Paul Keller
Stille Straßen
Paul Keller

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Von schnurrigen Käuzen.

Im Schoberhäusel.

Unter den vielen einsamen, weltverlorenen Hütten hoch oben am Hange der Berge war das Schoberhäusel die allerverlorenste, allereinsamste Wohnstätte. Seit Menschengedenken hatten dort nur Holzfällerleute gehaust, die unten im Tale kaum etwas anderes zu tun hatten, als daß sie manchmal ein wenig Brotmehl oder ein Päckchen Kaffee und Tabak einkauften. Sonst brauchten sie nur Milch zu ihrem Lebensunterhalt, und die lieferten die Ziegen. Seit nun gar der alte Schober bei einer Holzfuhre verunglückt und eines schnellen Todes dahingestorben war, wohnte im Schoberhäusel noch tiefere Einsamkeit als je. Die alte Schobern, die trotz ihrer sechzig Jahre noch eine sehr rüstige und gesunde Frau war, sammelte Kräuter und »Tee« im Walde und verkaufte sie unten in der Apotheke. Da lag das Haus oft den ganzen Tag verlassen, und es kam vor, daß eine Rehfamilie sich vor die Haustür legte, weil der warme Sonnenschein oft gerade dort ein wohliges Plätzchen zum Lagern bot.

Eines Tages aber wurde alles anders. Ein Skandal kam ins Haus, daß oft die alten Wände zu wackeln schienen und alle Fledermäuse erschreckt von dannen zogen, gar nicht zu denken an den empörten Rehbock, der das Gehörn in den Nacken warf, mit feinen Leuten beleidigt davonzog und nie wiederkam. Das trommelte, pfiff, johlte, lachte und krachte im Häuschen, und all der Lärm kam von einem Buben her, der kaum zehn Jahre alt war und der glaubte, auf den wüsten Rummel, den er verursachte, ein natürliches Recht zu haben; denn es war der einzige Enkelsohn der Schobermutter und galt vor allen Gesetzbüchern der Welt für den unbestrittenen Erben des Schoberhauses samt den darauf ruhenden hundert Talern Schulden.

Die schlimmste und längste Strafpredigt, die Mutter Schober ihrem Enkel hielt, lautete: »Du bist a nischnitziger Junge!« und diese Predigt war nicht von sehr niederschmetternder Wirkung. Sie sollte es auch nicht, denn nicht nur Lärm hatte der kleine Robert ins Haus gebracht, sondern auch Trost und Freude.

Den einen schweren Schlag, der ihr den Lebensgefährten entriß, hatte die Frau mit ihrem tapferen, frommen Herzen verwunden, aber der andere, der bald folgte, hatte sie tief gebeugt, so tief, daß sie meinte, ganz dicht ins eigene Grab zu sehen.

Das war, als der einzige Sohn an der Schwindsucht starb. Was war er für ein gesunder Mensch gewesen, als Junge gerade so ein ausgelassener Schlingel wie jetzt der Robert! Aber die Glashütte hatte ihn zugrunde gerichtet wie so viele, so viele. Der Glasstaub, der sich auf die Lunge legt, macht die Leute zuschanden. Da kommt dann die »Schleiferkrankheit«, und gegen die ist kein Kraut gewachsen.

Er hatte es auch gewußt, der Sohn. Als er nicht mehr weiter arbeiten konnte und ahnte, daß er bald sterben werde, ging er eines Tages in die Direktion, meldete sich ab und begehrte die letzte Glasschale, die er kunstvoll geschliffen hatte, zu kaufen. Sie wurde ihm auch zum »Selbstkostenpreise« überlassen, und er trug sie nach Hause. Dort zeigte er auf das Bettchen, in dem der kleine Robert schlief, und sagte zu seinem Weibe: »Marie, heb ihm die Schale auf, daß er einmal ein Andenken hat an seinen Vater. Und laß ihn nicht Schleifer werden!«

So hatte er gesagt, und ein paar Wochen später war er gestorben. Die Marie hatte wieder zu fremden Leuten in Stellung gehen müssen, und der Junge war zur Großmutter gekommen und mit ihm die Schale. Die stand nun wohlgeborgen in einem Wandschrank. An Sonntagen aber wurde sie manchmal hervorgeholt, auf den Tisch gestellt und bewundert. Dann kam von weit her ein weißer Sonnenstrahl, spiegelte sich in der Schale, und sie strahlte und glänzte wie ein heiliger Kelch. Und ob auch die beiden, die Alte und der Junge, nie etwas gehört hatten von der hehren Sage vom heiligen Gral, sie schauten mit liebenden Augen auf das lichte Wunder, und es war wirklich ein Gral. Ein Gral, in dem ein Leben geopfert worden war und zu dem von Zeit zu Zeit Strahlen hoher Gnade aus himmlischer Ferne kamen, auf daß seine tröstende und stärkende Kraft nie erlösche.

