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Wir modernen Menschen haben bei unserer vielseitigen Tätigkeit, unserer von der Konkurrenz fieberhaft gehetzten Arbeit das Gefühl, daß uns etwas fehlt; etwas, das wir mehr oder weniger bewußt entbehren und das wir »Zeit zum Leben« zu nennen pflegen. Man könnte ein Buch über diesen inhaltsreichen Ausdruck schreiben. Hier sehe ich diese Klage nur von einer Seite an: von jenem Teil des Lebens, der das Gesellschaftsleben ist.
Wir sind alle darüber einig, daß wir jetzt kein Gesellschaftsleben im alten Sinn des Wortes haben. Wir treffen uns bei allerlei Zusammenkünften, aber wir sind selten wirklich beisammen. Wir gehen meistens nachhause, ohne etwas ausgetauscht zu haben, das uns gegenseitig unserem wirklichen Wesen oder überhaupt der Wirklichkeit nach irgend einer Richtung hin nähergebracht hat. Anstatt des Gefühls geistiger Bereicherung und behaglicher Ruhe, die eine geschlossene Gesellschaft hinterlassen sollte, bringen wir in den meisten Fällen den Eindruck eines Verlustes heim.
Wer trägt die Schuld? Die Männer, sagen die Frauen. Die sind im Rauchzimmer und beim Glase gegeneinander mitteilsam, aber haben keinen Sinn für die seelenvollen, zugleich feinen und vertraulichen Gespräche mit Frauen. Aber können wohl wirklich die Männer die Schuld an allem Bösen hier auf Erden tragen? Was namentlich das Gesellschaftsleben betrifft, so ist es ja eine so allgemeine Wahrheit, daß ihre Wiederholung banal klingt, daß die Frau das Gesellschaftsleben gestaltet und ihm Ton und Inhalt gibt. Könnte nicht möglicherweise eine der Ursachen des Mißverhältnisses zwischen dem, was das Gesellschaftsleben ist, und was es sein sollte, in der für unsere Zeit neuen Einrichtung zu suchen sein, daß nicht nur die Männer angestrengt arbeiten, angestrengter als früher, sondern daß auch viele Frauen arbeiten, so daß auch sie müde und präokkupiert in jene Gesellschaften kommen, in denen sie früher die belebende Kraft waren? Können die Männer heute an starken persönlichen Eindrücken, an gedankenweckenden Gesprächen, an gesundheitbringender Freude wirklich mehr von Frauen als von Männern empfangen?
Die Gleichstellung der modernen Frau mit den Männern – was die Last der Arbeitstage betrifft – ist jedoch nicht die einzige Ursache. Es gibt einen tieferliegenden Grund, weshalb das Gesellschaftsleben nicht einmal mehr für die Erquickung – die Rekreation im buchstäblichen Sinne des Wortes – bedeutungsvoll ist, geschweige denn für den Umsatz von Ideen und die Erweiterung des Gesichtskreises. Da das Gesellschaftsleben ein Ausdruck des Lebens selbst ist, der Richtung der Entwicklung, der Irrtümer oder Fortschritte, die sich vollzogen haben, kann man – wenn man einen der modernen Gesellschaftsabende in einem geistig hochstehenden Kreis mit den Bildern vergleicht, die wir von denen Rahels besitzen – den Grundunterschied zwischen der geistigen Physiognomie ihrer und unserer eigenen Zeit finden.
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Man kann sagen, daß in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die geistigen Interessen in Deutschland sich auf die Literatur, das Theater und die übrigen Künste beschränkten, während das politische Leben tot war. Ein Buch, ein Theaterabend, ein Artikel in einer Zeitschrift waren damals große Ereignisse. Goethes Ideal der Bildung war auch das der Zeit. Und dieses Ideal war das höchste. Denn es bedeutete das stete Streben, die größten geistigen Werte mit seiner Persönlichkeit organisch zu verbinden und aus sich selbst den höchstmöglichen geistigen Wert zu schaffen.
In Deutschland, wie eine Generation früher in Frankreich, übten die Frauen während dieser Zeit einen großen Einfluß als Kulturvermittlerinnen aus. Sie schufen keine Kunstwerke, schrieben selten Bücher, systematisierten die Ideen nicht. Aber sie förderten das Verständnis zwischen den verschiedenen Kulturgebieten und die Ausbreitung der Kulturwerte: sie hatten so in der geistigen Welt dieselbe Aufgabe wie die Insekten in der Pflanzenwelt.
Wenn die großen Männer der Zeit von den Frauen sprechen, die in Berlin diesen Einfluß auf das geistige Leben ausübten, so ist es stets eine, der sie alle nicht nur eine vermittelnde, sondern eine inspirierende Mission zuschreiben.
So wie in der Blütezeit Athens das Bild der Aspasia vor uns auftaucht, die selbst nichts schaffend, für Sokrates eine Inspiration zur Weisheit, für Perikles zur Beredsamkeit, für Sophokles zur Dichtung und für Phidias zur Linienschönheit ward, so erblickt man im Leben Berlins hinter Schleiermacher und Humboldt, Fichte und Hegel, den Romantikern und Jung-Deutschland das Bild einer anderen Frau, die dieselbe inspirierende Macht besaß: das Bild Rahels.
Es würde zuweit führen, auch nur einen kleinen Teil all der Aussprüche über Rahel zu zitieren, die das Obengesagte bestätigen.
Schleiermacher, ihr langjähriger Freund, sagt: »Rahel gibt das seltene Phänomen eines menschlichen Wesens, das immer konzentriert ist, immer sich selbst ganz hat«. Alexander v. Humboldt nennt sie seine langgeprüfte Freundin und betont das seltene Phänomen, daß Rahel trotz so vieler Leiden soviel Freude und Sanftmut bewahrt hat, daß sie mit soviel Geist soviel Herz vereinte. Wilhelm v. Humboldt, der sie in ihrer Jugend »erstaunend gescheit und witzig«, ja die unterhaltendste Person in Berlin fand, sagt – nach dem Erscheinen ihrer Briefe – daß er von diesem Buche wie von keinem anderen versichern könne, daß kein toter Buchstabe darin sei; und er bezeugt, daß er Rahel nie persönlich getroffen, ohne daß sie ihm Anregung zu ernstem Nachdenken oder zu einem lebendigen Gefühl gegeben; daß ihre geistige Ausbildung ihr eigenes Werk war, und daß der Umgang mit bedeutenden Männern wenig Einfluß auf sie genommen hat. Denn einerseits hatte sie schon, ehe sie noch in Berührung mit ihnen kam, ihre Grundansichten ausgebildet, andererseits waren ihre Gedanken wie deren Form so originell, daß es unmöglich war, dabei an irgend einen Einfluß von außen zu denken. »Ueberhaupt«, schließt er, »war Wahrheit ein auszeichnender Zug in ihrem intellektuellen und sittlichen Wesen.«
Ranke spricht davon, daß sie den Instinkt einer Pythia hatte. Oelsner nennt sie eine »Seelenergründerin« und zugleich ein herrliches Kind, das in den Wellen der Zeit plätschert, aber ein Kind mit einem Instinkt, der weiter reicht als die Schul- und Weltweisheit aller Männer. Ein anderer hat in einer ihrer Aeußerungen »Gedankenstoff für das ganze Leben« gefunden. Gentz vergleicht Rahels reichen, ewig tätigen und fruchtbaren Geist mit dem männlichen Element, seine eigene grenzenlose Empfindlichkeit mit dem weiblichen, und so gebaren sie zusammen, sagt er, Ideen und Gefühle und Sprachen, die alle ganz unerhört sind. Goethe und Jean Paul, die Romantiker und Jung-Deutschland, alle sind darüber einig, daß Rahel eine Gedanken- und Gefühlstiefe besaß, durch die ein Blitz aus ihrer Seele »weit größere Räume erleuchtet als bogenlange Dissertationen«. Kann wohl irgend etwas Rahels einzige Persönlichkeit besser beweisen? Denn nur einigen wenigen Ausnahmsmenschen war es gegeben, von drei aufeinanderfolgenden Generationen und gegeneinander reagierenden Epochen so gewertet zu werden.
