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Ich kehre zu meiner Familie zurück. Meine Voreltern, wie aus dem Stammbaume meines Vaters erhellt, waren im romantischen Kärnten angesiedelt; wir haben aber nur noch nähere Nachricht von denen, die dort kurz vor und zu den Zeiten der Reformation lebten. Der älteste Kerner, von dem wir Nachricht haben, hieß Michael, und war Rat und Finanzbeamter des Kaisers Maximilian, der ihn seiner Verdienste wegen nobilitierte und ihm das noch von der Familie gebrauchte Wappen erteilte.
Die Nachkommen, unbegütert und meistens im Dienste der Kirche und des Staats, machten von dieser kaiserlichen Gnade keinen Gebrauch. Michaels beide Söhne, von denen der ältere Michael, der jüngere Balthasar hieß, hatten sich dem geistlichen Stande gewidmet, aber das Licht der Reformation lockte sie zu Luther nach Wittenberg. In ihr Vaterland zurückgekehrt, suchten sie den lutherischen Katechismus einzuführen, wurden aber von da vertrieben, flohen nach Württemberg, und der ältere, Michael, von dessen Linie wir stammen, wurde Prediger und Rektor zu Schwäbisch-Hall, der jüngere Bruder Prediger am Münster zu Ulm, wo ihm ein Sohn im Amte nachfolgte, der aber keine Kinder hinterließ.
Mein Großvater (geboren im Jahre 1704) war in seiner Jugend Rat zu Hechingen. Als nach dem unerwarteten Tode des Fürsten dessen Mätresse die Schätze des Landes über die Grenze bringen wollte, ließ er sie arretieren.
Er entzweite sich darüber mit dem gewissenlosen Administrator und wurde gewalttätig auf die Feste Hohentwiel verwiesen, aber nach einigen Monaten von dem aus Wien zurückgekehrten Sukzessor befreit, gerechtfertigt und, durch seine Empfehlung an den württembergischen Hof, zum Oberamtmann in Göppingen ernannt, in welcher Stadt mein Vater im Jahre 1744 geboren wurde.
Im Jahre 1730 wurde mein Großvater Vogt (oder Oberamtmann, wie man es später hieß) in Ludwigsburg.
Bekanntlich wurde diese Stadt vom Herzog Eberhard Ludwig in einer Gegend erbaut, in der er sich öfter der Jagd wegen aufhielt. Die zahlreichen Nachtigallen, die sich in ihr befanden, erfreuten ihn so, daß er sich in einem Hofe, der in dieser Gegend auf einer vom Walde umgebenen Wiese stand, dem Erbachhofe, einige Zimmer zum Übernachten einrichten ließ, woraus später ein Jagdschloß und nachher diese Stadt entstand. Sie war zu meines Großvaters Zeit noch ganz in ihrem Werden begriffen und bestand erst aus wenig Häusern und Einwohnern; desto mehr mußte er sich mit ihrer Vergrößerung beschäftigen. Ein herzoglicher Befehl hatte allen Städten und Ämtern des Landes auferlegt, ein Haus auf ihre Kosten in dieser neu erstehenden Stadt erbauen zu lassen. Stadt und Amt Weinsberg hatte das Los getroffen, das Oberamtei-Gebäude daselbst bauen zu müssen, – das Haus meiner Wiege. So verlieh mir Weinsberg unbewußt den Platz zur Wiege – wie es mir bald den zum Sarge geben wird.
Meinem Großvater folgte nach seinem Tode in einem sehr jugendlichen Alter mein Vater im Amte. Das Amt eines Oberamtmanns war in damaliger Zeit, wo die Justiz mit der Regierungsverwaltung verbunden war, von einer wichtigeren Bedeutung als jetzt.
Es lag in den Händen eines solchen eine ziemliche Vollmacht, welche jedoch mein Vater nie mißbrauchte, obschon er in seinem Amte zwar gesetzmäßige Strenge beobachtete, aber durchaus Unparteilichkeit übte und unbestechlich blieb. Er erwarb sich daher auch eine solche Liebe der Bürger Ludwigsburgs, daß diese, als er im Jahre 1795 darauf bestand, das Kloster-Oberamt Maulbronn zu übernehmen, sich in Scharen zum Herzog ins Schloß begaben, um ihn zu bitten, diesen Beamten nicht aus ihren Mauern zu lassen. Mein ältester Bruder Georg schrieb von ihm: »Unvergeßlich bleibt mir sein hohes Bild, voll Kraft und Leben, sein schwarzes Auge voll Feuer, seine Gesichtsbildung, die eines Römers auf dem Kapitol, seine männliche Stimme, würdig, von einer solchen Höhe herab zu donnern, sein ganzer Körper derb und gewandt, wenngleich zuletzt zu einem Übermaße von Stärke sich hinneigend, die keine Lebensdauer verhieß.« – Dennoch war er immer tätig, immer beweglich, er schrieb bei seinen vielen Arbeiten fast gar nichts selbst, sondern diktierte alles, während er im Zimmer umherging, seinem Schreiber in die Feder. Er hatte einen und denselben Schreiber von Anfang seines Amtes bis an seinen Tod. Ein Amtsgenosse schrieb von ihm: »Er war allgemein geachtet als ein sehr rechtlicher, gewissenhafter und äußerst tätiger Mann und Beamter. Alle Morgen mußte aufgeräumt sein, es durfte außer den größern Untersuchungen nichts für den folgenden Tag liegen bleiben. Streng war er übrigens auch, und es konnte geschehen, daß, wenn in einer Ausfertigung in der Amtsschreiberei gefehlt wurde, er den Konzipienten, von dem der Fehler gemacht wurde, kommen ließ, ihn belehrte, ihn zugleich aber auch tüchtig abzankte und mit ein paar Ohrfeigen bedachte.«
Wie er in seinem Amte Strenge übte, so übte er solche auch in der Führung seines Haushaltes und namentlich in der Erziehung seiner drei ältern Söhne, und es mag daher kommen, daß sein ältester Sohn Georg sich ihm dadurch mehr entfremdete und eine Laufbahn ergriff, die den Gesinnungen des Vaters geradezu entgegen war. Ich glaube, daß der Vater später selbst diese Strenge in der Erziehung seiner Söhne bereute; denn ich, als der Jüngstgeborene, hatte von ihr vielleicht nur zu wenig zu fühlen; ich wurde sein Liebling, unverdienterweise, aber auch seine große Sorge noch auf seinem Sterbelager.
Meine Mutter war von kleiner Gestalt, zarter Natur und in ihrer Jugend von nicht gewöhnlicher Schönheit. Schubart besang sie in einem Gelegenheitsgedichte bei ihrer Ankunft als Braut in Ludwigsburg:
Dir winken schon die schlanken Linden
Im neuen grünen Frühlingskleid;
Du wirst die Anmut doppelt finden,
Die jede Linde von sich streut.
Dir wehet ihr Geruch entgegen,
Die Nachtigall singt froh dazu,
Und wirbelt unter grünen Bögen:
Wie schön bist du! wie schön bist du!
Es waren durch ihr ganzes Leben Demut und Gehorsam gegen ihren Eheherrn, ja selbst Furcht vor ihm, Hauptzüge ihres Charakters. Sein Wille war ihr strenges Gebot, und ihr ganzes Dichten und Trachten ging nur dahin, ihn bei gutem Mute zu erhalten und alles Unangenehme von ihm zu entfernen. So verbarg sie ihm manches, was besonders unter den Söhnen vorfiel, teils seine Strenge fürchtend, teils aus Sorge, ihn zu beunruhigen. Ihre Liebe und Verehrung, ihre hohe Meinung von ihm hatten keine Grenzen. Auf seinem Totenbette, wo er die Hostie nicht mehr verschlingen konnte, sondern sie wieder mit der Zunge auf die Lippen zurückbrachte, nahm sie dieselbe von den kalten Lippen und verschlang sie in seinem Namen unter Gebet und Tränen.
Die Wiege meiner Mutter war die schöne, vom Bande des Neckars umschlungene Felseninsel Laufen.
Es ist diese Felseninsel im Neckar, der hier kristallhell und rieselnd dahinzieht, mit ihrem alten Turme, an den sich das Haus, in dem meine Mutter geboren war (das Oberamteigebäude), lehnt, mit der ihr gegenüberliegenden Kirche und alten Kapelle der heiligen Regiswindis, einer der schönsten Punkte unseres Vaterlandes.
Ihr Vater war hier im Jahre 1751 Oberamtmann, er hieß Stockmayer (geboren 1729), und verwaltete (nachdem er vorher noch Oberamtmann in Besigheim und Stadtoberamtmann in Stuttgart geworden war) die Stelle eines Kammerprokurators, der seinen Sitz in Stuttgart hatte.
Es kamen auf mich noch einige Blätter eines von ihm geschriebenen Tagebuchs, dessen Verlust auch für die Geschichte der damaligen Zeit Württembergs recht zu bedauern ist. Selbst diese wenigen Blätter sind Zeugen von seinem vielseitigen Geschäftskreise und großen Fleiße. Als damaliger Stadtoberamtmann in Stuttgart machte ihm, bei dem bunten Hofe, Militär und Schauspiel, die Verwaltung der Polizei viel zu schaffen, und er führt davon merkwürdige Beispiele in seinem Tagebuche an. Als im Jahre 1762 ein Brand im Schlosse zu Stuttgart ausbrach, traf er alle möglichen Anstalten zur Rettung des Lusthauses und der Kasernen. Es war dieses Lusthaus ein merkwürdiger Bau, an dem der berühmte Baumeister Schickart noch als Anfänger teil hatte. In ihm war seit 1750 das Opernhaus eingerichtet. Schade, daß dieses Altertum in der neuesten Zeit bei einem Neubau des Theaters gänzlich zerstört werden mußte. Auch zur Verschönerung Stuttgarts trug er während seiner Amtsverwaltung bei. So erzählt er zum Beispiel in dem noch vorhandenen Fragmente seiner Lebensgeschichte: »Da die öffentlichen Spaziergänge und Gärten in Stuttgart meistens eingegangen, so war ich darauf bedacht, wie diese in möglichster Kürze der Residenz verschafft werden möchten. Ich erwählte hiezu nach meinem eigenen Einfall den Platz vor dem Büchsentore, der vorher alleinig für die Schweine und den großen Kutter destiniert und ein wüster und unebener Platz war. Die Stadt ließe solchen planieren. Serenissimus geruhten auf meinen Bericht ein Stück von den herrschaftlichen Seegassen-Wiesen hiezu verabfolgen zu lassen. Die hiesigen Honoratioren stifteten auf meine Requisition hiezu die meisten wilden Kastanien- und Lindenbäume, und solchergestalt wurde aus einem wüsten Platze eine Allee von Linden- und Kastanienbäumen angelegt, die bisher wohl reüssiert hat.« –
Die Pflanzung der Bäume geschah von ihm im Jahre 1764. Als Kammerprokurator hatte er bei den damaligen vielen Finanz-Verlegenheiten des Herzogs über manche schwere Geschäfte zu klagen und wurde zu vielseitigen diplomatischen Sendungen gebraucht.
Er starb vor meiner Geburt, aber mein ältester Bruder Georg erlebte ihn noch als Knabe und schreibt von ihm:
»Ich sah ihn nur, als ich noch ein kleiner Knabe war, aber noch lebt sein Bild in meiner Seele. Er war ein Mann von unbeschreiblich sanftem Gemüte, voll unaussprechlicher Liebe für die Seinen. Sein Haus, sein Garten, die Freuden, die ich da genoß, prägten sich meiner kindlichen Seele tief ein. Aus dem Ziehbrunnen im Hofe, sagte man mir, werden die Kinder geholt. Auf der Hausflur waren Hirschgeweihe, die mich sehr ergötzten. Vorne prangte das Haus mit einem Erker, der mir es schon von weitem bemerklich machte, hinter dem Hause war ein schöner, großer Garten, wo ich mehr denn einmal in den Buchsbaumhecken die Ostereier von schöngefärbtem Glase, von vergoldetem Holze, gefüllt mit neuen Groschenstücken und Zuckerwerk, suchen durfte und reichliche Ernte fand.
Mein Großvater liebte mich ungemein, und ich verlebte jedesmal bei ihm eine goldne Zeit. Leider war diese Wonne von kurzer Dauer. Die Konstitution dieses trefflichen Eitervaters erlag unter seiner Geschäftsanstrengung, er wurde den Seinigen plötzlich durch einen Schlaganfall entrissen. Ich sah ihn nun in den untren Zimmern des Hauses in der Bahre, eingehüllt in das weiße Leichentuch, mit einer Zitrone in den kalten gefalteten Händen, auf dem Kopfe eine weiße Mütze mit Schleifen. Sein Gesicht war so fromm, so unentstellt, ich weinte die bittersten Tränen.« –
Er hinterließ zwei Töchter, von denen meine Mutter die älteste war. Eheliches Glück kann er nur kurz genossen haben: denn noch während der Kindheit ihrer Töchter verfiel die Mutter in Wahnsinn und blieb es bis zum Tode.
