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Das Folgende ist keine literarhistorische Studie; ich habe keine neuen Quellen aufgesucht und kein Gewicht auf die Buchstabentreue der Quellen gelegt, die ich verwendet habe.
Eine solche Arbeit hat weder in meiner Absicht gelegen, noch war sie im Umfange dieser Schrift durchführbar.
Meine Absicht war vielmehr, ein Bild der größten Frau zu geben, die das Judentum hervorgebracht hat, für mich zugleich die größte Frau, die Deutschland seine Tochter nennen kann.
Dieses Vorhaben kann trotz einer Menge Arbeiten über Rahel nicht überflüssig genannt werden: von zehn gebildeten Deutschen, mit denen man über Rahel spricht, kennen fünf sie gar nicht, vier hatten etwas über sie gehört und nur einer sie wirklich erlebt!
Meine Beschäftigung mit Rahel ist nicht neuen Datums. Ich war ein Kind, als ich zum erstenmal von einigen Worten über sie gefesselt wurde; ganz jung las ich in der Revue des deux mondes zwei Essays von Blaze-Bury und von Karl Hillebrand über sie. Später lebte ich in »Rahel, ein Buch des Andenkens«. Schon vor zwanzig Jahren schrieb ich für eine schwedische Revue meinen ersten Essay über sie, den ich »Rahel, eine Persönlichkeit« nannte. Einige Teile dieses kleinen Essays sind in dieses Buch aufgenommen. Denn es gibt keinen Gesichtspunkt, den ich damals Rahel gegenüber einnahm, der nicht in diesem Buche – allerdings weiterentwickelt – wiederkehrte.
Ich habe hier die Darstellung ausschließlich auf Rahel selbst konzentriert. Wer ein ausführlicheres Bild von Rahels Zeit und Zeitgenossen wünscht, sei auf O. Berdrows großes, gewissenhaftes und liebevolles Werk »Rahel Varnhagen« verwiesen.
Ferner habe ich Rahel, so weit als möglich, durch ihre eigenen Worte gezeichnet. Diese sind hier teils unmittelbar, teils mittelbar angeführt, teils nur in ihren Grundgedanken wiedergegeben. Nur so war die Konzentration möglich, die der Umfang dieser Schrift erfordert hat. Ebenso werden die Briefe nicht immer in der Zeitfolge angeführt, sondern ein früherer kann später kommen und umgekehrt, sowie ein Stück eines Briefes an einer Stelle und ein anderes Stück an anderer, d. h. wo der chronologische Zusammenhang bedeutungslos war, aber es von Wichtigkeit erschien, den psychologischen zu betonen. Auch glaube ich, daß Rahels Gedankengang in gewissen Fällen durch die freien Referate klarer geworden ist, so wie hier und dort eine unbedeutende Interpunktionsänderung das Verständnis der direkten Zitate erleichtert hat. Diese Freiheiten, der wissenschaftlichen Literaturgeschichte nicht gestattet, sind bei der Porträtskizze ebenso erlaubt wie die Freiheiten, die ein Maler sich nimmt, um bei dem Modell, von dem er ein charakteristisches Bild geben will, das Wesentliche zu betonen und das Zufällige auszuscheiden.
Ob es mir gelungen ist, ein solches Bild zu geben, darüber werden natürlich die Meinungen verschieden sein. Meine Hoffnung, das Charakteristische an Rahels Persönlichkeit einigermaßen erfaßt zu haben, stützt sich ausschließlich auf die Liebe, die ich für sie empfinde. Denn eine tiefe Liebe ist ein Pfadfinder, wenn es sich darum handelt, in das Wesen oder das Werk eines Menschen einzudringen, sei es, daß dieser Mensch noch mit uns auf den Wegen wandelt, die man die des Lebens nennt, sei's daß er als einer jener Toten, die ewig leben, auf uns gewirkt hat.
Jedesmal, wenn ich zu Rahel zurückkehrte, ist meine Liebe zu ihr gewachsen. Immer klarer habe ich die Wahrheit von Brandes' Urteil erkannt, daß Rahel »das erste große und moderne Weib im deutschen Kulturleben ist«, immer überzeugter teile ich die Ansicht von Hillebrand, daß Rahel als Weib und Goethe als Mann im gleichen Grade typisch für ihre Zeit sind. Aber neben dieser meiner Erkenntnis von Rahels objektiver Bedeutung ist ihr subjektiver Wert für mich immer größer geworden. Es gibt außer E. B. Brownings Werken kein Frauenbuch in der Weltliteratur, das ich schwerer entbehren könnte als Rahels Briefe.