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Rahels erstem, nur durch die Macht ihrer Persönlichkeit geschaffenem Salon gehörten die drei Brüderpaare Schlegel, Humboldt und Tieck an; in noch vertrauterem Grade Schleiermacher, Fichte, J. v. Müller, Gentz, Fouqué, Prinz Louis Ferdinand; eine kürzere Zeit auch Kleist und noch viele andere In- und Ausländer von größerer oder geringerer Berühmtheit. Unter den Ausländern befand sich auch der Prinz von Ligne, ein Meister des Gesellschaftstons des »ancien régime«, jenes Tones, der auch Rahels Ideal für den Verkehr war. Sie fand die Berliner Gesellschaften »grob«; sie waren ihr »ein wahres, ununterbrochenes Leiden«, während de Lignes Lebensart »ein wahrer Wiesenflor, ein Sofa, eine Gondel für die Seele« war. Gerade dies waren Rahels eigene Gesellschaften. Der unmittelbarste Einfluß von Rahels Salon war der, daß ihre Landsleute zu ahnen begannen, wie ein zugleich inhaltsreicher und leichter Gesellschaftston beschaffen sein muß. Selbst sah Rahel ein, daß die deutsche Sprache in bezug auf das Tagesleben noch wenig ausgebildet war, und sie versuchte, die Lebensgeselligkeit in Worten vorzubereiten, von der sie hoffte, daß die Deutschen sie einmal erringen würden. Die Geselligkeit, die Rahel als ein bewußtes, anmutvolles Zusammenwirken zum Genuß und zur Reproduktion all des Besten, was die Menschheit hervorgebracht hat, charakterisiert, nennt sie mit gutem Grund ihr »halbes Leben«, während die damals wie heute gebräuchlichste, inhaltsleere Geselligkeit ihr ein Greuel war. Sie ahnte jedoch nicht, daß eine Zeit mit solcher Leidenschaft für die eigenen Interessen anbrach, daß nichts für jenes Interesse aneinander übrig blieb, das den Salons ihre ethische Bedeutung gab; nichts von der Ruhe, die damals dem Sprechen und Lauschen ihre ästhetische Bedeutung verlieh. Freilich war Rahels Zeit – die Zeit der großen Revolution, Napoleons, der Julirevolution – schon eine bewegtere; sicherlich war der Zeitgeist schon von Napoleons Geist umgestimmt, und der unschöne Kampf um die Macht sollte bald das schöne Streben nach Kultur ablösen. Aber noch wirkte all dies nur so, daß man das Leben voller, reicher an Möglichkeiten empfand, und Rahel konnte hoffen, daß die gesellige Kultur, für die sie wirkte, eine Morgen-, nicht eine Abendröte sei
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Rahel ist eine lebendige Widerlegung des oft gehörten Irrtums, daß der wirklich gute Ton, das echte Gesellschaftstalent darin bestehe, das Individuelle zu einer gewissen Gleichförmigkeit zu verwischen.
Rahel konnte im Gegenteil von sich sagen, daß jedes ihrer geringsten Worte mit ihrer Persönlichkeit zusammenhing.
Und es ist äußerst bezeichnend für Rahel, daß sie den Beifall und die Freude, die sie in einem Badeort erregte, aus der einzigen Ursache erklärte, daß »ich wahrhaft und selbstmeinend bin; das geht bis auf meine Gebärden. Ich bin die einzige, die da meint«. Sie wagte allen zu widersprechen, ohne irgend jemand zu verletzen, weil alle fühlten, daß für Rahel die Sache das Wichtige war, nicht der Eindruck, den sie selber machte.
Und obgleich Rahel natürlich anderen nicht dieselbe reiche Eigenart zutrauen konnte wie die, aus der ihre eigenen scharfsinnigen Beobachtungen, witzigen Einfälle und tiefe Weisheitsworte strömten, traute sie doch allen zu, unterhaltend zu sein, wenn sie nur aufrichtig und selbständig sein wollten, so wie sie es allen gegenüber verblieb. Sie konnte mit Wahrheit sagen, daß, wenn sie mit den höchsten Geistern auf ihren Sternen zusammentraf, sie auf ihren eigenen Wegen hingelangt war.
Rahels Gespräche waren von anderer Art als die der französischen Damen, deren »Salons« berühmt geworden sind. Mit einer derselben, Madame Staël, kam Rahel in persönliche Berührung, und ihr Urteil über Madame Staël ist überaus charakteristisch für sie selbst.
»Verstand hat sie genug, aber keine horchende Seele; nie ist es still in ihr, nie als ob sie allein nachdächte, immer, als ob sie es schon vielen sagte ... Nie wird es Musik; und auch kein Thema hält sie still ...«
Und Rahel bedauert, daß Madame Staël zu all ihren Gaben nicht »eine stille, unschuldige Seelensphäre hat.«
Eben eine solche Seelensphäre umgab Rahel und machte den Kreis, dem sie ihr Gepräge verlieh, sehr verschieden von der französischen Aufklärungszeit, wie auch von der Geselligkeit der deutschen Genieanbetungsperiode. Rahel hatte hinter ihren Worten ein großes Schweigen. »Es gibt ein Farbenspiel in unserer Brust, das so zart ist, daß es, sobald wir es aussprechen sollen, zur Lüge wird ... Diese Scheu hält mich ab, zu sprechen. Eine Empfindung ist schön, solange sie nicht zur Geschichte wird: mit dem Leben selbst ist es so.« Und daraus folgt, daß Rahel, wie natürlich sie auch im Verkehrsleben war, doch ihr Bestes in den Gesprächen mit einem gab. Sie wußte, daß »man nie mit einem Menschen zusammen ist, als wenn man allein mit ihm ist, und sie verstand es, sich mitten in einer Gesellschaft ein solches einsames Beisammensein mit einer Seele zu schaffen. Noch häufiger bereitete sie sich dies neben dem Gesellschaftsleben. Bettina erzählt z.B. von ihren einsamen Abendstunden, wo Rahel durch den »Umgang im Geist«, der ihr eigen war, in einigen Minuten soviel geben konnte. Bettina betont auch, daß das Schönste an Rahels Geist ihr »Eingehen in das Individuelle« war. Dadurch wurde Rahel so »vollkommen gütig, so nachsichtig, wo andere verdammten ... Gerecht sein ist göttliche Kunst«, schließt Bettina, nachdem sie mit einem ihrer glücklichen Einfälle Rahels Eigenart beleuchtet hat: »Rahel konnte noch das Salz in dem schmecken, was andere als die Asche eines verbrannten Lebens verwarfen«. Rahel genoß ihrerseits diese Gespräche mit Bettina, wo sie wie zwei »über der Erde schwebende Menschen« waren, und miteinander tiefe Dinge »über die Menschen, nicht über die Leute« sprachen.