Die zweite Tochter verheiratete sich mit dem ehemaligen Erlangenschen Professor, nachherigen Stuttgarter Regierungsrate Elsässer, verfiel aber bald auch in eine Melancholie. Sie soll sehr geistreich gewesen sein und Anlage zur Dichtkunst gezeigt haben. Sie gebar einen Sohn namens Christian, der in der Karls-Akademie erzogen werden sollte, aber wahnsinnig wurde und es bis ins Mannesalter, wo ihn der Tod erlöste, blieb. Ein zweiter Sohn, den sie gebar, legte sich auf die Heilkunde und wurde ein sehr geschätzter Arzt und Schriftsteller im Fache der Augenheilkunde. Die Stunden seiner Muße benutzte er für das ihm angeborene Talent zur Landschaftsmalerei. Er starb, geschätzt und bedauert von allen, die ihn kennenlernten, im Jahre 1813 zu Neustadt an der Linde, wo noch gegenwärtig ein Sohn von ihm die Zierde der vaterländischen Ärzte, besonders auch im Fache der medizinischen Literatur, ist. Neben diesen Söhnen gebar sie noch eine Tochter, die sich durch Geist und Bildung auszeichnete und sich zu Stuttgart an den Sekretär Hauff verheiratete. Diese war in ihren früheren Jahren Nachtwandlerin, und der als Dichter bekannte Wilhelm Hauff ist ihr Sohn. Die jüngste Schwester meiner Mutter blieb unverheiratet, denn auch sie wurde wahnsinnig und starb in meinem elterlichen Hause zu Ludwigsburg.
Ich führe diese psychischen Zustände einzelner Glieder meiner Familie auch besonders deshalb an, weil daraus hervorgeht, wie Wahnsinn, Somnambulismus und Dichtkunst miteinander verwandt sind, und oft eins aus dem andern hervorgeht. Das Gefühlsleben herrschte bei meiner Mutter durchaus vor, aber nie erlitt sie eine Störung des Geistes, es erzeugte sich in ihr kein Wahnsinn, aber, wenn man mich so nennen will, doch in ihr ein Poete, und so war es auch bei Wilhelms Hauffs Mutter.
Meine Eltern hatten, wie schon angeführt, außer mir noch drei Söhne, von denen zwei in ihrer frühesten Jugend in die Akademie nach Stuttgart gebracht wurden, der ältere zum Studium der Medizin und Chirurgie, der jüngere zum Studium der Militärwissenschaften. Der zweitälteste Sohn durchlief die in Württemberg gewöhnliche theologische Laufbahn.
Ich darf ihm wohl mit Fug eine Reihe von Blättern in der Geschichte meiner Jugend weihen, besonders da die Hauptepoche seines vielbewegten Lebens in dieselbe fiel, und ich auch schon als Knabe den innigsten Anteil an seinen Schicksalen nahm.
Er war im April 1770 (auch in der Oberamtei zu Ludwigsburg) geboren. Er kam unzeitig, schon am Ende des siebenten Monats der mütterlichen Schwangerschaft, zur Welt. Der Vater konnte ihn mit den Fingern spannen, und sein Gewicht entsprach dieser Länge. Die Mutter hatte Kindszeug zurechtgemacht, sie mußte Puppenzeug nehmen, so klein war er. Eine kräftige Amme zog ihn auf. Es sind noch einige Blätter vorhanden, die den Anfang seiner Lebensgeschichte enthalten, die er seinem Sohne hinterlassen wollte; leider überraschte ihn aber damals der Tod. Er muß sein baldiges Herannahen gefühlt haben, denn er schrieb in der Vorrede an seinen Sohn:
»Du bist vierzehn Monate alt, ich bald zweiundvierzig Jahre, wir werden uns schwerlich kennenlernen. Ein hartes Zeitalter kürzte meine Existenz, ein besseres wirst du erleben. Weile dann bei der Asche deines Vaters, ehre durch eigene Tugend das Andenken deiner Eltern und Voreltern und empfange als Vermächtnis einzelne Bruchstücke aus meinem Leben, soweit als mein Gedächtnis hinreicht, unterstützt von den Trümmern meiner Tagebücher; benütze, mein teures Kind, die von mir oft teuer bezahlten Erfahrungen und erblicke in diesem Geschenk einen Beweis meiner väterlichen Liebe.
O, mein Sohn! warum muß ich an das Grab denken, jetzt, wo ich dich noch auf meinem Schöße wiege? Doch so will es das Geschick, und es frommt zu nichts, gegen seine Ratschläge zu murren.« – Aber auch diese seine Lebensgeschichte zu schreiben war ihm nicht mehr vergönnt: er brachte sie nur auf wenige Blätter, und seine Tagebücher wurden ein Raub schon eines früheren Brandes zu Hamburg, im Herbste 1822. Er war von einer außerordentlichen Beweglichkeit und Lebendigkeit des Geistes und des Körpers. Von dem Vater erhielt er eine sehr strenge Erziehung, und er klagte noch in späterer Zeit über die harten körperlichen Züchtigungen, die er von ihm erleiden mußte.
Wie sein späteres Leben bei dieser Lebendigkeit des Geistes und Körpers einen furchtlosen entschlossenen Charakter zeigte, so bewies er solchen schon in früher Jugend, wovon gleichfalls folgende Züge Beweise sind:
Wir hatten zu Ludwigsburg ein ausgemauertes Familienbegräbnis. Als die Mutter meines Vaters starb, gab mein Vater dem dazumal ungefähr zehnjährigen Knaben auf, auf den Kirchhof zu gehen und dem gerade am Grabe beschäftigten Totengräber irgend etwas in Hinsicht auf die Begräbnisstunde auszurichten. Der Knabe kam im Augenblicke an, wo der Totengräber den Kopf unseres Großvaters ausgrub. Da nahm der Knabe sogleich den Kopf wie einen freudigen Fund, und in der Meinung, dem Vater dadurch das größte Vergnügen zu machen, überraschte er denselben in der Schreibstube damit. Es ist natürlich, daß der Vater ihn mit demselben nach vorangegangenem starkem Verweise und Belehrung zur Ruhestätte zurückschickte, dem Knaben aber blieb unbegreiflich, warum der Vater keine Freude an dem Kopfe seines Vaters gehabt hatte.
Schon damals befand er sich in der Akademie, in welche er bereits in seinem achten Jahre kam. Als ein siebzehnjähriger Jüngling aus der Akademie in die Vakanz gekommen, bestieg er bei einem ganz im Brande stehenden Hause eine Leiter, auf die sich kein Mensch mehr wagen wollte, und brachte mit höchster Gefahr seines Lebens ein Kind, einen Knaben, aus den Flammen hernieder. Es ist merkwürdig und traurig, daß derselbe Knabe, zum Manne gereift, einen schauerlichen Mord beging und zu Ludwigsburg mit dem Schwerte hingerichtet wurde.
Schon mehrere Jahre vor meiner Geburt hatte mein Bruder Georg die Karlsakademie in Stuttgart bezogen, die damals in ihrer schönsten Blüte war; sie wurde der Gegenstand seines sehnlichsten Verlangens, indem er der strengen väterlichen Erziehung müde war. Sein beweglicher Geist hatte ihn zum Militärstande bestimmt, allein dies war gegen des Vaters Willen, der aus ihm einen praktisch tüchtigen Mediziner und Chirurgen bilden wollte, und nach dessen Wunsche mußte er auch seine Studien in der Akademie einrichten, oft aber durchbrach sein freier Sinn den strengen militärischen Charakter dieser Anstalt.
Einer seiner Lieblingsgedanken war, sich nach Vollendung seiner Studien als Arzt auf ein die Welt umsegelndes Schiff zu begeben, auch schwebte ihm immer Surinam als der Ort seines künftigen Wirkungskreises vor. In dieser Hoffnung hatte er schon früher seinen Körper auf alle Weise abgehärtet und sich jeder Entbehrung unterworfen, und ich erinnere mich, daß er in den Vakanzen, in denen er in das väterliche Haus zurückkam, sich nie einer Bettlade bediente, sondern immer in einer Hängmatte schlief, die er an der Decke seines Zimmers aufgehängt hatte. Die französische Revolution, die so vieles änderte, gab auch ihm eine andere Richtung.
Mit ihm befanden sich zu gleicher Zeit der nachherige Professor Pfaff und Reinhold, nachheriger holländischer Diplomat, in dieser Anstalt; besonders schloß er hier mit letzterem ein Freundschaftsbündnis, das nie und durch nichts gestört ward, obgleich beide noch Knaben waren, als sie sich trennten.
Meines Georgs Freund Pfaff schrieb aus den Zeiten der Karlsakademie Nachstehendes von ihm:
»Ich lernte Kerner erst, seitdem er Chevalier – Ritter eines akademischen Ordens, der den Ausgezeichnetsten in ihren Studien erteilt war – kennen. Er war eine Lehrabteilung vor mir voraus. Hier knüpfte sich bald ein inniges Band der Freundschaft. Er zeichnete sich schon damals durch seine große praktische Tendenz und Tatkraft aus. Müßige theoretische Untersuchungen waren nicht seine Sache. Er war schon ein glücklicher und berufener praktischer Arzt, als er kaum ein Jahr Medizin studiert hatte. Er wollte sogleich seine Kenntnisse zum Nutzen seiner Mitmenschen anwenden. Feinere Anatomie, ferner Chemie, Botanik kümmerten ihn wenig, aber wohl interessierte ihn zum Beispiel die gewöhnliche Apotheken-Chemie, wie sie zum richtigen Auf schreiben von Rezepten notwendig ist. Seine außerordentliche Lebendigkeit und Unruhe machten ihm den praktischen Wirkungskreis zum Bedürfnis. Den größten Einfluß auf seine Studien äußerte indes die französische Revolution. Geschichte war es, was ihn am meisten anzog. Alles bezog er von nun an auf die Ausbreitung und Realisierung der großen Grundsätze, welche die französische Revolution aufgestellt hatte, in allen Verhältnissen. Dadurch wurden freilich seine eigentlichen medizinischen Studien noch mehr gestört, doch seine medizinische Praxis nicht, da er auf Menschen zu wirken keine bessere Gelegenheit kannte. Die Geschichte seiner Promotion 1791 ist interessant. Er hatte weder Zeit noch Lust, eine Dissertation zu schreiben; seine Freunde übernahmen diese Mühe. Es wurden einige dreißig Paragraphen über Metastasen zusammen fabriziert und ungefähr drei oder vier Krankengeschichten als Beilage erdichtet, und der Zweck so vollkommen erreicht, als wenn Boerhave oder Haller selbst die Feder geführt hätten. Nach geschehener Promotion hielt der feurige Republikaner eine deutsche Rede zum Abschiede, was ganz ungewöhnlich war, in welcher er einen Überblick der Geschichte gab und die großen Ereignisse verkündigte, die Europa bevorständen.
Aus unserm Zusammenleben als Chevaliers verdient noch eine Maskenvorstellung auf einer großen öffentlichen Maskerade Erwähnung, in welcher von vier gleichgesinnten Jünglingen in Gegenwart der vielen emigrierten Adeligen, die sich damals in Stuttgart befanden und namentlich auch der Grafen von Artois – der Brüder des jetzigen Königs – der Prinzen von Bourbon usw. die Abschaffung des Adels pantomimisch dargestellt wurde. Einer von uns, selbst ein Edelmann (Herr von Marschall), jetzt erster Minister eines angesehenen deutschen Fürsten (Nassau), repräsentierte den Adel und hatte zu Emblemen einen großen Stammbaum, eine Menge Wappen, mit denen er behängt war. Kerner, ein junger Schweizer, Peters, und ich stellten in den drei Nationalfarben, jeder in eine derselben gekleidet, mit Nationalkokarden und Nationalbändern geschmückt, die französische Nation vor und beraubten unter manchen komischen Szenen den Edelmann aller seiner Wappen, zerrissen seinen Stammbaum und jagten den Kahlen endlich aus dem Saal. Diese Maskenvorstellung machte so viel Aufsehen, daß eine Erwähnung davon in den französischen Zeitungen geschah.
Die genannten Verbündeten hatten den Scherz ausgeführt, ohne ihre Kameraden vorher davon zu unterrichten, was einige darunter so sehr verdroß, daß sie beschlossen, ihn zu überbieten. Kurz vor der Ausführung erfuhr Kerner noch davon und ließ nun nicht nach mit Bitten, bis ihm gestattet ward, daran teilzunehmen. An dem dazu bestimmten Abende erschien im Redoutensaal eine Maske, die Zeit vorstellend, eine Urne im Arm, die durch ihre Schönheit allgemeines Aufsehen erregte. Stumm durchschritt sie den Saal und setzte sich endlich während des Tanzes auf eine Seitenbank. Kerner setzte sich zu ihr und lehnte, indem er dem Tanz zusah, den Arm auf die Urne, die die Maske neben sich gestellt hatte. Plötzlich stand diese auf, ohne jene mitzunehmen, und verließ den Saal. Als Kerner sie in Sicherheit wußte, stand auch er auf und stieß wie aus Ungeschicklichkeit die Urne um. Kaum fiel sie auf den Boden, so entrollten ihr eine Unzahl Zettel, die Menge strömte herbei, jedes erhaschte davon; sie enthielten die ärgsten Freiheitslehren, wie sie damals die französischen Zeitungen gaben, besonders Angriffe gegen die damals in Stuttgart anwesenden Prinzen. Diese eilten zum Herzog und beschwerten sich bitter. Alle Ausgänge wurden augenblicklich geschlossen; vergeblich, es zeigte sich keine Spur von der Maske. Polizeidiener durchsuchten die Stadt, selbst die Häuser nach ihr – sie blieb verschwunden. Die Verschworenen drängten sich unterdessen zu den Polizeioffizianten, boten ihre Dienste wenigstens im Einsammeln der Zettel an. Sie wurden gerne angenommen; aber die Verräter mißbrauchten ihr Amt, indem sie in allen Teilen des Saals ähnliche Zettel, von denen ihre Taschen vollgepfropft waren, verstreuten, von denen sie dann einige den Polizeidienern als Belege ihres Diensteifers brachten. Tags darauf ward bei allen Handwerkern nachgeforscht, welche etwa bei Verfertigung der Maske geholfen; nichts kam ans Licht. – Danneker und Koch, beide in der Akademie, waren die Verfertiger, und rühmten sich dessen in spätem Jahren noch mit Entzücken. Unter den Verschworenen, treu und vorsichtig, fand sich kein Verräter.« – Reinhold schrieb von ihm:
»Die schönste Epoche seines Lebens war die seiner Begeisterung für Ideen, welche eine Wiedergeburt der Menschheit zu begründen schienen, und die sich vielleicht in keinem Gemüte reiner ausgesprochen hat. Diese Begeisterung war überhaupt der hervorragende Zug seines Charakters, die sich in so vielen Handlungen der Aufopferung und Selbstverleugnung aussprach, welche sein Leben vorzüglich in jener Zeit auszeichneten. Die kindliche Hingebung, die all sein Tun begleitete, gewann ihm alle Herzen. Gegen die Revolution verhielt er sich wie Saide gegen Mahomed, er gehörte ihr ganz an, solange er sie für tugendhaft ansah, von ihren Ausartungen hat sich keiner tapfrer losgerissen, und er war mehr als einmal nahe dabei, ihr Opfer zu werden.
