Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

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Der wilde Apfelbaum.

Über den Hügel lief ein Feldrain. Der bildete die Grenze zwischen den stattlichen Besitzungen des Anselm und des Peregrin. Und auf dem Feldrain stand ein wilder Apfelbaum. Er war hübsch gewachsen und sah weit ins Land hinaus; freilich trug er nach Art wilder Apfelbäume nur jene kleinen verrunzelten Früchte, die eine herzhafte Säure haben und bei den Delikatessenhändlern unbeliebt sind. Sie heißen Holzäpfel.

Der wilde Apfelbaum hatte sich für Anselm und Peregrin allzeit als ein rechter Baum der Versuchung erwiesen.

Schon als sie Jünglinge waren und sie einmal beide dasselbe Mädchen zum wilden Apfelbaum bestellt hatten, war ein Kampf ausgebrochen; Anselm hatte Peregrinen eine Ohrmuschel abgerissen und Peregrin hatte Anselmen durch einen kühnen Biß der Nasenspitze beraubt. Aber die beiden hatten sich wieder versöhnt, obwohl weder Ohrmuschel noch Nasenspitze nachwuchsen und ihre Menschlichkeit mit einem kleinen Makel behaftet blieb. – Hanna Elenore, die Jungfrau, die die beiden Jünglinge also schnöde aneinander gebracht hatte, aber heiratete einen anderen. Als sie diesen Mann nach 2½ Jahren zu Tode geärgert hatte und eine ehrsame Wittib geworden war, trafen sich Anselm und Peregrin wieder einmal beim wilden Apfelbaum auf der Grenzscheide ihrer Besitzungen, und Anselm begann mit scheinheiliger Miene: »Freund, unsere Hanna ist jetzt Witwe. Da wir beide früher um sie gefreit haben, wird es sich geziemen, daß sie jetzt einer von uns beiden heiratet. Ich bin aber inzwischen zu der Überzeugung gekommen, daß die Hanna viel besser zu dir paßt als zu mir, und ich will mich überwinden und sie dir überlassen.«

Nein, nein, wehrte Peregin ab, er sei inzwischen auch reifer und gesetzter geworden und verlange beileibe ein so schweres Freundschaftsopfer nicht. So überboten sich die beiden so lange an Großmut und Selbstverleugnung, bis sie sich in die Haare fuhren, der beißlustige Peregrin Anselms Mittelfinger um zwei Glieder verkürzte, wofür ihn dieser gegen den Baum preßte und ihm drei Rippen eindrückte. – Aber die beiden haben sich wieder versöhnt. –

Unversöhnliche Feindschaft wurde erst, als Peregrin eines Tages behauptete, der wilde Apfelbaum stehe eigentlich auf seinem Grund und Boden und gehöre samt allen Erträgen ihm ganz allein. Das hatte Anselm bestritten, und die Auseinandersetzung war so lebhaft geworden, daß die Gegner acht Wochen lang krank lagen. Darauf verklagten beide einander bei Gericht und zwar nicht wegen der Körperverletzung, der sie keine so große Bedeutung beilegten, als vielmehr wegen des wilden Apfelbaumes.

Da gab es nun Lokaltermine und das halbe Dorf war zu Zeugen geladen worden, bekam schöne Gebühren dafür und feierte eine kleine Kirmes. Der Prozeß ging durch alle Instanzen, bis zuletzt ein schalkhafter Oberrichter folgenden Spruch fällte: Der Baum gehört beiden zusammen; jeder hat die Hälfte zu seiner Pflege beizutragen und jeder bekommt die Hälfte der Früchte. Die Obsternte hat gemeinsam unter Aufsicht des Dorfoberhauptes stattzufinden. Die Gerichtskosten, die etliche hundert Taler betrugen, hatten die Gegner je zur Hälfte zu tragen.

Seit der Zeit war unversöhnliche Feindschaft zwischen Anselm und Peregrin, und die beiden Nachbarn gingen sich aus dem Wege und trafen sich nur manchmal am wilden Apfelbaum, wenn sie seine Zweige beschnitten, seinen Stamm mit Kalkmilch anpinselten oder wenn die Obsternte war. Und es hielt sich natürlich jeder streng an seine Hälfte und hätte nicht einer ein Spritzerchen Kalkmilch auf die fremde Hälfte verwandt. Ja, es blieb meist ein Fingerbreit Zwischenraum, auf dem es pfiffigen Raupen gelang, vom Erdboden in den Gipfel des Baumes zu klimmen.

