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VI.
Ein Wiedersehen.

Die geistige Entwicklung, die die Welt mit dem Übergang vom sogenannten Mittelalter zur sogenannten Neuzeit durchgemacht hat, konnte auf ihre Beziehung zum Juden nicht ohne Folgen bleiben. Das Weltbild, in dem der Jude bis dahin seinen festgefügten Platz hatte, wurde umgetauscht gegen ein anderes, in dem der Jude einstweilen noch garkeinen bestimmten Platz hatte. Er war aber vorhanden. Der Versuch, ihn radikal zu beseitigen, war schon lange gescheitert. Er war schon gescheitert, als die Methoden zu seiner Beseitigung noch viel realistischer und wirksamer waren. Um wieviel mehr mußte er jetzt scheitern, da in dem verschobenen Weltbild weder für das „Weltliche Schwert“ der Kirche noch für ihren „Heilbringenden Zwang“ mehr ein geeigneter Raum war; und da die Parole der Humanität ihren Trägern immerhin gewisse Verpflichtungen zu „humanem“ Verhalten auferlegte, waren die Aussichten auf Beseitigung minimal.

Ich will damit die Gutgläubigkeit der Vertreter dieses „Humanismus“ nicht einen Augenblick in Zweifel ziehen. Es ist ja ein altes Gesetz im Leben der Kulturen, daß zuweilen in Momenten schöpferischer Erregtheit Ideen gedacht werden, nach denen der Mensch leben soll, und dann läuft dieser Mensch in seiner Unvollkommenheit, und Kleinheit einige tausend Jahre hinter seinen eigenen geistigen Schöpfungen her und versucht, sie einzuholen und eine Wirklichkeit daraus zu machen. Seine Unvollkommenheit ergibt sich aus vielen Dingen des Alltags: aus Egoismus, oder Trägheit, oder Dummheit, oder aus dem, was er seit langem gewohnt ist, weil er es seit langem geerbt hat. Diese Hemmungen aus Erbschaften sind sehr stark. Ich glaube, daß ein Volk eher bereit ist, eine Regierungsform zu ändern und einen König auf das Schafott zu schicken, als auf eine Mahlzeit zu verzichten, mit der es seit Generationen aufgewachsen ist, und wäre es nur ein 5-Uhr-Thee.

Im Falle „Jude“ nun erwies sich die Erbschaft als ungewöhnlich stark, und zwar sowohl aufseiten des Juden wie aufseiten der Umwelten. Kann man es als wahrscheinlich annehmen, daß Völker eine Gruppe von Menschen – vorsichtig und milde gerechnet – 1500 Jahre lang nach einem bestimmten System und von einer bestimmten Grundhaltung aus behandeln, ohne daß dem „Behandelnden“ sowohl das System wie die Grundeinstellung in Fleisch und Blut übergehen? Oder kann man es als wahrscheinlich annehmen, daß eine Gruppe von Menschen von anderen Völkern reichlich 1500 Jahre lang nach einem bestimmten System und von einer bestimmten Grundeinstellung aus behandelt wird, ohne daß dem „Behandelten“ die Folgen des Systems und der Grundeinstellung in Fleisch und Blut übergehen? Das wäre theoretisch denkbar, wenn beide Parteien Engel wären; und sie sind es entschieden beide nicht.

Aber Engel oder Teufel: Erbschaften sind Erbschaften, und sie lassen sich weder durch einen Federstrich noch durch eine Deklaration noch durch gutgläubige Erklärungen allein überwinden. Sie lassen sich höchstens dadurch überwinden, daß beide Parteien – durch irgend ein ganz großes Erlebnis gezwungen – sich auf eine völlig neue Ebene der Begegnung und der Beziehung begeben. Solange das nicht der Fall ist, und es ist heute weniger als je der Fall, solange wirken die Erbschaften als aktive Kräfte, genauer gesagt: als Hemmungen.

Das wurde sofort sichtbar, als die europäische Welt begann, sich in der neu eingerichteten Denkwohnung umzuschauen, um eine Neugruppierung des Inventars vorzunehmen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Jude sozusagen neu entdeckt. Und nicht nur, daß seine Anwesenheit sich wieder einmal herausstellte, sondern er war zu einem – wenn auch peinlichen – Inventarstück des Hauses geworden. Früher war er nur ein Gebrauchsgegenstand, dessen man sich im Bedarfsfalle bedienen oder entledigen konnte. Jetzt war er ein Mitbewohner geworden, der Ansprüche erhob. Dieser Mitbewohner wurde mit genau demselben Argwohn betrachtet wie früher. Die Wertungen hatten sich lediglich verschoben, und zwar parallel zur Verschiebung im Weltbild des Hauseigentümers. Sie war vom Religiösen auf das Kulturelle, das Staatliche, das Rassenmäßige, das Wirtschaftliche verschoben. Während die ganze Erbschaft der Jahrhunderte als eine mächtige Kraft im Unterbewußtsein wirksam blieb, wurden die aktuellen Maßstäbe für die Wertung dieses Fremden, dieses noch nicht Zugehörigen, aus dem neuen Denkgut geholt. Es tauchte somit die bange Zweifelsfrage auf, wie es möglich sei und ob es überhaupt möglich sei, diesen Menschen mit gleichen Rechten und Befugnissen in das neue Haus aufzunehmen.

