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Wer sich einmal die Mühe macht, in den Schriften der Bibel zu blättern und diejenigen Stellen nachzulesen, die den Begriff „Fremder“ oder „Fremdling“ enthalten, wird auf eine Auffassung stoßen, die er in der Literatur keines Volkes auch nur andeutungsweise treffen wird. In der Literatur des klassischen Judentums, in den grundlegenden Schriften dieses kleinen, egozentrischen, der Verachtung anderer Völker beschuldigten Nation wird nämlich dem Fremden eine Sonderstellung zugewiesen, und zwar nicht – wie überall sonst in der Welt – eine Sonderstellung im negativen Sinne, sondern in einem sehr betonten positiven Sinne.
Der Ausgangspunkt für diese Sonderstellung ist das früheste historische Erlebnis des Juden: sein Aufenthalt in Ägypten. Von diesem Aufenthalt her, der unfreiwillig war, der den freien Nomaden an einen Ort und an ein Leben minderen Rechtes fesselte, ist dem Juden eine seelische Erfahrung geblieben, die er sofort bereit war, auf andere zu übertragen, als er aufhörte, selber Fremder zu sein, und als er begann, sein Nomadentum in einem eigenen Lande zur Ruhe zu bringen. Und diese Erfahrung lautet: das Leben in der Fremde macht den Menschen rechtlos; es macht ihn zur Beute des Eingesessenen, des Stärkeren; es bedrückt seine Seele und macht ihn freudlos, arm, unglücklich; es nimmt ihm sowohl die Ruhe wie den Glauben.
Diese Erfahrung und diese Erkenntnis bekommen ihre besondere Kraft und Geltung dadurch, daß sie nicht in den Rahmen einer kollektiven Gesellschafts-Philosophie gestellt werden, sondern in den Rahmen der Religion. Mit anderen Worten: es handelt sich für den Juden nicht darum, Gesetze der Vernunft und der Zweckmäßigkeit für das Zusammenleben mit Fremden aufzustellen, sondern darum, seine Erfahrungen und die Konsequenz aus diesen Erfahrungen als ein direktes Gebot Gottes zu erkennen und zu akzeptieren. Darum heißt es: „Einen Fremdling kränke nicht und bedränge nicht, denn Fremdlinge seid ihr gewesen in Ägypten.“ (Ex. 22, 20). Und weiter, tiefer begründet: „Einen Fremden sollt ihr nicht bedrücken, denn ihr wißt ja, wie es in der Seele des Fremden aussieht, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen.“ (Ex. 23, 9). Und endlich, noch höher gesteigert in die Pflicht des menschlichen und sittlichen Verhaltens: „Wie der Ansässige unter euch soll euch der Fremde sein, der bei euch wohnt, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid Fremde gewesen in Ägypten.“ (Lev. 19, 34).
Diese Liebe zum Fremden, eine Liebe, die aus der Gerechtigkeit entspringt, hat ihren Quell in jenem großen Attribut, das der Jude als erstes seinem Gott beimißt: das Attribut der Gerechtigkeit. Und da dem so ist, kann das Deuteronomium von Gott sprechen als dem, „der das Recht der Waise und der Witwe vollzieht, der den Fremden liebt und ihm Speise und Gewand gibt.“ (Deut. 10, 18).
Das Verhalten des Juden zum Fremden ist also nichts, was in sein Belieben gestellt oder Erwägungen der Zweckmäßigkeit anheim gegeben wäre. Es ist vielmehr ein Verhalten, das für ihn selber unmittelbar mit Schicksal verknüpft ist, und zwar mit dem intensivsten Schicksal, das er begreifen kann: dem religiösen Schicksal. Denn es heißt im Deut. 27, 19: „Verflucht sei, wer das Recht des Fremden, der Waise, der Witwe beugt!“ Diese Dreiheit: der Fremde, die Waise, die Witwe, tauchen an zahllosen Stellen der Heiligen Schriften auf, im Pentateuch wie in den Propheten wie in den Psalmen. Die drei sind in ihrem Schicksal gleichgestellt: die Witwe hat keinen Mann, der sie schützt, die Waise keinen Vater, und der Fremde keine eigene Volksgemeinschaft. Diese Schutzlosigkeit wird mit einer Schutzwehr umgeben. Immer wieder mahnt das Gesetz: den Fremden und Armen sollst du nicht bedrücken; immer wieder sehen Propheten und Psalmisten das Unrecht im sozialen Aufbau der Gemeinschaft, im Verhalten gegen diese Dreiheit der Schutzlosen. „Du sollst das Recht des Fremden und der Waise nicht beugen.“ (Deut. 24, 17). „Ich (Gott) trete vor euch hin zum Gericht ... über die, die den Taglöhner, die Witwe, die Waise übervorteilen und dem Fremden das Recht beugen ...“ (Mal. 3, 5). „Gott bewacht die Fremden und richtet auf Witwen und Waisen“ (Ps. 146, 9). „... wenn ihr Fremdlinge, Waise und Witwe nicht drückt ...“ (Jir. 7, 6).