Als der Weihnachtsabend kam, als draußen tausend silberne Christbäume ums Schoberhäusel standen, stellte die Schobermutter das Glas mitten auf den weißgedeckten Tisch. Einen Christbaum hatte sie nicht geschmückt. So schön wie die Tannen draußen waren, um die im Schneelicht ungezählte Diamanten stiebten, hätte sie ihn doch nicht machen können. Die Glasschale stand auf dem Tisch, und daneben lagen die kleinen Geschenke für Robert, die sich die Großmutter für ihn mühsam erspart hatte.


Die Schobermutter hatte jene Weihnachtsgeschichte vorgelesen, deren Kraft und Anmut noch kein Dichter erreicht hat, obgleich sie eigentlich nichts ist als ein ganz schlichter Bericht: »In jener Zeit ging vom Kaiser Augustus der Befehl aus, das ganze Land zu beschreiben ...« Dann hatten beide »Stille Nacht, heilige Nacht« gesungen, der Junge die Alte mächtig überdröhnend. Ein wenig hatten sie noch darüber gesprochen, ein wie großer Künstler der Vater gewesen sei, und das Glas wieder in den Schrank gestellt. Darauf wußten sie nichts Rechtes mehr anzufangen. Der Junge hatte sich die neue gestrickte Jacke angezogen, die dicke Pelzmütze auf den Kopf gesetzt und starrte ins Schneelicht des Abends hinaus.

»Da unten kommt jemand ...« rief er plötzlich, »der Briefträger ... er kommt auf unser Haus zu.«

Die Alte schaute auch hinaus; sie sah nichts. Der Junge aber hatte schon seinen kleinen Handschlitten aus dem Hause gezogen und sauste den Bergweg hinab, dem Briefträger entgegen. Nach einer Weile kam er mit einem umfangreichen Paket auf dem Schlitten zurück. Neben ihm ging der alte Postbote.

»Na, das war gut, daß mir der Junge entgegenkam,« sagte prustend der alte Liebert, »das Paket hat Gewicht. 9 Kilo, die hängen an, und der letzte Hübel hierauf is keen gutter.«

Liebert setzte sich. Die Schobermutter redete und jammerte viel über den schweren Beruf eines Gebirgsbriefträgers.

»Na, das is nu mal nicht anders, Christine; da gewöhnen sich die alten Knochen mit der Zeit dran. Und zu Euch komme ich ja ganz gerne amal, überhaupt heute, wo gerade mit Euch meine Tour alle is. 's wird wohl von der Schwiegertochter aus Breslau sein.«

Er zeigte auf das Paket, an dessen verknoteten Schnüren sich ächzend und in größter Aufregung Robert zu schaffen machte.

Liebert lächelte.

»Bei eenem Haar,« sagte er, »hätt' er das Paket schon unten auf der Schneeschanze aufmachen wollen.«

»'s is a tälscher Junge!« sagte die Schobermutter, sah aber selbst voll Begierde auf das Paket, und der alte Briefträger sah auch hin und war nicht weniger neugierig als die beiden anderen. Schließlich bastelten alle drei an den Schnüren herum, aber mit wenig Erfolg, denn die Hände des Jungen waren noch zu schwach und die Finger der Alten waren steif.

»Es wird vielleicht überhaupt nich uffgehen,« sagte nach einer halben Stunde, als alle drei schon schwitzten, die Schobermutter.

»Na, da mach wir eben kurzen Prozeß,« meinte Liebert energisch und zog sein Taschenmesser heraus. Doch die Schobermutter wehrte erschrocken ab.

»Nee, nee, so 'ne schöne Schnur zerschneiden; lieber lassen wir's zu!«

Und sie bastelten weiter. Bis Liebert sagte: »Man müßte was Spitziges haben. Wart, wart, da kommt mir a praktischer Gedanke!«

Er nahm ein Bild von der Wand, zerrte den Nagel, an dem es gehangen hatte, aus der Mauer und machte sich also bewaffnet wieder an die Arbeit. Nach einer weiteren Viertelstunde war das Paket geöffnet. Es enthielt soviel Praktisches und soviel Schönes, daß Großmutter und Enkelsohn im Schoberhäusel auf einmal die reichsten Menschen im ganzen Gebirge waren.

