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Dieses Buch will einen besonderen Zweck erfüllen. Es hat daher die Verpflichtung, sich dem Leser vorzustellen. Es ist von einem Juden, der in Palästina lebt, für Nichtjuden geschrieben worden. Sein Inhalt bezweckt nicht etwa, ein Bild des palästinensischen Juden zu entwerfen. Es soll auch nicht eine der üblichen Apologien des Judentums darstellen, denn der Verfasser vermag nicht einzusehen, warum ein viertausendjähriges Volk seine Existenz und sein Wesen vor anderen entschuldigen soll. In diesem Buche soll vielmehr der Versuch gemacht werden, in Umrißzeichnungen für Menschen außerhalb des Judentums anzudeuten, was ein Jude überhaupt ist, worin seine Besonderheit besteht, und welches die Maßstäbe sind, die man anlegen muß, wenn man überhaupt zu festen Vorstellungen kommen will.
Dieser Versuch mag auf den ersten Blick überflüssig erscheinen, denn ich habe noch keinen Menschen auf der Welt getroffen, der nicht ganz genau gewußt hätte, was ein Jude ist. Er hat entweder Juden gesehen, oder hat sie persönlich hier und dort kennen gelernt, oder wenn beides nicht der Fall war, hat er doch manches darüber gelesen und noch viel mehr darüber erzählen hören. Er weiß also zur Genüge, was ein Jude ist.
Demjenigen, der fest entschlossen ist, sich mit dieser Kenntnis zu begnügen, kann ich nicht helfen. Aber denjenigen, die überhaupt bereit sind, Kenntnisse zu erweitern, oder sie einer Revision zu unterziehen, darf ich mit einiger Berechtigung sagen: ihr habt keine Ahnung davon, was ein Jude ist! Und das soll kein Vorwurf sein. Denn wie kann der Nichtjude zu einer schlüssigen Vorstellung kommen, wenn wir selber die größten Schwierigkeiten haben, eindeutig zu definieren, was ein „Jude“ eigentlich darstellt? Das, was man mit aller Selbstverständlichkeit und Eindeutigkeit Jude nennen kann, hat vor zweitausend Jahren existiert, in einer Situation, in der alle äußeren und inneren Voraussetzungen so normal waren, daß man „Jude“ sagte, wie man Phönikier oder Karthager oder Römer sagte. Heute gibt es nur noch das vorläufige Endprodukt dieser letzten zweitausend Jahre; ein Endprodukt, an dessen Gestaltung der Nichtjude, an den ich mich als Leser wende, einen entscheidenden Anteil hat.
Wir werden nicht umhin können, diesen Anteil im Verlauf des Buches darzustellen. Aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist eine Tatsache, an der heute niemand mehr vorübersehen kann: das Judenproblem steht heute wieder sichtbar mitten in der Welt. Es gibt kaum noch ein Land, das nicht aktiv oder passiv von diesem Problem ergriffen worden ist. Aktiv ergriffen heißt in diesem Falle: es ist der Schauplatz von Verfolgungen und Barbareien geworden, die viel mehr gegen die europäische Kulturwelt aussagen als für oder gegen den Juden. Daß Barbareien wie diese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zentrum der europäischen Kulturwelt möglich sind, ist eine Angelegenheit dieser Kultur. Wir als Juden stehen als duldende Objekte auf der Passivseite dieses Kulturzustandes. Und diese Passivseite bekommt noch eine besonderes Gewicht dadurch, daß das Problem „Jude“ durch das Erscheinen von Flüchtlingen und Auswanderern sofort ein Weltproblem geworden ist. Schon ihr Auftauchen allein wirft automatisch Probleme auf, die in dieser Form und mit diesen Folgen durch kein anderes Volk und durch keine andere Wanderung jemals aufgeworfen worden sind. Es gibt keine Wanderbewegung auf der Welt, auf die die Völker so spontan reagieren wie auf die Wanderung von Juden.