Der Zweifel erwuchs aus der Tatsache, daß er – an dem neuen Denkgut gemessen – sehr verschieden war von seiner Umwelt. Er hatte seine eigene Religion, an der er – bis auf wenige erleuchtete Ausnahmen, die sich taufen ließen – mit starrer Hartnäckigkeit hing. Er hatte seine eigenen Feste und Bräuche, seine Schulen und Gebetshäuser, seine Geistlichen und Gemeindeverwaltungen. Er hatte – bis auf eine geringe Oberschicht – unter sich seine eigene Sprache, und zuweilen hatte er sogar seine eigene Kleidung. Er lebte sehr oft in besonderen Wohnvierteln, so wie Arme oder Verschwörer gerne dicht bei einander wohnen. Alles das ließ ihn als eine Einheit erscheinen, als eine Gemeinschaft, die ihr charakteristisches „nationales“ Gepräge hatte, die also im gegebenen Falle eine Nation in der Nation darstellen könnte, einen Staat im Staate! Er war wirtschaftlich entweder an sehr auffallender oder an sehr verächtlicher Stelle sichtbar; das heißt: entweder als Finanzier großer Herren, Fürsten und Könige, die sich ihn zu diesem Zwecke bestellt und gezüchtet hatten, oder als Kleinkaufmann, Händler, Hausierer, Darlehensgeber. Im Handwerk und in der Landwirtschaft war er kaum zu finden, (und da, wo er zu finden war, im Osten Europas, bestand für den mitteleuropäischen Menschen keine Notwendigkeit, ihn zur Kenntnis zu nehmen). Und darüber hinaus: er war in seinem ganzen Wesen so durchaus nicht Europäer, so garnicht auf der geistigen und zivilisatorischen Höhe des europäischen Menschen, so garnicht Bestandteil des Bürgertums, das gerade, dabei war, die wirtschaftliche Unterdrückung von Jahrhunderten auszugleichen und nach den Privilegien zu greifen, die seinen Herren und Junkern bis dahin vorbehalten waren. Und er war nicht einmal bereit, den Prozeß der Proletarisierung mitzumachen, den die Entwicklung der Industrie als etwas ganz natürliches für die Nicht-Privilegierten der Gesellschaft mit sich brachte. Und um das Maß der Bedenken voll zu machen: man konnte bei allem Aufwand von gutem Willen und bei aller Großzügigkeit und geistigen Bereitschaft und so sehr man auch sein neues Humanitätsgefühl strapazierte, nicht an der gefühlsmäßigen Tatsache vorüber kommen, daß diese Menschen von dem eigenen, jeweiligen Volke sehr verschieden waren, das heißt: daß sie ihnen in ihren geistigen, künstlerischen, menschlichen und charakterlichen Qualitäten weit nachstanden. Und dabei hatten sie doch Jahrhunderte unter ihnen gelebt und hatten längst die Möglichkeit gehabt, zu lernen, sich anzugleichen, unauffällig zu werden, nicht mehr so intensiv in ihrer Andersartigkeit sichtbar, störend sichtbar zu sein!

Hier stehen wir vor einer Erscheinung, in der zwei ganz einfache psychologische Erscheinungen sich treffen und unauflösbar verschlingen. In der neuen Wohnung, die mit den nationalen Farben der verschiedenen Völker ausgeschlagen war, blieb ein Gegenstand sichtbar, der eine andere Farbe hatte, sozusagen ein gelber Fleck. Hier und da machte der Träger dieses Fleckes zwar energische Versuche, die Farben der Umgebung anzunehmen und sich ihr in allem so anzugleichen, daß er nicht mehr unterscheidbar war. Aber das war nur der Trick eines Chamäleons, der den aufmerksamen und besorgten Betrachter nicht täuschte. Das optische Bild blieb konstant, und die geistige Netzhaut des europäischen Betrachters fixierte dieses Phänomen der optischen Sichtbarkeit mit unbestechlicher Klarheit.