Wie immer im klassischen jüdischen Gesetz, steht auch hier der Verwünschung, dem nur Negativen, die positive Anweisung gegenüber. Ihr gedanklicher Mittelpunkt ist: „ Eine Lehre und ein Recht soll gelten für euch und für den Fremden, der bei euch wohnt.“ (Num. 115, 16). Daraus ergibt sich jede Folge von selbst. Grundbegriffe der Religion, die zugleich Grundbegriffe des Zusammenlebens in der Volksgemeinschaft sind, verpflichten alle, den Einheimischen wie den Fremden. Auch von ihm wird verlangt, daß er sich jene sexuelle Unbedenklichkeit versage, die für den Heiden Bestandteil seiner Religionsausübung war. Auch er darf nicht Blut genießen. Auch für ihn steht auf Gotteslästerung die Todesstrafe. Aber dafür gelten für ihn auch die Schutzmaßnahmen des Gesetzes. Die Zufluchtsstädte, in denen der Mörder ohne Absicht sich bergen kann, nehmen auch ihn auf. Der siebente Tag, der Ruhetag, gilt auch für ihn. Das Laubhüttenfest und das Wochenfest sollen auch von ihm gefeiert werden, „damit er sich freue“. (Deut. 16, 111). Und wenn nach Ablauf von je drei Jahren der Zehnte von der Ernte des Juden abgesondert wird, „sollst du es in deinen Toren niederlegen. Dann soll der Priester kommen ... und der Fremde und die Waise und die Witwe ... und essen und satt werden, damit dich Gott segnet in allem, was du tust.“ (Deut. 14, 28-29). Und endlich: die vergessene Garbe auf dem Felde, die Nachlese von den Olivenbäumen und im Weinberg darf vom Besitzer nicht eingesammelt werden. Sie gehören dem Fremden, der Waise und der Witwe. (Deut. 24, 19).
Der Fremde wird also nicht nur geschützt, er wird auch berechtigt. Das Verhalten gegen ihn wird in das religiöse Denkgebäude eingeschlossen. Die letzte Sublimierung solcher Einbeziehung findet sich im Propheten Ezechiel: „Verteilt euch das Land als Erbteil für euch und für die Fremden, die in eurer Mitte wohnen, die Kinder gezeugt haben in eurer Mitte. Sie sollen euch sein wie ein Einheimischer unter den Söhnen Israels. Mit euch soll ihnen Erbteil zufallen inmitten der Stämme Jisraels.“ (47, 22). Diese Idee wird in der babylonischen Verbannung geboren, nicht in der Heimat. Jetzt, wo der Jude zum anderen male der Fremde begegnet, erlebt er noch einmal das Schicksal des Fremden. –
Alle diese Zitate sind hier nicht gebracht worden, um daraus für uns in unserer heutigen Gestaltung und Verfassung als Juden irgend welche Ansprüche abzuleiten, (dafür sind wir von unserer Vergangenheit viel zu weit entfernt), sondern um eine Konzeption aufzuzeigen, die das klassische Judentum beherrschte, ehe es selber das Opfer der Fremde und der Fremden wurde. Der Fremde stand im Judentum unter göttlichem Recht. Dieses Recht war in den Gesetzen der Gesellschaftsordnung verankert. Der Fremde stand in der Befugnis, nicht in der Duldung. Daraus ergibt sich nicht nur eine besondere gesellschaftliche Auffassung, sondern auch eine besondere rechtliche Auffassung. Beide sind von denen der europäischen Welt grundsätzlich verschieden. Nehmen wir dafür als Beispiel einmal die im Weinberg nicht abgeerntete Traube. Im europäischen Denken – beruhend auf dem griechisch-römischen Heidentum und von der jüdischen Erbschaft im Christentum ganz ungestört – ist die Traube eine Sache, die dem Eigentümer gehört, und die Wegnahme einer Sache ist grundsätzlich Diebstahl, und nur in besonderen Fällen tritt ein Strafausschließungs-Grund ein, so wenn ein Hungriger (der kein Armer zu sein braucht) Lebensmittel zu sofortigem Verzehr entwendet. In der Vorstellung des Juden ist hier prinzipiell der umgekehrte Tatbestand gegeben: der Arme – und der Fremde wird ihm in tiefer psychologischer Weisheit zugerechnet – hat ein Recht auf diese Traube oder Olive oder vergessene Garbe, und sein Recht darauf hebt das Recht des Eigentümers auf. Der Europäer schützt in seinem Rechtssystem „wohlerworbene“ Rechte des Besitzenden; der Jude begründet Rechte des Nicht-Besitzenden.
Das wären also die gesellschaftlichen und rechtlichen Grundbegriffe, die dem Juden innewohnten, als er in steigendem Maße aus dem gefügten Rahmen seines Wohnlandes hinausging oder hinausgetrieben wurde, und in ständig sich vermehrender Zahl das Leben in der Fremde und unter fremden Völkern aufnahm. Von der Sekunde an stand er überall, wenn auch mit geringen Varianten, in derjenigen Situation der „Ausnahme“, die sich aus der Konzeption der nicht-jüdischen Welt vom Begriff „Fremder“ ergab. In der Vorstellung des Juden brachte die Tatsache „Fremder“ eine Ausnahme im positiven Sinne mit sich. In der Vorstellung des Nichtjuden brachte er eine negative Ausnahme mit sich. Beim Juden wurde der Fremde durch besondere Gesetzgebung in den Rahmen der Volksgemeinschaft überall einbezogen, wo es für das Leben notwendig war. Beim Nichtjuden wurde der Fremde durch den Mangel einer besonderen Gesetzgebung aus dem Rahmen der Volksgemeinschaft überall ausgeschlossen, wo es für das Leben notwendig war. Der Fremde konnte sich unter Juden infolge der gesellschaftlichen und rechtlichen Auffassung behaupten. Der Jude mußte sich unter Nichtjuden trotz der gesellschaftlichen und rechtlichen Auffassung behaupten.
Die Gesellschaft der europäischen Völker war von ihrer Stammesverfassung und ihrer griechisch-römischen Erbschaft her eine Gesellschaftsordnung verschiedener Stände, die Menschen verschiedener Berechtigung umfaßte. Die „Klasse“ ist das gesellschaftliche Merkmal für das Zusammenleben im Denken des europäischen Menschen, und als das Christentum sich der europäischen Völker bemächtigte, hat seine Kirche alles getan, was in ihrer Macht stand, den Unterschied der Stände und Klassen als von der göttlichen Ordnung gewollt am Leben zu erhalten. Das war römisch-imperialistisches Erbgut, und selbst Luther hat noch die „Herren“ gegen den Aufstand der versklavten Bauern unterstützt.