Der Schulze dieser Gemeinde war ein gewissenhafter Mann. Obwohl er stets einen recht kalten, regnerischen Oktobertag auswählte, an dem die Holzäpfel gepflückt werden mußten, hielt er doch standhaft aus bei dem Geschäft, als ein Hüter von Recht und Gesetzlichkeit. Ja, die Schöffen kamen mit und viel Volk aus dem Dorfe strömte herbei und sah zu, wie Anselm und Peregrin die Leitern an den gemeinsamen Baum lehnten und die Früchte von ihren »Hälften« abpflückten, wobei sie nicht unterließen, sich durch das Gezweig giftige Blicke zuzuwerfen und sich durch hämische Bemerkungen zu kränken, als da sind:

»Hu, das ist mal wieder ein Schöner, Großer!«

»O, das ist ein dicker Kerl, dem steht man seinen Saft an.«

»Ja, ja, die Südseite hat was für sich!«

»Man kann bloß seinem Schöpfer danken, wenn man während eines so dürren Sommers die Nordseite gehabt hat!«

So ging es hinüber und herüber. Die Apfel aber wurden aufgehoben, zu Weihnachten mit Goldpapier umhüllt und an den Christbaum gehängt. Dann schmunzelte sowohl Peregrin als auch Anselm vergnüglich, und jeder erzählte seiner Frau, seinen Kindern und seinen Dienstboten noch einmal ausführlich die Geschichte des Prozesses und sagte am Schluß:

»Ja, ja, der Schubiack wollte den ganzen Baum haben, und wenn ich nicht bei allen Gerichten ganz höllisch hinterher gewesen wäre, hätte er ihn auch bekommen, und hingen jetzt diese Äpfel nicht an unserem Christbaum!«

Dann mußten die Hausgenossen ein vergnügtes und stolzes Lächeln zeigen, in das sich aber immer etwas Verlegenheit mischte.


Viel Zeit verging. Peregrins ältester Sohn Stefan war vierundzwanzig Jahre alt geworden; Anselms Tochter Ursula war einundzwanzig Jahre. Die beiden hatten schon in der Schulzeit nicht mit einander sprechen dürfen, und da sie größer geworden waren, hatte sich ihre Abneigung gegen einander sichtlich vermehrt. Wenn sie sich auf der Straße unverhofft begegneten, wurde das Mädchen rot vor Grimm, und der Bursche biß vor Wut die Zähne zusammen, guckte ihr nach, ächzte und ging dann den ganzen Tag ganz verbissen umher.

Da war wieder einmal Frühlingszeit, und der wilde Apfelbaum stand in tausend Blüten. Ursula, die den Bergrain entlang ging, sah plötzlich Stefan kommen, wußte keine Möglichkeit, ihm auszuweichen, und setzte sich in ihrer Ratlosigkeit unter den wilden Apfelbaum, – natürlich auf ihres Vaters »Seite«.

»Seht das Dirndl,« dachte Stefan, »das will mir trutzen. Oho, das kommt gerade an den Rechten!«

Kam heran und setzte sich auch unter den Apfelbaum, – natürlich auf seines Vaters Seite. Das Dirndel atmete schwer und der Bursche auch. Sprechen tat keines ein Wörtchen. Stefan streckte nur seine Ellenbogen weit nach hinten.

»Aber ...« sagte die Maid, »aber du stößt mich!«

»Ah, Pardong, Pardong,« erwiderte Stefan mit hämischer Höflichkeit; »ich bin wohl auf des gnädigen Fräuleins Hälfte gekommen?«

Er lachte laut und gequält. Dann saß er ganz still. Plötzlich hörte er leises Weinen. Hatte er, – hatte er das Dirndl wirklich so hart gestoßen? Er machte eine Halbdrehung und stieß mit seiner Nasenspitze an Ursulas Nasenspitze, die eben auch eine Halbdrehung machte. Darüber erschraken und erröteten beide, rieben sich die Nasen und begaben sich eiligst wieder auf eigenes Gebiet. Nach einer Weile aber schlug der Bursche krachend die Hände zusammen und sagte: »Der Alte ist verrückt!«

Das Mädchen weinte laut und fragte: »Meinst du – meinst du meinen Vater?«

»Nein, meinen!« stieß Stefan rauh heraus. »Und deinen dazu!«

»Ja, ja, der schreckliche Apfelbaum,« schluchzte das Mädchen. Da war auch Stefan schon mit einer Ganzschwenkung auf fremdem Grund und Boden, saß dicht neben Ursula und sagte:

»Das ist einfach damisch! Zum Närrischwerden!