Wer hinter der äußerlich sichtbaren Geschichte der Völker die psychologischen, geistigen, kulturellen Abläufe zu lesen versteht, der wird gewahr, daß hier die Kulturgeschichte eine Grimasse zieht. Ein Lächeln von fast satanischer Tiefe glänzt über ihre unruhigen Gesichtszüge. Denn hier ist der europäischen Welt ein seelischer salto mortale gelungen, der beachtlich ist. Jahrhundertelang hatte sich diese Welt mit allen erdenklichen Mitteln bemüht, zwischen sich und dem Juden eine Abgrenzung zu schaffen. Sie hatte keine Barbareien unversucht gelassen, die diesem Zwecke dienen konnten. Nachdem Rechtlosigkeit, Verfolgungen, Austreibungen, Massenmorde und Zwangstaufen ihre Wirkung nicht getan hatten, war man dazu übergegangen, aus der Abgrenzung – man könnte sagen: zwischen Menschen und Juden – eine allen wahrnehmbare, eine mit Ideologien genügend aufgeputzte optische Wirklichkeit zu machen. Jahrhunderte hat die europäische Welt daran gearbeitet, den Juden optisch sichtbar zu machen. Es war ihr endlich gelungen, indem sie zu der physischen Barbarei noch die psychische gefügt hatte. Und nachdem es ihr endlich gelungen war, ihn optisch sichtbar zu machen, stellte man fest, daß diese optische Sichtbarkeit ein Umstand sei, der dem neuen Hausherrn zu seinem großen humanen Bedauern nicht erlaube, den Juden ohne weiteres als Hausgenossen zu akzeptieren. Er stellte dem Juden eine conditio sine qua non: die Verschiedenheit zu beseitigen, die er – der europäische Hausherr – mit langen Mühen gezüchtet hatte. Während zu Anfang der Begegnung der Jude von seiner kulturellen und religiösen Höhe aus es ablehnen mußte, sich mit den primitiven, heidnischen oder halbheidnischen Völkern der europäischen Welt auf eine Ebene zu begeben, stand jetzt die europäische Welt von ihrer intellektuellen und zivilisatorischen Höhe aus in der Ablehnung gegen den Juden.

Was war geschehen, das diesen Umschwung des Rades um 180 Grad bewirkt hatte? War die europäische Welt so weit über den jüdischen Menschen hinausgewachsen? Oder war der jüdische Mensch so sehr in seinem Status geringer geworden? Die erste Frage möchte ich in der Schwebe lassen, da es hier nicht auf die Werturteile ankommt. Nur die eine Anmerkung sei gestattet: der Zustand, in dem sich die Welt heute, im Jahre 1943 befindet, scheint mir nicht dafür zu sprechen, daß irgendwelche von jenen Ideen realisiert worden sind, die das nobile officium des jüdischen Denkens einmal ausmachten. Aber auf die zweite Frage kann eine Antwort gegeben werden. Sie besteht darin, daß wir jetzt die Konsequenz aus dem ziehen, was in den vorhergehenden Kapiteln an Tatsachen berichtet worden ist, und damit zugleich die Frage beantworten, die wir eingangs dieses Kapitels gestellt haben: ob nämlich 1500 Jahre System an einer Gemeinschaft spurlos vorübergehen können.

Länger, als er je in seiner eigenen Heimat lebte, hat der Jude unter den europäischen Völkern gewohnt. Mit zeitweiligen Ruhepausen hier und da – aber niemals überall und niemals gleichzeitig – hat die Welt dem Juden ein Leben der Unruhe, der Leiden, der Vertreibungen bereitet. Eintausendfünfhundert Jahre lang lebte der Jude auf einem Vulkan. Er durfte zu seiner Umwelt niemals unbedingtes Vertrauen haben, denn sie war immer unberechenbar. Er war ihr, da er stets in einer Minorität war, auf jeden Fall ausgeliefert, es sei denn, er konnte sich im Einzelfalle und für geraume Zeit mit dem Mittel freikaufen, das der Nichtjude bei ihm so sehr verachtete und das er doch so tief begehrte: mit Geld. Er war aus dem Rechtssystem ausgegliedert, und so wurde die Fremde, die er als ein religiöses Schicksal hinzunehmen gezwungen war, noch um das persönliche, das menschliche Stigma des Fremden und Rechtlosen bereichert. Er wurde im Namen einer Religion – also im Namen des höchsten Begriffes, den seine Kuturauffassung überhaupt kannte – zu einem ständig greifbaren Opfer und zu einem Paria der menschlichen Gesellschaft gemacht. Er wurde in seinem Kampf um die Erhaltung der nackten Existenz auf eine immer schmälere Basis gedrängt. Jeder Wille zu einer produktiven Tätigkeit fand seine Schranken in den Berufen, die man ihm erlaubte oder die man von ihm verlangte. Man züchtete in ihm einen Materialismus besonderer Art, weil man ihn für endlose Zeiten in eine Situation hineinzwang, in der es nur eine, und zwar auch nur relative Sicherung für seine Existent gab: den liquiden Besitz. Mit dem liquiden Besitz konnte man Fürsten, Bischöfe, Städte und Gilden beschwichtigen. Mit dem liquiden Besitz konnte man den Wohnort verlegen, wenn die Vertreibungen kamen. Mit ihm konnte man die exzessiven Steuern, Abgaben und persönlichen Zölle begleichen, die von ihm verlangt wurden. Mit ihm konnte man dem unausrottbaren Anspruch der Welt gerecht werden, eine Quelle der Einnahmen zu sein. Es gibt ein altes hebräisches Sprichwort: Der Brunnen ist verhaßt, aber sein Wasser hat man gerne ...