Wenn wir sagen, daß das Judenproblem ein Weltproblem geworden ist, so ist diese Feststellung nicht ganz korrekt. De facto ist es schon seit Jahrhunderten ein Weltproblem gewesen. Es ist nur nicht immer als solches erkannt worden. Und das lag nicht an einem Mangel an Erkenntnisvermögen, sondern an dem mangelnden Willen beider Parteien, des Juden wie des Nichtjuden, das Problem als Weltproblem anzuerkennen.
In früheren Jahrhunderten, als der Jude noch in relativ starker Isolierung lebte, weigerte er sich überhaupt, über den Rahmen seines Judentums hinaus zu blicken und draußen irgend welche Probleme zu suchen. Aber je mehr er – vom Ausgang des 18. Jh. an – das Leben der Völker teilte, desto weniger war er bereit, sein Problem in der Welt als ein Weltproblem anzuerkennen. Er hätte dann nämlich Dinge zugeben müssen, die nicht in das Bild hineinpaßten, das er sich inzwischen von der Welt und seiner Beziehung zu ihr zurecht gelegt hatte. Er hatte sich entschlossen, die Aufteilung seiner Nation in Gruppen von Staatsangehörigen der verschiedenen Länder vorzunehmen. Hätte er sich als Bestandteil eines über die ganze Welt ausgebreiteten Problems betrachtet, so hätte er auf diese Aufteilung in Staatsangehörige verschiedener Länder verzichten müssen zugunsten einer einheitlichen nationalen Idee. Das wollte nur eine verschwindende Minderheit, die sich um die von Herzl inaugurierte zionistische Bewegung scharte. Aber die wurde scharf bekämpft, wenn sie auszusprechen wagte, daß das Judenproblem nicht auf einzelne Länder beschränkt sei, sondern im Prinzip überall das gleiche Gesicht trage.
Die verschiedenen Staaten und Länder ihrerseits wollten ebenfalls ein Weltproblem des Juden nicht anerkennen. Das hätte sie gezwungen, zum Problem als Ganzem Stellung zu nehmen. Sie hätten sich zu irgendwelchen Entschlüssen aufraffen müssen, zu irgend welchen verpflichtenden Gesichtspunkten der Gerechtigkeit oder der Billigkeit oder der religiösen Verpflichtung oder der politischen Einsicht. Dazu waren sie offenbar nicht imstande. Sie sahen zwar das Judenproblem überall in der Welt auftauchen, und sie hatten auch schon gelernt, in Weltbegriffen zu denken, und sie hatten auch schon Verständnis für verfolgte Minoritäten, und es ist auch schon hier und da zu diplomatischen Interventionen von Regierungen über die Behandlung von Juden in anderen Ländern gekommen – aber hinter all diesen Gedanken und Interventionen stand keine Idee, die wirkliche Kraft besaß. Soweit die Weltideen der Völker Europas nicht einfach wirtschaftlichen Untergrund hatten, waren sie luftige und verspielte humanistische Theorien. Sie erinnerten lebhaft an die Mentalität eines Feuerwehr-Hauptmannes, der sich um ein Haus, das im Nachbarviertel brennt, nicht kümmert, weil es nicht in seinem Bezirk liegt. Die Begriffe „Feuer“ und „Feuersgefahr“ sind ihm zwar vertraut, aber die Begriffe „Kompetenzgrenzen“ und „Nichteinmischung“ sind ihm entschieden wichtiger. Außerdem war es bequemer, ein Gesamtproblem nicht anzuerkennen, weil die meisten Länder ihre eigenen Juden besaßen und genug mit ihnen zu tun hatten. Das heißt, daß sie nicht einmal in ihren eigenen vier Wänden eine Möglichkeit fanden, auch nur das Problem des Nebeneinander verschiedener Menschengruppen zu lösen.