Wenn ich Besitzer sein werde, rode ich das Biest, den Baum aus. Das heißt, bloß meine Hälfte rode ich aus, die aber gründlich! Und heute sitze ich nun hier und bleib hier sitzen und wenn mich dein Vater bei allen Gerichten verklagt.«

Sie saßen eine gute Weile beieinander. Ehe sie schieden, brach Ursula ein Zweiglein mit drei Blüten von ihrer Hälfte des Baumes und steckte es dem Burschen ins Knopfloch; worauf Stefan einen ganz respektablen Ast von seiner Hälfte abriß und dem Mädchen in die Hand gab. So gingen die beiden Baumfrevler nach Hause, nicht, ohne sich noch oft nach einander umzuschauen.


»Junge,« fuhr zu Hause der alte Peregrin auf, »wo hast du die drei Blüten her? Du hast sie doch nicht etwa von dem wilden Apfelbaum? Das gäb' drei Holzäpfel weniger im Herbst, und da sollte dich gleich –«

»Die Blüten sind von Anselms Hälfte,« gab Stefan lächelnd zur Antwort.

»Von Anselms Hälfte – aah! Junge, das ist gut!« –

»Mädel, was fällt dir ein? Einen Ast, einen ganzen Ast? Der ist doch nicht etwa vom wilden Apfelbaum?« so fragte zur selben Zeit Anselm sein Mädel.

»O ja,« sagte das Mädchen, »aber von der anderen Seite!«

So eine Dirn! Nein, so eine Dirn! Die schadete dem Feinde ordentlich, dem Schubiack, dem elendigen.


Wenn Ihr nun meint, Ihr mit Recht so geschätzten Leser, Stefan und Ursula hätten sich ineinander verliebt, so kann ich nicht abstreiten, daß Euer Scharfsinn das richtige erraten hat. Ja, sie liebten sich mit der ganzen Innigkeit, der ganzen wehen Sehnsuchtsglut ihrer Jugend. Und sie durften sich nie treffen, das hätte eine Familienkatastrophe gegeben. Schlimm hätte es um die beiden gestanden, wäre nicht der wilde Apfelbaum gewesen. –

»Sitzt dort oben nicht Anselms Mädel?« fragte eines Tages Stefan, als er mit seinem Vater auf dem Felde pflügte, legte die Hand über die Augen und sah nach dem Hügel. »Richtig, das dreiste Ding hat sich's an unserem Apfelbaum bequem gemacht und ißt wahrscheinlich dort ihr Vesperbrot. Das hat ihr ihr Vater aufgegeben. Das ist eine Frechheit! Herausfordern wollen sie uns!«

Sein Vater knirschte vor Wut.

»Spring rauf, Junge, setz dich auf unsere Seite, das lassen wir uns nicht bieten, sie wollen uns wirklich herausfordern!« Stefan gehorchte als braver Sohn dem väterlichen Befehl und war mit einigen Riesensätzen, denen man einen löblichen Eifer anmerkte, oben auf dem Hügel. Befriedigt schmunzelte der alte Peregrin, als er seinen Sohn nun auch am Apfelbaum sitzen sah und tat allein die Arbeit, da Stefan volle zwei Stunden nicht wieder herabkam. Der Junge blieb wahrhaftig sehr lange. Aber er mußte eben aushalten, so lange das Dirnlein aushielt. Dem Anselm, dem Schubiack, wollte der Peregrin beweisen: »Sitzt dein Mädel oben, sitzt mein Junge auch oben!« Da würde sich ja wieder mal ausweisen, wer der schlauere war.