Es ist selbstverständlich, daß eine so gefügte Gesellschaft und ein so gefügtes Recht sich nicht ohne weiteres mit dem Juden abfinden konnten. Sie mußten ihn notwendig außerhalb ihrer Ordnung stellen. Ein menschliches Erlebnis, das ihnen eine andere Einstellung hätte vermitteln können, hatten sie nicht, obgleich ihnen ihre neue Religion (im Gegensatz zur Kirche) sehr wohl die Grundelemente dieses Erlebens hätte vermitteln können, da sie ja auf den heiligen Schriften der Juden wesentlich beruhte. Im Gegenteil: die Kirche (wie im vorhergehenden Kapitel betont), die als Erbin und Vollstreckerin des römisch-imperialistischen Gedankens auftrat, tat ihr Bestes, die Abgrenzung zu vertiefen, die Verschiedenheit zu betonen und die Aufnahme in den Lebensraum der jeweiligen Umwelt auf ein Minimum zu beschränken. Sie war es, die die Mehrzahl der antijüdischen Gesetze von den weltlichen Herrschern erzwungen hat.
Die Schwierigkeiten, die sich daraus für den Juden in den ersten Jahrhunderten seiner Zerstreuung ergaben, waren nicht gering. Sie waren auch, je nach Ort und Zeit, verschieden. In den hellenistischen Städten Kleinasiens und Syriens, in denen die Juden die alltägliche volle Lebensgemeinschaft mit den Griechen ablehnten, rächten sich die Griechen, indem sie dem Juden das Recht beschränkten, seinem eigenen gesellschaftlichen Leben mit seinen eigenen Formen nachzugehen. Im Spanien der frühen westgotischen Zeit wurde die in Rom erfundene Praxis eingeführt, durch Sondergesetzgebung wirtschaftlichen und religiösen Inhalts das Beharren des Juden im eigenen, selbständigen Lebensrahmen zu untergraben und ihn so in das Christentum hineinzuzwingen, wie der Hellenist ihn in seine Kultur hineinzwingen wollte.
In diesen beiden Beispielen – die das Register keineswegs erschöpfen – liegt also das Schwergewicht darauf, daß die Umwelt die durch das Wesen und die geistige Erbschaft des Juden bedingte Verschiedenheit beseitigen will. Ein solches Unterfangen hat ein doppeltes Gesicht. Der Nicht-Jude ist bereit, den Juden, den „Fremden“, sich gleich zu machen und sich gleich zu stellen. Aber diese Gleichmachung enthält zugleich seine Vernichtung, seine Auslöschung, seine radikale Beseitigung als das, was er nun einmal ist. Der Jude, der in diese Fremde hineingeht, sieht sich einem Rechtsangebot gegenüber, das zugleich seinen Tod als Juden involviert. Nimmt er es an, so stirbt er. Nimmt er es nicht an, so wird er bekämpft und in seiner materiellen, physischen und geistigen Existenz bedroht.
Dieser Anspruch der Umwelt an den Juden, von sich aus, durch eigenes Verhalten seine Situation als „Fremder“ zu bereinigen, ist im Umkreis Europas Jahrhundertelang von der imperialistischen Instanz jener Welt, von der römisch katholischen Kirche, erhoben worden. Und hier sichtbarer als überall sonst kollidiert dieser Anspruch mit einer Grundeinstellung des Juden, die ihn begleitete, als er in die „Fremde“ ging. Dieser Gang in die Fremde war, soziologisch gesehen, in sehr vielen Fällen eine Auswanderung. Er war geistig gesehen, im Prinzip etwas ganz anderes: eine Verbannung des Juden aus seinem Lande. Selbst da noch, wo dieses Verlassen des Landes unfreiwillig war, wo es auf einem konkreten Vorgang beruhte, etwa der Wegführung als Kriegsgefangener, wo also das Eingreifen einer feindlichen Macht ohne weiteres nachweisbar war, wurde der Sinn dieser Wegführung mit eindeutiger Entschlossenheit als ein göttlicher Akt erkannt; als eine Verfügung ihres Gottes, der sich irgend eines Werkzeuges – einer „feindlichen“ Macht – bedient, um diese Verfügung zu realisieren.
Warum mußte eine solche Verfügung realisiert werden? Warum mußte sie überhaupt gedacht werden? Die Verbannung ist eine Strafe dafür, daß das Volk nicht gemäß dem Standard der Gerechtigkeit gelebt hat, den sein Gesetz und die ethischen Forderungen der Propheten ihm auferlegten. Und warum ist diese Strafe für solches unzulängliche Verhalten nicht anderer Art?, etwa Armut Versklavung, Hungersnot, Krankheit? Hier stehen wir vor einem Phänomen, das in dieser Klarheit bei keinem anderen Volke auftritt: der Besitz eines Landes, einer Heimat, ist in sich eine religiöse Tatsache geworden. Das uralte göttliche Versprechen, sie in einem Lande zur Ruhe kommen zu lassen, die Besitznahme dieses Landes, das Wohnen darin, das Kämpfen darin um die Gestaltung ihres Wesens und ihrer Lebensformen, die Aufrichtung eines Zentrums für Kult und Verehrung: alles das hat dem Lande eine seelische Qualität gegeben, die wir weder in dieser Stärke noch mit dieser Begründung irgendwo wieder finden. Darum gibt es keine Strafe, die schwerer ist als diese: die Vertreibung aus dem Lande, die Verbannung.