Während andere berühmte Sprecher – wie gerade Madame Staël – am liebsten solche Gesprächsthemen anregten, bei denen sie selbst ihren Höhepunkt erreichen konnten, war Rahel eifrig bestrebt, den Themen auszuweichen, bei denen ihre Ehrlichkeit sie zu einer für manche unangenehmen Aufrichtigkeit gezwungen hätte.
Rahel sagte: »Tadel spar' ich für meine Freunde. Euch werde ich wo es nottut, wahrhaft nicht schonen. Meine Freigeisterei, mein Stolz, meine Verachtung aller geistfesselnden Urteile gehören bloß für die Klügsten und Vertrautesten unter euch; aber jeder gemischten Gesellschaft, die sich bei mir versammelt, bin ich pflichtig, Gutmütigkeit und Anmut umsonst darzubieten – wie Tee und Gefrorenes. Hier ist ja nicht von Tugenden die Rede, sondern von schönen Formen des Umganges . .. Ohne diese kein Witz, keine Freimütigkeit, kein fröhliches Sichgehenlassen.«
Brinckmann, dessen Schilderung von Rahels Kunst des Umganges der eben angeführte und verschiedene andere Züge entnommen sind, schließt:
»So nur konnte es ihr gelingen, ihr, dem anspruchslosen Bürgermädchen, ohne glänzende Verbindungen, ohne den allgültigen Freibrief der Schönheit und ohne bedeutendes Vermögen, doch allmählich einen zahlreichen Gesellschaftskreis um sich zu versammeln, der ohne allen Vergleich der entzückendste und geistreichste war in ganz Berlin. Einen Kreis, in welchen aufgenommen zu werden königliche Prinzen, fremde Gesandten, Künstler, Gelehrte oder Geschäftsmänner ersten Ranges, Gräfinnen und Schauspielerinnen sich gleich eifrig bemühten; und wo jeder nicht mehr Wert, aber auch nicht weniger hatte, als er selbst durch seine gebildete Persönlichkeit geltend zu machen vermochte.
Rahel betonte stark, daß der Verkehr mit Menschen das höchste Bildungsmittel des Menschen ist, eines, das sogar die Bücher übertrifft. »Menschen gehören zusammen,« sagte sie, »um ihre Vernunft betätigen zu können, um zu lieben, um Gerechtigkeit zu üben!«
Freilich war Rahel selbst im letzteren Falle durch persönliche Sympathien bestimmbar – wer ist das nicht? Aber sie hatte die wichtigste Voraussetzung für Gerechtigkeit: daß sie jedem
»alles und jede Eigenschaft« gönnte und daß sie Liebe für
»alles, was fühlt und zu fühlen scheint« empfand. Vor allem besaß sie die Kunst, die sie selbst eine schwere, ja eine
»unlernbare« nennt:
»das Schnellsehen«. Selbst beglückwünscht sie sich zu ihren
»sicheren Augen«, die durch die Zufälligkeit hindurch zur Wesentlichkeit gingen. Sie gibt aber doch zu, daß sie allzu leichtgläubig war. Menschen brauchten nur
»zu weinen und zu wünschen«, damit sie sie auch des Edelmuts, den sie begehrten, für fähig hielt! Aber sonst hat Rahel ihr Recht auf den Lobspruch bewiesen, den sie sich selbst ausstellt: ein
»Virtuos in Herz- und Menschenkenntnis zu sein«.
Bezeichnende Aeußerungen von Rahel sind diese:
»Ich kann dem Strom in mir nicht widerstehen. Was ich auffasse, umfasse ich in dem ganzen Umfang, der für mich da ist, und in meiner ganzen Tiefe, gleich sehr geschwind. So geht's mir immer; daher kommt's, daß ich mit mittelmäßigen Dingen ... so bald fertig werde und hingegen mit besseren nie.«
»In meiner Brust drängen und sterben die Menschen wie auf einem Schlachtfeld, keiner weiß vom andern, jeder muß für sich sterben, sie gehen vorwärts, sie schließen und drängen sich weiter. Da ich den Frieden nicht will, und Menschen gibt's wie Sand am Meer, so trag ich's wie die Erde.«
Fühlte sie sich enttäuscht, war ihr Gefühl erloschen, so verbarg sie es nicht. Sie verlangte von sich selbst nicht, daß alles ewig währte; aber sie gehörte nicht zu jenen, die »kein Gedächtnis im Herzen« haben. Sie war im Gegenteil eine treue Natur, und hatte wie sie selbst sagte, »einen entsetzlichen Vorrat von Herz und Leben«. Sie konnte darum ihre Sympathie, ihr Mitgefühl, auf die verschiedensten Menschen und Schicksale richten. Gegen ihre wirklichen Freunde war sie das, als was sie sich in einem anderen Zusammenhang bezeichnet hat: ein Don Quichotte, eine Bestätigung von E. B. Brownings Aeußerung, daß der fahrende Ritter unter den Frauen häufiger ist als unter den Männern, ja, daß Cervantes, wenn er auch ein Shakespeare gewesen wäre, seinen Don zu einer Donna gemacht hätte.
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Zu Rahels Empfängen kam man schon um fünf Uhr nachmittags, ja, auch früher. Niemand war besonders eingeladen, aber alle fühlten, daß sie willkommen waren, wenn die Hausfrau ihnen mit ruhiger, einfacher Herzlichkeit entgegenkam. Wer sich über den starken Eindruck, den sie sogleich mitteilte, Rechenschaft zu geben vermochte, fand bald, daß er nicht auf Schönheit, sondern auf Harmonie beruhte. Sie war klein, ungewöhnlich gut gewachsen, zartgliederig und voll, mit einer stillen Anmut in allen Bewegungen. Die Kleidung, stets einfach, geschmackvoll und individuell, schloß sich übereinstimmend an die ganze Erscheinung an. Sie hatte klare, gerade, vorwärtsblickende Augen, die »zugleich beobachteten und sich mitteilten«; die feinen Züge leuchteten von Genialität und würden vor Lebensmut gestrahlt haben, wenn nicht der Schmerz seine Schatten über sie gebreitet hätte. Um den schönen Mund glitt leicht ein Lächeln, meist wehmütig, zuweilen schelmisch, und die Stimme klang geradeso innig und klangvoll, wie man es nach dem Lächeln erwartet hatte.