Seit einiger Zeit aber ist – zum Leidwesen aller Beteiligten – das jüdische Problem in seiner weltweiten Bedeutung einfach nicht mehr zu übersehen. Es taucht nicht nur geographisch überall auf, sondern auch ideologisch. Obgleich für das Judentum als solches ein Rassenproblem überhaupt nicht existiert, hat man es in das Zentrum einer Rassen-Problematik hineingezwungen und dadurch weltanschauliche Begriffe aufgestellt, mit denen alle Länder sich zwangsläufig auseinandersetzen müssen. Die Vertreibung und die Flucht von Juden aus vielen Ländern haben wirtschaftliche Probleme aktuell gemacht, die in der Fürsorge für die Flüchtlinge bestehen, in der Frage von Einwanderungs-Erlaubnis oder Beschränkung, von Arbeitsbeschaffung oder Verweigerung, zusammen mit den wirtschaftlichen Störungen, denen die labilen Wirtschaften der Welt ausgesetzt sind. Es ist weiter ein Kulturproblem aufgeworfen worden, weil ein geistiger Einfluß des Juden – sei es zum Guten, sei es zum Bösen – behauptet und anerkannt wird. Es ist ein politisches Problem erster Ordnung entstanden, weil das Recht, Juden und andere Minoritäten mit Gewalt zu beseitigen, Fundamentalbegriffe der menschlichen Ordnung infrage stellt. Es ist ein religiöses Problem aktuell geworden, weil die Ereignisse, die mit alle dem verknüpft sind, einfach die religiöse Attitüde der Welt auf die Feuerprobe stellen. Das Judenproblem in seiner ungeheuren Aktualität ist nicht mehr zu übersehen.
Ich bin nicht leichtfertig genug, den Leser dieses Buches zur Lösung dieses Problems aufzufordern. Er kann es garnicht lösen. Er müßte dann, wie ich später zu zeigen gedenke, zuvor sein ganzes europäisches Weltbild umbauen. Das Problem kann nur von uns selber gelöst werden. Der Nichtjude kann nur in einem gewissen Umfange materielle Beihülfe leisten, und das Wertvollste, was er tun könnte, wäre, uns bei dem Versuch der Lösung des Problems nicht zu stören. Aber nicht deswegen schreibe ich dieses Buch, zumal ich weder die Ambition eines Missionars noch die eines Politikers habe. Ich habe nur die Absicht, dem Nichtjuden Material an die Hand zu geben, wie er das Problem wirklich in seiner Gesamtheit überschauen kann, sofern er überhaupt gewillt ist, es zu betrachten, und sofern er sich nicht lieber mit dem begnügt, was er weiß oder was in seinem speziellen Kreis als Wissen vom Juden gilt. Dieses Material wird sich nur sporadisch mit dem befassen, was vielleicht dem Leser als das Wesentlichste und Interessanteste erscheint: mit der materiellen Situation des Juden in der Welt. Soweit man bei einem so anormalen Volke wie dem jüdischen von einer Normalität überhaupt sprechen kann, wage ich zu sagen, daß unsere materielle Situation in der Welt der der anderen Völker ziemlich nahe kommt. Wir sind soziologisch fast genau so geschichtet wie andere Völker, nur daß bei uns die Schichten auf eine Unsumme von Ländern verteilt sind. Sie sind verzettelt von Stockholm bis Buenos Aires, von S. Franzisko bis zum Jordan, von Smolensk bis Adis Abeba. Wir haben nicht den Vorzug, Großindustrielle, Proletariat, Gangstertum, Bankwesen, freie Berufe, Bauern und Handwerker Tür an Tür wohnen zu haben. (Obgleich wir uns in Palästina redlich bemühen, diesen Zustand völkischer Normalität zu erreichen). Aber im übrigen bleibt es bei der Aufteilung. Es gibt keine jüdischen Bauern auf dem Broadway und keine Stockbrokers in der Ebene Jesreel. Soweit wir ein Weltvolk sind, sind wir normal geschichtet.