Zuletzt, als der Junge schon den neuen Anzug trug und an die zwanzig Mal mit seiner Zündblattpistole geschossen hatte, wobei die Großmutter bei jedem einzelnen Male neu erschrak, sagte die Schobermutter: »Nu möcht' wir wohl auch den Brief lesen, der dabei liegt.«

Sie setzte die Brille auf und las den Brief ihrer Schwiegertochter laut vor. Am Schluß stand folgende Stelle: »Liebe Mutter, nun muß ich Euch noch was Neues schreiben. Ich will zu Ostern wieder heiraten. Ich hab hier den Lehnert Hermann getroffen. Ihr kennt ihn ja; er ist ordentlich, und es geht ihm gut und er hat ein hübsches eigenes Geschäft. Die Frau ist ihm gestorben, und Kinder hat er nicht. Da wollen wir den Robert zu uns nehmen und hier auf die Schule schicken, daß er was Ordentliches wird. Den Anzug für den Robert hat schon der Lehnert gekauft, ebenso das Spielzeug und ...«

Weiter kam die Schobermutter nicht. Der Junge fing furchtbar an zu weinen. Die Großmutter senkte müde das Haupt und schloß die Augen.

War die Tür des Wandschranks nicht ordentlich geschlossen? Sie öffnete sich von selbst, und die geschliffene Schale wurde sichtbar und funkelte licht und klar. – – –

Eine Weile verstrich, draußen ging der Winterwind und klopfte ans Fenster. Da räusperte sich der alte Liebert, stand auf und hielt eine lange Rede.

»Möcht ich wissen, was es da zu flennen gibt! Welt is Welt und Mensch is Mensch. Die Marie is kaum dreißig Jahre alt. Warum soll se denn alleine in der Welt rumlaufen – ohne Mann und ohne Sinn und Verstand? Sie is klüger wie wir. Wenn ich nich unverheirat't geblieben wär, wär ich ooch nich so a alter Esel, der am heiligen Abend froh is, wenn a zu fremden Leuten a Paket tragen kann. Na, und immer in Stellung und a Jungen hier haben, wo nischt aus 'm wird als höchstens doch amal a Schleifer? Christine, ich garantier' dir dafür, dein seliger Albert hat nischt dagegen, daß seine Marie wieder heirat'. Wenn einer erst in der Erde liegt, hört die Eifersucht auf. Und überhaupt, wo's gut für a Jungen is, der hier bloß verwildert. Ich garantier', sag ich, und ich bin doch nich der erste Beste. Ich bin a königlicher Beamter!« Hier verschnaufte er ein wenig und fuhr dann fort:

»A königlicher Beamter mit fünfzehnhundert Mark barem Gehalt, Pensionsberechtigung und Witwenversorgung. Jawohl, Witwenversorgung, wenn ich überhaupt amal 'ne Witwe zu hinterlassen hätte. Wenn ich amal sterbe – hat sich was mit 'ner Witwe! Fehlt! Is nich vorhanden! Das ganze schöne Geld steckt sich der Fiskus ein und lacht mich noch uff der Bahre aus. Und darin bin ich rabiat. Mein ganzes Leben geschunden, und wenn ich amal sterbe, nich amal 'ne Witwe, die der Staat versorgen müßte – nee, und wenn ich mich uff meine alten Tage noch in die Zeitung setzen lassen müßte, daraus wird nischt! Daß der Postmeester amal nach meinem Tode berichten könnte: Ohne versorgungsberechtigte Hinterbliebene gestorben, und dafür vielleicht 'n Orden kriegte – nee, darin bin ich rabiat! Ich heirate. Ich bin erst 63, in zwei Jahren werd' ich pensioniert, und wenn ich amal sterbe, habe ich 'ne Witwe.«

Der Junge hatte zu weinen aufgehört und sah gespannt auf den begeistert sprechenden alten Briefträger. Die Frau saß immer noch mit gesenktem Kopf.

»Aber wen ich heirate, das is der Kasus,« fuhr Liebert fort. »Das geht mir schon seit zehn Jahren im Koppe rum, das is 'ne knispelige Sache, das löst sich noch schwerer als wie so 'n Knoten. Heute aber, gerade heute am Heiligen Abend, wie ich das Paket da raufschleppte, da bin ich mir einig geworden.«

Er machte wieder eine Pause, dann sagte er zu dem Jungen:

»Robert, geh mal raus ... geh mal raus vor die Türe ... ich hab' deiner Großmutter was zu sagen... na, geh' schon; ich geb' dir auch 'ne Mark für deine Sparbüchse.«

Der Junge wollte sich erheben, da faßte ihn Liebert am Arm.

