir wie Blüten vom großen unbekannten Wind abfallen, daß »das zerstreute Schicksal« uns nicht abgefordert, was wir hätten leisten können.
Bei dieser Resignation hat sie die größte Hilfe von Goethe empfangen. Durch Goethe ward sie zum zweitenmal geboren, geboren zu dem Reich, wo man nicht nach Jude oder Christ, nach Weib oder Mann, nach Diener oder Freiem fragt: dem Reich des heiligen Geistes. Brandes sagt mit tiefer Wahrheit: es war das unterirdische Geheimnis der Zeit, daß Goethes Weltanschauung Punkt für Punkt die kirchliche verdrängte; daß Goethes Lebensansicht sich aller großen Instinkte und wirklichen Begabungen bemächtigte; daß System und Autorität der Originalität und Individualität zu weichen begann.
Und Rahel war durch ihre Persönlichkeit zur Prophetin dieser neuen Weltanschauung berufen. Denn sie besaß – wie Goethe selbst – die Eigenschaften, ohne die Originalität und Individualismus nicht aufbauend, sondern zerstörend werden: Wahrheit und Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit und Menschenliebe.