Es ist das Wesen dieser Verbannung, daß sie zeitlich begrenzt ist. Wäre sie zeitlos gedacht, wäre die Abtrennung des Volkes vom Lande seines Ursprungs eine für die Ewigkeit beschlossene Tatsache, dann würde aus dem Gefüge des Volkes und seiner nationalen Religion der Eckstein herausfallen; es würde eine Änderung eintreten, die den Juden verwandelt. Der Jude des europäischen Verbannungsraumes war weit von solchen Gedanken entfernt. Für ihn gab es nur einen einzigen, ganz klaren Tatbestand: ich bin auf Zeit und Widerruf verbannt. Ich werde zurückgerufen werden, wenn die Zeit abgebüßt ist. So wie es ihm verheißen war: „Du sollst wissen, daß deine Nachkommen Fremde sein werden in einem Lande, das nicht ihnen gehört.“
Das war eingetreten. Er war jetzt ein „Fremder“ in einem Lande, das nicht ihm gehörte. „Fremder-Sein“ hatte für ihn bis gestern nicht bedeutet: minderen Rechtes sein, im Rechtsgefüge der Umwelt keinen Platz haben, im Prinzip vogelfrei sein. Daß er alles das jetzt war, hatte er hinzunehmen. Er war eben im europäischen Sinne Fremder geworden. Aber die eigentliche Komplikation tritt dadurch ein, daß er in einem sehr weiten Sinne „Fremder“ bleiben will; daß er gegenüber dem Anspruch der Umwelt, Verzicht zu leisten, nur mit einer Verneinung antworten kann, weil er tief glaubensmäßig an den Inhalt des Begriffes „Verbannung“ als einen zeitlichen Zustand gebunden ist. Er hat also gegenüber dem Begriff „Fremder“, wie seine neue Umwelt ihn auffaßt, nichts einzusetzen als seinen Begriff der „Gerechtigkeit“, aus dem er selber sich zum Fremden, zur Waise und zur Witwe in Beziehung gesetzt hatte. Er ist immer und überall zu jener menschlichen Gebärde bereit, die zwischen Kreaturen verschiedener Art und Herkommens die einzig mögliche Ebene der Begegnung darstellt. In individuellen Fällen gelingt ihm das. Mischehen zwischen Juden und Nicht-Juden sind im Mittelalter so häufig gewesen, daß das Papsttum immer wieder mit scharfen Verboten eingreifen mußte. Aber selbst diese Gebärde der individuellen Haltung wird immer wieder zum Verstummen gebracht durch Differenzen, die in der moralischen und intellektuellen Grundhaltung des Nicht-Juden begründet lagen.
Der europäische Mensch zu Beginn unserer heutigen Zeitrechnung war, um einen milden Ausdruck zu gebrauchen, primitiv, sowohl in seiner menschlichen wie in seiner geistigen Haltung. Irgend eine religiöse Vergangenheit, die ihm das Problem des Mitmenschlichen vermittelte, hatte er nicht. Irgend einen Kodex, der ihm mehr als verängsteten Respekt vor den bestehenden gesellschaftlichen Schichtungen vorschrieb, besaß er nicht. Das allgemeine moralische Niveau war selbst da ungewöhnlich niedrig, wo der Besitz eine Ansammlung von Lebensgütern und damit ein gewisses zivilisatorisches Maß der Lebenshaltung ermöglichte. Und in den europäischen Völkern als solchen liegt nichts von jener natürlichen, primitiven Güte, wie wir sie bei Völkern finden, denen Land und Klima und Fruchtbarkeit ein heiteres, sorgloses Leben gestatten. Im Gegenteil: das Leben des europäischen Menschen war durchsetzt mit jener simplen Grausamkeit, die sich aus der Armut der Lebensbedingungen und aus dem Fehlen religiöser und ethischer Hemmungen von selbst ergibt.
Es ist beinahe selbstverständlich, daß bei solchen Voraussetzungen auch das intellektuelle Niveau gering war. Intellekt und Grausamkeit können zwar zusammengehen, und sie waren nie identischer als im Kern Europas der Gegenwart. Aber der Intellekt der Gegenwart ist ja im wesentlichen auf den materiellen Bestand des Lebens gerichtet, während zu Beginn unserer Jahrhunderte der Intellekt sich entschiedener dem Leben in seinem religiösen und philosophischen Quantum zuwandte. Und in dem Sinne war der europäische Mensch primitiv im bösesten Sinne, das heißt: ungebildet ohne Güte.
Es ist nicht das Verdienst des Juden, sondern lediglich eine Folge seiner Vergangenheit und Tradition, daß er menschlich und intellektuell sehr verschieden war von den Menschen, die er bei seiner Wanderung über Europa antraf. Allerdings traf er ihn zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Stadien seiner Beziehung zu dem neuen Glauben, der dazu bestimmt war, ihn aus den Tiefen seines Heidentums zu erlösen und zum Bekenner einer mit Mysterien, Sakramenten und Dogmen versehenen Religion zu machen. Aber das half dem Juden nicht viel. Der europäische Mensch wurde nicht überall gleichzeitig von der neuen Religion erfaßt. Zwischen der Bekehrung Konstantins zum Christentum und der der Wenden in Preußen vergeht mehr als ein halbes Jahrtausend. Und da, wo das Christentum den Menschen erfaßte, verwandelte es ihn durchaus nicht von heute auf morgen aus einem grausamen, mit Aberglauben finsterster Art belasteten Barbaren zu einem menschlichen und intellektuellen Kulturträger. Für Jahrhunderte war der moralische Einfluß der neuen Religion auf die menschliche und moralische Grundhaltung seiner Bekenner so gut wie unbeachtlich. Und als schon endlich die neue Religion für den Europäer so weit aktuell wurde, daß sie anfing, sein Lebensbild zu bestimmen, da setzten die Folgen jener imperialistischen Kämpfe ein, von denen schon gesprochen wurde und von denen noch einmal zu sprechen sein wird.