»Nee, bleib ... du kannst es hören ... es is ja nischt Unanständiges ... kurz und gut, Christine, nimm mir's nicht übel, aber ich ... will dich heiraten!«

Ein leiser Wehruf – die alte Frau fühlte sich verspottet. Der Junge aber brach in ein schallendes Gelächter aus. Liebert wischte sich den dicken Schweiß von der Stirn.

»Du dummer Junge, was lachst du denn? Christine ... sieh mal, Christine, daß du dich nu wegdrehst und flennst ... das ... wurmt mich. Mir ... wird's ohnehin nich leicht! Wenn man in meinen Jahren is, da ... da sagen die Leute, man hätt' nich mehr das Recht, daß man glücklich is ... Aber soll ich's der Post schenken? – Nee! Eher heirat' ich die erste Beste. Und das wirst du doch nich wollen. Und es paßt doch so weit ganz gut. Du bist sechzig, ich bin dreiundsechzig, 'ne Zeit lang hab ich meine Pension, und dann hast du die Witwenpension. Darauf hab' ich mein gutes Recht. Und wenn ich 'ne Frau in deinen Jahren heirate, können die Leute ja nich grade behaupten, daß ich 'n Staat unnütz hätte verteuern wollen. Aber geschenkt wird nichts, darin bin ich rabiat!«

Er verlor den Faden, da die alte Frau immer noch weinte. Endlich raffte er sich wieder zusammen.

»Jetzt will ich aber wissen, woran ich bin. Treib' ich etwa Possen mit dir, Christel? Hab ich mir's nich Jahre lang überlegt? Hab ich nich gespart mein Leben lang – 3000 Mark in der Sparkasse und 1000 Mark Lebensversicherung? Für wen denn? Für dich soll's sein, und wenn du amal nich mehr bist, für den Jungen da! Denn ... denn ich ... ich will keene andere ... du paßt zu mir ... wir könnten die paar Jahre noch ohne Kummer mitsammen leben ... und dann ... wenn du halt durchaus nicht willst, da ... da is eben dann alles egal!«

Da hörte die Frau das gute ehrliche Herz aus der Stimme des Mannes, sie schaute ihn an. Ihre alten Augen strahlten auf, und ihre runzeligen Wangen wurden rot. Nie ging ein leuchtenderes Abendrot über eine herbstliche Welt. Es war ein tiefes Prüfen, und dann gaben sich zwei Kameraden an der letzten Wegwende die Hände für den Schluß der Lebensreise.

Sie saßen die ganze heilige Nacht zusammen. Auf Christinens Gesicht blieb der rote Schein, und sie sprach fast gar nicht. Nur einmal sagte sie: »Es is recht ... bei Gott, es is recht ... der Kummer hört auf ... und wenn der Junge jetzt fort wär, wär ich ganz allein ... und wenn's mit seinem neuen Vater am Ende doch nich ginge, wüßt er doch, wo er hingehört. Und wird nich Schleifer!«

Robert hatte seine Munterkeit bald wiedergefunden. Der Gedanke, nach Breslau zu kommen, begeisterte ihn, und zwar einzig darum, weil es dort einen Zoologischen Garten gibt. Aber auch, daß der von ihm so geliebte Briefträger Liebert sein Großvater werden sollte, gefiel ihm. Gegen Mitternacht schlief Robert ein. Die Alten saßen noch beisammen, und Liebert setzte Christine auseinander, daß er gleich morgen beim Pfarrer eine ganz stille Hochzeit bestellen würde.

»Ich scham mich – – ich scham mich!« seufzte Christine.

»Alle ehrlichen Bräute schämen sich!« entgegnete Liebert mit Zartgefühl.

Gegen vier Uhr weckten sie den Jungen und brachen auf, um ins Tal hinab zur Christnachtfeier zu wandern. Der Knabe hatte all seinen Kummer bereits verschlafen und knallte wieder mit seiner Pistole. Als sie aber vor dem Hause standen, tat er einen großen Ausspruch:

»Jetzt sind wir die heiligen drei Könige,« sagte er, seine Laterne schwenkend; »ich mach 'n Stern, und ihr stampft hinterher und seid die Kamele.«

Christine erschrak wieder etwas, aber Liebert zwinkerte ihr beruhigend zu.

»Wir sind keene Kamele, wir sind klüger, wie die Leute denken!«

Und so gingen sie den Berg hinab.


Die Schranktür im Schoberhäusel stand derweil noch offen. Ein Mondstrahl fiel in die geschliffene Schale, und sie glänzte in einem so reinen, abgeklärten Licht, wie es all die Armen, die sich im Dunkel dieser Erde mühen, nicht haben.


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