So wie in jedem Menschen sich ein Teil der Tendenzen seiner Zeit darstellt, so hat sich in ihm ihr edelstes Streben geoffenbart. Glühende Liebe für das Schöne umgab seine Jugend mit dem strahlendsten Glänze, glühender Haß für das Schlechte adelte sein männliches Alter, aber trug zugleich dazu bei, die Keime seines Lebens zu zerstören. Die Natur hatte ihm ausgezeichnet schöne Gesichtszüge verliehen. In seinen Jünglingsjahren glaubten viele in seinen Gesichtszügen die eines Christuskopfes zu erkennen, wie die veredelnde Tradition ihn dargestellt, später wurde ihm eine große Ähnlichkeit mit Bonaparte beigelegt, ehe die Züge des letztern sich vergröbert hatten.«
Schon von der Akademie aus hatte er im Jahre 1790 Straßburg heimlicherweise mehrmals besucht, namentlich in Begleitung seines Freundes Marschall, auch eines Zöglings der Akademie, der nachher Staatsminister in Diensten des Herzogs von Nassau wurde, und wie Pfaff erzählt, auch damals bei jener demokratischen Maskenszene figuriert hatte.
Als er nun im Jahre 1791 die Akademie verließ, drang er in seinen Vater, ihn auf die Universität Straßburg zu lassen, die dazumal, besonders für Medizin und Chirurgie, in großem Rufe stand; der Vater willigte nicht darein, weil er die freien Gesinnungen seines Sohnes kannte, die in der Nähe des damals ausgebrochenen Vulkanes der französischen Revolution, wie vorauszusehen war, nur mehr Nahrung erhalten mußten. Gegen den väterlichen Willen aber ging sein Zug dahin. Erst als von den Professoren daselbst, namentlich von Sömmering, unterzeichnet vom Maire Dieterich, Zeugnisse einliefen, daß er seinen medizinischen Studien mit Fleiß obliege, stellte sich der Vater zufriedener, und erhielt er auch eine herzogliche Unterstützung. Zu Straßburg lernte er Adam Lux, den nachherigen Verteidiger der Charlotte Corday, kennen, den er später in Paris wieder traf. Mit ihm besuchte er die revolutionären Clubs und war einer der ersten, die damals hier für eine Republik predigten; die Folge war, daß er die herzogliche Unterstützung und alle Unterstützung vom Vater verlor. Von nun an wurde er in den Strudel der französischen Politik gerissen.
Er ging fast ohne alle Barschaft zu Fuß nach Paris, war zuerst für eine Republik, dann Konstitutioneller und Girondist und kam durch seine treue Anhänglichkeit an den konstitutionellen König am 10. August 1792 in die augenscheinlichste Lebensgefahr.
Eine geistreiche Landsmännin, eine Jugendfreundin Schillers, die sich der Kunst wegen zu Paris aufhielt, Fräulein Ludovike Reichenbach, nachher verehelichte Simanowitz, kam damals öfters in Paris mit ihm zusammen, und ich erhielt von ihrer Feder über sein damaliges Leben folgende Notiz:
»Georg Kerner kam von Straßburg mit Empfehlungen von den dortigen Jakobinern zu Fuß nach Paris. Wohl keinen Gulden trug er in der Tasche und lebte unterwegs wie auch eine Zeitlang in Paris deswegen nur immer von Milch. In Châlons hielt er eine Rede in der Jakobiner-Versammlung, ebenso in Paris. Die Jakobiner der Hauptstadt lachten über seinen Akzent, denn er behielt den schwäbischen Dialekt in der französischen Sprache, selbst als er ihrer ganz mächtig war, bei; hatten aber eine Freude an seiner Kraft und Begeisterung und nahmen ihn als Mitglied auf. Er war ganz von der Revolution ergriffen und oft setzte ich ihn zur Rede, daß er seinen medizinischen Studien nicht mehr nachgehe. Es ging ihm die große Sache der Menschheit über alles. Aber eben deswegen konnte er der zum blinden Fanatismus gewordenen Politik der Jakobiner nicht mehr beipflichten, er wurde ihr eifrigster Widersacher. In den Tagen, wo der König sich in höchster Lebensgefahr befand, ging Kerner in seiner National-Uniform in die Tuilerien, mit festem Vorsatz, den König zu beschützen. Mehrere Tage ließ er den König nicht aus den Augen und hätte alles um sein Leben gewagt.
Der damalige Maire von Straßburg, Dieterich, den Kerner sehr achtete, ließ einen Anschlag gegen die Jakobiner drucken, aber kein Mensch wagte in der völlig aufgestandenen wütenden Hauptstadt diese Zettel anzuschlagen. Kerner machte Pappe, nahm eine große Schüssel mit derselben in eine Hand, in die andere die Anschläge, in den Mund aber einen Säbel, sich sogleich damit zu verteidigen, und heftete, rings vom Gesindel verfolgt, zum Schauer seiner Freunde, die Zettel an alle ausgezeichneten Straßenecken an.
Delaveau, ein gefährlicher Jakobiner, begegnete ihm einst und sagte zu ihm: ›Die Guillotine ist permanent.‹ Überall war er als Abtrünniger der Jakobiner bekannt, allein er hatte durchaus keine Furcht und sagte mir oft, er glaube, daß er bald werde guillotiniert werden. Einst ging ich mit ihm nahe bei der National-Versammlung au Quai des Feuillants spazieren, wo sich das Volk immer versammelt hielt; sie schrieen: ›Sehet den kleinen Aristokraten, werft ihn in das nächste Bassin!‹ Ich hatte erstaunlich Bange, ihn aber rührte das nicht.
Der Maire von Straßburg ward ins Gefängnis geschleppt. Kerner wollte ihn besuchen. Man stellte ihm vor, warum er zu einem Verräter wolle? Er aber sagte kühn: ›Der Verräter ist mein Freund.‹ Dies frappierte die Umstehenden, und er wurde zu ihm gelassen.
Als einst ein Deputierter, dessen Name mir entfallen ist, sich des bekannten Generals Lafayette annahm und sich unter dem Volk blicken ließ, so sprang alles wütend herbei und wollte ihn töten, aber Kerner drang noch wütender in den nächsten Volkshaufen ein, ergriff den Deputierten und rettete ihn in eine Wachtstube mit der größten Gefahr seines eigenen Lebens. Dieser Deputierte wurde in der Folge sein eifriger Freund.
Am 9. August abends ging Kerner in Uniform in die Tuilerien, aus Anhänglichkeit an den König, und wachte die Nacht dort. Man weiß, wie es damals ergangen; Kerner wäre mit aller Gewißheit umgekommen, hätte ihn nicht glücklicherweise ein alter Paß von den Jakobinern in Straßburg, der sich noch zufällig in seiner Tasche befand, gerettet. Er war genötigt, sich vom 10. zum 11. August in einer Wachtstube, unter einer Pritsche liegend, die von einer Menge Sansculottes umgeben war, mit Anhaltung jedes stärkeren Atemzuges, versteckt zu halten. Seine Freunde suchten ihn auf, seine Hausleute weinten um ihn und sagten: Kerner ist nun tot, denn alle Männer, die noch leben, sind gekommen, er allein nicht. Am 11. früh, als die Wachtstube von den Sansculottes sich entleerte, ging Kerner zu einem Freunde, nahe an dem Schlosse, unterwegs aber wurde er ergriffen, und nur der erwähnte Paß war seine Rettung.
Nicht allein das damalige Leben der politischen Welt, auch andere Bilder erschienen seiner lebendigen Phantasie im herrlichsten Lichte. In einem lutherischen Lande geboren und erzogen, erschien ihm ein Frauenkloster als ein besonders anziehendes Rätsel, als ein höchst romantisches Bild. Wir gingen einmal zusammen – Herr Rheinwald, sein Freund, war mit uns – auf dem Montmartre spazieren. Auf diesem Berge war ein schönes Fräuleinkloster, die Damen waren noch beisammen, jedoch durfte man hinein. Kerner hatte ein großes Verlangen, wenigstens eine Nonne zu sehen. Er stellte sich die reizendsten Frauen vor, die nur beten und singen und in Heiligkeit leben. Wir kamen zum Sprachgitter; Kerner klopfte an, und gerade trat eine schöne junge Dame ans Fenster und frug, was wir wollten. Kerner, außer sich, trat vor und sagte: ›Madame, je suis ravi de vous voir.‹ Die Dame, ganz betroffen, zog eilig den Umhang vor und verschwand. So war er mit Herrn Rheinwald in einer Kirche, die Nonnen sangen, aber ungesehen, zusammen. Kerner war ganz begeistert über die himmlischen Stimmen: ›Das müssen Engel sein und schön und jung!‹ Rheinwald sagte: ›Nein, lauter alte, neidische, zahnlose Dirnen! hören Sie nicht, wie die Stimmen schettern?‹ Kerner wurde wütend: ›Nein, sage ich, schön und jung und unschuldig wie die Engel!‹
Immer war er auch bei dem äußersten Mangel, der ihn öfters traf, da er von den Seinigen keine Unterstützung hoffen durfte, heiter und voll Lebendigkeit, und alle Menschen, die ihn kennenlernten, liebten ihn.« –
Mit ihm befand sich damals der Professor Kammerer in Paris und von ihm ist folgende Mitteilung:
»So sehr Kerner mit ganzer Seele der Freiheit anhing, das Glück derselben über die ganze Welt verbreiten zu können wünschte, so fand er doch jetzt, da er sich in der Nähe des Vulkans befand, von dem die Erschütterung ausging, bald den Boden ganz anders, als er sich in der Ferne vorgestellt hatte. Er lernte einige von den Revolutionsmännern und die geheimen Triebfedern und Leidenschaften, die sie beseelten, näher kennen, er hörte das wütende Geschrei und die rasenden, alles menschliche Gefühl empörenden Vorschläge, die von der Jakobiner-Tribüne ausgingen, und sah die schändlichen Mittel, die man zu ihrer Ausführung anwendete. Sein gerader, auf Menschenrecht und Menschenglück gerichteter Sinn ertrug es nicht, diesem Unwesen zuzusehen. So sehr er daher als erklärter Klubs-Freund nach Paris gekommen war, so entschieden erklärte er sich nun dagegen, ohne deswegen seine Wünsche für Freiheit und eine wohleingerichtete Verfassung aufzugeben. Er hatte sich in seiner Sektion als Citoyen und Nationalgardist einschreiben lassen, eine Ehre, mit der man damals gar nicht karg tat. Nun kam er fleißig in die Versammlung seiner Sektion, sprach dort und manchmal selbst auf einem öffentlichen Platz freimütig und stark seine Grundsätze von Volksglück und Freiheit, aber auch von Haß gegen die angeblichen Volksfreunde aus, die durch Übertreibungen und Ausschweifungen der Sache schadeten. Hierzu gehörte um so mehr Mut, je wütender die Gegenpartei war und je mehr der Fremde, der auch der Sprache noch nicht völlig Meister war, wenigstens seinen accent allemand nicht verleugnen konnte, sich von selbst als Fremder verriet.
Kerner hatte sich nach und nach eine kleine medizinische Praxis erworben, wozu neben seiner Geschicklichkeit besonders auch seine Uneigennützigkeit nicht wenig beitrug. Außerdem hatte er seit dem Herbst 1792 den Auftrag erhalten, für die Hamburgische Zeitung (Adreßkomptoir-Nachrichten), die damals auf Kosten des dortigen Handelsmannes Klopstock, eines Bruders des Dichters, herauskam, wöchentliche Nachrichten aus Paris einzuschicken. Auf diese Art konnte er bei seiner Genügsamkeit sich recht gut fortbringen und selbst seiner Neigung, wohltätig zu sein, noch hie und da freien Lauf lassen; denn Gutmütigkeit, Edelmut, Biedersinn waren die Hauptzüge in seinem Charakter, und aus dieser reinen Quelle floß sein Enthusiasmus für Freiheit, die ihm anfänglich in goldenem Lichte entgegenglänzte. Dennoch war er nicht so blind und schwach, daß er sich so leicht durch Heuchler hätte täuschen lassen, ebensowenig im gemeinen Leben als in öffentlichen Angelegenheiten. Ich erinnere mich, ihn einst auf einem Spaziergange begleitet zu haben; es näherte sich uns ein in Lumpen gehüllter, elend und schwarzgelb aussehender Bettler. Kerner war im Begriff, ihm etwas zu reichen, plötzlich aber ergriff er die Hand des Bettlers, spie darein, rieb sie an seinem Rock ab und siehe da, die schwarzgelbe Farbe, womit der Betrüger, Mitleid zu erregen, sich beschmiert hatte, ging ab, und er wurde mit einem derben Verweis entlassen.