Ganz ähnlich dachte der Anselm, und da es jetzt fast alle Tage eine »Herausforderung« gab, indem entweder zuerst das Mädel oder der Junge es sich recht protzig und ärgerlich am Apfelbaum bequem machte, so mußte immer der andere Teil zur Revanche abkommandiert werden und die Abgesandten der feindlichen Familien waren recht zufrieden mit ihrer Aufgabe.

Was nützt es aber schließlich Liebesleuten, wenn sie tagaus, tagein nur Rücken gegen Rücken sitzen können, wobei noch ein wilder Apfelbaumstamm von 55 Zentimeter Dicke in Anschlag zu bringen ist, und wenn immer eines nach Süden und eines nach Norden schauen muß?! Das war ja eben das Fatale, daß der Apfelbaum auf dem Hügel stand und südwärts Anselms und nordwärts Peregrins Felder lagen, von wo alles zu beobachten war.

Einmal geschah es, daß Stefan eine halbe Drehung mit dem Kopfe machte und Urselchen auch, und daß sich diesmal nicht die Nasenspitzen, sondern die Lippen trafen. Das geschah blitzschnell, aber da es sich oft wiederholte, fielen diese halben Drehungen unten auf den Feldern auf und die beiden Liebenden wurden zur Rede gestellt.

»Zanken tun wir uns,« sagte Stefan erbost, »ich sag', das Mädel solle gehen, ich hätte nicht Zeit, solange da oben zu sitzen. Geh nur, sagt sie, geh nur, ich habe Zeit genug, bei unserem Apfelbaum zu sitzen!«

»Was, bei ihrem Apfelbaum!« schrie da Peregrin wütend, »Du hast ihr doch deine Meinung gesagt?«

»Und ob ich sie ihr gesagt habe,« trumpfte Stefan auf, »direkt ins Gesicht reinschreien tu ich sie ihr immer.«

»Das ist recht! Das hast du gut gemacht, Stefan,« sagte befriedigt Peregrin. »Mach das andere Mal wieder so!«

Nicht viel anders fiel die Unterredung Anselms mit seiner Tochter Ursula aus, und wenn die beiden Alten im Schweiße ihres Angesichts ihre Feldarbeit verrichteten und sahen, daß da oben unter dem Apfelbaum das Kopfdrehen wieder einmal gar kein Ende nahm, dachten sie beide befriedigt: »Na, die zwei zanken sich aber heute wieder wie toll.«


Es gibt Zeiten, in denen es selbst für Liebesleute unerfreulich ist, unter einem Apfelbaum zu sitzen. Das ist, wenn ein starker Sturm daherfährt, oder wenn der Boden unter dem Apfelbaum auf 1½ Meter vom Regen durchweicht ist. Da bekommt man trotz aller inneren Glut leicht das Frösteln. So verminderten sich die »Herausforderungen« von Tag zu Tag, und die LiebesIeute trafen sich nur noch selten.

Eines Tages nun kamen sowohl Stefan als Ursula in großer Aufregung vom Apfelbaum zurück und berichteten, daß sie etwas äußerst Seltsames gefunden hätten. Zwei Blätter Papier seien an den Baum geheftet gewesen, auf jeder Seite eines, jedes mit einer verrosteten Nähnadel, die gewiß von einem Leichenhemd herstammte, und da sei das Blatt.

Es war ein kleines Papierstück, zur Hälfte rot, zur anderen Hälfte schwarz gerändert, und darauf standen geheimnisvolle Zeichen, die niemand entziffern konnte. Erst nach drei Tagen, als die ganze Familie schwer beklommen herumgelaufen war, entdeckte Stefan plötzlich, wenn man das Blatt vor den Spiegel halte, könne man die Schrift lesen. Es sei ganz schrecklich, was darauf stünde. Es war aber folgender Vers:

»Ich sah es in einem Zaubertraum:
Dies Jahr wächst auf dem Apfelbaum
Ein Apfel zur Weisheit, ein Apfel zum Sterben!
Welchen wirst du erwerben?
Was dir wird zu eigen,
Noch dies Jahr wird sich's zeigen!
Per'grin und Anselm sollen indessen
Ein jeder seine Apfel ganz alleine aufessen.«

