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Der alte Vogel war Gastwirt an der Kohlenstraße. In alter Zeit war die Kohlenstraße ein belebter Weg; da kamen die Wagen tief aus dem Lande herauf, um im Gebirge Kohlen zu holen, und keiner der Fuhrleute vergaß, in der einsam gelegenen Straßenwirtschaft seinen Durst zu löschen. Die neue Zeit brachte Eisenbahnen und Chausseen, und die alte Landstraße verödete. Mit ihr wäre das Wirtshaus verödet, wenn nicht der Gastwirt, der alte Vogel, selbst Anziehungskraft genug besessen hätte, um Gäste aus den umliegenden Ortschaften, die aber alle eine halbe bis eine ganze Stunde weit entfernt lagen, herbeizulocken. Um das Verdienen war es dem Alten nicht; die Landwirtschaft, die er betrieb, nährte ihn reichlich; es war ihm mehr um Gesellschaft zu tun und vor allem um allerhand Schabernack, den er seinen Gästen spielen konnte.
Dieser Mann hat in seinem ganzen Leben über nichts ernsthafter nachgedacht als über dumme Streiche. Man könnte ihn einen Allotriadichter nennen. Wenn er als Bauer hinter seinem Pfluge herschritt, war sein Gesicht ernst und nachdenklich und man merkte, wie hinter seinem Mützenschilde die Gedanken arbeiteten. Dann schmiedete er Pläne, wie er Krausen oder Kunzen, Müllern oder Schulzen einen Streich spielen könne, und diese Pläne waren oft sehr verwickelte, wahrhaft strategische Aufgaben, denn er war als Fuchs allzu bekannt, als daß sich nicht alle Gimpel vor ihm in Obacht genommen hätten.
Der alte Vogel war wie der alte Fritz, von dem ja auch tausend Schnurren durchs Land gehen; er führte Krieg gegen seine ganze Umgebung. Es war aber ein lustiger Krieg und auf mehr, als ein Gelächter zu erzielen, kam es dem alten Vogel nicht an. Vogel blieb bis in sein hohes Alter ein enfant terrible; eine Max- und Moritznatur, und seine kleine Frau, die still, zierlich und fein neben ihm herging, kam all ihr Lebtag aus dem Kopfschütteln über ihren Mann nicht heraus.
Viele der Streiche Vogels waren von erstaunlicher Kindlichkeit. Einmal – Vogel war damals schon sechzig Jahre alt – kehrte ein ehrsames Schneiderlein bei ihm ein. Der Schneider trug an den Ösen fein säuberlich ein paar neue halbschäftige Stiefel, stellte die Stiefel in eine Ecke und setzte sich an einen Tisch. Er erzählte, daß er morgen heirate und sich deshalb diese schönen hirschledernen Stiefel in der Stadt gekauft habe. Seine Braut sei aus einer feinen Familie, sie brächte sogar zwei Bezüge weiße Ziechen mit in die Ehe. Während der Schneider noch schwatzte und sich mit der kleinen Frau Vogels unterhielt, ging dieser einmal hinaus, kam wieder herein und machte sich unauffällig an den Hochzeitstiefeln des Schneiders zu schaffen. Zwei Tage später teilte die junge Schneidersfrau im Nachbardorf einer Freundin weinend mit, sie habe sich in ihrem Mann furchtbar getäuscht. Er sei so unsauber, daß er sich nicht einmal vor seiner Hochzeit die Füße gewaschen habe. Ihre kostbaren Weißen Ziechen seien ganz ruiniert. Sie sei eine unglückliche Frau.
Als Vogel das hörte, sagte er: »Es gibt viele gute Witze auf der Welt; die allerschönsten aber lassen sich mit Kienruß machen.« Ein halbes Fäßchen hatte er dem Schneider in jeden Stiefel geschüttet.
Am Abend desselben Tages aber, als Vogel aus seinem Fenster Ausschau hielt, wie ein Fuchs aus seinem Loch, sah er den Schneider von weitem daherkommen und er ahnte gleich, daß es eine böse Abrechnung geben würde. Flugs arbeitete die Allotriamaschine in seinem Kopf und als der Schneider zornschnaubend ankam, war Vogel gerüstet.