Seine edlen Eigenschaften, die sich auf den ersten Blick in seinem Gesichte aussprachen, erwarben ihm immer mehr Bekannte und Freunde. Ohne besondere Adressen nach Paris zu haben, wurde er bald, besonders seinen württembergischen Landsleuten bekannt, wovon ihn immer wieder einer dem andern zuführte, und unter diesen wurde die Bekanntschaft mit Graf Reinhard für ihn die folgenreichste. Alle waren ihm mit der innigsten Anhänglichkeit und Liebe zugetan, die er auch in hohem Grade verdiente; aber auch unter andern in Paris lebenden Deutschen und unter den Franzosen selbst wußte er sich Liebe und Wohlwollen zu erwerben; sogar Männer von der Regierung behandelten ihn mit Achtung und ließen seinen Grundsätzen Gerechtigkeit widerfahren. Kosciusko, Schlabrendorff, Oelsner, Ebel, Reinhard, Lux waren seine innigsten Freunde.« In nachstehendem Briefe vom 30. Dezember 1792 an seinen Freund Reinhold, erzählt er selbst einen Teil seiner Erlebnisse zu Paris während der sturmvollsten Zeit der Revolution.
Paris, le 30 Déc. 1792. An I. de la R.
Gott verdamme mich, wenn ich so verschiedener Meinung von Dir wäre, als Du in Deinem Briefe, den ich soeben, abends um sechs Uhr, erhalte und um sieben Uhr beantworte, zu glauben scheinst. Ja, mein Bester, man muß in meiner Lage sein, um die Verschiedenheit meiner beiden Briefe einzusehen. Stelle Dir alle die schmerzhaften Gefühle vor, die die Begebenheiten des Augusts und Septembers in mir erzeugten; stelle Dir eine gewisse Art der Verzweiflung vor, die all diese Szenen in mir hervorriefen, und Du wirst nicht zweifeln, wie unendlich begierig ich war, an dem ersten glücklich scheinenden Umstände mich festzuhalten, der sich mir darbot, und dieser Umstand, ich gestehe es, war der glückliche Fortgang der französischen Waffen und der so günstige Einfluß, den derselbe, wie ich hoffte, auf die innere Lage Frankreichs und auf die Lage Teutschlands haben sollte.
Ich vergaß auf einen Augenblick den fressenden Krebs, der den französischen Staatskörper zugrunde richtet, ich vergaß auf einen Augenblick tausend Dinge, die ich nicht hätte vergessen sollen. Auf einige Augenblicke, sage ich! – denn das Tagebuch des National-Konvents, die Manen der gemordeten Bürger, die grenzenlosen Betrügereien, die überall verübt wurden, die schrecklichen Wirkungen des Freiheits-Fanatismus, die überhandnehmenden Bedürfnisse des Staats und der geringe Eifer, ihm auf eine reelle Art zu Hülfe zu kommen, die überall sich äußernden Symptome der Verdorbenheit oder der Unwissenheit, jene Schwäche verratende Prahlerei und jener allzu sichtbare Mangel an Tugend rief mich frühe genug aus meinen Träumen zurück, und statt jener wiederauflebenden Achtung, die ich übrigens dem Eifer schuldig war, mit dem die Jugend dieser Nation ihre Freiheit gegen Tyrannen verteidigte, statt jener Achtung fühlte ich täglich mehr mich von einem Grad von Erbittrung durchdrungen, der mich auf einen Gedanken führte, den nur derjenige haben kann, der gegen französischen Fanatismus und Verdorbenheit ebenso erbittert wie gegen teutsche Fürsten und teutsche Sklaverei ist. Ich fand, daß die Tugend der französischen Miliz so gering, die schändlichen Handlungen, die einzelne Teile derselben ausübten, so groß waren, daß die Anarchie, an der sie krank lag, so beträchtlich war, daß die Beispiele, die sie gab, eher die Nationen von Verbindungen abschreckten, als sie dazu einluden; was ich noch Gutes fand, war die Übermacht der französischen Waffen. – Ich hielt mich an diese; ich sah sie als eine Keule an, um teutsche Fürsten niederzuschlagen und das teutsche Reichssystem in tausend Trümmer zu zerschmettern. Diese Zertrümmerung vollbracht, war mein zweiter Gedanke, die zertrümmernde Keule gleich dem abgenutzten Meisel nach vollbrachter Arbeit hinzuwerfen, die Franzosen für ihre Mühe zu bezahlen, und sie entweder heim in ihre Gegend zu schicken, oder sie zu jener Ordnung zu zwingen, ohne die kein Völkerglück stattfindet und zu der der Teutsche von Natur und aus Grundsätzen mehr als andre Völker geneigt ist. – Darum sucht ich alles anzuwenden, um Teutschland, besonders Baden, Württemberg und die Pfalz, zum Gegenstand der französischen Kriegsoperationen zu machen; darum bot ich alles auf, um in meinem Vaterlande selbst meine Freunde mit jenem edlen Hasse zu beseelen, den schreiende Mißbräuche in dem Herzen eines jeden Freundes der Menschheit erzeugen müssen. Mehrere Klugheit von französischer Seite, und die Sache wäre vielleicht nicht so sehr von ihrer Realisierung entfernt. Hätte man die bigotten Niederlande ihrem Schicksal überlassen und sich begnügt, diesem verworfenen Volk und besonders seine fanatischen Priester mit Kontributionen heimzusuchen, hätte man sich begnügt, von dieser Seite die französischen Grenzen zu beschützen und dafür von dem Elsaß aus in Teutschland einzudringen, hier einen Versuch zu machen und im äußersten Fall wenigstens alle Maßregeln zu nehmen, um das Vorrücken der östreichschen Truppen aus dem Innern Östreichs durch Wegnahme aller Magazine, aller entbehrlichen Lebensmittel zu verhindern, so hätte man auch bei dem geringsten Erfolg immerhin mehr als bei allen gegenwärtigen Fortschritten gewonnen. Eine baldige Organisation einer Nationalgarde in den teutschen, von Franzosen besetzten Ländern wäre ein kräftiges Mittel gewesen, diese sonderbaren Republikaner in Respekt zu erhalten und sie im Fall von Exzessen ebensosehr zum Teufel zu jagen, als im Fall eines guten Betragens als Freunde und Brüder zu behandeln.
In Teutschland, hoffte ich, sollte die Freiheit einen günstigen Boden finden, diese Freiheit, die auf immer aus Europa verbannt zu sein scheint. England allein bietet noch einigermaßen ein erfreuliches Schauspiel dar; die strenge Behauptung einer Verfassung, die selbst bei ihren Mängeln dennoch das Nationalglück befördert und persönliche und Eigentumssicherheit begünstigt, diese strenge Behauptung, die selbst sonst entgegengesetzte Parteien zu einem Zweck, zur Erhaltung der Verfassung, vereinigt, ist in der Tat ein erhebendes, ich möchte beinahe sagen, rührendes Schauspiel; die nachdrückliche Sprache Englands kann vielleicht Einfluß auf Ludwigs Schicksal haben, seine Verteidigung von Deseze, Tronchet und Malesherbes ist vortrefflich, und wäre man in den Departementen minder Ochsenkopf und minder fanatisch, so müßten ihnen endlich wohl die Augen geöffnet werden. In dem National-Konvent scheint die Majorität der Redner gegen die Todesstrafe und für den Appell an das Volk, andere für die Verbannung, andere für die Gefangenschaft zu sein. Robespierre ist, wie Du Dir leicht vorstellen kannst, für die Todesstrafe. Das sonderbarste in seiner Rede ist, daß er aus dem Grundsatze, der tugendhafteste Teil der Menschheit ist immer der kleinste, den Schluß machte, daß die kannibalenartige Minorität des Konvents der bessere Teil sei.
Du fragst mich nach der Sittlichkeit mehrerer Mitglieder? Robespierre war von jeher ein Narr – Manuel, der sich den ehrenwerten Haß der Pariser Unruhköpfe zugezogen hat, war bei der ehemaligen Polizei angestellt, wo nur wenige ehrliche Leute sich gebrauchen ließen; Condorcets unedler Charakter erhellt aus seiner Undankbarkeit gegen die Familie Rochefoucauld und aus seinem Betragen bei der legislativen Versammlung – der ganze Nationalkonvent enthält nur wenige ehrliche Leute; der eine Teil predigte Unordnung und Gesetzlosigkeit, bis er seinen Zweck erreicht hatte, und predigt jetzt Ordnung und Gesetzmäßigkeit, um sich in dem errungenen Vorteil zu erhalten; der andere Teil fährt fort die Anarchie zu begünstigen, weil ihm die gehofften Früchte nicht zuteil wurden und er noch nicht die Hoffnung, sie zu erringen, aufgegeben hat. Ich mag nicht weiter von diesen Leuten reden, die sich eher Rippenstöße, als ihrem Vaterlande weise Gesetze zu geben verstehen; die kommenden Zeiten werden sie noch strenger als ihre jetzt lebenden und erbittertsten Feinde richten. Was die kommenden Begebenheiten des folgenden Jahres sein werden, so wage ich nicht irgend eine Mutmaßung mitzuteilen; die Wirkungen des Fanatismus waren von jeher fürchterlich – Krieg scheint für Frankreich, bei dem gestörten innern und äußern Handel, bei den wenigen Reizen, die Künste und Wissenschaften darbieten, und der Menge darbender Einwohner, jetzt je mehr und mehr Bedürfnis zu werden, und ich ahne noch immer, daß die französische Revolution größere Umwälzungen in Europa zur Folge haben wird. Vielleicht daß der Norden, die weitschichtigen und entvölkerten Gegenden Rußlands, vielleicht das nördliche Amerika der einzig schnell gewinnende Teil endlich sein wird. – Die Holländer rüsten sich endlich also auch, und Du, der Du besser auf einem Katheder irgend einer deutschen Universität taugtest, willst also Dein Schwert auch umgürten. – Leider kann ich nicht zur französischen Armee abgehen, leider Dich nicht zum Gefangenen machen, das heißt, Dich endlich mit Gewalt zu unsrer längst gewünschten Zusammenkunft zwingen und an Deiner Seite alle Reize einer aufrichtigen Freundschaft genießen.
Seit dem Monat August befand ich mich niemals vollkommen wohl; nach den blutigen Szenen des Septembers war ich einige Tage krank, erholte mich, wiewohl nur unvollkommen: seit dem Monat November war ich zweimal schon sehr krank, daß man an meiner Genesung zweifelte. Ein fürchterliches Fieber hatte mich zum Gerippe abgezehrt; alle meine Geschäfte legte ich beiseite und besorgte nur die Hamburger Korrespondenz, wobei mir einer meiner Landsleute in den heftigsten Tagen meiner Krankheit hülfreiche Hand leistete. Ein schleichendes Fieber machte mich beinahe zu allen Geschäften unfähig, und nur die Freude, die Dein unverhoffter Brief bei mir erregte, gibt mir hinlängliche Kraft, ihn sogleich zu beantworten.
In Rücksicht meiner bisherigen Schicksale schreibe ich Dir noch folgendes: Am 10. August war ich auf der Wacht in den Tuilerien – und ich weiß nicht, zu was mich das Schicksal noch aufbehalten hat – genug, ein Wunder erhielt mir das Leben: ich stand in einem Seitenhofe des Schlosses (die Posten wurden immer durch das Los ausgeteilt); als die Gefahr dringend wurde, verließ uns die Kanone, die wir hatten, mit den Kanoniers, und mehr denn drei Vierteil unsrer Mannschaft, etwa zwanzig, warfen sich in das kleine Wachthaus und erklärten, sich hier totschießen zu lassen (wohl noch zu bemerken, daß uns ein Munizipal-Offizier, namens Borie, vorher die Artikel des Gesetzes vorlas, die uns zur Behauptung unsres Postens verpflichteten. Eine Kompanie Schweizer war auch gegenwärtig, man zog aber die gleich nachher in den innern Schloßhof zurück). Kaum brüllte der erste Donner, so nahm die zusammengeschmolzne Garnison Reißaus. – Ich war wie betäubt, tausend Bilder von den schrecklichen Folgen, die diese Blutszene haben würde, drängten sich mir nacheinander mit Gewalt dar; ich konnte mich nicht zur Flucht entschließen – und da saß ich allein in meiner Wachtstube – plötzlich fliegen einige Flintenkugeln an die Fensterrahmen: vermutlich wurden sie nicht grade geflissentlich dahin abgeschickt und sollten an den hervorragenden Teil des Schlosses gehen. Das Wachthaus stand in dem sogenannten Cour de Marsan. Jetzo fing ich an, an meine Selbsterhaltung zu denken und einen Zufluchtsort zu suchen, ich fand denselben unter dem Feldbett oder der hölzernen Bank, auf die man sich legt. Kaum war ich unten, und alle Augenblicke glaubt ich, die Bank stürze über mir zusammen, so drängt ein Haufen von Leuten in die Wachtstube, an deren entblößten Füßen ich sah, daß sie keine Hofherren waren. Sie fanden einen guten Vorrat geladner Flinten, suchten überall über mir in den Strohsäcken und sahen zu allem Glück nicht unter das Lager. Ich hielt in diesem Augenblick meinen Tod für gewiß, übrigens behielt ich die größte Geistesruhe bei. – Kaum war dieser Haufe hinaus, so verließ ich meinen Winkel, ging grade zum Wachthaus hinaus und geriet mitten in einen Haufen von Sansculottes, die zum gegenüber befindlichen Tor hereinkamen. Ich nahm eine gleichgültige Miene an, und mein Gang war so unbekümmert, daß sie mich für einen der Ihrigen hielten, und so gelangte ich in einem naheliegenden Café an, nachdem ich noch vorher hart an einem gemordeten Schweizer vorüber mußte. Kaum war ich in diesem Café angelangt, so malten sich auf meinem Gesichte alle Empfindungen, die diese schreckliche Szene in mir hervorbringen mußte: ich eilte nach Hause, wurde unterwegs zweimal angehalten, indem ich zu zweienmalen auf an mich gemachte Fragen antworten mußte und man aus meinem teutsch-französischen Akzent schloß, daß ich ein verkleideter Schweizer sei, mein Brevet half mir glücklich durch und bis zu der Wohnung eines Freundes. Ich hatte drei Nächte nicht geschlafen, das erste, was ich tat, war, mich auf das Bett zu werfen, wo ich vierzehn Stunden ununterbrochen fortschlief. – Morgens um sechs Uhr am 10. August wüßt ich schon, daß es übel mit dem Schloß aussehen würde. Die kriechende Schmeichelei einiger Nationalgarden, die den König gleichsam führten, ihr Geschrei: »Es lebe der König!« und ihr Stillschweigen, als man rief: »Es lebe die Nation!« brachte sogleich eine beträchtliche Spaltung unter der Garnison hervor; ferner brauchten die Feinde, um die Harmonie, die unter der Garnison herrschte, zu stören, eine Kriegslist, die mir augenblicklich von den wichtigsten Folgen zu sein schien: es langte nämlich gegen sechs Uhr ein ganzes Heer Sansculottes, unter dem Vorwand, die Garnison zu verstärken, an, und das war sogleich das Signal einer gänzlichen Konfusion. Die Unentschlossenheit Ludwigs, die überhandnehmende Gefahr und seine endliche Entfernung in die Nationalversammlung brachte dieselbe auf den höchsten Grad, die Kommandanten verloren den Kopf, man gab keine Befehle, machte keine Anordnungen mehr, und der gemeine Soldat war auf diese Art ganz sich selbst überlassen.