Indem ich so meinen »Mangel an Objektivität« eingestehe und dazu meine Ueberzeugung, daß dieser Mangel das wesentliche Verdienst dieser kleinen Schrift ist, lasse ich sie jetzt in die deutsche Lesewelt hinausziehen, in der Hoffnung, daß Rahel noch ihre Macht als Seelenführerin und Herzenströsterin zeigen wird.
Florenz, im Oktober 1907.
Diese neue Auflage ist dem Inhalt nach unverändert. Die Jahre, die verflossen sind, haben an meiner persönlichen Auffassung Rahels nichts geändert, und es ist auch, soviel ich weiß kein neuer Stoff hinzugekommen, der ihr Bild in irgend einer wesentlichen Hinsicht modifizieren würde.
Für mich ist dieses Bild kürzlich durch ein schwedisches Werk noch bekräftigt worden, Frau M. Silfverstolpes Memoiren, von denen der vierte und letzte Teil jetzt erschienen ist. Sie schildert darin ihren Aufenthalt in Deutschland – namentlich in Berlin – in den Jahren 1825–26. Als Freundin Amalie Imhoff-Helvigs kam sie oft in deren Haus oder auch bei ihnen selbst mit Rahel und Bettina in Berührung. Frau Silfverstolpe – damals eine ältere, fein gebildete seelenvolle, enthusiastische Aristokratin – war anfangs viel mehr von Bettina geblendet und bezaubert als von Rahel. Bettina nimmt unvergleichlich mehr Raum in den Memoiren ein als Rahel. Sie spricht da viel von sich selbst, von Goethe, und von Goethe und sich selbst. Aber allmählich verliert Bettina und gewinnt Rahel in Frau Silfverstolpes Sympathie. Und gegen das Ende hat man das Gefühl, daß es Frau Silfverstolpe so ergangen ist wie Rahel selbst: beide haben für Bettina große Bewunderung, aber kein rechtes Vertrauen zu ihr.
Frau Silfverstolpes erstes Urteil über Rahel ist, daß sie klug und denkend scheint, daß die Gespräche in ihrem Hause immer belebt und inhaltsreich sind. Dann steigern sich die Lobesworte, denn »je mehr man Frau Varnhagen sieht, desto mehr gewinnt sie«, sie ist so fein und gebildet, so witzig und ehrlich, so verständig und verständnisvoll! Zwischen dem Ehepaar Varnhagen war das Zusammenleben ein gutes, während Frau Silfverstolpe meint, daß Bettinas Mann und Kinder von der originellen und bezaubernden Bettina, »deren ganzes Herz im Kopf, in der Phantasie sitzt«, nicht das erhalten, was ihnen gebührt. Das innige Gefühl, mit dem Rahel von ihrem Manne sprach, machte hingegen auf Frau Silfverstolpe den Eindruck vollendeter Echtheit. »Das Ehepaar Varnhagen«, schreibt sie, »scheint mir das allgemeine Weltgetriebe aus einer kleinen geschlossenen Proszeniumsloge zu betrachten und mit feinen witzigen Bemerkungen zu glossieren.« Immer häufiger bemerkt sie, wie gut und mit welchem Maß Rahel spricht. Tieferen Einblick in Rahels Leben erhält Frau Silfverstolpe nicht, während Bettina sich rückhaltlos gibt, und in Frau Silfverstolpe die intelligente Zuhörerin geschätzt zu haben scheint.
Ich teile dies mit, weil es mir lieb ist, dass eine Landsmännin persönlich ähnliche Eindrücke von Rahel und von Bettina empfing wie ich sie erhalten habe: von Bettina als eines prachtvoll strahlenden Feuerwerks, von Rahel als eines still glühenden Feuers.
Weil sie so war, kann sie Generation für Generation nicht nur von ihrem Lichte, sondern auch von ihrer Wärme geben.
Dass dieses kleine Buch auch weiter Menschen zu Rahel selbst führen möge, ist meine innige Hoffnung.
Strand, Alvastra, 25. März 1912.