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V.
Metamorphosen.

Es ist noch nicht zulässig, aus dem, was im Kapitel „Der Fremdling“ gesagt wurde, Konsequenzen zu ziehen. Es muß zunächst ein anderer Prozeß dargestellt werden, ein interner Vorgang, der für die Formung des Juden in seiner heutigen Gestalt nicht weniger verantwortlich ist als der jahrhundertelange Einfluß der Umgebung.

Es wurde schon gesagt, daß der Jude die Verbannung aus seinem Lande als einen zeitlichen Zustand empfand, als eine Strafe, die abgebüßt werden mußte, und vor allem, die abgebüßt werden konnte. Am Ende der Verbannung standen die Vorstellungen von Vergebung und Heimkehr. Diese Vorstellungen waren Wahrheiten des Glaubens, und sie waren der ganzen Judenheit gemeinsam, gleich, zu welcher Zeit sie das Land verlassen hatten und ob sie selber je in Palästina gelebt hatten. Das alte nationale Gesetz, durch den Talmud auf die Verhältnisse der Fremde übertragen, sorgte dafür, daß die Idee am Leben blieb. Und selbst wenn sie nicht jedem Einzelnen an jedem Tage und bei jeder Gelegenheit voll bewußt war, sorgte eben das talmudische Gesetz dafür, daß jeder Einzelne in jedem Detail seines Privatlebens unentrinnbar in ein Gefüge des Verhaltens gespannt wurde, das aus ihnen, trotz der verschiedenen Wohnorte, trotz der verschiedenen Umgangssprachen und Sitten, die sie sich erwarben, eine erkennbare und im Prinzip unlösbare Einheit machte. Der Jude lebte in der Verbannung mit einer produktiven Fiktion, der Fiktion des „als ob“. Das heißt: er lebte so, als ob er sich noch in seinem eigenen Lande befinde und dort sein Leben gemäß den nationalen Gesetzen seiner Heimat führe.

Dieses fiktive Leben, mit dem Begriff Fremde und Verbannung kombiniert, ergab eine merkwürdige Beziehung zur Gegenwart. Sie wurde als ein Provisorium empfunden, das nicht mehr darstellte als einen Schwebezustand. In sich selber bestand diese Gegenwart nicht. Als geschichtlicher Raum wurde sie ignoriert. Es gab nur die zeitlichen Kategorien Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit war das einstige Leben in der nationalen Heimat, und die Zukunft war die Wiederaufnahme dieses auf Zeit unterbrochenen Lebens. Es war in der Geschichte wie in der hebräischen Sprache. Sie kennt nur Vergangenheit und Zukunft. Das Präsens ist lediglich ein participium präsentis, ein Schwebezustand, nicht mehr. Es ist nur die Zwischenform, die zwischen den allein wichtigen Kategorien Vergangenheit und Zukunft steht. Dem entspricht auch der religiöse Aufbau dieses merkwürdigen Volkes. Von einem Punkte der Vergangenheit her, den man die Offenbarung am Sinai oder die Volkswerdung nennen kann, wird der Weg in eine zukünftige Gestaltung angetreten, endend in einer sublimen Vision des Friedens und des Glücks für alle Völker der Welt. Die sogenannte Gegenwart, die zwischen diesen beiden Punkten liegt, ist lediglich ein Zwischenraum des Versuchs, der Bemühung, der Gestaltung. Alles Tun in der Zwischenzeit bezieht seine Kraft aus der Vergangenheit und will das Resultat des Bemühens auf die Zukunft übertragen. Es ist daher nicht Zufall, sondern entspricht diesen Zeitbegriffen, daß der Jude als erster die Vorstellung von „Ewigkeit“ geformt hat.

Aber hier ist mehr gegeben als ein besonderer Zeitbegriff. Der Begriff Zeit ist hier gekoppelt mit dem Begriff „religiöses Verhalten“. Denn dieser Ausgangspunkt in der Vergangenheit ist nur im Formalen ein Vorgang nationaler Gestaltung. Seinem Wesen nach bedeutet er den Aufruf zu einer ethischen Gestaltung des Lebens in der Gemeinschaft. Und das Ziel in der Zukunft ist folglich weder national an sich noch politisch, sondern ebenfalls ethisch: die Aufrichtung von Lebensweisen und Lebensformen, die den Frieden unter den Menschen herstellen sollen. Dazwischen liegt das Tun, das Agieren, das Verhalten und Reagieren im Alltag, das also, was man in seiner Summe Geschichte nennt. Von dieser Geschichte hängt also die zukünftige Gestaltung ab. Die Folgerung, die hier gezogen wird, ist in aller Ausschließlichkeit eine Frucht des jüdischen Denkens: in der Geschichte der Völker wird ihnen ihr Schicksal nach den Maßen der Ethik bereitet. Geschichte ist Schicksal. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Die Geschichte von Völkern – zum Guten oder zum Bösen – verläuft nach dem Maß des ethischen Bemühens, das sie einzusetzen bereit oder in der Lage sind.