Die Menge der Chevaliers und die Hof-Canaille, die die Nacht über in das Schloß kam, um vermutlich von den Fenstern aus zu schießen, hatten ebenfalls viel zum unglücklichen Ausgang dieses Tages beigetragen. – Am 2. September drohte mir ein heftiger Patriot meiner Sektion, in der ich als Royalist verschrieen war, und da es in diesen Tagen der Anarchie genug war, von einem Menschen bedroht zu sein, so machte ich mich in eine andere Gegend der Stadt, blieb etwa vier Tage bei einem guten Freunde, und kaum waren die Barrieren wieder geöffnet, so begab ich mich aufs Land, wo ich einen Monat blieb.
In meiner Sektion gebot mir die Klugheit, noch nicht wieder zu erscheinen, da sie ohnehin eine der tollsten von Paris ist. Ungeachtet aller dieses Mißgeschicke und Verfolgungen wollte ich gern mein Leben geben, wenn nur das Massaker vom 2. September nicht stattgehabt und man sich am 10. August minder kannibalisch betragen hätte. Du fragst mich, wie es mit meiner Wissenschaft geht? Ich werde vermutlich nächstens die hiesige schwedische Infirmerie übernehmen; zwar trägt sie nur vierhundert Livres jährlich ein, allein ich habe hier Gelegenheit, meine Wissenschaft auszuüben und dadurch vielleicht nach und nach eine kleine Praxis zu erlangen, im Falle ich hier bleibe, denn ein reizendes Anerbieten, das mir wiederholtemalen gemacht wurde, könnte mich wohl hundertfünfzig Stunden weiter von Dir entfernen. Du wirst Dich aus den öffentlichen Blättern erinnern, daß an dem Tage, da man Lafayettes Sache in der National-Versammlung diskutierte und man das vorgeschlagene Anklage-Dekret verwarf, mehrere Deputierte nach geendigter Sitzung von dem Pöbel verfolgt wurden. Ungefähr sechzig Nationalgarden hatten sich das Wort gegeben, in den Volksbühnen an diesem Tage zu erscheinen und durch die tiefste Ruhe das anwesende Volk zur Nachahmung zu bewegen; sechs kamen, und um nicht ohne von allen Seiten begafft zu werden, saßen wir mitten in einer der Volksbühnen. Die Sitzung war geendigt, kaum war ich unten auf der Straße, so sah ich einen der Deputierten von einigen wütenden Weibern und Kerls verfolgt – man warf ihm vor, für Lafayette gestimmt zu haben. Er ging unbekümmert seinen Gang fort, der mit jedem Augenblick gefährlicher wurde. Ich sah nicht so bald seine Gefahr, als ich mich ganz nahe hinter ihn machte und ihm zuflüsterte: »Soyez tranquille, s'il le faut, je périarai en vous défendant«; ich nahm auch meinen Säbel unter den Arm. Der zuströmende Haufen wurde jetzt immer größer, denn die Kerls riefen: »Un voleur!« und wir konnten nicht weiter fort. Zum Glück war der Rücken des Deputierten durch eine Mauer geschützt und ich haranguierte so gut ich konnte das Volk, beschwor es, sich nicht an seinen Gesetzgebern zu vergreifen, unterdessen, da ich so einigermaßen Ruhe herstellte, kamen mehrere Nationalgarden, wir nahmen den Deputierten hierauf in unsere Mitte, fielen in die Hände von Marseillner, flüchteten glücklich in ein Wachthaus und wurden hier belagert; fünf Deputierte hatten sich schon früher dahin geflüchtet, unter andern Dumoltard, dessen Stellung hinter einem Tisch, auf welchem eine Trommel stand, die seinen Kopf dem Auge verbarg, ich niemals vergessen werde. Die Belagerung wurde mit jeder Minute ernstlicher, die Wache war auf dem Punkt forciert zu werden – ich stand mit bloßem Säbel unter der Tür – als ich plötzlich niemand mehr in der Stube gewahr wurde; alle hatten durch ein hinteres Fenster salus in fuga gesucht.
Jetzt lag mir nichts mehr an den Stürmern, sie konnten jetzt wohl eindringen, ich eilte durch die nämliche Öffnung den Deputierten nach, von denen Dumoltard noch einmal in Feindes Gewalt geriet, woraus ich ihn wieder befreien half. Der erste Deputierte heißt Fournier, aus dem Departement Hautes Pyrenées, wir sind jetzt die besten Freunde, und seine Freundschaft ist mir um so schätzbarer, da er ein edler, aufgeklärter Mann ist. Er kehrt zu Ende des folgenden Monats in sein Departement zurück und schlägt mir vor, bei ihm als Freund und Bruder zu leben. Ich habe mich nicht entschließen können, aus Gründen, die Du Dir einbilden kannst, jedoch bin ich im ganzen genommen noch unschlüssig. Cailhasson den Du aus den öffentlichen Blättern kennen wirst, und der auch Mitglied der Nationalversammlung war und aus Toulouse ist, hat mich ebenfalls eingeladen; ich hatte auf dieser Reise das Glück, diesen würdigen Mann wieder umarmen zu können.
Vor einigen Tagen ist Wolzogen hier angekommen, ich glaube, er hat Aufträge an das hiesige Gouvernement von dem Herzog. Daß Du Marschall gesprochen hast, freut mich – ich beneide ihn in der Tat wegen diesem Glück. Du hättest mir ausführlicher schreiben sollen. Grüße mir ihn tausendmal und sage ihm, daß ich ihm verzeihen wolle, Fürstendiener zu sein, wenn er seinen Einfluß auf seinen Fürsten dazu verwenden werde, die kleine Zahl der Untertanen desselben glücklich zu machen: man hat diesen kleinen Reichsteufel beinahe zu hart mitgenommen. Du schreibst mir: von allen Seiten rücken Teutsche herbei, die National-Ehre zu rächen; sind es Kroaten oder Tolpathen? – Auch Du, mein kaltblütiger Freund, bist der Überspannung fähig, Du siehst Teutsche, wo ich nur gedungen Gesindel blicke, das weder Begriffe von Vaterland noch Freiheit hat und das man wie Negersklaven behandelt. Wenn man teutsche Ehre rächen wollte, so sollte man mit der Vernichtung der Mörder der Stadt Frankfurt anfangen!! –
Deine Nachricht von St. Sernin freut mich. Du scheinst mir das Mitleiden, das ich über ihn äußerte, übel genommen zu haben – es tut mir leid – mein Mitleid erstreckt sich aber auf alle Emigrierten, die nicht feindlich gegen ihr Vaterland gehandelt haben – die übrigen verdienen alle den Galgen. Die französischen Prinzen handeln schändlich, das Schicksal des unglücklichen Königs ist besonders ihnen zuzuschreiben. Einige Sektionen, namentlich die von Luxembourg und Théâtre Français oder jetzt Marseille und die Sektion de l'Abbaye (die meinige) haben einen Eid geschworen, daß, im Fall der Konvent den unglücklichen Monarchen nicht zum Tode verdammen sollte, sie ihn selbst daniederstechen würden. So sehr groß ist die Anarchie, daß ein Haufe verrückter Kerls im Angesicht der Gesetzgeber sich über alle Gesetze erhebt. Sie träumen, eine unsterbliche Handlung zu begehen, sie sprechen von Brutus und Caesar – gleich als fände eine Ähnlichkeit zwischen Ludwig und Caesar statt, wovon jener in einer drückenden Gefangenschaft schmachtet, während dieser am Morgen seines Todestages mit einem Wort noch eine halbe Welt zittern machen konnte! Der Unterschied ist unendlich, und diese Elenden, statt an die Seite eines Brutus sich zu schwingen, werden unter die unterste Klasse gemeiner Mörder zurücksinken. Allein diese Leute sind der Überlegung unfähig, durch ihre Leidenschaften verblendet, glauben sie in die Fußstapfen der größten Söhne Roms zu treten und gehen den Weg gewöhnlicher Banditen – Adieu Republik, Adieu Freiheit! – wenn diese Leute nicht bald als Narren erklärt werden. Vorgestern wollte man eine kleine Wiederholung der Szene vom 2. September machen, allein man traf die nötigen Anstalten, um den teuflischen Projekten dieser Republikaner zuvorzukommen. Sie wollten die Sturmglocke läuten, Santerre und der Kommandant des hier befindlichen Marseiller Bataillons rüsteten sich aber zum Widerstand. Einige Sektionen, besonders die der Gardes françaises, haben diesen Entschluß laut mißbilligt; der Gemeinderat scheint aber nicht mit dieser Mißbilligung zufrieden zu sein; derselbe hat auch gestern den Schluß gefaßt, daß die Tempel-Kommissärs nichts mehr in ihren Berichten von der königlichen Familie erwähnen sollten, insofern es das öffentliche Mitleiden erregen könnte.
Schreibe Marschall, daß ich oft an ihn denke, und er mir doch auch einmal einige Linien schicken soll. Er wird darüber nicht in Ungnade fallen, wenn er nach Paris einen Brief schickt. Gib ihm so einen kleinen Auszug aus meinem Brief und versichere ihn meiner aufrichtigsten Freundschaft. Jetzt Adieu! mein liebster, mein bester Reinhold! Ich hoffe Dir in meinem nächsten Brief bessere Nachrichten von meiner Gesundheit geben zu können, die jedoch bei meinen tausend Bedrängnissen nicht so bald vollkommen hergestellt sein wird.
Weißt Du nichts von van de Velden? Grüße mir St. Sernin, wenn er bei Dir ist, unbekannterweise. Petif, Vellnagel, Dertinger, was machen sie? Lebe wohl! Ewig Dein Freund
G. Kerner.
Unter diejenigen seiner Freunde in dieser Schreckenszeit zu Paris, deren Ermordung er am tiefsten betrauerte, gehörte neben dem Straßburger Maire Dieterich besonders auch Adam Lux aus Mainz, ein junger Mann, der wie er, nur von Gesinnungen für reine bürgerliche Freiheit beseelt, sich mit Abscheu von dem Terrorismus eines Marat und anderer Volkstyrannen abwandte und als mutiger Verteidiger der heldenmütigen Charlotte Corday auf dem Schafotte fiel, wie auch ihm, in Verteidigung seines Freundes, des Maire Dieterich, fast das gleiche Schicksal geworden wäre.
In Briefen, die er im Jahre 1795 in der Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte, der »Clio«, abdrucken ließ, widmete er seinem edlen Freunde Lux einige Gedächtnisblätter, die er damals im Manuskripte in die Heimat sandte und die ich in späteren Jahren, obgleich noch ein Knabe, mit Teilnahme las. Ich hörte ihn oftmals behaupten: es hätten diese seine Blätter über Lux Jean Paul zur Basis seines bekannten herrlichen Aufsatzes über Lux und Charlotte Corday gedient. In diesen Briefen schrieb er also:
Adam Lux ist aus der Gegend von Mainz, lebte daselbst im Zirkel seiner Gattin und seiner Kinder als begüterter Landmann und als kenntnisreicher Philosoph. Sein vorzüglichstes Vergnügen war das Studium der Alten. Ein reifer Verstand, eine für alles Erhabene empfängliche Seele, ein fester und gesunder Körperbau waren die unschätzbaren Eigenschaften, die er, was so selten ist, vereinigt besaß. Die Geschichte der griechischen und römischen Republiken fesselten ihn mit Allmacht, und Catos Seele schien in die seinige überzufließen. Als die fränkischen Fahnen auf den Wällen von Mainz wehten, als sich in Mainz die Abgeordneten der eroberten Rheingegenden einfanden und die rheinischdeutsche Konvention formierten, da trat auch Lux als Mitglied in diese Versammlung, von der er, als sie die Vereinigung mit Frankreich votierte, nebst Potocky und dem berühmten für die Freiheit und die Wissenschaften zu früh dahingeschiedenen Forster nach Paris an den National-Konvent abgeschickt wurde. Die Mainzer Deputation kam gerade in einer Epoche an, wo der Kampf zwischen der Girondistenpartei und der Bergpartei schon so weit gekommen war, daß die konspirierende Pariser Munizipalität mit Hülfe einiger Häupter der letztern die erstere Partei mit einer beispiellosen Wut bekämpfte. Man kann sich leicht denken, an welchen der beiden Teile Lux's Wünsche sich anschlossen.