Das Material will sich vielmehr vorwiegend befassen mit der historischen und psychologischen Situation des Juden in der Welt, und will zeigen, daß diese beiden Situationen sich nicht nur überschneiden, sondern decken. Wenn die psychologische Situation des Juden in der Welt einmal klar sein wird, klarer, als sie es heute ist, dann wird vielleicht auch einem besseren Verständnis und einer Entspannung der Situation der Weg geebnet sein. Aber man muß dabei natürlich berücksichtigen, daß diese psychologische Situation, obgleich sie an sich ganz einfach und gradlinig ist, dennoch dem Nichtjuden erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Die objektive Schwierigkeit liegt darin, daß ihm in der Mehrzahl aller Fälle das sachliche Wissen um die geschichtlichen Abläufe fehlt, obgleich gerade er selbst an diesen geschichtlichen Abläufen im entscheidenden Maße als verursachender Faktor beteiligt war. Aber dieser Teil seiner eigenen Geschichte wird ihm in seinen Schulen im allgemeinen vorenthalten, wie sich ja überhaupt merkwürdigerweise der moderne Geschichtsunterricht darauf beschränkt, Geschichte unter Ausschluß dessen zu lehren, was die Aktionen des betreffenden Volkes bei anderen Völkern verursacht haben. Ein Beispiel dafür ist die Art, wie überall auf der Welt Kolonial-Geschichte gelehrt wird.
Aber auch die subjektiven Schwierigkeiten des Nichtjuden, die psychologische Situation des Juden zu verstehen, sind sehr groß; und zwar nicht, weil er an sich psychologisch unbegabt wäre, sondern weil in diesem speziellen Falle die politische, wirtschaftliche, kulturelle und menschliche Grundeinstellung des Nichtjuden nicht so direkt und nicht so normal funktioniert wie gegenüber anderen Völkern. Anderen Völkern gegenüber besteht mindestens eine prinzipielle Bereitschaft zum Verständnis. Dieser Krieg gibt einen rührenden Beleg dafür, wie zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika darauf bedacht sind, andere Völker zu verstehen. Jeder amerikanische Soldat, der in das Ausland geschickt wird, selbst wenn er nach einem so exotischen Lande wie England kommt, trägt ein Büchlein in der Hand. Darin wird ihm ausführlich gesagt, was das Wesen der Völker ist, denen er begegnet; wie er sich zu verhalten hat, was er respektieren muß, was er tun darf und was ihm absolut verboten ist. Das Verständnis für Andere wird ihm – als dem Repräsentanten seines Landes – als nationale, zumindest aber als politische Pflicht auferlegt. Er soll durch sein Verhalten eine freundliche Atmosphäre erzeugen und unter keinen Umständen irgend welche politischen Komplikationen hervorrufen. Das wird sehr ernst genommen. Frederick Simpich (Fit to fight anywhere; The National Geographic Magazine) formuliert: “How to win and hold friendly relations with natives of occupied countries, or with those in lands which our forces may have to march, is also an important lesson now taught to our soldiers. Carloads of little books, full of do’s and dont’s, are sent to the troops for study. They hold hints on how Americans should behave abroad. Even in England, though we enjoy common speech, religion, democracy, and other ways of life, our viewpoints may often differ, and too many arguments don’t make for unity. More specifically, however these books tell men how to act in Moslem and other non-Christian lands, and among savage tribes....”