W. v. Humboldts Behauptung, daß Rahel in Gesellschaft laut und wenig fein war, muß – wie andere ähnliche Urteile – sehr relativ genommen werden. Rahel spricht sich selbst Grazie ab. Und da Wilhelm v. Humboldt unter Feinheit ganz gewiß jene ruhige, sichere Eleganz, jenes Gedämpfte, Abgewogene, Maßvolle, Wellenlinige verstand, das vornehm wirkt, so können wir ziemlich überzeugt sein, daß Rahel diese Art von Feinheit fehlte. Daß sie – wie andere Orientalen – in einem eifrigen Gespräch ihre sonst leise und wohlklingende Stimme allzusehr erhob, kann ja auch möglich sein.
Aber gewiß ist, daß, wenn Rahel diese Feinheit, meistens ein ererbter Vorzug, fehlte, sie dafür in höchstem Grade den Takt des Herzens, die Feinfühligkeit der Seele besaß, die viel seltener sind als die Feinheit des äußeren Auftretens. Wäre ihr wirkliches Wesen »laut und wenig fein« gewesen, so hätte sie niemals den Kreis von in jeder Beziehung verfeinerten Männern und Frauen, der ihren Salon bildete, um sich versammeln und bewahren können.
Ihr Salon füllt sich allmählich mit allem, was Berlin an Hervorragendstem in der literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Welt besitzt, sowie mit den durch Schönheit und Anmut bezauberndsten Frauen. Aber Rahel wollte selten mehr als zwei solche an einem Abend bei sich haben, denn sie wußte, daß eine größere Anzahl Damen immer den Zusammenhang und Inhaltsreichtum der Gespräche störte. Rahel hielt jedoch keine Reden, ja sie sprach nicht einmal lange in einer Folge: der Blitz war ihre Mitteilungsform. Sie beherrschte die Gesellschaft nur mittelbar und suchte nie ihr Mittelpunkt zu werden. Sie führt jene zusammen, die sich etwas zu sagen haben; sie hört in jener dankbaren und empfänglichen Weise zu, die die erste Bedingung der Kunst der Geselligkeit ist; sie schweigt gerne, wenn sie andere zum Sprechen verlockt hat; sie knüpft die Gesprächsfäden zusammen und sucht Berührungspunkte zwischen all den Personen von verschiedener Nationalität, Alter und Meinungen zu finden, die sich rings um sie bewegen. Diese waren teils alte Freunde, teils von diesen Freunden eingeführte neue Bekannte oder berühmte Fremde. »Alle waren auf natürliche Weise tätig und doch keiner aufdringlich, man schien ebenso gerne zu hören als zu sprechen ... Mit welcher Freiheit und Grazie wußte sie (Rahel) sie um sich her anzuregen, zu erhellen, zu erwärmen. Man vermochte ihrer Munterkeit nicht zu widerstehen ... Ihre Einfälle waren wunderbar unerwartet ... Kolossale Sprüche hörte ich von ihr, wahre Inspirationen, oft in wenig Worten, die wie Blitze durch die Luft fuhren und das innerste Herze trafen.« (Brinckmann.) »Alle Parteien vertragen mich«, sagte sie, »sie nehmen mich für das, was ich ja auch bin – für eine Frage, zuweilen für eine ehrliche und mutige Antwort.« Sie bestrebte sich, den berechtigten Ansprüchen aller Raum zu schaffen; ihre Güte suchte die Uebersehenen hervor und stellte sie dahin, wo sie sich geltend machen konnten. Sie vernachlässigte nicht einmal ihre eigenen unbedeutenden Verwandten, sondern suchte sie in das Gespräch zu ziehen, damit sie sich nicht außerhalb des Kreises fühlten. Sie übersah nicht leicht »einen Blick, einen Pulsschlag wirklicher Menschlichkeit.« Und gegen die Höchststehenden, wie gegen die Unbedeutendsten, hatte sie ein und dasselbe Betragen, das der Güte. Während sie jedem Anerkennung widerfahren ließ, hielt sie mit sanfter, aber unbeugsamer Energie an ihrem eigenen Standpunkt fest. In der Wahrheitsluft, die Rahel umgab, wurden die anderen ehrlich; sie suchte so anhaltend und gläubig nach dem wirklichen Ich eines Jeden, daß sie es auch fand; sie teilte die Entdeckungen in ihrer eigenen Seele, die Erfahrungen ihres eigenen Herzens so spontan mit, daß jeder auch seinen wesentlichen Inhalt brachte und seelenvoller, reiner, sanfter wurde als sonst. In all dem ist nicht eine Spur von Absichtlichkeit, keinerlei Bemühung. Sie hat keine persönliche Eitelkeit zu befriedigen, keine Rolle durchzuführen, keine Nebenbuhlerschaft aus dem Felde zu schlagen. Sie nahm die Menschen nie von ihren kleinen Seiten; sie stachelte sie nicht an, liebenswürdig zu sein, sich zu produzieren; sie schuf nur durch ihre eigene Gegenwart ein warmes Klima, in dem alle sich entfalteten. Daß man den Menschen eine Wohltat erweist, wenn man ihre Masken durchschaut, war einer von Rahels Glaubenssätzen. Und diese Wohltat erwies sie allen. Niemand posierte vor ihr. »Ich töte die Pedanterie auf dreißig Meilen im Umkreis, ein solcher Giftbaum bin ich für sie«, sagte sie. Niemand dozierte bei ihr. Die ungezwungene Natürlichkeit Rahels selbst teilte sich ihrem Kreise mit, man sprach einfach über die höchsten Fragen; leidenschaftlich über das, was einen bewegte, heiter über das, was einen amüsierte. Rahel nannte sich selbst in dem Sinne »wild«, daß sie alle leeren Formen haßte und selber so ungezwungen war, daß jeder über alles mit ihr sprechen konnte. Wenn eine Verwicklung entstand, löste sie den Knoten mit ihrem scharfen Urteil; sie lenkte von Streitfragen ab, wenn sie befürchtete, daß der Kampf Wunden schlagen könnte. Herrschte der Ernst allzusehr vor, so gewann sie dem Thema einen helleren Gesichtspunkt ab, und der Scherz wurde durch ihren Takt in die gebührlichen Grenzen zurückgeleitet, wenn er sie überschritten hätte. Maß und Beweglichkeit, Ruhe und Abwechselung, Selbstbeherrschung und Freiheit gab der Gesellschaft, die Rahel leitete, das Gepräge. In den Pausen des Gesprächs wurde an dem den ganzen Abend über geöffneten Klavier musiziert – Rahel war selber eine gute Pianistin, nicht nur eine leidenschaftliche Musikfreundin. Man nahm einfache Erfrischungen und trennte sich gegen neun Uhr, wenn alle Eindrücke noch stark waren, und keine Müdigkeit die Stimmung weniger lebhaft gemacht hatte. Es konnte vorkommen, daß einer oder der andere länger blieb – z.B. Prinz Louis, um am Klavier zu phantasieren, wofür er eine geniale Begabung zeigte oder um vertrauter als der Gesellschaftskreis es gestattet hatte, zu plaudern. Aber in der Regel schloß das Beisammensein, wie es immer schließen sollte: auf seinem Höhepunkt.