In sich selbst verschlossen, entfernt von der Gesellschaft, kehrte er meistens nur abends bei Eröffnung des Schauspiels in dieselbe zurück, den übrigen Tag brachte er auf einsamen Spaziergängen, besonders in dem Gehölze von Boulogne zu, wo er, unter dem erquickenden Schirme einer Eiche, bald in den Briefen des Brutus an den Cicero, bald in andern alten Schriftstellern sich mit den großen Republikanern des Altertums vertraut machte und, von ihren heiligen Schatten umringt, in tiefe Betrachtungen versunken, die Größe der Vorzeit, die schimpfliche Lage seines Vaterlandes und den damaligen Stand der Dinge in Frankreich berechnete. Ich traf ihn mehrmals auf seinen Spaziergängen. Seine Stirne war faltenlos, seine Stimme ruhig wie die eines denkenden Mannes: der ernste Blick seines Auges schien mitten in einer Art von glänzender Heiterkeit, dem Gepräge seiner Seelenruhe, zu schwimmen. Die Revolution vom 31. Mai erschien, und die Erfüllung aller der furchtbaren Ahnungen, gegen die er sich bisher zu waffnen suchte, – begann. Einige seiner Freunde trugen die Trümmer der Republik mit sich in das Gefängnis, andere irrten mit denselben in den Departements umher und suchten Männermut, republikanische Tugenden und Hülfe gegen den siegenden Despotismus. Schon waffnete sich der Mittag und in dem Westen schien das Gewitter in eben dem Augenblick auf das Haupt der Verbrecher herabstürzen zu wollen – als die Verräterei, sinnreicher als die Tugend, den drohenden Blitz von sich abwenden und auf das Haupt derer zurückfallen machte, die ihn der Freiheit und der Republik zu Gunsten hervorgerufen hatten.
Mitten unter den Zurüstungen der Departements entschloß sich ein Mädchen, die zu Boden getretene Freiheit zu rächen – zwischen ihrem Entschlusse und der Ausführung war nur der Weg, den sie von Caen nach Paris zurückzulegen hatte. Kaum hatte ihr Auge den Ort erblickt, wo die große Freveltat, die Ermordung der Freiheit, sich ereignet hatte – so stieß schon ihr rächender Arm den rächenden Dolch in Marats verbrecherische Brust. – Darf man sich noch wundern, daß sie gerade ihn wählte, ihn, der weit entfernt, gleich einem Pache seine scheußliche Seele zu verbergen, sie ebenso wie seine ekelhafte Figur zu Hülfe rief, zur Schau stellte, und so zum sichtbaren Mittelpunkte alles desjenigen machte, was sich zu Verbrechen und Greueltaten fähig fühlte. Seine Mordepisteln waren ihr bekannt, er mußte also fallen.
Lux, der sich gerade in der Honoréstraße befand, als eine ungewöhnliche Bewegung auf den Straßen seine Aufmerksamkeit erregte, fragte nach der Ursache derselben. Man antwortete ihm, daß man die Mörderin Marats soeben zum Schafott führe – das heißt, das große Opfer einer bessern Welt übergebe. Lux blieb unter den Zuschauern. Charlotte Corday erschien, ihr Auge war mit einem Gemisch von Größe und Mitleiden auf die Volksmenge geheftet. – Lux las in ihren Zügen, was nur wenigen zu lesen vorbehalten war – sein Blick begegnete dem ihrigen – mehr bedurfte es nicht, um in dem Innersten ihrer Seele zu lesen und jene Harmonie entdecken zu können, die große Herzen in einem Moment auf Ewigkeiten verschwistert. – Man hatte ihm von einer aristokratischen Fanatikerin gesprochen; er fand eine Republikanerin, die, nachdem sie dem Rache fordernden Vaterland den hohen Tribut gebracht hatte, die Gesetze zu versöhnen, mit jenem Blick dem Tode entgegenging, die ihrem Wesen noch drei Schritte vor dem Schafott jene verklärte Gestalt zu geben schien, die ihr erst jenseits desselben zuteil werden sollte: man hatte ihm von einer alten Betschwester gesprochen, und er fand ein Mädchen in der vollkommensten Jugendblüte, ein Mädchen, dem die nahe Gegenwart des Todes keine der Rosen rauben konnte, die ihre Wangen schmückten – dem die jungfräuliche Sittsamkeit, gepaart mit Heldenmut und Schönheit, jenen unaussprechlichen Reiz gab, dem selbst der stupideste Fanatismus durch ein plötzliches Unterbrechen seines wilden Gebrülls und das Verbrechen durch eine dem schwachen Überrest von Menschlichkeit entschlüpfte Träne huldigen mußte. Lux folgte Charlotten bis an das Schafott, sein gut organisiertes ungeschwächtes Auge erblickte die kleinste ihrer Bewegungen, die Art, womit sie sich dem Schafott näherte und das Totengerüst bestieg, die sanfte Schamröte, die selbst das drohende Beil nicht zurückschrecken konnte, als die Blutknechte ihr den jungfräulichen Busen entblößten – nichts entging seinem spähenden Blicke: das Eisen fiel – sprachlos und wie vom Donner gerührt, stand er neben dem Trauergerüste und riß sich endlich nur mit Mühe von dem schrecklichen Schauspiel los. Noch ein Blick auf den enthaupteten Leichnam – und in eben dem Augenblick schlägt eine wilde Bestie das blutende Haupt ins Gesicht.
Die blutgierige Menge entrüstet sich selbst mitten in ihrer Blutgierde über die abscheuliche Freveltat – Lux teilt diese Entrüstung – sie erleichtert seine von tausend Empfindungen bestürmte Seele und gibt ihm Stärke genug, seine Wohnung zu erreichen, wo er sich gänzlich dem Übermaße seines Schmerzes preisgab – und die empörende und seelenerschütternde Szene, der er beigewohnt hatte, tausendmal sich zurückrief, um tausendmal die nämlichen Martern zu fühlen. Jetzt war Schweigen in seinen Augen ein Verbrechen: er glaubte Frankreich und seinen Kommittenten eine getreue Darstellung der Dinge schuldig zu sein. Er wollte der Wahrheit ein Opfer bringen, das, wenn es auch für den Augenblick verloren ging, ein zu erhabenes Beispiel von erfüllter Bürgerpflicht war, um nicht von der Zukunft mit Nutzen aufgefaßt zu werden.
Während ganz Paris höchstens nur in dem Innern der Häuser von dieser Szene sprach und sie ebenso schnell vergaß, als es dieselbe gesehen hatte – stillschweigend die Heldin bewunderte oder laut sie verdammte – schrieb Lux eine Lobrede auf die erhabene Republikanerin und eine zweite Schrift über die Gegenrevolution vom 31. Mai, deren Urheber er laut verabscheute, laut als Feinde der Freiheit, als Verräter der Republik verfluchte. Er entschloß sich, für die Wahrheit auf dem nämlichen Schafott zu bluten, wo Corday von Vaterlandsliebe entflammt ihren Geist aufgegeben hatte. Er entschloß sich, dem Despotismus auf eine des republikanischen Bürgers würdige Art zu entfliehen und durch seinen hohen Mut die Ehre derer zu retten, die ihn durch eine ehrenvolle Mission noch näher an die Sache der Freiheit selbst gefesselt hatten. – Zur nämlichen Zeit, als seine beiden Schriften erschienen, hatte man schon so sehr in Paris dem neuen Despotismus gehuldigt, daß beinahe jedermann den Namen Lux für einen fingierten Namen, das Ganze für das Werk eines Unbekannten hielt. Als man endlich erfuhr, daß dieser Lux wirklich existiere, so hielten ihn die meisten für einen Mann, dem die Liebe den Kopf verrückt habe, die meisten erwähnten der Sache mit Achselzucken und nur eine kleine Zahl von Republikanern fühlte den ganzen großen Umfang dieser Handlung, die um so größer ist, als damals, wo Lux gegen den 31. Mai schrieb, alle Federn in Paris dem Tyrannen huldigten und alle Bürger, teils durch wirkliche nähere oder entferntere Teilnahme, teils durch ein strafbares Stillschweigen, die Begebenheiten und die Folgen vom 31. Mai zu verantworten hatten. Kaum hatte ich die beiden Schriften erhalten, so eilte ich zu Lux. – Ich fand ihn in seiner Wohnung, in dem Hotel der holländischen Patrioten, in der Straße Desmoulins. – Er schien, als er mich sah, zu erschrecken – ich ließ ihm keine Zeit, mich um die Ursache meines Besuchs zu fragen – an seinem Halse weinend fluchte ich dem Schicksale, das eine solche Zernichtung der schönsten Hoffnungen und Aussichten zugeben konnte. Lux drang in mich, ihn zu verlassen, indem er jeden Augenblick seine Verhaftung erwarte und schlechterdings keinen seiner Freunde der geringsten Gefahr, dem geringsten Verdachte aussetzen wolle.
Als seine erste Schrift unter der Presse lag und das Manuskript der zweiten schon dem Buchdrucker übergeben ward, schrieb er folgenden Brief an einen seiner Landsleute, dessen Weise, die damaligen politischen Ereignisse anzuschauen, von der seinigen in etwas abwich, der aber vorzüglich insofern von ihm verschieden dachte, als er behauptete, daß für die Mainzer Deputation vollkommene Neutralität Pflicht wäre. Dieser Brief beweist zur Genüge, wie sehr er von aller Überspannung entfernt war und gleichsam in dem Schoße der Seelenruhe den Umfang seiner Pflichten maß. Hier die Abschrift oder vielmehr die Übersetzung seines Briefes, der in fränkischer Sprache geschrieben ist.
Mein teurer Freund und Mitbürger!
Da eine Schrift, die ich ohne Ihr Wissen verfaßte und dem Drucke übergab, im Publikum erscheinen wird; da mich die Verfolgungen, die dieselbe mir zuziehen wird, in Ungewißheit über den Augenblick meiner Verhaftnehmung lassen, so komme ich jedem Ereignisse zuvor, um Ihnen ein Lebewohl in diesen Zeilen zu sagen. Ich erkläre Ihnen hierin förmlich, daß ich meine Betrachtungen ohne Ihr Wissen niedergeschrieben habe, ich erkläre dieses nicht sowohl, um Ihnen einen Streit über die Art, womit ich unsere politische Lage ansehe und die von der Ihrigen abweicht, zu ersparen, sondern vorzüglich deswegen, weil ich die Erbitterung der Inquisitoren kenne und niemanden als mich selbst der Gefahr aussetzen will.
Glauben Sie ja nicht, daß ich Tor genug sei, um nicht das Schicksal vorauszusehen, das mir eine Schrift bereitet, die die Machthaber um so mehr verwundern muß, da sie mich nicht persönlich beleidigt haben. Allein mein Grundsatz ist, daß man, was es auch kosten möge, laut der gerechten Partei folgen müsse. Meine Uneigennützigkeit und mein Gewissen werden mich, wie ich hoffe, für dies Schicksal entschädigen können, das meiner wartet. Ich bin sehr vergnügt darüber, mit Ihnen während unserer Verbannung gelebt zu haben – ich danke Ihnen für alle mir erwiesenen Freundschaftsdienste und umarme Sie von Herzen. Leben Sie wohl.
Adam Lux.
Dieser Brief, in einer ruhigen Sprache geschrieben, legt die Motive der Handlung selbst indem ungeschmücktesten Stile dar und trägt zu gleicher Zeit das vollkommenste Gepräge eines festen Charakters. Forster, der in dem nämlichen Hause mit Lux wohnte, erfuhr den Schritt des letzteren erst dann, als die erste Schrift schon dem Druck übergeben war, und las die zweite, bevor Lux dieselbe dem Buchdrucker zugeschickt hatte. Bekannt mit der damaligen Lage der Dinge, sah er wohl ein, daß die zweite Schrift von noch größerem Belang als die erste sei und unvermeidlich unangenehme Folgen für Lux nach sich ziehen müsse. Er bot daher, allein vergebens, alle Mittel zur Überredung auf, um seinen Freund wenigstens zur Unterdrückung der letzteren zu bewegen: Lux beharrte standhaft auf seinem einmal gefaßten Entschlüsse. »Wenn die Wahrheit«, erwiderte er, »wenn die Gerechtigkeit unterliegen soll, so will ich wenigstens mit unterliegen.« Die Schrift wurde abgeschickt und, wie Sie wissen, gedruckt.
Was man erwartet hatte, geschah. Lux wurde in Verhaft genommen: ein Kommissär des Revolutions-Ausschusses der Sektion erschien mit der Wache, das heißt mit ein paar bewaffneten Bürgern, die sich frei glaubten und meistens unwissende Instrumente der Tyrannei waren. Er fragte Lux, ob er der Verfasser der beiden erschienenen Schriften sei. – »Ja, Kamerad«, antwortete Lux, »ich bin der Verfasser, und hier ist das einzige Exemplar, das ich noch davon besitze.« – Während der Kommissär mit dem Protokoll beschäftigt war, frühstückte Lux mit der größten Gelassenheit, und weit entfernt, daß der Gedanke, in den Händen der Inquisition zu sein, seinen Appetit verminderte, schien derselbe vielmehr dadurch vermehrt worden zu sein.
Man führte ihn in einer Kutsche vor den allergemeinsten Sicherheitsausschuß des National-Konvents. Nachdem man ihn lange genug in einem Vorzimmer hatte warten lassen, wurde er endlich zu den Inquisitoren eingelassen.