Dieses Gedicht stand auf dem Papier. Tagelang schlich Peregrin umher, ohne ein Wort zu reden; sein Nachbar Anselm legte sich ins Bett und sagte, er hätte das Fieber. Und die beiden Feinde grübelten und grübelten; der schreckliche Reim war nicht anders zu verstehen, als daß einer sich Tod und Verderben essen würde, während der andere als kluger Mann weiterleben würde. Auf welcher Hälfte reifte die Weisheit, auf welcher wuchs der Tod?? – – –

Der Tag der Apfelernte kam. Mit zitternden Fingern pflückten die beiden Gegner ihre Früchte ab, und jedes Äpfelchen erschien ihnen schwer und als ob es heiß in den Fingern brenne. Kein höhnisches Wort fuhr herüber und hinüber, weil jeder glaubte, wenn er schimpfe, erweise er sich als kein kluger Mann und sei dem Tode verfallen. –

Mit trübem Gesicht saß endlich Peregrin daheim vor dem großen Korbe mit seinen Äpfeln. Die ganze Familie bat ihn, ja nichts von der schrecklichen Frucht zu essen, aber er sagte: »Was nützt es? Muß ich nicht essen? Sonst bin ich ganz verloren, der Zauberzettel hat es befohlen. Ach, ich kann die Unsicherheit nicht aushalten, ich will die Äpfel so schnell wie möglich wegbringen, damit ich weiß, was mit mir geschieht. Und er aß fünfzehn Stück der essigsauren Früchte auf einmal. Er stöhnte und quietschte bei diesem Mahle und in der Nacht sagte er: »Weib, der Apfel des Todes ist schon darunter gewesen; ich spüre es deutlich in meinem Leibe.«

Peregrin wurde indes wieder munter, aß von da an behutsam täglich nur ein paar Äpfel, und wenn ihm auch immer nicht recht wohl war, das absolute Verderben brach über ihn nicht herein. So begann er wieder zu hoffen, erkundigte sich eifrig nach dem Befinden des Anselm und gab acht, ob nicht etwa er selber auffallend an Weisheit zunähme, weil er vielleicht schon den Weisheitsapfel getroffen hatte. Er betrachtete sich täglich aufmerksam im Spiegel, konnte aber keine Zeichen gesteigerter Klugheit in seinem Antlitz entdecken. Dagegen erschrak er furchtbar, als er eines Tages erfuhr, Anselm hätte sich auf ein Blatt abonniert. – – –

Es kam der heilige Abend. Wie alle Jahre, so hingen auch dieses Jahr Holzäpfel in den grünen Tannenzweigen.

Trübselig saß Peregrin im Kreise seiner Lieben. Noch ehe das Jahr zu Ende ging, mußte sich sein Schicksal entscheiden; das war in sieben Tagen. Eine gräßliche Angst überfiel ihn. Diese zehn Äpflein am Baume mußte er noch essen, dann kam die Weisheit oder das Verderben.

Wenn es schlecht ausfiel, war nächstes Jahr am heiligen Abend seine Familie verwaist. Sonst traf es den anderen. Da – was ist das?

Wie er einen Apfel vom Baume nimmt und das Goldpapier von ihm entfernt, findet er unter dem Papier einen kleinen Zettel. Der Zettel trägt den Spruch:

»Wer Weiseste auf dieser Welt
Ist, wer auf Ruh' und Frieden hält.«

Peregrin stieß einen Jubelschrei aus, biß in den Apfel wie rasend und würgte ihn hinunter. Der Weisheitsapfel! Er war gerettet! Aufstöhnend sank Peregrin auf einen Stuhl, hörte kaum, wie sich die anderen freuten. Dann sah er schüchtern nach dem Spiegel. Wahrhaftig ja – da war ein Zug in seinem Gesicht, so von den Schläfen nach der Stirn hin – der war früher nicht. O du guter Apfelbaum!

Dann saß er ganz still und sinnend da. Also den anderen hatte es getroffen, den Anselm! Der mußte nun ins Gras beißen.

Würde auch eine schwere Sache sein.

Wenn einer eine so große Familie hat – hm!

Peregrin ging in der Stube aufgeregt hin und her, stand am Fenster still und grübelte.

»Wer Weiseste auf dieser Welt
Ist, wer auf Ruh' und Frieden hält.«

Noch acht Tage und Anselm war hinüber.