Jeder hatte das Gefühl, das genossen zu haben, was das Gesellschaftsleben nach Rahel sein soll: »eine Zusammenfassung, ein Ausgangspunkt alles Sittlichen«. Man brachte die Erinnerung an einen inhaltsreichen Gedankenaustausch nach Hause, an gründliches, aber nicht pedantisches Interesse für Kunst, Literatur und Wissenschaft, an eine wirkliche Diskussion über wichtige Zeitfragen, an wohl abgewogene Urteile, an befruchtende, nicht an negative Kritik. Und namentlich die Männer, sie mochten voneinander so verschieden als nur möglich gewesen sein – von einem Schleiermacher bis zu einem Prinz Louis Ferdinand, »Preußens Alcibiades« – fühlten alle, daß sie hier die Offenbarung einer echt weiblichen Natur empfangen hatten oder mit anderen Worten das, was für sie die Poesie des Lebens war. Darnach sehnen sich die Männer, das suchen sie, und wenn sie diese Unmittelbarkeit und Frische nicht daheim und auch nicht in den Gesellschaften mit »gutem Ton« finden, so suchen sie es eben in Gesellschaften mit schlechtem Ton. Natürliche Frauen – die eine starke und reiche Natur zu offenbaren haben – waren immer die Eingebung der großen Geister, und eine Kulturperiode, in der die Frauen nicht natürlich, nicht unmittelbar, nicht echt sind, ist niemals frisch und schön gewesen.
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Da haben wir den eigentlichen Grund dafür, daß unser Gesellschaftsleben zurückgegangen ist. Daß die Frauen nach außen hin eine selbständigere Stellung haben, ist nicht immer damit gleichbedeutend, daß sie mehr sie selbst, reichere Persönlichkeiten werden. Kollektiv hat sich die weibliche Individualität in unserem Jahrhundert durch neue Arbeitsgebiete, durch reichere Bildungsmöglichkeiten entwickelt, aber gerade diese Mittel der Entwicklung haben eine gewisse Tendenz gezeigt, Gleichförmigkeit hervorzurufen. Alle sollen sich mit denselben Aufgaben, denselben sozialen Interessen und derselben öffentlichen Wohltätigkeit befassen, so daß jene, die nicht durch die Arbeit ums Brot überanstrengt sind, zersplittert und zerstreut werden, was dieselbe Wirkung auf das Familien- und Gesellschaftsleben ausübt. Während die ungewöhnlichen weiblichen Eigenschaften heute leichter zu ihrem Recht kommen, findet man jetzt unter der großen Menge weniger Eigentümlichkeit als vor fünfzig Jahren, zum Teile deshalb, weil ein gewisses mittleres Niveau von Bildung, nach derselben Schulmethode mitgeteilt, und dann von denselben Büchern, Dramen und Kritiken genährt, im Besitz aller ist; niemand will ungebildet erscheinen, indem er von dem abweicht, was er für die Meinung der Mehrzahl hält; und so finden wir, daß alle ganz dasselbe gedacht und gemeint haben und es mit ganz denselben Redewendungen ausdrücken! Niemand will seine Denk- und Handlungsfreiheit, sein Recht, natürlich zu sein, dadurch erkaufen, sich effekthascherisch, affektiert oder egoistisch nennen zu lassen, wie es stets die Folge ist, wenn man sich in seinen Urteilen oder seinem Auftreten oder seinen häuslichen Gewohnheiten von seinem Kreis unterscheidet. Man ordnet darum sein Haus nach der Mode des Tages, seine Kleidung nach dem Geschmack des Tages, man betätigt seine Sympathie und seine Barmherzigkeit, seine Teilnahme und seine Bewunderung kollektiv; der persönliche Einsatz wird immer geringer, während der öffentliche Arbeitseinsatz der Frau immer größer wird.
Diese Gleichförmigkeit in dem Gedanken-, Gefühls- und Handlungsleben der Frauen ist jedoch nicht der Ausdruck eines sozialen Pflicht- oder Verantwortlichkeitsgefühls. Die Frauen fühlen sich noch allzuoft als Einzelpersönlichkeit, wo sie solidarisch sein sollten, hingegen überall solidarisch, wo sie individuell sein müßten. Die Gesellschaft, das Heim und das Gesellschaftsleben, alle leiden sie unter dieser Begriffsverwechselung. Ehe nicht die Frauen von den zwei Eigenschaften durchdrungen sind, die Rahel tiefsinnig den Ursprung aller anderen Tugenden genannt hat: »Gerechtigkeit für andere, Mut für uns selbst«, kann sich weder das Gemeinwesen noch das Heim oder das Gesellschaftsleben jenem Inhaltsreichtum nähern, den sie besitzen könnten.
Mancher wird vielleicht einwenden, daß Rahel nicht nur eine Ausnahmsbegabung sondern auch eine Ausnahmsstellung hatte; sie besaß z.B. ein unabhängiges Vermögen, das ihr Zeit ließ, sich persönlich und schriftlich dem Gesellschaftsleben und ihrer eigenen Bildung zu widmen. An eine Arbeit gefesselt hätte sie nicht dieselbe sein können. Sie hatte als Mädchen wie als Frau eine Gesellschaftsstellung, die keine drückenden Repräsentationspflichten mit sich brachte, aber die Möglichkeit bot, alle Verbindungen, die sie nur wünschte, anzuknüpfen; und dadurch, daß sie in der Revolutionszeit heranwuchs, war sie schon von einer Menge Vorurteile befreit. Bedeutungsvoll war auch, daß sie keine öffentliche Produktionslust hatte, die ihre geistigen Kräfte in Anspruch genommen hätte; daß ihr Mann alle ihre Interessen teilte ohne daß sie doch in jener innigen Weise mit ihm zusammengelebt hätte, die von anderen isoliert; schließlich, daß sie auch nicht durch die Mutterschaft gebunden war. Sie hatte so in ungewöhnlich hohem Grade die Möglichkeit, in einem größeren Kreise geistig anregend und beglückend zu sein. Aber daß sie dies auch war, beruhte in erster Linie darauf, daß sie – nach Madame Staëls Tode und vor George Sands Auftreten – das war, als was Brinckmann sie damals bezeichnet, die »merkwürdigste Frau ihrer Zeit«, die durch Genialität wie durch Originalität ausgeprägteste weibliche Persönlichkeit. Rahels umfassendste Bedeutung bestand darin, die Produktivität, Humanität und Bildung ihrer Zeit, dadurch zu erhöhen, daß sie selbst überall die Wahrheit suchte und andere lehrte, sie zu suchen, daß sie überall dazu anregte, »seine Bildung selbst zu produzieren«; daß sie ihre tiefe Betrachtungsweise der Religion, der Menschen, der Literatur, der Kunst auch anderen beibrachte; daß sie alles nach seinem Inhaltsreichtum, nicht nach seinen Mängeln beurteilte, daß sie überall verstand, weil sie liebte; überall befreite, weil sie an die Freiheit glaubte.