Der Kapuziner Chabot (der nämliche, der sich mit einem österreichischen Fräulein verheiratet hat) präsidierte damals das hohe Inquisitionstribunal der fränkischen Republik oder vielmehr der Bergfaktion. – Republikanischer Stolz, edle Entrüstung, die endlich in einen gerechten, allein gemessenen Zorn überging, dies waren die Antworten, die der deutsche Mann dem fränkischen Lumpen gab. Chabot und seine Kollegen hatten nicht Lust, länger mit einem solchen Mann in Gesellschaft zu bleiben. Lux wurde ungesäumt in die Force abgeführt. Er lebte in dem Gefängnisse zum erstenmale in Gesellschaft, er traf hier Miranda, Montanié und einige andere edle Republikaner an. In der Folge kamen Vergniaud, Valazé und einige andere dem Tode geweihte Deputierte hinzu.
Lux widmete, wie die meisten der anderen Gefangenen, den Vormittag der Lektüre. Vor dem Mittagessen versammelten sich alle in dem mit Alleen gezierten inneren Hof des Gefängnisses; man unterhielt sich hier mit vieler Freimütigkeit über die Zeitgeschichte und die Ereignisse des Tages, und hier war es, wo ich – Dank sei es dem Zufall, der mich begünstigte – mehr denn einmal in der Gesellschaft der edelsten Republikaner, die sozusagen schon den Giftbecher von ferne sahen, ganze Stunden zubrachte.
Lux war von seinen Unglücksgefährten geschätzt und bewundert, das heißt, er war schon auf Erden für dasjenige schadlos gehalten, was man im gewöhnlichen Leben Unglück nennt. Die Kerkermeister, die Gefängniswärter selbst waren über seinen stoischen Mut betroffen – keine Klage entschlüpfte seinem Munde und jedes Verlangen, jede Forderung war von einer Würde begleitet, deren der freie Mann am wenigsten dann vergessen darf, wenn ihn die Sklaven in Fesseln halten.
Um einen Gefangenen besuchen zu können, mußte man von dem Revolutions-Ausschuß seiner Sektion einen Erlaubnisschein haben, den man alsdann auf dem Sicherheits-Ausschuß der Gemeinde unterzeichnen lassen mußte: – ich war damals schon wegen starker Verbrechen als Feuillant von den einen, als Girondist von andern Dummköpfen denunziert – ich hütete mich also wohl, weder in die eine, noch in die andere dieser Banditenhöhlen zu gehen. Meine abgeschnittenen Haare, meine langen Hosen und meine Jacke waren, verbunden mit meinem jugendlichen Aussehen, hinreichend, um wenigstens nicht gleich von den Gefängniswärtern (die immer damit anfingen, den Erlaubnisschein zu fordern) zurückgewiesen zu werden. Als ich den Namen Lux nannte, verwandelten sich die finsteren Züge des Concierge, und die hundert Riegel sprangen vor mir auf. Eines Tages fand ich Lux mit dem Journal de la Montagne in der Hand sehr bewegt und beinahe entrüstet auf- und niedergehen. Ich wußte schon zum voraus die Ursache. – Einer seiner Mitbürger, der durchaus Luxen aus dem Gefängnis retten wollte (G. Wedekind), hatte Lavaux, den Verfasser des Journals, dahin bewogen, einen Artikel in dasselbe zu Gunsten Luxens einzurücken. Man schilderte in demselben seine Verdienste um die Freiheit, schrieb seine große Handlung der Liebe für Charlotte Corday zu, die ihm den Kopf verrückt habe, suchte ihn also als einen Narren, der zur Zeit, als er seinen vollkommenen Verstand besaß, sich um die Republik verdient gemacht habe, aus dem Gefängnis zu befreien.
Lux verwarf mit Unwillen die Maske, weil Frankreich sich Republik nannte, weil er erklärter Republikaner war: was Brutus zu den Zeiten des Königtums für erlaubt hielt, würde er nicht mehr zu den Zeiten der Republik für erlaubt gehalten haben.
Montanie, Vergniaud und Miranda bestürmten Lux in meiner Gegenwart, die günstige Gelegenheit zu benutzen und sich für bessere Zeiten aufzusparen – allein ihr Zureden war vergebens – Lux verwarf das Mittel und forderte Lavaux zum schnellen Widerruf auf – Lavaux tat, was seine Pflicht war – er widerrief. In den letzten Monaten seiner Gefangenschaft wurden die Maßregeln so scharf, daß die Gefangenwärter ohne Erlaubnis durchaus niemand mehr einlassen durften – die Erlaubnisscheine selbst wurden äußerst selten erteilt. Ein günstiger Zufall machte es uns endlich möglich, einander Nachrichten von unserer Lage und Umständen zu geben. Lux schickte mir Briefe an seine Gattin und seinen Freund Vogt: er schickte sie mir oft; sowie ich sie bekam, gab ich sie nachher unserem gemeinschaftlichen Freund Forster, der eher als ich Gelegenheit hatte, sie an ihre Adresse zu senden. Aus dem Brief an den Professor Vogt erinnere ich mich noch einer Stelle, worin er seinen würdigen Freund bat, den Koadjutor von Dalberg seiner Achtung zu versichern – da ich nicht weiß, ob diese Briefe in einer Zeit, wo die Posten unter Aufsicht von achtundvierzigtausend Inquisitionsausschüssen standen, an ihre Adresse gekommen sind – so habe ich eine Sache nicht vergessen wollen, deren großen Wert die Philosophie des Herrn von Dalberg wird zu schätzen wissen. Der Brief an seine Gemahlin trug in jedem Wort das Gepräge der zärtlichsten Liebe des Gatten und – des Vaters.
Zehn bis vierzehn Tage waren vorüber, ohne daß ich Nachricht von Lux erhalten hatte: eines Tages las ich wie gewöhnlich das Abend-Journal, ich fand am Ende desselben den Artikel: Revolutions-Tribunal. Dieser Artikel enthielt diesmal die fürchterlichen Worte – Lux, Deputierter des rheinisch-deutschen Konvents, ist um drei Uhr vor dem Tribunal erschienen – auf die Frage, ob er Verfasser der Schrift gegen die Revolution vom 31. Mai sei, antwortete er mit – Ja. Das Tribunal verdammte ihn als einen gegen die Freiheit, das Volk und die eine und unzertrennliche Republik Verschworenen – zum Tod: Um fünf Uhr wurde der Mordspruch auf dem Revolutionsplatz vollzogen.
In einer der in den letzten Dekaden herausgekommenen Schriften, die die Gefängnisgeschichte eines jungen Republikaners ist, finde ich folgende Stelle, die den braven Lux betrifft:
Adam Lux, merkwürdig wegen seines Charakters eines Deputierten der Stadt Mainz und seiner Bewunderung der außerordentlichen Corday, sah dem Tod mit dem höchsten Grad stoischer Ruhe entgegen. Er sprach gerade mit uns über die Gefahr der Leidenschaften und den Mangel der Beurteilungskraft, der eine feurige und unverdorbene Seele beständig über das Ziel hinausreißt, als man ihn rief, um ihm seinen Anklage-Akt zuzustellen: – er las ihn mit Kaltblütigkeit und steckte ihn mit Achselzucken in die Tasche.
»Hier«, sagte er zu uns, »mein Todesurteil. Dieses Gewebe von Abgeschmacktheit führt den Repräsentanten einer Stadt auf das Schafott, die mich abgeschickt hat, um euer zu werden. Ich endige im 28. Jahr meines Alters ein elendes Leben; – morgen werde ich kalt wie dieser Stein sein! Allein sagt denen, die euch von mir sprechen werden, daß, wenn ich den Tod verdient habe, es nicht unter den Franken war, wo ich ihn empfangen sollte – sagt ihnen, daß ich seine Annäherung mit Ruhe und Verachtung gesehen habe. Spart euch«, sagte er mir, indem er von seinen Freunden sprach, »spart euch für bessere Zeiten auf! Zeuge so vieler Ereignisse, benutzt diese Gelegenheit, um Erfahrungen zu sammeln, die einst eueren Mitbürgern nützlich werden können.« Niemals werde ich diese Worte vergessen, und deinem geheiligten Schatten, unvergeßlicher Freund, schwöre ich es zu, daß ich niemals aufhören werde, den Despotismus unter jeder Maske zu bekämpfen. – Er brachte die Nacht mit Schreiben zu, frühstückte mit Appetit, gab seinen Mantel einem unglücklichen Gefangenen, erschien um drei Uhr vor dem Tribunal und war um sechs Uhr nicht mehr.
Im Original heißt es um neun Uhr und drei Uhr – allein es ist ein Fehler.
Ein braver Jüngling, der als siebzehnjähriger Knabe der Bataille von Jemappe beigewohnt hatte, der Sohn meines Hausherren, begegnete Luxen gerade, als er am Louvre vorüberfuhr – er kannte unsere Verbindung, und da er mich erst einige Minuten zuvor ununterrichtet von dem, was vorging, gesehen hatte, so folgte er Luxen bis an das Schafott und eilte, mir dann die schreckliche Nachricht mit allem, was er selbst gesehen hatte, zu überbringen.
Der Wagen fuhr diesmal nicht, wie sonst zu geschehen pflegte, durch die Honoré-Straße, sondern längs der Seine und der Mauer vom Garten der Tuilerien. Ich weiß nicht, ob, weil es schon spät war oder, weil die Mörder das Scheußliche ihrer Handlung zu sehr fühlten, um das große Opfer, das sie dem Despotismus brachten, zu sehr den Augen des betrogenen Haufens auszusetzen.
Mit Lux fuhr eine Frau. Er sprach ihr Mut bei und hörte nicht auf, den wenigen, die er auf seinem Wege antraf, den Namen der Volkstyrannen zu nennen. Er bestieg das Schafott wie eine Rednerbühne.
Um diese Zeit, wo der Kampf zwischen den Girondisten und den Bergmännern oder vielmehr dem Gemeinderat in Paris begann, warf sich mein Bruder Georg mit jugendlichem Ungestüm nach der Seite der ersteren. Die Türen des Gefängnisses waren für ihn gleichsam schon geöffnet, als es ihm noch gelang, sich als Arzt des dänischen Krankenhauses halb und halb unter den Schutz der dänischen Gesandtschaft zu stellen. Als aber in den folgenden Monaten nach Camilles und Dantons Hinrichtung der Sturm ohne Schonung raste, erhielt er mit Hülfe des dänischen Predigers und eines Freundes (den er in einem Schreiben an Reinhold »unsern altern Bruder« nennt), des nachmaligen Grafen Reinhard, Sohnes des württembergischen Dekans zu Balingen, einen Paß für die Schweiz. Reinhard, mit dem er später in die innigsten Verhältnisse trat, war durch eine Reihe außerordentlicher Zufälle in das Departement der auswärtigen Angelegenheiten als Chef de Bureau geworfen worden. Mit Reinhards Paß kam er nun binnen drei Tagen beinahe nackt und entblößt von allem Geld in der Schweiz an, von Reinhard, der die Schweiz unter sich hatte, an Bacher und Barthelemy, die französischen Geschäftsträger, empfohlen. Er fand, wie er im Brief an Johann Gotthardt Reinhold schrieb, hier Gelegenheit, »der Sache der Freiheit auf fremdem Boden zu dienen, während sie im Innern Frankreichs von den wildesten Tollköpfen und den verlumpten Aristokraten täglich gemordet wurde. Mein Aufenthalt in der Schweiz wurde mir unangenehm durch die Parteisucht gemacht, die auch hier schon wütete. Freund der republikanischen Freiheit, ward ich von der Aristokratie aufs bitterste verfolgt – Feind der Bluthunde, war ich von den wilden Demokraten eben nicht geliebt. Die Zahl der gemäßigt Denkenden ist auch in Helvetien klein und überdies noch furchtsam und schwach. Barthelemy und Bacher konnten mich besonders anfangs als einen Proskribierten nicht beschützen – aus dem Fond der geheimen Ausgaben ward mein Auskommen bestritten. Ich durfte nur wenige Tage zu Basel bleiben: in Zürich erhielt ich mit Mühe nur auf drei Monate Erlaubnis, in einem Privathause zu wohnen; in Winterthur begehrte man auf Anstiften Zürcher Aristokraten einen württembergischen Paß von mir. Der 10. Thermidor war damals schon vorüber, unsre Heere flogen von einem Sieg zum anderen, einige Freunde drangen in mich, nach Württemberg zu reisen; ich wagte es endlich, um meine Familie wiederzusehen. Ich ward von meinem Vater kalt aufgenommen – der Herzog erklärte, daß er aus Achtung für seine Verdienste meinen Aufenthalt ignorieren wollte. Ich ward äußerst gut von dem damaligen Minister Kniestädt – von mehreren Mitgliedern der Regierung, der Landschaft und einer Menge Privatleute empfangen und predigte mit Erfolg das Neutralitätssystem. Vierzehn Tage waren verflossen, ich lebte glücklich an Augustens Seite, die grade in Ludwigsburg bei ihren Verwandten war glücklich in dem Schoß meiner Familie. Der 17. Tag war – zu meiner Abreise bestimmt, mit meinem Vater war ich versöhnt und stand endlich mit ihm auf dem besten Fuß. Am 14. Tag hatte ich eine Audienz bei dem herzoglichen Sekretär Schwab, der von dem Herzog expresse Erlaubnis dazu verlangt und erhalten hatte. Am Ende einer langen Unterredung, wo ich in eben dem Moment mit Eifer auf Versöhnung mit Frankreich drang, als bloßer Privatmann, der zufälligerweise mit der Lage der Dinge vertraut und in Verbindung mit Personen war, die bei dieser Versöhnungssache dem Lande nützlich sein konnten, – in einem Augenblick darauf drang, wo der kaiserliche Gesandte, Graf Lehrbach, in einem andern Teil des Schlosses ein entgegengesetztes System dem fürstlichen Ohr selbst, von Pfaffen und fanatischen Weibern unterstützt, mit besserm Erfolg vorpredigte. Am Ende dieser langen Unterredung fragte mich endlich der herzogliche Diener, ob es nicht möglich, daß der Konvent den Knaben Ludwigs XVI. als Ludwig XVII. auf den Thron setzen könnte? – Ich lachte, zeigte auf die Sonne und fragte: ob sie sich wohl freiwillig in den Mond verwandeln würde? Und damit hatte unsre Unterredung ein Ende. – Nachmittags erschien eine Botschaft, eine Emigrantin, die unaufhörlich in den Zimmern der Herzogin lebte, die rechte Hand der an Ostreich verkauften Beichtväter war, bei meinem Vater, die ihm beibrachte, daß der Herzog aus Schonung für ihn mir durch ihn im stillen den Befehl erteile, das Land zu verlassen und binnen der Dauer des Kriegs nicht wiederzukommen. Mein Vater sagte mir nichts von allem, durch seine plötzliche Kälte ließ er mich bloß erraten, daß etwas Außerordentliches vorgegangen sein müsse. Wir trennten uns am festgesetzten Tag meiner Abreise ohne Abschied.«
Kaum gewann meine Mutter noch Zeit, dem Sohn Kleider und Weißzeug auszubessern. Mit einer kleinen Summe Geldes, das die Mutter ihm ohne Wissen des Vaters zusteckte, trat er die Fußreise gegen die Schweiz an, aber als er nach Aldingen, in die Gegend von Balingen kam, befand sich dort ein österreichischer Kordon, welchem er verdächtig erschien. Dieser nahm ihm seine Papiere ab, die allerdings von der Art waren, daß sie seine Lage sehr erschwerten. Er wurde nun ins Gefängnis gebracht, wahrscheinlich zu einem schmählichen Tode bestimmt, da erschien in der Mitternacht der Schultheiß des Orts, er hieß Meßner, im Gefängnis. Er hatte Kleider eines Mädchens aus der Baar, blauen Rock, rote Strümpfe und eine Haube, für ihn mitgebracht, gab ihm einen Korb auf den Kopf und hieß ihn so aus dem Gefängnis mit nach Hause gehen. In diesem Anzug setzte er noch vor Tagesanbruch in Begleitung eines Knechts des Schultheißen seine Reise durch die österreichischen Truppen bis zu einem benachbarten Orte, wohin sie sich nicht mehr erstreckten, fort, und so kam er nun bald über die deutsche Grenze in die Schweiz. Nach kurzem Aufenthalt daselbst kam er zu Anfang Januars wieder in Paris an.