Aber man hatte noch mehr getan. Man hatte ihn für Jahrhunderte gezwungen, als Gestalt eines Mythos zu leben, eines Mythos, den Andere für ihn aufrichteten. Man hatte ihm einen Spiegel vorgehalten, in dem er sich selbst erkennen sollte, und in dem er doch immer nur die Grimasse einer Gestalt zu sehen vermochte, die drohend hinter ihm stand. Man hatte für ihn seine eigene Geschichte gefälscht und ihm den Sinn seines Verweilens in der Fremde zu einem Fluch verwandelt. Man hatte sein Leben in eine böse Abhängigkeit von der herrschenden Religion der Zeit gebracht und dabei seine eigene Religion, den Nährboden des Weltglaubens, immer wieder beschimpft. Man hatte seine Selbstachtung mit allen Mitteln einer primitiven und darum um so gründlicheren Grausamkeit immer wieder verletzt. Man hatte die einfachste Beziehung, die es auf der Welt gibt, die von Mensch zu Mensch, zu einer grotesken, durch Ghetto und gelben Fleck unterstrichenen Unnatürlichkeit gemacht. Man hatte Unterschiede, die für beide hätten produktiv werden können, zu einem Abgrund gemacht, den man mit allem Unrat ausfüllte, über den Fanatismus und Unverständnis und Intoleranz verfügen. Man hatte einen Menschen gezüchtet, der keine Möglichkeit der natürlichsten Reaktion hatte: des Willens zu Wehr und Vergeltung. Man hatte stillschweigende, verbissene Dulder gezüchtet, die aus der Erfahrung der Jahrhunderte lernten, daß es zuweilen nützlich sei, dem Henker mit guten Worten zu schmeicheln, weil er dann aus gehobenem Selbstgefühl vielleicht vergaß, das Schwert fallen zu lassen. Man hatte damit zugleich in ihnen die Bereitschaft gezüchtet, dem jeweiligen geographischen Orte alle Möglichkeiten abzugewinnen, die sich aus ihm gewinnen ließen. Man hatte in ihm den Wunsch genährt, an dem Orte, an dem die jeweils letzte Verfolgung ihn hatte stranden lassen, Fuß zu fassen und zur Ruhe zu kommen, koste es, was es wolle, sei es durch materielle oder durch intellektuelle Opfer.

Nur ein Narr oder ein Lügner kann über die Wirkungen dieser 1500 Jahre System so hinweggehen, als seien sie nie gewesen, und es gehört ein ungewöhnliches Maß von Selbstgerechtigkeit und geistiger Selbstgenügsamkeit dazu, diese Vorgänge der Vergangenheit mit der vornehmen Gebärde des europäischen Kulturträgers aus der eigenen Geschichte und der eigenen kulturellen Vergangenheit herauszuheben und sie quasi mit spitzen Fingern (Kulturträger beschmutzen sich nicht gerne) in den kulturellen Raum und in die Geschichte des „Anderen“ hinüber zu heben. Dort mögen sie liegen und optisch sichtbar sein und als ständige Quelle negativer Reaktionen zur Verfügung stehen.

Die Wirkungen dieser 1500 Jahre gingen aber noch weiter in ihrer Folge und sie drangen so tief in das Unterbewußtsein des Juden ein, daß sie seinen nationalen Status entscheidend deformierten. Wir sagten schon mehrfach: mit dem Verweilen in der Verbannung hielt der Jude seine nationale Geschichte in der Schwebe. Sie befand sich in einem Interimszustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie war insofern eine latente Geschichte; aber sie war immer noch eine aktive Geschichte, weil sie mit eigenen Inhalten und eigener Zielsetzung ausgefüllt war. Aber der Lebensraum, den die europäische Umwelt dem Juden durch Jahrhunderte bereitete, schuf eine unendliche Kette von jenen äußeren Tatbeständen, aus denen die Geschichte eines Volkes nicht weniger besteht als aus den inneren Tatbeständen. Aber die Geschichte eines Volkes, das sich nicht selbst seinen Lebensort bestimmen kann, sondern das jeweils den Ort akzeptieren muß, den man ihm erlaubt; ein Volk, dessen Leben nicht so abläuft, wie es selber leben will, sondern wie andere es ihm aufzwingen; ein Volk, das seine Zukunft nicht selbst bauen kann, sondern das jedes Morgen hinnehmen muß, das andere ihm bereiten: ein solches Volk verliert die aktive Verfügung über seine Geschichte. Seine Geschichte wird passiv. Sie hört auf, eine Funktion seines Eigenlebens zu sein. Sie wird eine Funktion des Lebens der Anderen, eine Folge- und Begleiterscheinung der Umweltgeschichte. Sie wird fundamental deformiert und gefälscht. Sie wird durch Mythen belastet, mit denen sie garnichts zu tun hat. Sie wird mit einer Tendenz belastet, die ihr wesensfremd ist. Sie erzeugt eine Diskrepanz, die eine Dauererscheinung wird: die Diskrepanz zwischen der prinzipiellen Ablehnung und Verneinung und Entwertung durch die Umwelt, und dem Versuch des Juden, trotz der Ablehnung und Verneinung und Entwertung in ihr zu leben, und nicht nur in ihr zu leben, sondern in dem Maße zu ihr gehören zu wollen, wie die Zugehörigkeit zum eigenen geschichtlichen Raume unaktuell und unlebendig wird.