Mir ist nicht bekannt, daß irgend einem Soldaten ein Buch mitgegeben worden wäre, das über den Umgang mit Juden spricht, oder in dem ihm empfohlen wird, ihnen gegenüber besondere Rücksicht walten zu lassen, oder in dem ihm erklärt wird, was ihre Besonderheiten seien. Das ist in mehrerer Beziehung verständlich. Ungeeignetes Benehmen gegenüber Juden wird nie zu politischen Verwicklungen führen, schon weil sie keinerlei Vertretung haben, die Konsequenzen ziehen könnte. Ein Bedürfnis, sich ihre Sympathien zu sichern, besteht – wie es der letzte Krieg deutlich gezeigt hat – nur insofern, als sie außerordentliche finanzielle Beiträge für den Krieg leisten können. Können sie das nicht, oder stellen sie gar – was ein Teil heute tut – eine finanzielle Belastung dar, so fällt jeder Gesichtspunkt einer besonderen Rücksichtnahme fort. Und wenn einmal hier und da die mangelnde Rücksichtnahme zu einer Provokation wird, (Beispiele in Palästina sind zahlreich!), so bedeutet das durchaus kein Risiko! Im übrigen wird anscheinend stillschweigend unterstellt, daß jeder Soldat ganz genau weiß, was ein Jude ist, sodaß es einer besonderen Belehrung nicht bedarf.
Aber es scheint hier um etwas Prinzipielles zu gehen. Das vornehme Prinzip des Respektes und das ängstliche Prinzip der Nichteinmischung scheinen aus irgend einem geheimnisvollen Grunde gegenüber dem Juden keine Anwendung zu finden. Im Gegenteil: es ist überall in der Welt Brauch, daß jeder Berufene oder Unberufene sein Urteil über den Juden abgibt. Würden wir so viel über andere Völker sprechen und urteilen wie die Völker über uns, man würde uns zu Recht auf die Finger klopfen und sagen: „Besorgt zunächst einmal eure eigenen Angelegenheiten. Da habt ihr noch genug für das nächste Jahrhundert zu schaffen.“
Diese Art der ungebetenen Einmischung wäre weniger schädlich, wenn dem sich Einmischenden wenigstens Gelegenheit gegeben wäre, den Juden in seiner Vielschichtigkeit überhaupt kennen zu lernen. Aber jeder begegnet ganz verschiedenen Schichten von Juden und ganz verschiedenen individuellen Vertretern. Er kommt garnicht zu einem Überblick. Aus seiner beschränkten Kenntnis heraus hat er die Tendenz, das Prinzip des pars pro toto anzuwenden, das er sich in seinen eigenen vier Wänden entschieden verbitten würde. Er gleicht dem französischen Reisenden, der gezwungen ist, in irgend einem Landgasthaus in Norddeutschland zu übernachten. Der Kellner, der ihn bediente, war rothaarig und schielte. Er notierte daraufhin in sein Tagebuch: „Die Bewohner von Norddeutschland haben rote Haare und schielen.“
Diese Einseitigkeit der Begegnung mit Juden ist heute gewiß etwas gemildert. Nicht nur sind Juden aller Arten durch die Ereignisse dieser Zeit in alle erdenklichen Winkel der Erde geworfen worden, sondern auch der umgekehrte Vorgang hat eingesetzt: tausende von Soldaten aus den Armeen der Verbündeten begegnen jetzt zum ersten male Typen von Juden, die sie gestern noch nicht gekannt haben. Ob sie nun aus einer Hauptstraße New Yorks oder einem englischen Hafenviertel oder einer australischen Farm kommen: den marokkanischen Juden, den ägyptischen und den italienischen und den aus Palästina haben sie bestimmt noch nicht gesehen. Sie kennen weder diesen Typus noch diese Berufsschichtung. Wo haben sie je einen jüdischen Schafhirten oder Matrosen oder Polizisten oder Autobuschauffeur gesehen? Aber das nützt ihnen auch nichts. Im Gegenteil: es kann nur dazu beitragen, sie zu verwirren, denn ihnen fehlt jede Kenntnis der Gründe dieser Verschiedenheit. Die äußere Betrachtung allein hilft hier nichts. Allein in Palästina werden sie, ohne sich anstrengen zu müssen, auf eine so erhebliche Schichtung stoßen, daß sie daran verzweifeln müssen, aus dem Anblick alleine zu einem einheitlichen Bild über den Juden zu kommen. Ich persönlich würde jedenfalls, wäre ich ein Nichtjude, an einem solchen Versuch scheitern. Insofern muß man zugeben, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, nach dem Schema der übrigen Büchlein auch eines über den Juden zu verfassen. Das wäre nicht einmal ohne weiteres für Palästina möglich. Da hier die Endprodukte von 2000 Jahren Leben in der Fremde zusammentreffen, kann der Außenstehende sich in dem Wirrwarr der gesellschaftlichen, politischen und religiösen Schichtungen überhaupt nicht auskennen, ohne ihre spezielle Entwicklungsgeschichte zu kennen. Wer sich etwa vorstellen sollte, daß alle Juden Palästinas abwechselnd an der Klagemauer stehen, dem muß gesagt werden, daß es Zehntausende von Juden in Palästina gibt, die die Klagemauer noch nie gesehen haben.
