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Moderne Dichter von heute sagen: Linden gibt's nicht mehr. Linden sind Sage. Wenn aber wirklich noch so eine Art Tilia parvifolia, oder grandifolia, existiere, so gäbe es keine Dorflinden; das sei ganz sicher. Noch viel sicherer aber sei, daß kein Mensch ein Recht habe, von einer Linde oder gar von einer Dorflinde in poetischen Bildern zu reden. So etwas sei veraltet und abgeschmackt.
Und so will ich meine kurze Geschichte von der Dorflinde beginnen.
Ich habe sie von einem Freunde, und will sie für ihn erzählen:
Ich reise von Zeit zu Zeit nach meinem Heimatsdorf. Vater und Mutter habe ich zwar nicht mehr, auch nicht Bruder und Schwester. Nicht einmal eine Tante oder ein hübsches Mühmchen warten auf mich. Selbst die alte Jugendliebe fehlt gänzlich. Ich muß im Kretscham schlafen. Das Bett kostet 50 Pfennig pro Nacht; es ist sauber und unbequem.
Es war an einem Sommerabend. Langsam ging ich der Heimat zu, immer nach dem alten Kirchturm lugend, den der Mond mit weißem Silberlicht verklärte. Es war noch nicht spät, kaum zehn Uhr, aber das ganze Dörflein schlief schon, denn der Hahn weckt zur Sommerzeit früh.
Auch der Kretscham lag ganz still. Kein Zecher saß mehr darin. Nur die hohe, alte Linde vor dem Hause rauschte im Abendwind.
Es war meine alte Dorflinde. Ich weiß nicht, wie oft ich im Leben nach ihr Heimweh gehabt habe. Jetzt stehe ich verlegen da, kratze mit meinem Stocke im Sande herum und finde viele Minuten lang kein Wort. Wenn ich unter meiner Dorflinde stehe, werde ich auch so eine Art Dichter. Dann wird mir die Linde lebendig, und ich muß mit ihr reden. Das habe ich noch von der Kinderzeit her. So ist es auch heut; ich sage: »Grüß Gott!« und die Linde sagt auch: »Grüß Gott!«
Dann trete ich näher.
»Ah – sie haben ja eine Bank rund um dich gezogen, eine grüne Bank,« sage ich.
»Jawohl, das haben sie. Der Wirt hat sie für die Gäste gemacht. Und ich füge mich darein,« sagt die Linde.
»Wohl, wohl! denn du bist eine kluge bejahrte Frau und nimmst das, was da unten herumsitzt, als Kinder auf Fußschemelchen zu deinen Füßen,« sagte wieder ich.
»Hast recht! Bist immer noch ein freundlicher Junge. Kannst dich auch setzen,« sagt wieder die Linde.
Jetzt geht das Gespräch weiter. Immer erst ich, dann sie. Das war immer so. Von selbst fängt eine Linde nicht an, aber antworten muß sie.
»Kennst mich also noch?«
»Natürlich! Hast ja deinen Namen in meinen Stamm geschnitten, du Galgenvogel!«
»Ja, das habe ich, außerdem leider noch einen Indianerkopf.«
»Und eine Hundeschnauze. So warst du nun!«
»Ja, weißt du, es war mir ein Spaß und dann gruselte mich's so, weil doch unter dir das einsame Grab war, das einsame, grüne Grab.«
Die Linde seufzte.
»Das einsame, grüne Grab war ein Märchen, mein Junge.«
»Aber es lag doch ein alter französischer, toter General darin.«
»Der alte, französische, tote General, der drin lag, war auch ein Märchen. Das einsame, grüne Grab war einfach eine Grasbank.«
»Leer?«
»Ganz leer!«
»Schade!«
»O ja, schade! Ich hätte sowas Gruseliges auch lieber gehabt.«
Wir schweigen. Ich ärgere mich über den alten, französischen, toten General, der so hinterlistig war, sich nicht in unser einsames grünes Grab hineinzulegen. Aber die Luft streicht so mild um meine Stirn, die Glühwürmlein funkeln so golden, daß ich meinen Groll vergesse.
»Du, ob der Wirt noch die Deckbetten hat, die so dick und schwer sind, wie eine Walze?«
Die Linde beugt den Wipfel ein wenig nach einem Giebelfenster hin und lugt hinein.