Korrespondenzen, die er nach Hamburg und in Usteris politische Monatsschrift einschickte, beschäftigten und unterhielten ihn. Er wohnte den bekannten Bewegungen bei, die im Frühling und Sommeranfang statthatten. Am 1. Prärial fiel er beinahe unter dem Mordstahl eines irregeleiteten Volkshaufens und entrann nur mit Mühe der Gefahr.
Seine hier erzählten Schicksale fielen in mein frühes Knabenalter, in die Zeit wo ich oft, im Schlafzimmer meiner Eltern liegend, sie noch in stiller Nacht mit Sorge von diesem meinem der Heimat ungetreuen Bruder reden hörte, dessen Schicksale sich meiner jugendlichen Phantasie in bunten Farben einprägten.
Das Wesen meines Zweitältesten Bruders Louis war eine unsägliche Gutmütigkeit. Er war wie der Bruder Georg, schnell aufbrausend, aber sein Feuer zündete nicht, er war zu gutmütig und zu ängstlich. Er hatte das Gemüt der Mutter seiner eigentlichen Natur nach. Mit diesem wollte er am schlüpfrigen Freiheitsbaume der neunziger Jahre hinauf, aber es fehlte ihm die Leichtigkeit des Bruders Georg, er glitt bald wieder herunter, was oft komische Szenen veranlaßte. Er war klein wie der Bruder Georg und die Mutter, war aber bei seiner Kleinheit korpulent und hatte nicht Georgs feine Vogelknochen, auch nicht dessen Flügel zum Aus- und Aufflug.
Es trieb ihn immer eine innere Unruhe und Unzufriedenheit, aber er konnte nichts zur eigentlichen Ausführung bringen. In eine Schreckenszeit taugte er nicht, und doch trieb es ihn immer zu ihr hin, wie den Schmetterling zum versengenden Lichte. Er hatte das Studium der Theologie kaum im Stifte zu Tübingen angetreten, als es ihm beifiel, der Stand eines Kaufmanns sei doch ein glücklicherer, freierer, als der eines Pfarrers, und so erklärte er in der ersten Vakanz dem Vater in Ludwigsburg, er wolle Kaufmann werden.
»Nun ja«, sagte mein Vater, »ich will dich die Probe machen lassen, und unser braver Nachbar und geschickter Kaufmann, Herr Sprößer, soll dich mit in die große Handelsstadt Frankfurt nehmen, wohin er jetzt zur Osterzeit auf die Messe reiset; da beschau dir denn auch vorher das Leben eines kaufmännischen Lehrlings, denn damit mußt du doch erst den Anfang machen; gefällt dir solches, kannst du sogleich dort bleiben.« Herr Sprößer nahm nun den Bruder Louis um diese Zeit mit sich nach Frankfurt. Die Reise gefiel ihm gar sehr und auch die Stadt Frankfurt. Nun führte aber Herr Sprößer, welcher die geheimen Gesinnungen meines Vaters in dieser Sache wohl wußte, ihn in eine enge finstere Gasse. Dort stand ein kleines Haus, das am Fenster im Erdgeschosse heraushängende Heringe und Tabaksrollen als die Wohnung eines Spezereihändlers bezeichneten. »Hier müssen wir hinein, lieber Herr Louis«, sagte Herr Sprößer: »denn da wird, wie ich soeben im Gasthofe zum Weidenbusch im Frankfurter Anzeiger las, ein tüchtiger junger Mensch in die Lehre gesucht.« – »Und da gehe ich nicht hinein«, sagte Louis. »Nun, es ist ja kein Muß, daß Sie dann bleiben sollen«, erwiderte Sprößer, »sehen Sie sich die Sache nur einmal an; ich habe mit dem Herrn ein kleines Geschäft abzumachen, er hat auch einen Lehrling aus Ludwigsburg, den ich ihm vor einem Jahr zusandte, und der bald aus der Lehre treten wird; es ist ein junger Blaufelder, den Sie ja wohl noch kennen werden, und da unterhalten Sie sich mit ihm, bis das Geschäft abgetan ist. Hat Herr Speck noch nicht zu Mittag gegessen, so speisen wir mit ihm.«
Dem guten Louis war da der Mut, den Stand eines freien Kaufmanns zu wählen, schon sehr gefallen, aber er fiel bald noch tiefer. Herr Speck war gerade im Begriff zu Tische zu gehen und lud Herrn Sprößer und seinen Schützling dazu ein. Da kam auch der Lehrling Blaufelder, ein alter Schulkamerad des Louis, aber nicht als Tischgenosse, sondern er stellte sich demütig hinter den Sessel des Herrn Prinzipals und servierte in aller Unterwürfigkeit, hatte auch nicht das Herz, in Louis seinen alten Kameraden zu begrüßen, – das geschah erst, nachdem das Essen vorüber, die Herren sich entfernt und er das Speisegeräte wieder abgetragen und den Tisch in Ordnung gebracht hatte. Da erfuhr nun auch Louis von ihm, wie hart seine Lage, und sah es an den hochaufgeschwollenen, roten, mit offenen Frostbeulen besetzten Händen, und als er ihm des Herrn Speck lackierte Stiefel zeigte, die er jeden Morgen zu glätten, und die Salz- und Farbfässer, die er auszuklopfen hatte, – so nahm der gute Louis noch während Herr Sprößer sein kleines Geschäft mit Herrn Speck im Comptoir abmachte, den Reißaus, wanderte über die Mainbrücke ohne Sack und Pack mit ein paar Gulden in der Hosentasche, und kam zwei Tage früher als Herr Sprößer, zu Fuß und ganz erschöpft, unter den Arkaden zu Ludwigsburg an. Den ersten Hunger ließ er sich von dem Hökerweibe, das immer der Oberamtei vis-à-vis an der Bischöfischen Apotheke mit Bäckerwaren und Obst saß, auf Rechnung der Mutter stillen, und wollte lange sich vor dem Vater nicht zeigen, als ihn die vorübergehende Frau Bürgermeister Kommerell erblickte, ihn über seine Reise verhörte und die ganze Geschichte nun eilends dem Vater hinterbrachte, der über den Erfolg, den er bezweckt hatte, sehr froh war und nur den Herrn Sprößer bedauerte, von dem schon ein lamentabler Brief vorausgeeilt war, mit der Nachricht, daß ihm der Herr Louis in Frankfurt auf einmal entkommen sei.
Die Vakanz war gerade aus, und Louis kehrte mit den besten Vorsätzen wieder in das Stift nach Tübingen zurück. Von da an sprach er auch nicht mehr davon, das Studium der Theologie verlassen zu wollen, bis durch die immer größer werdende Aufreizung, die die französische Revolution dazumal in alle Gemüter, besonders auch in die der Jugend brachte, ein neuer Aufruhr in ihm entstand.
Er war von Bewunderung seines Bruders Georg stets durchdrungen, staunte ihn hoch an und wünschte nur immer, auch ein freier Weltbürger werden zu können. Er schrieb ihm oft nach Paris und klagte über den Vater, der den Geist der Zeit nicht zu fassen wisse. »Hier im Stift (schrieb er ihm) wird die ganze Größe der französischen Revolution schon lang begriffen. ›Die Erde rauche von Tyrannenblut‹, das ist aller Losung; in dreifarbigen Kokarden reisen wir in die Vakanz, und ›Vive la liberté!‹ ruft der eine, begegnet er dem Freunde, und dieser antwortet: ›Vive la Nation!‹« Dem Vater aber schrieb er: »In dem Kerker dieses theologischen Stiftes schmachte ich nicht länger mehr. Die Zeit ist herangekommen, wo ein jeder ein freier Weltbürger ist. Ich habe mir einen Büchsenranzen gekauft, in diesen werde ich Kants Schriften packen und mit ihnen nach Paris wandern. Haben Sie was dagegen, so verstehen Sie den Zeitgeist nicht. Vive la liberté, vive la Nation!«
Die Antwort des Vaters war: »Du bist ein lächerlicher Junge. In Paris würde es Dir ergehen, würdest Du die Köpfmaschine sehen, wie es Dir in Frankfurt erging, als Du Herrn Specks schmutziges Ölfaß sahest. Jedenfalls meine ich, Du solltest, ehe Du in Paris einziehest, auch noch etwas mehr Französisch lernen als: Vive la liberté, vive la Nation! und dabei würde ich den Kant lieber zu Hause vornehmen: denn in Paris möchten sie Dir keine Zeit dazu lassen und Dir Deinen leeren Kopf noch, ehe er sich mit Herrn Kant angefüllt, herunterschlagen. Du bist ein fauler Geselle, der keine harten Bretter bohren will. Den Büchsenranzen, den Du erkauft, will ich bezahlen, lege Dir ihn jetzt nur beim Studieren als das fehlende Sitzleder unter.« Das war eine Abkühlung, deren der gute Louis aber nicht bedurft hätte, denn es war mit der Wanderung nach Paris nicht so ernst. Noch ehe der väterliche Brief an ihn kam, hatte ihn die gute Mutter bereits wieder durch eine Sendung Kuchen fürs schwäbische Vaterland gewonnen. Wie er sich durch das Älterwerden abkühlte und ein sanfter Hirte christlicher Herden wurde, auch geliebt von allen, die ihn kennen lernten, wird man später erfahren.
Mein Bruder Carl, geboren den 7. März 1775, kam in seinem zwölften Jahr in die Karlsakademie und war zum Studium der Militärwissenschaften bestimmt, bei welchem er fest und treu verblieb. Er war von großem schlankem Körperbau mit einem schönen Ebenmaß im Gesichte und einer Würde ohne Steifheit in seinem ganzen Betragen. Sein fleißiges Studium der Militärwissenschaften, besonders aber der Mathematik, gab ihm mehr Ruhe, Ernst und Besonnenheit. Wie bei den meisten Schülern der Karlsakademie, bemerkte man auch an ihm vielseitige Bildung.
Wie die Mathematik in alles Wissen eingreift, so ging er auch an ihrem Faden allem Wissen nach, und so bildete er sich nicht bloß zum Kriegsmanne, sondern auch zum Mechaniker, zum Bergmanne, zum Ökonomen und zum Staatsmanne aus, worauf ich später zurückkomme. Nach dem Tode Herzog Karls löste sich die Karlsakademie auf, denn sie konnte auch nur durch und mit ihrem Schöpfer bestehen, der mit Leib und Seele ihr eigener Direktor war. Die Lehrsäle wurden Stallungen und: »Olim musis nunc mulis!« schrieb ein Satiriker an ihre Tore.
Die Zöglinge, die sich bei ihrer Aufhebung noch in ihr befunden hatten, wie mein Bruder Carl, zerstreuten sich nun in alle Welt, und mein Bruder kam zur Fortsetzung seiner militärischen Studien nach Darmstadt, wo er den Unterricht alter erprobter Ingenieure genoß. Am 1. Oktober 1794 trat er als Unterlieutenant in die herzoglich-württembergische Artillerie.