Aber was Rahel so im sozialen und Gesellschaftsleben ihrer Zeit in großem Stil vermochte, das kann in gewissem Maße jede Frau auch in ihrem Kreis fördern, wenn sie verstehen lernt, worin das Geheimnis von Rahels Macht bestand, das, wonach die Zeit unbewußt oder bewußt dürstet, was die moderne Literatur sucht, was die gesunde Dichtung ebensowenig wie das gesunde Leben entbehren kann: eine volle Entwicklung und eine mutige Mitteilung der weiblichen Persönlichkeit.
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Ungefähr zehn Jahre übte Rahels erster Salon seinen großen Einfluß aus. Das Unglücksjahr 1806 zerstreute viele seiner Mitglieder und brachte für die zurückbleibenden neue Aufgaben und unruhigere Verhältnisse. In den Jahren, in denen Rahel und Varnhagen kein bleibendes Quartier hatten, übte Rahel wohl in jedem Kreise, dem sie angehörte, einen veredelnden Einfluß aus, aber tonangebend wird sie erst, als sie ihren Salon wieder in einem eigenen Heim in Berlin eröffnen kann
Und da zeigte es sich von neuem, welcher »Menschenmagnet« Rahel war. Ihr zweiter Salon war »die Dachstube, im größeren fortgesponnen«. Und da nun auch Varnhagen Menschen um sich versammelte, stand Rahel – die sich bei ihrer Rückkehr nur von Gräbern umgeben fand – bald wieder mitten in einem geistig belebten Kreise, wo einige der alten Freunde und viele neue Rahel abermals die Freude eines echtmenschlichen Umgangs bereiteten. Durch die Familie Mendelssohn-Bartholdy kam sie jetzt in neue Beziehung zu der Musikwelt. Rahel, die während einer schweren Krankheit in Prag an Webers Spiel im Nebenzimmer ihre Erquickung gefunden und der Beethoven unaufgefordert einen ganzen Abend vorgespielt hatte, wurde mit jedem Jahre musikhungriger. Selbst war sie durch Bach und Händel musikalisch erzogen worden und blieb ihr ganzes Leben lang von diesen beiden am tiefsten ergriffen. Sie verglich Bach mit Kant – der sie im übrigen recht unberührt ließ – und nennt Bach »den methaphysischen, gottesfürchtigen, mit höchstem Witz begabten«, während Händel sie in das »Gebiet der höheren Wehmut« versetzte, »in eine Vorseligkeit«.
In Mozart sah sie ein »Göttliches Wesen«; Spontini, den sie persönlich kannte, schätzte sie hoch, aber Webers Opern mißfielen ihr durch den zur Mode gewordenen »Teutonismus«, der darin eine seiner vielen, Rahel unsympathischen Ausdrucksformen fand. Sie ist von Paganini begeistert, und überhaupt entgeht ihr in der Musikwelt nichts von Bedeutung. Aber nicht nur die Musik, sondern den ganzen Geist des Mendelssohn-Bartholdyschen Kreises liebte sie, denn
»es ist alles Wahrheit dort«. Amalie v. Hellwig sieht sie oft, denn sie wohnen nahe voneinander, und Rahel spendet Amalie ihr höchstes Lobwort: daß sie »wesentlich« ist. Neben diesen sind Schleiermacher, Alexander v. Humboldt, Hegel, Gans, Ranke, Chamisso, Fouqué, Achim v. Arnim und Bettina; Henrik Steffens, Heine, Pückler-Muskau einige der Menschen, die für den Varnhagenschen Salon charakteristisch sind. Mit Uhland, Rückert und andern war Rahel während ihrer Reisejahre in Kontakt gekommen. Im übrigen führt sie noch immer die »Bohême« mit der Aristokratie zusammen. Es war ihr eine Freude, mit Berechtigung sagen zu können:
»Alle Klassen, alle Menschen reden zu mir.« Und dadurch, daß alle Arten von Menschen sich um das Ehepaar versammelten, wurde ihr Salon eine weit über das Gebiet Berlins hinaus kulturverbreitende und geistige Werte vermittelnde Macht. Diese tonangebende und werteschaffende Macht erklärt die bösen Worte, die jene Schriftsteller, welche Rahels Kreis fremd waren, z.B. Immermann, über Rahel entschlüpfen. Wie Rahel auch zu dieser Zeit auf jeden wirkte, der ihr persönlich nahe kam, dafür hat man einen bezeichnenden Beweis in einer Aeußerung Grillparzers.
»Varnhagen ging mit mir nach Hause. Als wir an seiner Wohnung vorüber kamen, meinte er, er wolle seiner Frau – jener später berühmten Rahel, von der ich aber damals nichts wußte – meine Bekanntschaft verschaffen. Ich hatte mich den ganzen Tag herumgetrieben und fühlte mich müde bis zum Sterben, war daher herzlich froh, als man uns an der Haustüre sagte, die Frau Legationsrätin sei nicht daheim. Als wir aber die Treppe hinuntergingen, kam uns die Frau entgegen, und ich fügte mich in mein Schicksal. Nun fing aber die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte, etwas einer Fee, um nicht zu sagen einer Hexe, ähnliche Frau zu sprechen an, und ich war bezaubert. Meine Müdigkeit verflog oder machte vielmehr einer Trunkenheit Platz. Sie sprach und sprach bis gegen Mitternacht, und ich weiß nicht mehr, haben sie mich fortgetrieben, oder ging ich von selbst fort. Ich habe nie in meinem Leben interessanter und besser reden gehört Leider war es gegen das Ende meines Aufenthaltes, und ich konnte daher den Besuch nicht wiederholen.«
(Grillparzers Selbstbiographie; Zeitpunkt um 1827.)