Er ließ den angeschwärzten Ehemann erst seinem Zorn und Schmerz Luft machen, dann schüttelte er den Kopf und sagte mit mildem Ernst:
»Ich weiß nicht, warum Sie gerade zu mir kommen. Es gibt doch auf der Welt kein nichtsnutzigeres Pack als Schusterjungen, und ich möchte wetten, daß Sie Ihre Stiefel von einem Schuster gekauft haben.«
Dem Schneider ging ein neues Licht auf.
»Jawohl,« schrie er überrascht; »die Kerle werden es gewesen sein. Einer hat gelacht, wie ich zufällig von den weißen Ziechen erzählte. Na, da nehmen Sie's nur nicht übel, Herr Vogel.«
Herr Vogel sagte großmütig, nein, er nehme es nicht übel und lud den Schneider zu einem Freitrunk ein. Wie der nun so sitzt und schwört, morgen gehe er nach der Stadt und schlage die Schusterjungen tot, fällt sein Blick auf einen Nebentisch. Auf dem Tisch lag eine Flöte. Mit Flöten hat das aber eine eigene Bewandtnis. Von hundert Menschen, die ein solch rundes, molliges Instrument liegen sehen, kommen neunundneunzig in Versuchung, einmal auf ihm blasen zu wollen. So auch der Schneider. Während Vogel noch erzählt, er habe das Ding auf einer Auktion billig erstanden, hat sich der Schneider schon an die Flöte herangemacht und fragt albern und neugierig:
»Wie wird denn das gemacht?«
Vogel schiebt dem Schneider selbst die Flöte vors Gesicht, belehrt ihn, wie er alle Klappen auf einmal öffnen solle und sagt dann:
»Nu blasen Sie mal aus Leibeskräften hier oben ins Schalloch.«
Der Schneider holt tief Atem und bläst los. Da wirbelt eine Kienrußwolke um ihn und verwandelt ihn in einen Mohren.
Außer sich vor Wut haut der Schneider die Flöte auf den Tisch und – kaum fähig zu sprechen – faucht er:
»Ich – ich – setz Dir den roten Hahn aufs Dach, Du Kanaille!«
Und ist hinaus. –
In derselben Nacht brannte Vogels schlechtversicherte Feldscheune ab. Er hat aber keine Anzeige erstattet. Einmal nur, als er den Schneider sah, schüttelte er den Kopf, sagte er wehmütig.
»Der hat keinen Humor im Leibe!« – – –
So war nun der alte Vogel! Es gab kaum jemand im ganzen Umkreis, den er nicht einmal geneckt hätte. Manchmal lief es nicht ganz glatt ab, wie im vorliegenden Fall; zweimal wurde er sogar verklagt und mit gelinder Pön belegt, das eine Mal wegen tätlicher Beleidigung und »Geschäftsschädigung«, als er einem fahrenden »Künstler«, der bei ihm eingekehrt und am Wirtshaustisch eingeschlafen war, das herrliche lange Haupthaar mittels einer Schafschere schmählich gekürzt hatte; das zweite Mal wegen »groben Unfugs«, weil er im Stadt- und Kreisblatt eine »Volksbelustigung mit einer großen Überraschung« annonciert und dadurch großen Zulauf hervorgerufen, an seine Haustür aber am »Festtage« ein Plakat geheftet hatte, das die Inschrift trug: »Vogels Gasthaus bleibt wegen schlechter Laune des Besitzers heute geschlossen!«
Da war also auch einer unter der Menge gewesen, der »keinen Humor im Leibe hatte« und ihn anzeigte. Die Verhandlung war sehr drollig. Die Leute rissen sich um die Plätze im Zuschauerraum wie bei einem Sensationsprozeß. Der Angeklagte gab mit einem nur halbverkniffenen Grinsen seine »Tat reumütig zu« und der Richter belegte ihn – auch mit einem nur halbverkniffenen Grinsen – mit 30 Mark Geldstrafe. Vogel hätte für das Vergnügen, auf die herbeigeströmten Völkerscharen, die vor seiner verschlossenen Tür standen, aus einer Dachluke herunter zu schauen, gern 300 Mark gezahlt, und er pries den Richter als einen gerechten und billigen Mann. –
Eine einzige gab es, mit der Vogel niemals Allotria trieb,– das war seine kleine, stille Frau. Die hatte für eine Bäuerin ein feines Wesen und hatte ein sanftes Gesicht, das immer für die Streiche ihres Mannes um Verzeihung zu bitten schien. Vogel liebte seine Frau über alles auf Erden. In dieser tiefen, glücklichen Liebe wurzelte auch die unverwelkliche Blume seines jugendfrischen Übermuts. Manchmal, wenn sie ein wenig schmollte, faßte er sie um die zarte Taille und drehte sie im Tanze. Dazu sang er mit leiser, zärtlicher Stimme:
»Herzliebchen mein unter'm Rebendach,
O hör mein kleines Lied –«
Und dann sah sie ihn glücklich an. Denn unter den Klängen dieses alten Walzerliedes hatte sie ihn kennen gelernt, der damals der schmuckeste und lustigste Bursche war.