Diese Diskrepanz ist nicht zu überwinden durch ihre Bagatellisierung. Sie ist das natürliche Ergebnis historischer Entwicklungen. Daß das zur Zeit der Emanzipationskämpfe nicht erkannt wurde, ist selbstverständlich. Beide Parteien waren zu dieser Erkenntnis unfähig. Der Jude war unfähig, weil es in seiner Situation von damals fast eine Unmöglichkeit war, einen geschichtlichen Prozeß objektiv zu erkennen, in dessen Mitte er sich befand. Und für die Umwelt war es unmöglich, weil sie für ihre Beziehung zum Juden nur den zeitlichen Maßstab hatte, den ihr augenblickliches Denken ihr lieferte, und weil sie sich seit je geweigert hat, geschichtliche Vorgänge anzuerkennen, die ihr Verhalten bei anderen hervorgerufen hat. Sie konnte nichts tun, als ein Problem anzugreifen, das sie deswegen lösen wollte, weil es sie selbst störte; nicht, weil es für andere eine Störung bedeutete. Und diese Unfähigkeit des Erkennens auf beiden Seiten führte zu einer weiteren, für die ganze Zukunft verhängnisvollen Vertuschung des Problems. Die Umwelt sah eine Diskrepanz zwischen sich und dem Juden, und so wie die Kirche die Beseitigung der Diskrepanz durch die Taufe verlangte, so verlangte sie die Beseitigung durch vollkommene Angleichung, durch ein Nicht-mehr-sichtbar-sein, durch ein Sich-verflüchtigen.

Der Jude, der seine Gegenwart entdeckt hatte und darum an der Gegenwart seiner Umwelt teilhaben wollte, befand sich in einer ungeheuer komplizierten psychologischen Situation. Für ihn war der ganze Komplex der Fragen nicht nur eine Angelegenheit der Opportunität. Sehr aktuelle gefühlsmäßige Kräfte standen im Hintergrunde. Ein Volk, das im Wandern keinen Sinn mehr erblicken kann, wird wandermüde. Wandermüdigkeit ist immer mit einer anderen Vorstellung verkoppelt: heimzugehen und auszuruhen. Solches Heim hatte der Jude nur noch in seiner religiösen Vorstellung. Er hatte es in der Wirklichkeit des Esoterischen. Aber es stand ihm nicht in der Wirklichkeit seines Lebens zur Verfügung. Dennoch machte er den einzig möglichen und naturgemäßen Schritt, der sich aus seiner äußeren und inneren Situation ergab: er entwickelte ein echtes Heimatsgefühl gegenüber dem Lande, in dem er jeweils wohnte. Da er dieses Gefühls so lange beraubt war, neigte er sogar dazu, es zu übersteigern. Ich habe selten so viele Chauvinisten ihrer „Heimat“ gefunden wie unter den Juden, die diese Heimat verließen oder verlassen mußten. Bis zum Überdruß ziehen sie an jedem neuen Orte Vergleiche, die alle zu Ungunsten des neuen Ortes ausfallen. Ja, selbst noch in Palästina, wo wirklich Heimat ist – wenn auch eine von vielfachen Interessen bestrittene – und wo das Land als solches eine ungeheure metaphysische Gewalt besitzt: selbst da noch werden sie nicht müde, von „ihren“ Wäldern, Steppen, Bergen zu träumen, und zuweilen tun sie es sogar in der wiedergewonnenen Sprache ihrer Heimat von heute.