Wenn Geschichte für ein Volk solche Bedeutung bekommt, so kann es nicht verwundern, daß die Juden das erste Volk sind, das Geschichte systematisch notiert und sie an den Wendepunkten immer wieder pragmatisch bearbeitet hat. Die Juden sind das Geschichtsvolk kat exochen. Aber sie notieren Geschichte nur, soweit ihre eigene Geschichte und ihre eigene Verpflichtung in dieser Geschichte infrage kommt. Fremde Geschichte notieren sie nur insoweit, als sie ihnen als Beleg für ihren Glauben an das Walten einer höheren Gerechtigkeit im Ablauf der Geschichte dient. Die Folgerung, die sie daraus zogen, war ein Phänomen: ihr Aufenthalt in der Fremde stellte eine Unterbrechung ihrer Geschichte dar. Was ihnen da geschah, war Interims-Schicksal, verbunden mit dem Geschehen von Gestern und in der Erwartung des Geschehens von morgen. Es war weder Gegenwart noch Geschichte. Und so sehen wir, daß der Jude sich in den langen Jahrhunderten seiner Verbannung zwar mit allen möglichen, auch weltlichen Dingen befaßt; aber Geschichte notiert er nicht mehr. Seine Geschichte ist so in der Schwebe, wie sein Verweilen in der Verbannung ein Schwebezustand des Provisorischen ist. Er nimmt – historisch gesehen – seine Gegenwart nicht zur Kenntnis.

Dagegen denkt er seine Zukunft in realen historischen Kategorien. Er weiß, daß das Volk in seiner Gesamtheit wieder in die Heimat zurückkehren wird. Dieses Wissen ist zugleich eine politische Erwartung und eine seelische Grundhaltung. Sie ist von der Gunst oder Ungunst der örtlichen Verhältnisse, unter denen man einstweilen leben muß, grundsätzlich unabhängig. Selbst im Spanien des 12. Jh., unter günstigsten Bedingungen für die nationale, religiöse und kulturelle Freiheit, ist der Wunsch nach Rückkehr lebendig und findet in dem größten Dichter jener Zeit, Jehuda ha’Levy, einen künstlerischen Ausdruck von eminenter Höhe.

Der Gedanke an Rückkehr ist logisch verbunden mit der Zeit der Beendigung der Verbannung. Die Rückkehr ist also ein Vorgang in der Endzeit. Dieser Begriff der Endzeit ist im Judentum jener Zeit schon alt. Er war schon in jenen Zeiten entstanden, als Propheten und Führer des Volkes um eine ideale Gestaltung des gesellschaftlichem Lebens kämpften, als die Unzulänglichkeit des Menschen gegenüber sittlichen Maximal-Forderungen immer wieder in die Erscheinung trat. Schon damals wurde auf eine Endzeit verwiesen, in der die Scheidung zwischen Gut und Böse klar hervortreten würde. Auch noch in einem anderen Sinne war der Begriff Endzeit aktuell. Gegenüber dem Attribut der Gerechtigkeit, das der jüdische Mensch seinem Gotte zuschrieb, standen immer wieder die Gegenwart und Alltäglichkeit und Wirklichkeit mit einem ganz anderen, aus der Erfahrung gewonnenen Bilde. Da war für den Guten ein böses Schicksal aufgespart und dem bösen ging es gut. Jedes Volk mit rationalerer Denkweise wäre hier mindestens zu einem Pessimismus gelangt, (wie es bei den Babyloniern der Fall war). Der Jude kam zur Theodizee, zur Rechtfertigung Gottes gegenüber der anscheinenden Ungerechtigkeit des Geschehens. Indem seine absolute und immanente Gerechtigkeit zur Maxime erhoben wurde, verlegte man den großen Ausgleich alles Unvollkommenen auf das „Ende der Tage“.