Plötzlich ritz Peregrin die Pudelmütze vom Nagel und sagte, er müsse noch mal fortgehen; Stefan ging ein Stück mit ihm.


Also Peregrin saß richtig bei Anselm in der Stube. Es war ein sehr betretenes Wiedersehen gewesen; alle anderen Leute hatten sich schnell entfernt, und die beiden waren allein.

»Wenn du nicht gekommen wärest, wäre ich zu dir gekommen,« sagte Anselm und dachte bei sich: »Gott, sieht der Peregrin schlecht aus. Der hat sicher den bösen Apfel schon intus. Ein Glück, daß die Ursula gerade heute meinen guten Weisheitsapfel am Baume entdeckte. Der arme Peregrin tut mir jetzt doch leid. Wenn einer eine so große Familie hat – hm! »Der Weiseste auf dieser Welt ist, wer auf Ruh' und Frieden hält!« Auch Anselm kannte das Verschen auswendig.

Sie saßen lange stumm voreinander, seufzten nur manchmal und schlugen sich ratlos auf die Knie.

»Also,« fing Anselm an, »man ist ja nicht umsonst ein kluger Mensch.«

»Ja, ja,« fiel ihm Peregrin ins Wort, »mir tut die ganze Geschichte schrecklich leid; ich wünschte, den Apfelbaum hätte der Blitz zerschlagen noch vor dem Prozeß.«

»Das kann ich mir denken!« nickte Anselm.

Und als er in den Wandspiegel sah, der über dem Tisch hing, bemerkte er, daß auch Peregrin sich daselbst forschend betrachtete.

»Also,« sagte Anselm, »ich will Ruhe und Frieden halten, ich mag mit dem Apfelbaum nichts mehr zu tun haben.«

»Ich auch nicht. Und ich will dir was sagen, Anselm; mein Stefan ist ein Stück mit mir gegangen, der hat mich auf einen guten Gedanken gebracht. Er meint – mußt's aber nicht für Aufdringlichkeit nehmen – er meint, er wolle deine Ursula heiraten – und ich glaubte, es würde dir lieb sein, wenn du noch –«

»Trifft sich gut,« fiel ihm Anselm ins Wort, »die Ursula will ihn auch. Sie hat mir's gerade vor einer Viertelstunde gesagt. Das ist immerhin ein Trost für –«

»Ja, ja, es sind vernünftige kluge Kinder. Wollen auch ihre Abneigung und Zänkerei sein lassen.«

»Und, Anselm, da man aber doch nicht weiß, wie's abgeht mit Leben und Sterben –«

»So bringen wir's ins Reine!« schlug Anselm freudig ein. »Da müßte man ja dumm sein, wenn man das nicht täte. Und man ist doch nicht dumm!«

Sie machten beide kluge Gesichter, sahen sich an und es dachte ein jeder bei sich: »Der arme Kerl! Man sieht ihm schon den Verfall an, er ist ganz verändert.«

Da trat Stefan, der inzwischen nachgekommen war, mit Ursula in die Stube. Sie hielten sich an den Händen. Beide sahen so pfiffig und durchtrieben aus, daß jeder Vater für sich dachte: »Ja, ja, einem geweckten Gesicht sieht man gleich an, von wem es abstammt.«

»Es gibt eine Rettung,« sagte Stefan feierlich; »ich habe einmal beim Militär von unserem General gehört, wenn was Schlimmes droht, braucht man bloß die Ursache wegzuschaffen, da schadet dann kein Zauber mehr, und sage ich –«

»Wir sägen ihn ab!« sagten Peregrin und Anselm gleichzeitig und tief aufatmend.

»Und aus dem Holze backen wir in vier Wochen Hochzeitkuchen. Was verbrannt ist, schadet nichts mehr,« sagte Stefan und das gute Urselchen nickte dazu.

So sägten die beiden alten Feinde noch in selbiger Nacht den Apfelbaum um. Ihre Kinder halfen ihnen, und die Weihnachtssterne leuchteten dazu. Als sie heimgingen, dachte ein jeder für sich: »Wenn ich kein kluger Mann wäre, wäre alles anders gekommen. So macht mein Kind eine gute Partie, und dem anderen habe ich direkt das Leben gerettet. Na, der soll aber froh sein der Schubi – nein, der liebe Nachbar!«


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