Das bisher Gesagte meint in keinem Sinne ein Werturteil, sondern will die Voraussetzungen klarlegen, unter denen zwei Menschengruppen sich begegnen. Da ist vollkommen eindeutig, daß die Reaktion auf beiden Seiten im Prinzip eine negative ist. Der Jude mag in vielen Einzelfällen menschlichen und geistigen Kontakt mit Individuen seiner neuen Umgebung bekommen. Der Gesamtheit und ihrer Grundhaltung gegenüber kann er sich nicht anders als ablehnend verhalten. Seine Religion, seine gesellschaftliche Erziehung, seine Kenntnisse und sein Wissen belasten ihn mit gewissen Grundeinstellungen, von denen er sich weder befreien kann noch befreien will, ob er es will oder nicht: er selbst trägt durch diese Andersartigkeit in den Begriff „Fremder“ ein neues belastendes Element hinein.
Und dasselbe geschieht vonseiten der Umgebung, auch ohne daß sie es ausdrücklich will, allein aus ihrem moralischen und geistigen Status heraus. Hier begegnet sie Menschen, die sich weigern, mit ihnen zu essen und zu trinken. In ihre Tempel oder – späterhin – ihre Kirchen gehen sie nicht. Sie haben Feste, Feiern und Gebräuche, die man vorher nie gesehen hat. Sie haben einen anderen Lebensrhythmus. Sie sind Fremde, die in keine der bestehenden Gesellschafts-Schichten hineingehören. Sie gehören nicht zum Adel des Landes und nicht zu seiner – meist versklavten – Bauernschaft. Sie gehören auch nicht in die bestehende Rechtsordnung hinein, die für jeden Menschen eines Standes ein gewisses Quantum von Rechten oder Verpflichtungen vorsieht. Es ist nicht so, daß man diesem Fremdling grundsätzlich nicht und unter keinen Bedingungen Rechte zubilligte. Im Gegenteil: zuweilen und aus gewissen wirtschaftlichen Gründen genießen sie sogar Privilegien, die andere Bürger des gleichen Ortes nicht haben. Aber dieses Privilegium ist ja ebenfalls eine Ausnahme von dem üblichen und allgemeinen Rechtszustand; es ist ein Recht anderer Art, eine Bevorzugung aus besonderen Gründen. Sie wird zwar willkürlich gewährt und kann willkürlich jederzeit zurückgenommen werden. Aber sie ist dennoch geeignet, Neid zu erwecken, Mißtrauen zu erregen und damit den Charakter des Fremdlings als eines Menschen zu betonen, der außerhalb des Rahmens der Gemeinschaft steht.
Vom gesellschaftlichen Leben und der Rechtsordnung ausgeschlossen, im Menschlichen und Intellektuellen verschieden und unterschieden, in der Religion und ihrer Ausübung streng isoliert, bleibt der Jude überall als der „Fremde“ sichtbar. Um eine solche Erscheinung gelassen hinzunehmen, bedarf es schon einer sehr reifen Fähigkeit, Abstand zu nehmen und objektiv zu werten, Eigenschaften, die dem primitiven europäischen Menschen durchaus fehlten. Er konnte nur aus seinem primitiven Bestande reagieren. Was er in sein gewohntes Weltbild nicht einordnen konnte, blieb in gefährlicher, sichtbarer Isolierung stehen. Es stand an der Peripherie seiner Welt, da wo die unverstandenen und unverständlichen, die bösen und drohenden Dinge stehen, die Geister und Teufel, die unheimlichen Gestalten. Man begegnet ihnen mit einem Gemisch von Abwehr und abergläubischer Furcht.
Aber in einem unterscheidet sich dieser unheimliche Fremde von den anderen unheimlichen Gestalten, die die Furchtwelt des Heiden und des im Christentum noch nicht aufgegangenen Heiden bedrängen. Gegen die anderen unheimlichen Mächte, mögen sie als Geister oder Dämonen oder Tabus empfunden werden, gibt es nur die Mittel der Bannung und Beschwörung, entweder mit den alten Mitteln, die man von den Vorfahren ererbt hatte, oder mit den zusätzlichen Mitteln, die die neue Religion ihnen zur Verfügung stellte. Der Medizinmann, der Zauberer, der Priester können Hülfe bringen und das Gefühl des Unheimlichen paralysieren. Aber der neue Fremde war eine konkrete, greifbare Unheimlichkeit. Wenn man es für nötig hielt, konnte man ihn körperlich anpacken. Es brauchte dazu weder Priester noch Zauberer. Und nicht nur das: diese Menschen – ob sie im gegebenen Falle nun Widerstand leisteten oder nicht – wurden nicht getragen von jenem starken Selbstvertrauen das andere Menschen haben, die wissen, daß irgendwo ein Gesetz bereit ist, das sie schützt und den Arm dessen, der sie bedroht, von vornherein lähmt. Wer diese Menschen angriff, hatte den Gegenangriff des Gesetzes nicht zu fürchten, weil diese Menschen außerhalb des gewohnten Gesetzes standen. Erst wenn diese Menschen aufhörten, Menschen zu sein, das heißt: wenn sie Gegenstand wurden, der von einem Fürsten oder König oder Bischof zum Zwecke der wirtschaftlichen Ausbeute besessen wurde, erst dann standen sie unter dem Schutz eines Gesetzes, und erst dann war es riskant, sie anzugreifen, sie – wie fremde Gegenstände – zu beschädigen. Und selbst dann schützte das Recht nicht sie, die menschlichen Gegenstände, sondern ihre Besitzer im wohlerworbenen Recht von nutzbringenden Gegenständen.