»Ja, die Walze ist inzwischen immer dicker und schwerer geworden, denn die Gänse haben sich vermehrt. Bleib noch ein bißchen hier!«
»Gern! Die Burschen und Mädel tanzen wohl keinen Reigen mehr um dich?«
»Frag keinen Unsinn! Als du jung warst, habt ihr Burschen und Mädel auch keinen Reigen um mich getanzt, da habt ihr auch schon im heutigen Tanzsaal Walzer und Polka gehopst.«
»Ja, aber ich habe oft mit meinem Mädel unter dir gesessen.«
»Und mit ihr gekost. Das ist wahr. Das machen sie heute auch noch.«
»Du, dann ist alles Schwere fort aus dem Leben. Dann ist im Herzen nur ein Jauchzen und ein felsenfester Glaube ans Glück.«
»Ja, das ist so. Aber dein Mädel wurde dir untreu.«
»Sie wurde mir untreu. Aber es sind mir noch viele untreu geworden. Das tun sie so. Das schadet nichts.«
»Du bist ein sehr genügsamer Mann.«
»Ich bin es so langsam geworden.«
Meine Gedanken wandern die stille Dorfstraße hinauf und herunter, sie gehen in alle Seitengäßlein und in all die schlummernden Häuser und irren auch um den Fuß des hellschimmernden Kirchturms.
Da beginnt zum ersten Male die Linde das Gespräch:
»Weißt du noch, daß du Lindenblüten von mir gepflückt hast, als der Peter den Scharlach hatte?«
»Ja, Peters Mutter meinte, Lindenblütentee sei gut gegen Scharlach, aber von dir müsse er sein, weil der alte General unter dir läge.«
»Du pflücktest den Tee; du brachtest ihn in Peters Haus. Du stecktest dich an und bekamst auch den Scharlach. Und du stecktest deinen Bruder an. Peter und du, ihr wurdet gesund, aber dein Bruder starb.«
Mein kleiner Bruder! Er war begabter als ich, er war schöner als ich, er war gesünder als ich. Was hätte aus ihm alles werden können! Damals hat er daran glauben müssen. Meine armen Eltern kamen mit ihrem Herzeleid von dem kleinen Grabhügel Zeit ihres Lebens nicht mehr los. Jetzt liegen sie dort, wo meine Gedanken um den weißblinkenden Kirchturm irren, und mein Bruder liegt dort und Peters Mutter liegt auch dort.
Wie ein müdes Kind sich an das Knie einer guten Matrone schmiegt, so schmiege ich mich an den Stamm der Linde.
Die Augen fallen mir zu. Ich liege wohl sehr lange so still.
Da schrecke ich auf. Ein Mann, der plötzlich neben mir auf der Bank liegt, stößt mich an.
»Willste auch hier pennen? Hier pennt sich's gut!« sagt er roh.
Ein Bummler. Betrunken.
Ich stehe auf.
»Ich will hinein ins Gasthaus,« sage ich.
»Ja nich, – der Wirt kommt dir saugrob, bleib nur – bleib nur hier – hier pennt sich's gut!«
»Peter!«
Der Mond hat ihm ins Gesicht geschienen und ich habe ihn erkannt.
»Peter!« lallt er. »Ja, du kennst mich? – Ich – ich kenne dich nich – es – es is mir auch egal. Hast du vielleicht einen Schnaps bei dir?«
Es ekelt mich. Der Trunkenbold lallt noch dies und das, dann schläft er ein.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Langsam gehe ich das Dorf hinab. Beim Kirchhof, darum der Mond seltsamen weißen Verklärungsschimmer spinnt, denke ich an Vater und Mutter, denke ich an die Frau, die mich in der Angst ihres Herzens um Lindenblüten für ihren kranken Peter bat, damit ihr nur das Kind nicht sterbe.
Und ich denke an meinen kleinen Bruder.
Der ging in weite Ferne, damit Peter jetzt unter der Linde schlafen kann. – – –
Langsam kehre ich um. Mir ist, als ob die Toten mir Vorwürfe machten.
Siehe, wir wollen hier friedlich schlafen, aber alle Tage lärmt der betrunkene Peter an uns vorbei, er, der uns allen das Leben nahm. Warum erhieltest du ihn? – – –
Ich rüttle den Trunkenbold wach. Ich sage ihm, wer ich bin. Er lächelt albern und fängt dann an zu heulen und unter vielem erlogenen, rührseligen Gewinsel sein Dasein zu bejammern.
»Peter, du mußt fort!« sage ich streng. »Du darfst nicht hier sein, wo deine Mutter, wo meine Eltern und mein Bruder begraben liegen. Zieh nach Berlin oder sonst in eine große Stadt, arbeite oder bettle oder saufe, tu meinetwegen, was dir gefällt, aber zieh fort von hier.«
Ich rede ihm lange zu, da willigt er ein, bald fortzuziehen. Ein Heim hat er nicht. Ich schenke ihm das Reisegeld. Er nimmt es und ich sehe, wie er den Weg nach dem Bahnhof einschlägt.
Dann sitze ich allein unter der Linde.
Und der gute alte Baum rauscht über mir: »Lieber Träumer, der zieht nicht fort. Der wird dein Geld vertrinken und auch ferner unter mir schlafen, unter dem Baum, von dem du ihm die Blüten der Genesung holtest.«
Die Sommernacht ist mild; aber mich friert.