Als Vogel 63 Jahre alt war, verunglückte er. Er hatte in einem Nachbardorfe heimlich eine Leiter an das Haus des Schmiedes angelegt und seinem alten Freunde mit einem Brett den Schornstein zugedeckt und die Schmiede voll Rauch gefüllt. Beim Abstieg vom Dach glitt Vogel aus und brach ein Bein und einen Arm. Von da an machte er seine Witze nur noch zu ebener Erde. –
Der alte Vogel erfreute sich bei allen Leuten der Gegend, mit ganz wenigen Ausnahmen, der größten Beliebtheit. Es gab keinen gefälligeren, hilfsbereiteren Mann als ihn, und seine Ulkereien, die er mit weiser Gerechtigkeit nie auf ein einzelnes Opferlamm konzentrierte, sondern Reih um gehen ließ, verschafften ihm neben dem augenblicklichen Grimm des einzelnen Gefoppten immer den schadenfrohen Beifall von Tausenden.
Als daher der vierzigste Jahrestag seiner Hochzeit gekommen war, beschlossen einige seiner Freunde, ihn zu beschenken. Sie grübelten lange nach, wie sie es recht lustig und gut einrichten könnten und kamen endlich auf eine Idee.
Es war tief in der Nacht zwischen zwei und drei Uhr. Da nahten sich dem einsam gelegenen Vogelschen Gehöft zehn Männer. Zwei von ihnen trugen ein großes, verhülltes Paket. Als sie an den Hof herankamen, beschwichtigte einer der Männer den Hofhund mit einem mitgebrachten Knochen, dann schlichen alle nach der zur ebenen Erde gelegenen Schlafstube Vogels, packten das Paket aus und stellten auf das breite Fenstersims der Schlafstube ein neues Grammophon. Eine halbe Minute später erdröhnte der Hohenfriedeberger Marsch. Die Männer lachten und klatschten in die Hände.
Da wurde der Vorhang weggezogen, das Fenster geöffnet und der Kopf Vogels erschien. Der Mond schien ihm ins Gesicht; er war sehr bleich.
»Kinder,« sagte er mit todtrauriger Stimme, »macht heute keine Witze – meine Frau ist gestorben.«
Sie hörten ihm an, daß er die Wahrheit sprach und waren alle tief erschrocken. Am Abend, als die Sonne schied, war sie nach ganz kurzem Unwohlsein plötzlich entschlafen.
Der alte Vogel lehnte den Kopf müde an die Fensterwand. Einer der Männer beklagte es, daß sie gerade jetzt mit ihrem gutgemeinten Scherz so zur Unzeit gekommen wären, aber Vogel entgegnete ihm:
»Wenn die Mutter lebte, wäre es ein sehr schöner Spaß gewesen.«
Dann sah er auf das Grammophon und fragte: »Habt Ihr etwa auch »Herzliebchen mein unter'm Rebendach« auf dem Ding?«
Sie sagten ja, das hätten sie extra besorgt, weil es doch sein Lieblingsstück sei. Nun bestand der alte Vogel darauf, das müßten sie spielen lassen.
Sie ließen es spielen. Da ging der alte Vogel weg vom Fenster, ging in die dunkle Ecke an das Totenbett seiner Trauten, kam aber bald zurück und sagte zu den Männern draußen:
»Kinder, sie hat ein bissel gelacht; sie freut sich über Euch!«
Als er aber das gesagt hatte, weinte der alte Spaßmacher bitterlich.