Dieses Heimatsgefühl, für das es vielleicht nicht immer einen adäquaten literarischen Ausdruck gab, würde aber noch weit übertroffen durch ein spontan einsetzendes Bedürfnis nach einer Teilnahme am geistigen Leben der Welt. Dieses Volk hatte ja von jeher gelernt. Lange Tradition hatte es mit einer beachtlichen Intelligenzstufe versehen. Soweit es der Druck der Umwelt zuließ, waren sie auch über ihr eigenes Gebiet des Religiösen und der Religions-Philosophie hinausgegangen und hatten sich in den Fächern des weltlichen Wissens sehr produktiv betätigt. Aber materieller Druck und Lebensungewißheit sind ein schlechter Nährboden für Forschung und freie geistige Betätigung. Sie müssen unter solchen Bedingungen verkümmern. Und die geistigen Führer des Volkes trugen weiter dadurch zur Verkümmerung bei, daß sie sich gegen das weltliche Wissen und Lernen stemmten Sie sahen darin die gefährliche Möglichkeit, daß einer sich ganz an die Welt verliert. Sie zwangen ihre Herde in die Hürde des talmudischen Denkens zurück und gaben ihm dort die Möglichkeit, sich „geistig“ zu betätigen, zugleich aber die gefährliche Möglichkeit, Haarspalterei und Spitzfindigkeit und Diskussion um der Diskussion willen mit „geistiger“ Arbeit zu verwechseln, und von daher jenes Bestehen auf der eigenen Meinung, jenen Willen zur Rechthaberei zu züchten, die nichts als steril sind. Aber das Nachlassen der religiösen Bindung und damit die Auflockerung der talmudischen Welt setzte geistige Energien frei, die sich betätigen wollten. Es ging hier garnicht um besondere geistige Affinitäten des Juden dem einen oder dem anderen Lande gegenüber, es ging einfach um die Tatsache, daß sie in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft den intellektuellen Aufschwung des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jh. verspürten und daran teilnehmen wollten. Der Umstand, daß sie von solcher intellektuellen Tätigkeit lange ferngehalten worden waren, daß also ihr Durchschnitssniveau der sogenannten Allgemeinbildung nicht ein sehr hohes war, verschwand vollkommen gegenüber dem riesigen Tempo, mit dem sie diesen Vorsprung der Welt einholten und sich Bildung und Wissen erwarben. Es war der Prozeß spontan aufbrechender Produktivität eines Volkes mit großen geistigen Möglichkeiten, und es hat in den hundert Jahren, die es bisher an dem Weltwissen teilgenommen hat, seine Fähigkeit sehr gut und ausreichend unter Beweis gestellt.

Diese Verbundenheit sowohl im Örtlichen wie im Geistigen, die sich der Jude schaffte, (sie wurde ihm nicht geboten; er erwarb sie sich), geschah mit einer hingebenden Bereitschaft, die bis an den Rand mit einer erstaunlichen Naivität gefüllt war. Man hätte nach den Jahrhunderten, die der Jude über sich hatte ergehen lassen müssen, eine andere Reaktion erwarten müssen: ein tiefes Mißtrauen, einen vorsichtigen Vorbehalt, ein tief eingewurzeltes Ressentiment, vielleicht sogar eine prinzipielle Feindschaft und Ablehnung gegen eine Welt, die für lange Zeit ihr Schicksal entscheidend bestimmt hatte. Nichts dergleichen ist wahrnehmbar. Im Gegenteil: in all der Zeit der Bedrückung hat dieses merkwürdige Volk nicht aufgehört, von „Menschlichkeit“ und „Menschenliebe“ zu sprechen und zu predigen. Was konnte nun verführerischer sein, als die zeitgebundene Humanität der Umwelt mit jenem Grundgefühl zu verwechseln, das sowohl die Religion des Juden wie des Nichtjuden forderte, und dessen Betätigung und Realisierung im Leben das entscheidende Kriterium für die gestaltende Kraft einer Religion ausmacht? Der Jude unterlag dieser Verwechslung der Begriffe. Er glaubte, daß er sich endlich einmal mit der Umwelt auf gleicher Ebene befinde und mit ihr über sein Recht zur Teilnahme am Leben argumentieren dürfe.

Diese Argumentation litt nicht nur darunter, daß es hier garkeine Kongruenz der Voraussetzungen gab, sondern noch mehr darunter, daß der Jude dabei garkeine eigene und geschlossene Lebensidee einzusetzen hatte. Es gab schon damals kein einheitliches Judentum mehr. Es gab nur noch Gruppen, die eine Verschiedene Einstellung zu ihrer Geschichte, zu ihrer Religion, zu ihrer Tradition und zu ihrem Kult entwickelt hatten. Und diese Gruppierungen waren ungleichmäßig verteilt über verschiedene geographische Räume, über die Länder, die jedes schon etwas von ihrem Gepräge auf den Juden übertragen hatten. Ihre Geschichte war gespalten, und in verschieden starkem Maße fühlten sie sich der Geschichte ihrer Umwelt zugehörig. Im allgemeinen hielten sie zwar alle die Version aufrecht, daß sie Juden seien in ihrer Eigenschaft als Träger der jüdischen Religion. Aber sie gaben dieser Religion nicht nur je nach ihrem Aufenthaltsort eine ganz verschiedene Interpretation, sondern sie erstrebten trotz dieser gleichen Religion dennoch eine Auflösung ihres nationalen Bestandes zugunsten der jeweiligen nationalen Gesellschaft, neben der sie lebten und in der sie leben wollten. Ihre Argumentation vertrat also längst nicht mehr den Lebenswillen und den Gestaltungswillen eines Volkes, sondern den Einordnungswillen von Gruppen, die aus alter Erbschaft nur noch durch einen allgemeinen Begriff von Religion und negativer Schicksalsgemeinschaft mit einander verbunden waren. Und selbst diese Reste einer Gemeinschaftsbindung haben sie immer wieder verleugnet. Die südfranzösischen Juden zur Zeit der französischen Revolution erklärten, auf sie seien die Parolen der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ anwendbar, da sie mit den „anderen“, insbesondere den elsässischen Juden nichts zu tun hätten. Die deutschen Juden haben immer wieder mit großer Heftigkeit betont, daß sie mit dem aus dem Osten Europas kommenden Juden nichts zu tun hätten. Der Jude Österreichs hat jeden anderen Juden, der nicht so lange ansässig war wie er selbst, mit allem ihm zur Verfügung stehenden Hochmut als „zugereist“ bezeichnet. Und einen „eingeborenen“ englischen Juden über Whitechapel reden hören, entbehrt nicht einer traurigen Komik.