Prof. Sauer (Prag) teilt in einer kleinen Arbeit »Ueber Grillparzers menschliche Beziehungen« noch eine charakteristischere Stelle über Rahel mit: Die Erzählung Grillparzers findet sich in den Erinnerungen der Goethefreundin, Baronin Jenny v. Gusted, geb. v. Pappenheim: »Schrak ich vor dem Unlieblichen ihrer Erscheinung zurück und fühlte wenig Trieb zu näherer Bekanntschaft, dennoch blieb ich – ja, ich blieb bis 2 Uhr nachts, und als ich zur Tür hinausging, griff ich bewegt in die Haare und rief: Auf der ganzen Welt hätte mich nur eine Frau glücklich machen können, und das ist Rahel.« Bauernfeld berichtet etwas ähnliches von Grillparzer: Rahel sei die einzige Frau gewesen, die er hätte heiraten mögen. Doktor O. Neurath verdanke ich diesen Hinweis auf Grillparzers Urteile über Rahel. Heine nennt Rahel die
»geistreichste Frau des Universums«; bezeichnet seine Bekanntschaft mit ihr als den Anfang einer neuen Lebensepoche, ihr Heim als sein Vaterland und sie selbst als seine »Patronin«; ja, er versichert, daß er ein Hundehalsband tragen wollte, mit der Inschrift: Ich gehöre Frau Varnhagen. Er brauchte nur, wenn er von ihr getrennt war, ihren Namen auszusprechen, um »heiter, wohlgestimmter« zu werden. Heine charakterisiert auch Rahels Stil vortrefflich, wenn er sie mit Börne – den Rahel auch kennen und hochschätzen lernte – darin vergleicht, daß beide »Bacchanten des Gedankens waren, die dem Gott mit heiliger Trunkenheit nachtaumelten«. Ueberhaupt erklären fast alle Schriftsteller Jung-Deutschlands, daß sie von Rahel mehr Anregung empfangen haben als von irgend einer andern Frau. Erst nachdem Varnhagen ihre Briefe herausgegeben hat – nämlich nach Rahels Tode – wird dieser Einfluß mächtig; denn solange sie lebte, kam sie – von Heine abgesehen – nur in flüchtige oder gar keine Berührung mit ihnen. Laube, der auch zu ihrem Kreis gehörte, nennt ihre Briefe das offenherzigste Buch in der Literatur Deutschlands und sie selbst »Rahel die Wahrhaftige«; Mündt findet in diesen Briefen »ein urmächtiges Bewegen und Entfalten aus origineller Persönlichkeit heraus« und sieht in Rahel selbst den »mitempfindenden Nerv der Zeit«: in ihrer »unendlich bewegungsvollen Persönlichkeit« vereinen sich »die bangen Wehen einer Uebergangsperiode« mit dem prophetischen Blick in die Zukunft Gutzkow bewunderte unter anderem an Rahel – im Gegensatz zur gewöhnlichen Frauenbildung – die »höhere Empfänglichkeit«; Gustav Kühne hat nicht nur eine vortreffliche Charakteristik von Rahel gegeben sondern auch ein rasches Augenblicksbild ihrer äußeren Erscheinung in den letzten Jahren ihres Lebens entworfen. Aus der ersteren mag das treffende Urteil zitiert werden: Rahel stellt in ihrer Person die Emanzipation des denkenden Weibes dar, denn sie hat offenbart, was die Frau als denkendes Wesen durch einsame Gesondertheit und
überlegene Geisteskraft erreichen kann, und zugleich besaß diese Denker-Frau die weiblichste Seele, eine Seele voll von jener mitfühlenden Zärtlichkeit, durch die sie in erster Linie immer und überall die Herzenströsterin war.
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Noch 1830 hob ein Fremder, der Rahel zum ersten Male sah, die wunderbare Frische hervor, die ihr klares, feines Antlitz besaß, sowie die feste und doch leichte Haltung, die ihre kleine, mit den Jahren etwas voller gewordene Gestalt bewahrte. Kühne empfing bei der einzigen Begegnung, die er mit Rahel hatte, einen ergreifenden Eindruck von der schwarzgekleideten Gestalt, dem bleichen Gesicht, den kleinen weißen zusammengepreßten Händen, aber vor allem blieben ihm ihre »dunkeltiefen Augen« unvergeßlich. Lange fühlte er sich von diesen männlich kühnen Lichtblicken verfolgt: fühlte, daß nicht nur eine prüfende, sondern eine »auflösende Kraft in der Beharrlichkeit ihres sinnenden Auges lag. Auch Kleist scheint die Macht von Rahels Blick empfunden zu haben, da er sagt, daß ihre Worte ausdrucksvoll waren wie ihre Augen. So war der äußere Eindruck beschaffen, den Rahel in ihren späteren Lebensjahren jenen mitteilte, die sich um sie versammelten und von dem bezaubert wurden, was Varnhagen ihr »Talent des Lebens« genannt hatte, das Tabu, durch das sie der Geselligkeit wie der Einsamkeit Schönheit und Haltung gab.
Der erwähnte Fremde hat einen Gesellschaftsabend bei Varnhagens im März 1830 geschildert. Er erzählt, wie er als der Zuerstgekommene Zeuge von Rahels mütterlicher Sorge um ihre kleine Elise war und sie später mit derselben Zärtlichkeit für die Bequemlichkeit von ein paar sehr bejahrten Gästen sorgen sah. Das Gespräch berührte zuerst eine theologische Streitfrage des Tages, dann glitt es zur Musik hinüber, weil einer der ausländischen Gäste eine Lanze für Rossini brach; eine berühmte Sängerin trat ans Klavier und trug Lieder von Schubert und Beethoven vor, wobei Rahel mit tränenvollen Augen und einem glücklichen Lächeln zuhörte. Als die Musik aufhörte, teilte jemand eine politische Neuigkeit mit, und da die Politik gerade damals brennend war, entstand ein lebhafter Streit, in den Rahel einige leichte Zwischenworte einwarf, und so gelang es ihr zu verhindern, daß die Diskussion allzu hitzig wurde. Sie reinigte die Luft durch »rasche Blitze eines leichten Humors«, die immer eine kleine »Erschütterung aus Staunen und Behagen« hervorriefen, durch die sich die unbehagliche Stimmung löste.
Anläßlich der Rückkehr Henriette Sonntags nach Berlin drehte sich das Gespräch um sie, und man griff ihre musikalische Koketterie an. Aber Rahel nahm sie in Schutz und nannte sie einen Ausdruck der Zeit: Henriette Sonntag war ein Produkt der Zustände, aus denen das Große und Erhabene verschwunden war, während das » Mäßige und Anmutige« es abgelöst hatte. Rahel hatte sich an E. Gans gewendet, und dieser war von der Wahrheit von Rahels Gedanken so überzeugt daß er sie bat, ihn in einer Musikzeitung weiter entwickeln zu dürfen. Dies ist auch später – mit Rahels Einwilligung – geschehen. Dann kam Alexander v. Humboldt vom Hofe, und bald lauschte alles ihm, der die verschiedenen Arten von Frömmigkeit schilderte, die er auf seinen Reisen beobachtet hatte, und sie nach ihren Merkmalen klassifizierte wie ein Botaniker seine Pflanzen. Bald ging er, und das Gespräch kehrte zur französischen Politik zurück, von der Rahel unter anderem die prophetischen Worte sagte: Die Republik liegt allen Franzosen » in den Gliedern«, und eine Republik wird Frankreich früher oder später! Für das französische Volk – » mein Vorvolk« nannte Rahel es – ist die Republik unausbleiblich; wenn sie heute unterliegen, so werden sie Versuch um Versuch unternehmen, bis es ihnen gelingt Denn jeder Franzose hat etwas von Selbstherrlichkeit an sich und unterwirft sich lieber einer Abstraktion als eine Person!