Aber die Dinge sind noch viel komplizierter. Selbst ein gewisses Maß an geschichtlichen Kenntnissen würde nicht immer ausreichen, das Verständnis des Nichtjuden für den Juden zu begründen. Wo immer ein Nichtjude dem Vertreter eines anderen Volkes begegnet, ist seine Haltung zumindest abwartend, und wenn sich auch Ressentiments aus der gegenseitigen Beurteilung von Völkern selten ganz ausschalten lassen, so besteht doch die Bereitschaft, sich für Eindrücke und Belehrungen offen zu halten. Das ist dem Juden gegenüber im allgemeinen nicht der Fall, sondern hier liegen Urteile und Reaktionen in endgültiger Fassung sozusagen auf Vorrat bereit. Sie gleichen Axiomen der Mathematik, die nicht mehr zu beweisen, sondern nur anzuwenden sind. Und was das Entscheidende ist: diese Axiome sind prinzipiell negativ. Wir wollen aufs Geratewohl ein Beispiel herausgreifen. Da wird zum Beispiel im Readers Digest (Mai 1939) pro oder contra Zulassung von deutschen Flüchtlingen diskutiert. Ob die Argumente pro oder contra sehr schlüssig sind, soll hier nicht geprüft werden. Aber dem Herrn Contra entschlüpfen Sätze mit einer Selbstverständlichkeit, die aufschlußreich und entwaffnend zugleich ist. Über England sagt er: “For the same reason England’s mild efforts to relax regulations in favour of refugees have produced Fascist-inspired riots in London.” Und über Amerika sagt er mit der gleichen sachlichen Unbefangenheit: “If we want a nation-wide epidemic of anti-Semitism here, quota lifting is the surest way to arrange it.”
Was bedeutet das? Bedeutet das etwa eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Problem Flüchtling, Humanität, Moral, Politik? Nicht im mindesten. Hier geht es um die Produktion fertiger Urteile, um eine als selbstverständlich angesehene Reaktion, um eine Aussage von verblüffender Naivität: wenn ihr Juden in dieses Land hinein retten wollt, dann werden wir darauf – so leid es uns tut – mit einer antisemitischen Epidemie reagieren. Einen anderen Weg gibt es nicht! Also nehmt euch in Acht!