So der eigenen Formung und jedes eigenen nationalen Zieles beraubt, blieb dem Juden nichts übrig, als sich ad hoc mit den Argumenten der Umwelt auseinander zu setzen. Da es sich hier nicht um echte Partner handelte, die beide im gleichen Recht standen, sondern um einen Fordernden und einen Gewährenden, mußte der Jude sich mit jedem Argument auseinandersetzen, ob er seine Notwendigkeit einsah oder nicht, ob Vernunft darin lag oder nicht. Sagte man ihm: „Du gehörst einer eigenen Nation an und kannst daher nicht unserer Nation angehören“, so antwortete er mit der absoluten Bereitschaft zum Verzicht auf die eigene Nation. Sagte man ihm, daß dieses oder jenes Religionsgesetz mit dem Denken des modernen Menschen unvereinbar sei, so erklärte er sich bereit, ihm irgend eine philosophisch-symbolische Bedeutung zu geben, um es seines alten nationalen Charakters zu entkleiden. Sagte man ihm, daß er Jesus gekreuzigt habe, so führte er einen ausgedehnten historisch-juristischen Beweis, daß er mit der Exekution nichts zu tun gehabt habe, sofern er nicht – wie erwähnt – wegen seiner zeitlich früheren Auswanderung die Verantwortung ablehnte. Sagte man ihm, daß er Ritualmorde begehe, um das Blut zum Peßach zu verwenden, so setzte er eine Kommission ein, die beweisen sollte, daß dem Juden der Genuß von Blut überhaupt verboten sei. Hätte man ihm vorgeworfen, die Peterskirche in Rom gestohlen zu haben und an Südsee-Insulaner verschachert zu haben: er hätte auch da eine Kommission eingesetzt, um das Gegenteil zu beweisen.

Es kommt bei alle dem nicht so sehr auf den Inhalt des einzelnen Argumentes an, sondern darauf, daß der Jude sich in völlige Abhängigkeit von der Argumentation der Umwelt begab. Bis auf den formalen Verzicht auf die Religion – der immer nur von Individuen, aber nie von ganzen Gruppen ausgesprochen wurde – war er bereit, auf alles zu verzichten, alles abzuleugnen, alles zu deformieren, was nach der Argumentation der Welt seiner Aufnahme als gleichberechtigtem Mitglied ihrer Gesellschaft im Wege stand. Soweit er nicht lernte, die Argumente der Welt und die daraus abgeleiteten Forderungen stillschweigend zu ignorieren, lernte er etwas weit gefährlicheres: er lernte schielen. Die alte Unsicherheit gegenüber einer Welt, von der man nie genau weiß, was im nächsten Augenblick aus ihr hervorbrechen wird, brach hier auf anderer Ebene wieder durch. Man konnte nie wissen, welches neue Argument plötzlich auftauchen und was dem Nichtjuden am Juden misfallen würde. Man mußte bei allem, was man tat mit einem Auge auf die Umwelt schielen, ob und wie sie auf das Tun reagierte. Er verlor die Unbefangenheit im Verhalten zur Welt. Er argwöhnte immer etwas. Oder er schlug ganz in das Gegenteil um und ignorierte mit leichtem Achselzucken alles, was nicht ihn selbst und sein Fortkommen in der neuen Gesellschaft betraf.