Während Rahel in diesem Geiste sprach, sah der Beobachter, wie die früher so »milde und bescheiden einwirkende« Frau tiefernst wurde, ihr Blick fest, ihr Ausdruck beinahe trotzig-gläubig an ihre Prophezeiung, die damit schloß: daß wenn auch Zwischenspiele denkbar wären, die großen Zeitereignisse doch über diese Zufälligkeiten hinwegschreiten würden: » Sie machen daraus den Staub ihres Weges.«
Diese letzten, für Rahels Ausdrucksweise charakteristischen Worte wurden so ernst gesprochen, daß die Stimmung alle ergriff, wenn auch die meisten die Erfüllung der Voraussage bezweifelten.
Nun kam Bettina von Arnim, und in »ihre brausende Flut von Witz und Gedanken« schaltete Rahel nur einige ihrer kurzen raschen Einfälle ein, um bald auch nur ganz bezaubert dieser beschwingten, berückenden, beseelten Kunst der Rede zu lauschen, die für die Anwesenden der letzte Eindruck des Abends blieb.
Selbst in meiner kurzen Zusammenfassung dürfte diese Schilderung ein lebendiges Bild dessen geben, was jene mit nach Hause nahmen, die einen Abend bei Rahel verbracht hatten sowie auch einen Begriff von Rahels eigener Macht, Gedanken anzuregen, Gesichtspunkte zu vertiefen und den Horizont zu erweitern.
Es ist sehr bezeichnend, daß Rahel – die bei W. v. Humboldt den Willen findet, alles, was ihn umgibt, in das Eigentum seines Verstandes zu verwandeln und so wenig als möglich auf der Erde zurückzulassen, womit er nicht in Berührung gekommen – sehr bedauert, daß dies nicht mit einem tieferen Verhältnis zu den Dingen verknüpft ist. Er konnte heute verteidigen, was er morgen angriff, er streute Sophismen und Paradoxe bei einem Wortwechsel aus, an dem nicht die Sache, sondern der Glanz des Kampfes und der Worte ihn interessierte; und die geniale Geistesfreiheit, womit dies geschah, schätzte Rahel weniger hoch, nachdem sie gefunden hatte, daß er sie nicht zu ernsten Befreiungskämpfen gebrauchte.
Diese Züge, die Rahel von Wilhelm v. Humboldt zurückstießen, treten öfter gerade bei jüdischen Intelligenzen hervor. Es ist darum interessant, daß Rahel die Schwäche dieser Art von Begabungen so klar erkannte, was sie unter anderem mit folgendem Einfall über eine politische Schrift Humboldts ausdrückte: » Die Brühe ist vortrefflich, aber sie macht keinen Braten.«
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Sowohl vor wie nach Rahel haben andere Frauen einen gesellschaftlichen Einfluß in derselben Richtung wie Rahel selbst ausgeübt. Es war mir nicht gegönnt, Malwida v. Meysenbug früher kennen zu lernen, als in jenem späten Lebensabschnitt, wo sie nicht mehr als einige Besucher zugleich vertrug. Aber dennoch empfing ich eine Vorstellung dessen, was sie in dem auserlesenen Kreis, der sich in ihrem Salon in Rom um sie versammelte, bedeutet hatte. Persönlich habe ich George Eliot nicht gesehen, aber Sonja Kowalewska schilderte mir ihre Empfänge als geistige Feste, bei denen die Wirtin selbst – durch die stille Sanftmut ihres Wesens, ihrer Stimme, ihres Lächelns – die Luft warm und die Stimmung auch bei lebhaftestem Meinungsaustausch friedvoll machte. George Eliot hörte am liebsten zu, und nur irgend ein tiefergehendes Thema rief ihre lebhaftere Teilnahme am Gespräch hervor. Sonja Kowalewska selbst war genial im Gespräch, aber hatte kein Talent, einen Salon zu begründen.
Noch andere mehr oder weniger glänzende Frauen könnten in diesem Zusammenhang erwähnt werden, namentlich Französinnen. Aber im großen ganzen dürfte es unbestreitbar sein, daß der Einfluß der europäischen Frau im Gesellschaftsleben – und durch das Gesellschaftsleben – mit Rahel einen Höhepunkt erreichte, den er seither nie mehr eingenommen hat. Die Frauen, die später berühmte Salons gehabt haben, waren entweder solche, die einen persönlichen Namen in der Literatur und Kunst hatten oder die durch ihren Mann eine einflußreiche Stellung in der politischen oder aristokratischen oder künstlerischen Welt einnahmen. Aber keine hat wie Rahel diese Stellung ausschließlich durch die Macht ihrer eigenen Persönlichkeit erlangt und sie ausschließlich durch ihre gesellige Begabung im größten und schönsten Sinn des Wortes behauptet. In dieser Beziehung sind einige feine Urteile über Rahel von einem Franzosen, dem Grafen de Custine gefällt worden, der sie in Frankfurt einige Jahre nach ihrer Verheiratung kennen lernte. Er bezeichnet sich als »unwiderstehlich gefesselt, ohne verliebt zu sein«, ein Zustand, den er »die Vollkommenheit menschlicher Beziehungen« nennt. Es dahin zu bringen, ist, meint er, ein schweres Problem, aber eines, das Rahel durch ihre Ehrlichkeit, ihre Wahrhaftigkeit, die Zauberkraft ihres Geistes löste. Sie gab, sagt Custine, einem großen Kreis wie einem Gespräch unter vier Augen Leben; ihre Begabung war »das Genie im Dienste der Freundschaft und der Geselligkeit«. Rahel fand es nie unter ihrer Würde, sich mit dem Alltäglichen zu beschäftigen, während doch keine der großen Angelegenheiten des Lebens außerhalb ihres Gesichtskreises lag. Welcher Sache sie sich auch hingab, immer gab sie sich ganz; sie wollte keine Rolle spielen, sie berechnete niemals eine Wirkung und brauchte das auch nicht zu tun, denn ihr feines Taktgefühl leitete sie im Gesellschaftsleben immer richtig wie ihr Schönheitssinn in der Literatur und Kunst ... Rahel wollte nur Freunde haben ... Sie sprach nicht, um Bewunderung zu erregen, sondern um ihr Inneres zu offenbaren, und dieses war so reich, daß sie kein Bedürfnis nach äußerer Tätigkeit empfand ... Das Leben selbst war ihr eine fortwährende Arbeit ... Sie lebte und sprach mit ihren Büchern wie mit lebendigen Wesen. Sie beseelte alles, und in ihrer Weit fand alles seine Verwendung: Sie hatte »den Geist eines Philosophen und das Herz eines Apostels«. Und dessen ungeachtet war sie »Kind und Frau, so sehr man es nur sein kann Sie empfand wie ein Künstler und erreichte die höchsten Wahrheiten auf den zwei Wegen, die einander sonst auszuschließen pflegen: durch Gefühl und Nachdenken, durch ahnungsreiches Schauen, durch intuitive Erkenntnis.«