Ebenso oft ereigneten sich natürlich auch Fälle, in denen der „Besitzer“ selber sich aus irgend einem Grunde dieser Besitzstücke entledigte. Um ein unverdächtiges Beispiel aus unverdächtiger Quelle beizubringen, lesen wir einmal, was in der Encyclopaedia Britannica (14th Edition, pg. 492) über eine solche Aktion des King Edward I gesagt wird: “Another act of this period was Edward’s celebrated expulsion of the Jews from England (1290). This was the continuation of a poliey which he had already carried out in Guienne. It would seem that his reasons were partly religious, but partly economic. No earlier king could have afforded to drive forth a race who had been so useful to the crown as bankers and money-lenders; but by the end of the 13th century the financial monopoly of the Jews had been broken by the great Italian banking firms, whom Edward had been employing during his Welsh wars. Finding them no less accomodating than their rivals, he gratified the prejudices of his subjects and himself by forcing the Hebrews to quit England. The Italians in a few years became as unpopular as their predecessors in the trade of usury, their practices being the same, if their creed was not.” Ein Bericht, der in seiner schlichten Unbefangenheit einfach entwaffnend ist, und eben so entwaffnend in der naiven Selbstverständlichkeit, mit der die Teilnahme Edward’s I. an jedem Geldgeschäft eines Juden nicht erwähnt wird. Von einer Vertreibung der Italiener aus England habe ich übrigens in der Geschichte nichts gefunden.
Es soll nicht behauptet werden, daß eine solche Einstellung der Umweltmenschen zum Juden an jedem Orte und zu jeder Zeit in gleicher Weise in die Praxis umgesetzt worden sei. Aber diese Einstellung ist die prinzipielle Grundhaltung, und wäre sie nicht gewesen, hätte nie die Epoche der ewig akuten Angriffe eingeleitet werden können, die mit dem Beginn des 11. Jahrhunderts einsetzten, in gleichbleibender Stärke bis zum 16. Jh, fortgesetzt wurden und praktisch bis heute noch nicht ihr Ende gefunden haben.
Die Verfolgungen in ihrer systematischen Form sind ausgelöst worden durch die aktive und passive Mitwirkung der religiösen Erziehung, der religiösen Propaganda und jener Aktionen, die die Kirche zur Ausbreitung und Sicherung des Glaubens inauguriert hat. Schon wiederholt haben wir darauf hingewiesen, daß die Religion, in ihrer Organisationsform als Kirche, einen imperialistischen Anspruch zu erheben hatte. Daß sie ihn gegenüber dem Juden nicht durchsetzen konnte, hat ihre feindliche Einstellung gegen ihn ein für alle mal begründet und fixiert. Daß sie ihre Einstellung auf ihre Gläubigen übertrug, war nicht mehr als selbstverständlich. Sie selbst hatte die Vernichtung des Juden im Auge, soweit ihr Wille dahin ging, ihn durch die Taufe als Juden zu beseitigen. Daß ihre Anhänger immer wieder das Problem auf eine radikalere Weise zu lösen suchten, nämlich durch die körperliche Beseitigung des Juden, hat sie nie beanstandet und sehr oft inoffiziell gut geheißen. Sie mußte aber noch einen Schritt weiter gehen. Sie mußte ihren Gläubigen eine Formel geben, die das feindselige Verhalten gegen den Juden auf die Ebene der religiösen Motivierung hob. Sie durfte sich mit dem Attribut „verschieden“ nicht begnügen. Die Anerkennung des simplen Begriffes „Fremder“ hätte ihren Anspruch auf Katholizität vernichtet. Sie ging also dazu über, den Juden als den „Feind des christlichen Glaubens“ hinzustellen, obgleich in Wirklichkeit der Sachverhalt der umgekehrte war. Und sie mußte noch einen Schritt weiter gehen. Sie mußte motivieren, warum er immer noch am Leben sei. Sie konnte nicht zugeben, daß sie versagt hatte, daß aller Wille, ihn geistig zu überwinden, nicht stark genug war, daß alle aktive und passive Bereitschaft, ihn durch andere vernichtet zu sehen, enttäuscht hatte. Sie mußte im Gegenteil seine Fortexistenz als in ihrem Interesse liegend umdeuten. So gelangte sie zu der ungeheuerlichen Fassung: Gott habe den Juden am Leben erhalten, damit er Zeuge seines göttlichen Zornes sei und als Zeuge für die Wahrheit des christlichen Glaubens diene.
Das war keine theoretische Erklärung. Das war eine eminent praktische Tat, die dem Charakter dieses Fremden in den Augen der Nachbarn einen fest umrissenen Charakter gab und die für seine – des Nachbarn – Aktionen einen Kompaß darstellten. Die Massenmorde an Juden zu Beginn des 1. Kreuzzuges sind das praktische Resultat dieser Lehre. In den folgenden Zeiten steht dieser Gedanke unausweichlich im Hintergrunde, und die Aktionen nähren sich aus dem Gefühl, daß es eine gute und fromme Tat sei, Feinde des christlichen Glaubens an der weiteren Ausübung ihrer Feindschaft zu hindern.
Diese Verfolgungen, durch Jahrhunderte fortgesetzt und durch ständig wiederkehrende Vertreibungen größten Stils unterstützt, (1292 Vertreibung der Juden aus England, 1306 aus Frankreich, 1492 aus Spanien) hatten keinen Erfolg. Das heißt: sie beseitigten den Juden nicht. Er wich immer nur aus und ersetzte den Zahlenverlust an Orten, die momentan ruhig waren. Aber auch die Kirche, die ja angeblich an seiner Fortexistenz interessiert war, weil sie dadurch etwas beweisen konnte, war mit dem Erfolg nicht zufrieden. Sie hatte bis jetzt eine ideologische Abgrenzung geschaffen. Es scheint, als habe diese Art der Abgrenzung ihren Zweck nicht erfüllt, denn sie geht in steigendem Maße dazu über, die Abgrenzung optisch zu machen, das heißt: sie für das Auge jedes sehenden Menschen sichtbar zu machen. Dazu hat sie sich zweier technischer Mittel bedient: des Ghettos und des gelben Flecks.