Wer die Atmosphäre, in der die Emanzipationskämpfe geführt wurden, unbefangen betrachtet, muß zu der Feststellung kommen, daß vom Juden aus Argumente der Opportunität in erstaunlich geringem Umfange verwandt wurden. Wenn er sich zum Beispiel gegen den Leibzoll wehrte, den er in Deutschland an vielen kleinen Landesgrenzen zu zahlen hatte, meinte er nicht die Abschaffung einer Geldzahlung, die dem Betrage nach unbeachtlich war, sondern die Diffamierung, die kleine, gehässige Brutalität, die ihn dem Vieh gleich setzte. Wenn er den Zugang zu den freien Berufen verlangte, so war es nicht der materielle Gewinn, der ihn lockte, (er hat sich schnell genug ein geistiges Proletariat geschaffen!), sondern das Verlangen, hinter Anderen in der freien geistigen Entfaltung nicht zurückzustehen. Und er hat gerade hier – mit katastrophaler Wirkung für die kulturelle Bedeutung seines eigenen Volkes – seinen Willen zum Verzicht auf eine eigene Welt und zur Teilnahme an einer anderen Welt dokumentiert. Wenn man die Kette der bedeutenden Leistungen überschaut, die auf allen Gebieten der Forschung, des Wissens und der Erfindungen von Juden gemacht worden sind, stößt man in der Mehrzahl der Fälle immer auf die gleiche Erscheinung: der Leistende bemüht sich außerordentlich darum, seine Leistung als die des Angehörigen seiner jeweiligen Umwelt erscheinen zu lassen, als Leistung eines Deutschen, eines Engländers, eines Franzosen oder eines Amerikaners. Es sind zumeist andere Juden, die zu Zwecken der Apologie und der Rechtfertigung gegen Vorwürfe der Umgebung auf seine Eigenschaft als Jude hinweisen. Er selbst wird es in der Mehrzahl aller Fälle ablehnen, als Jude eine Leistung vollbracht zu haben und seine Leistung dem Judentum als solchem und seinem produktiven Vermögen zurechnen zu lassen. Wäre ein Bruchteil der Leistungen, die Juden über die ganze Welt zerstreut vollbracht haben, an einem ihnen gehörigen Orte, sagen wir: der Universität zu Jerusalem, vollbracht worden, es würde genügen, das Judentum als einen Kulturträger ersten Ranges erscheinen zu lassen. So aber werden die Einzelleistungen ohne Addition verstreut und einem ungelösten Problem der Emanzipation zum Opfer gebracht.

Ich sage: ein ungelöstes Problem. Ehe darüber gesprochen wird, muß abschließend noch einmal zusammengefaßt werden, wie der europäische Mensch an dieses Wiedersehen mit dem Juden heranging. Das Wort „Wiedersehen“ scheint hier in Widerspruch zu stehen mit dem, was oben gesagt wurde: daß man den Juden optisch wahrnehmbar gemacht habe. Aber als solcher war er zugleich in der Einstellung, der Beurteilung, der Wertung ausreichend fixiert. Es genügte das Stichwort „Jude“, um eine ganze, festgefügte Gedankenkette ablaufen zu lassen. Jetzt, wo die gesellschaftliche Neuordnung der europäischen Völker den Juden als Fordernden auftreten ließ, sah man ihn wieder, mußte man ihn wieder zur Kenntnis nehmen. Zuweilen ging dem Wiedersehen auch eine erhebliche zeitliche und räumliche Trennung voraus. Ein Schulfall dafür ist Bayern, aus dem die Juden nach mehrmaliger Vernichtung der Münchener Gemeinde 1450 endgültig vertrieben wurden. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. taucht eine neue Judensiedlung in München auf, also nach einer Unterbrechung von 300 Jahren. So lange hatte man Juden nicht gesehen. Es ist darum auch kein Wunder, daß hier die Kämpfe um die Gleichberechtigung von 1800 bis 1872 dauerten. Ein ähnliches Beispiel gibt die kleine Schweiz, wo die Mehrzahl der Bürger nur wußte daß irgendwo ein kleiner Kanton existiere in dem Juden „gehalten“ wurden. Aber auch da, wo Juden mehr oder minder kontinuierlich saßen, mußte man sie im Licht der eigenen gesellschaftlichen Neuordnung von neuem betrachten. Daß hier nicht echte Humanität im Spiele war, ist schon gesagt. Es ging darum, ein störendes Problem, einen gelben Fleck unsichtbar zu machen. Man glaubte ihn beseitigen zu können, indem man zwar nicht Menschenrechte, wohl aber Bürgerrechte gewährte. Man berührte also überhaupt nicht das Prinzip des Zusammenlebens von Menschen, sondern nur das Prinzip der mechanischen und juristischen Einordnung von Staatsbürgern. Das war durchaus unzulänglich, weil die vorhergehenden Jahrhunderte Differenzierungen und Spannungen und Deformierungen geschaffen hatten, die weder ignoriert noch durch einen formalen Rechtsakt beseitigt werden konnten. Aber beide Teile waren mehr als bereit, das zu vergessen; der Jude, weil er an eine neue Zeit glaubte, der Nicht-Jude, weil er es ablehnte, an die alte Zeit erinnert zu werden.

Das Wiedersehen beinhaltete also einen historischen Vorgang, der von beiden Seiten mit gewissen Belastungen versehen wurde. Es stellte sich schon damals die Frage ein, ob er dieser Belastungsprobe gewachsen war. Es hat sich inzwischen, nach 100 Jahren Emanzipation, herausgestellt, daß er der Belastung nicht gewachsen ist. Er ist darunter zusammengebrochen. –


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