Dieser Antwort des Herrn Contra widerspricht zwar die des Herrn Pro, aber sie ist dennoch existent, und sie zeigt die Existenz eines Abgrundes zwischen verschiedenen Meinungen auf. Ich maße mir nicht an, diesen Abgrund ausfüllen zu wollen. Aber ich habe dennoch die Absicht, seine Tiefe etwas geringer zu machen und damit eine Lücke im Denken des Nichtjuden auszufüllen. Nun ist aber nach dem, was oben angedeutet wurde, eines schon klar: es gibt nur eine subjektive Ausfüllung dieser Lücke. Eine objektive Ausfüllung gibt es deswegen nicht, weil es kein einheitliches Judentum mehr gibt, das über sich selber einheitliche Aussagen machen könnte. Man kann nichts über Juden aussagen, was nicht von irgend einem anderen Juden sofort in seiner Richtigkeit bestritten werden würde. Das liegt nicht an einer besonderen Streitsucht des Juden, und auch nicht an einer besonderen Klugheit, (obgleich er zu seinem Unglück etwas zu viel vom Intellekt genascht hat), sondern es liegt an der prinzipiellen Zerrissenheit des Judentums. Juden – selbst in Palästina – über ihr Judentum diskutieren hören, ist eine der quälendsten und beklemmendsten Erscheinungen, die es gibt.
Wenn also ein Jude etwas Allgemeines über die Juden aussagen will, so muß man notgedrungen zunächst einige Vorfragen stellen, um zu wissen, mit wem man es zu tun hat. Vor allem muß man den genauen geographischen und geistigen Ort dieses Juden fixieren: wo lebt dieser Mann?, was tut er?, wie steht er religiös?, und – wenn der Betreffende in Palästina lebt: ist er freiwillig oder unfreiwillig dort? Und last but not least: Was stellt er politisch dar? Denn es gibt wohl kein Land in der Welt, in dem die politische Attitüde eine so überragende und zugleich so fatale und lächerliche Rolle spielt wie in diesem Lande.
Selbst über die Frage: wer ist ein Jude und wer ist nicht mehr ein Jude?, wird sich unter den Juden schwer eine einheitliche Antwort erzielen lassen. Einige sagen: Jude sei, wer noch nicht eine andere Religion angenommen hat. Andere sagen: wer sich ohne Rücksicht auf seine religiöse Haltung noch zum Judentum als Volk bekennt. Hier wird also schon die nackte Tatsache der Existenz als Jude auf ganz widersprechenden Kriterien aufgebaut. Die Frage soll hier nicht diskutiert, geschweige denn gelöst werden. Wir wollen vielmehr versuchen, eine Grundsituation aufzuzeigen, die allen Juden gemeinsam ist und die keiner leugnen kann. Jeder Jude, noch der freieste, der an sein Judentum innerlich überhaupt nicht mehr gebunden ist, stößt irgendwie und irgendwo, in seiner Jugend oder später, in seiner Heimat oder in der Fremde, in einer milden oder einer schweren Form auf die Tatsache seines Judeseins. Irgend einmal wird ihm die Tatsache „Jude“ zu Bewußtsein gebracht, durch ein Erlebnis oder eine Begegnung oder eine Erkenntnis. Er kann dem nicht entgehen. Er mag sein Judentum sogar schon verlassen haben und in einer ganz anderen Welt leben: einmal wird er erinnert, daß er Jude war, wenn auch nur vor seinem Gewissen. Es gibt keinen Juden auf der Welt, dem dieses Erlebnis erspart bleibt. Die Unterschiede in diesem Erlebnis sind ungeheuer mannigfaltig, je nach Ort und Zeit und Erlebnisfähigkeit. Aber alle haben sie gemeinsame Grundzüge, deren Wesen wir späterhin bestimmen wollen.
Dieser Ausgangspunkt erscheint zwingend. Und so soll hier zunächst der Versuch gemacht werden, für einen ganz individuellen Fall, nämlich für den des Verfassers selber, solche Erlebnisse der Kindheit und der Jugend zu berichten. Das persönliche Mitteilungsbedürfnis spielt dabei keine Rolle, zumal es sich nur um eine bescheidene Auslese von Fakten handelt. Der Zweck ist der, der schon anfangs angedeutet wurde: die psychologische Situation des Juden in der Welt in ihrer Besonderheit und Einmaligkeit wenigstens an einem Einzelfall zu illustrieren und verständlich zu machen. –