Der Kern des Ghettos ist wahrscheinlich nicht von der Kirche geschaffen worden, sondern vom Juden selbst. Er entstand aus dem instinktiven Bedürfnis der „Fremden“, sich durch engeres Zusammenwohnen jene „Nähe“ zu schaffen, die sie in der Umwelt nicht fanden. Zugleich war diese Nähe rein durch die Zahl der Zusammenwohnenden ein größerer Schutz gegen die bösartigen Zufälligkeiten, denen sie in steigendem Maße ausgesetzt waren. Es war eine Absonderung mit fließenden Grenzen. Sie konnte je nach Zeit und Ort gelockert oder gestrafft werden. Sie war ein Sicherheitsventil, keine zwangsläufige Bahn.
Hier griff die Kirche zu und gab dem Zustand des freiwilligen Bei-einander-Wohnens den Charakter des Zwanges, der Absonderung, der Zur-Schaustellung, so wie man gefährliche Tiere hinter Käfiggittern sichtbar macht. Die Kirche machte das Ghetto zum abgeschlossenen, nicht zu überschreitenden, von allen anderen abgesperrten Lebensraum des Juden. Mit Varianten hier und dort wurde das Ghetto der optische Raum, auf den der Jude, allen sichtbar, verwiesen wurde.
Aber selbst das schien der Kirche nicht zu genügen. Wirtschaftliche Gründe machten es immerhin notwendig, daß der Jude das Ghetto zuweilen verließ, sei es auch nur, um jene gefährlichen und zufälligen Geschäfte zu betreiben, die man von ihm verlangte, damit er Steuern und Abgaben leisten könne. Darin hatte schon sehr früh ein sozusagen passiver Existenzgrund gelegen. Er war bei seinem Eindringen nach Europa von einer durchaus normalen Berufsschichtung gewesen. Soweit es die Verhältnisse überhaupt gestatteten, ging er zur Landwirtschaft über. Sein Handwerk war gut entwickelt. Seine Beteiligung am Export- und Importhandel hing durchaus von den örtlichen Möglichkeiten ab. In vielen Fällen war er wirtschaftlicher Pionier. Er war zumeist der noch primitiven Wirtschaft der Umwelt um einen Schritt voraus. Hatte sie diesen Schritt eingeholt, verdrängte sie den „Fremden“ aus der Position. Teils mit Hülfe der Kirche, (die es verbot, daß Nicht-Juden für Juden arbeiteten) und teils durch die ständische Entwicklung verlor der Jude den Boden in Landwirtschaft und Handwerk. Und ein Entscheidendes kam hinzu: das sich steigernde Quantum der Verfolgungen machte es notwendig, die Subsistenzmittel liquide zu erhalten, um der immer drohenden Vertreibung begegnen zu können. Er wurde automatisch auf wirtschaftliche Tätigkeiten abgedrängt, bei denen man die investierten Mittel schnellstens realisieren konnte. Handel und Geldgeschäfte waren dazu am geeignetsten.
Diese logische Entwicklung wurde unterstützt durch eine Tendenz, der man ebenfalls eine gewisse Logik nicht absprechen kann, nämlich durch die Tendenz der Umwelt, den Juden auf die Bahn der Geldgeschäfte zu treiben. Rein die Tatsache, daß das wirtschaftliche Quantum der Welt sich vermehrte, daß der Handel durch Aufschließung neuer Wege sich ausweitete, daß der primitive Tauschhandel durch Zahlungen abgelöst wurde, gab den Begriffen „Geld“ und „Kredit“ eine bis dahin nicht gekannte Wichtigkeit. Aber der Realiserung stand (neben dem Mangel an Finanz-Institutionen) das kanonische Gesetz im Wege, wonach das Zinsnehmen verboten war. Dem Juden war es, so weit seine eigenen Volksgenossen infrage kamen, auch verboten. Anderen gegenüber war es ihm erlaubt. Für die Umwelt bot sich also hier im Juden ein praktisches Instrument, dem Kreditbedürfnis nachzukommen, ohne ein Gesetz des Glaubens zu übertreten. Man zwang also den Juden in diesen Zweig der Wirtschaft hinein. Dieser Zwang war sehr real. In England, Frankreich und Deutschland wurde der private Besitz von Juden, das heißt das Recht, Juden besitzen zu dürfen, über sie als über ein Monopol zu verfügen, in den Händen der Könige und Fürsten zu einer eifersüchtig gehüteten Quelle von Einnahmen größten Stils. Versiegte die Quelle, drohte die Gefahr der Vertreibung.
So schloß sich ein circulus viciosus. Die unsichere wirtschaftliche Basis, auf die der Jude überall gestellt war, verlieh ihm eine besondere Sichtbarkeit, eine gefährliche, drohende Sichtbarkeit. Er war der Geldnehmer, der Zinsnehmer, der Wucherer, der Ausbeuter. Ob er es im Einzelfalle wirklich war oder ob er nur Angehöriger einer Berufskaste war, der das Odium des Geldes anhaftet, spielte ihm gegenüber keine Rolle. Die gleichen Menschen, die ihn als Geldgeber brauchten und sehr darauf achteten, daß er es blieb, waren durch nichts – durch kein Gesetz und keine Einsicht und kein menschliches Verständnis – gehindert, in ihm den Gläubiger zu sehen, der sie bedrängt, und zwar zu Unrecht, sodaß es ein Recht der Notwehr ist, sich seiner zu entledigen, wenn es einem so paßt. (Immer vorausgesetzt natürlich, daß man dadurch nicht einen nutzbringenden Gegenstand beschädigt, der einem „Herren“ gehört.)
Zu dieser gefährlichen Sichtbarkeit fügte nun die Kirche – offiziell zu Beginn des 13. Jh., inoffiziell, wie in England, schon früher – eine neue Sichtbarkeit hinzu, die vom Beruf ganz unabhängig war und schlechthin jeden Juden, jeden „Zeugen des göttlichen Zornes“ mit einer weithin erkennbaren Marke versah, mit einem Gelben Fleck. Mittel- und Westeuropa haben davon ausgibigen Gebrauch gemacht. Die Abgrenzung wurde damit auch außerhalb der Mauern des Ghetto optisch betont, ein Umstand, der dem Träger des Zeichens wie dem Betrachter in gleicher Weise in das Bewußtsein eindringen mußte. In jedem, der diesen Fleck sah, lief automatisch eine Kette von Assoziationen ab, eine Reihe von Vorstellungen, die durch Generationen gezüchtet und an Generationen überliefert wurden. Dafür – und das ist entscheidend wichtig – spielte es garkeine Rolle, ob der Jude in Massen oder vereinzelt auftrat. Schon ein einziger Jude, so optisch sichtbar gemacht, genügte, die ganze Gedankenkette zum Ablauf zu bringen. Der Jude hörte damit auf, ein Einzelner zu sein. Er wurde Prototyp. Er wurde Repräsentant für Alle und für Alles, was man gegen ihn einzuwenden hatte. Da liegt die Quelle jener geistigen Haltung, die gegenüber dem Juden nur allgemeine Urteile kennt.
Hier mag der Leser einwenden, daß ihm, dem Menschen von heute, solche allgemeinen, auf dem religiösen Grunde beruhenden Werturteile ganz fern liegen; daß es sich da um historische Vorgänge handelt, denen es an jeder Aktualität mangelt. Ein solcher Einwand, – der in Gesprächen oft erhoben wird – beruht auf einer unzulänglichen historischen Betrachtung. Nicht nur, daß die Aktualität konstant geblieben ist, sondern auch der historische Grund ist aktuell geblieben. Nur ein einziges ist geschehen: das äußere Motiv hat sich gewandelt. Die innere Ursache ist konstant geblieben. Sie ist nur auf andere Gebiete des Lebens verschoben worden.
Schon im letzten Kapitel wurde darauf hingewiesen, daß der Verlust des religiösen Quantums, den die europäische Welt erlitten hat, das Schwergewicht auf andere Gebiete verlegt und dort neue Imperialismen geschaffen hat. Der Begriff „Wirtschaft“, der dort verwendet worden ist, muß hier erweitert werden zu dem umfassenderen Begriff „Gesellschaft“. Seine Bedeutung ist hier: alles, was den äußeren und inneren Rahmen des Zusammenlebens von Völkern und der Beziehung zwischen Völkern betrifft, also Ideen des Staates, der Nationalität, der Rasse, der Sprache, Kultur, Kunst und so fort. Bis zum Beginn der geschichtlichen Periode, die man reichlich zufällig als die Neuzeit bezeichnet, beruhte das Weltbild des europäischen Menschen wesentlich auf dem, worauf das Weltbild des orientalischen Menschen beruhte: auf religiösen Vorstellungen. Die europäische Welt in ihrer Gesamtheit ist durch einen Prozeß der Säkularisierung gegangen. Die Vermehrung des intellektuellen Quantums, die Fortschritte in den exakten Wissenschaften, die Erfahrungen der Ratio haben dem Menschen die naive Unbefangenheit des Glaubens genommen, haben sein Gott-gegebenes Weltbild modifiziert zu einem Weltbild, das auf seinen eigenen Erkenntnissen und seinen technischen und intellektuellen Leistungen beruht. Seine Beziehung zur Religion ist im besten Falle hier und da als ethisches Unterbewußtsein erhalten geblieben. Im Vordergrunde stehen diejenigen Dinge, mit denen er aus eigenen Erwägungen sein Dasein zu ordnen gedenkt. Der König ist nicht mehr eine Institution, die von Gott eingesetzt ist, sondern eine zweckmäßige oder unzweckmäßige Regierungsform. Der Sklave ist nicht mehr eine Naturerscheinung, sondern ein Widerspruch zu dem rein weltlichen Begriff der Freiheit. Der Staat ist nicht mehr eine religiöse, sondern eine gesellschaftlich-politische Organisationsform. Es sind neue Denkkategorien aufgetaucht, denen in einem religiös gefügten Weltbild keinerlei Wert zukommt: Rasse, Nation, Sprache, Kultur, Zivilisation usw.
Es ist zudem eine Besonderheit dieser Begriffe, daß sie zur individuellen Abgrenzung sowohl nach innen, zur eigenen Gemeinschaft hin, wie nach außen, zu anderen Völkern hin neigen. Diese Selbstwertung wird zu einem historischen Faktor, der das Verhalten gegenüber anderen Völkern reguliert. Sie wird zu einem Motiv, das Aktionen rechtfertigt. “Britannia rule the waves” und „Deutschland über alles“ sind Exponenten und Ausdrucksformen dieser Selbstwertung in ihrer Richtung nach außen. In der Richtung nach innen betätigt sich diese Selbstwertung grundsätzlich an dem, der von früher her zum Zwecke der Abgrenzung und mit dem Stigma der Verschiedenheit zur Verfügung stand: an dem Juden. Er war bereits durch Jahrhunderte ausreichend in seiner Eigenschaft als „Fremder“ fixiert und optisch sichtbar gemacht. Diese Erbschaft der Betrachtung mußte automatisch wirken in dem Augenblick, in dem dieser „Fremde“ von sich aus den Versuch macht, die Distanz zu überbrücken und sich einer Welt zu nähern, deren religiöses Motiv scheinbar durch ein menschliches und gedanklich-logisches abgelöst worden war. Um diesen Vorgang und die Reaktion darauf zu verstehen, müssen wir vorerst das Schema darstellen, nach dem die innere Entwicklung des Juden in der Fremde verlief. –