In dem Maße, wie dieses kleine, national gebundene Volk beginnt, übernational zu denken, weitet sich der Begriff der Endzeit zu einer allgemeinen Erlösungsvorstellung für die ganze Welt, zu der Vorstellung einer messianischen Zeit, die Frieden und Gerechtigkeit und Glückseligkeit für alle Völker und unter allen Völkern bedeutet. Aber für ein Volk, das solche Gedanken wirklich mit aktuellem Bewußtsein und wirklicher seelischer Teilnahme lebt, besteht immer die Tendenz, solche Vorstellungen so weit wie möglich konkret zu machen, ihnen eine Bildhaftigkeit zu geben, eine Realität, die vor der Phantasie bestehen kann. Und so schuf sich das Volk zu der Vorstellung von einem Messianismus auch die Vorstellung von der Gestalt eines persönlichen Messias, jene Gestalt, auf der das ganze Gebäude der späteren christlichen Religion beruht.

Das bedeutet an sich eine Verminderung des Gedankens, denn jetzt war das Eintreten eines messianischen Zustandes abhängig von dem vorherigen Erscheinen eines messianischen Vertreters. Die Zeit konnte erst kommen, wenn der Repräsentant der Zeit erschienen war. Dabei tauchte eine Schwierigkeit auf. Ob eine Zeit messianisch war oder nicht, ließ sich zur Not noch am Zustand der Zeit und am Verhalten der Menschen ablesen. Aber wie ließ sich bestimmen, ob einer der Messias war oder nicht? Letzten Endes hing es von seiner eigenen Erklärung ab, daß er es sei. Das Volk war schon lange aus der unmittelbaren Glaubensfreudigkeit heraus, in der es die Stimme Gottes persönlich und mit eigenen Ohren hörte. Gott trat nicht mehr auf und erklärte allen hörbar: „Dieser da ist der Messias!“ Nur der Messias selber konnte auftreten und sich selber zum Messias ausrufen.

Einmal hatte das Volk diese Erfahrung gemacht, in der Person des Jeshu aus Nazareth. Es ist hier nicht der Ort, darzustellen, warum das Volk als solches ihn nicht akzeptierte. Die Erfahrung lehrte es jedenfalls, daß man Sicherheitskautelen einschieben müsse, und so wurde nach und nach ein ganzer Katalog von Merkmalen aufgestellt, die erfüllt sein mußten, um einen Prätendenten als Messias anzuerkennen. Denn Messiasse sind durch die Jahrhunderte aufgetreten. Es ist immer wieder zum Ausbruch messianischer Bewegungen gekommen, in denen einer versuchte, die Endzeit herbeizuführen, oder die Erlösung anzukündigen, oder das Volk mit realen politischen Mitteln in die alte Heimat zurückzuführen.

Dieser Gedankengang mußte in dieser relativen Ausführlichkeit dargestellt werden, um verständlich zu machen, was der Messianismus für den Juden in der Verbannung bedeutete. Und nur von da aus ist die Wandlung zu verstehen, die sich im Gedanken selber vollzog. Genau parallel mit dem Ablauf der Zeit verliert der Gedanke seine politische Realität und wird gedanklich, mystisch, esoterisch, um dann wieder in das andere Extrem umzuschlagen und endlich vollkommen zu verweltlichen. Die ersten Messiasse sind noch Kämpfer, die entweder gegen die Gewalt von Rom rebellieren oder unter Ausnutzung der durch den Islam geschaffenen weltpolitischen Situation die reale Rückkehr des Volkes nach Palästina versuchen. Nachdem diese Versuche gescheitert sind, und das rabbinische Judentum zur Herrschaft gelangt, wird diese reale Erlösung nicht mehr als das Werk eines Menschen betrachtet, sondern als ein von Gott selber zu bewirkendes Wunder. Die Erlösung wird nicht mehr erkämpft, sondern vom Himmel gegeben. Langsam verschwindet aus dem messianischen Gedanken jedes Quantum des Wirklichen und des real zu Bewirkenden. Er wird – insbesondere mit der Ausbreitung kabbalistischer Ideen – mystisch, das heißt: seine Wirklichkeit verlagert sich auf die Ebene des Geistigen, des Übersinnlichen. Und von dieser Höhe des Nur-Geistigen, des nur Abstrakten aus verflüchtigt sich langsam der Gedanke in den letzten Resten seiner Realität.

Aber das einfache Volk kann nicht in solchen Begriffen denken. Es kann nur mit Realitäten leben. Im besten Falle kann es mit einem Realitäts-Ersatz leben. Und den bekam es vom Rabbinismus in Form von Legenden und Versprechungen, von Vertröstungen auf das Wunder, das einmal geschehen würde. Der Einzelne kann zur Herbeiführung der messianischen Zeit nichts tun, als möglichst getreu die Gesetze erfüllen, die der Rabbinismus aus seiner talmudischen Tradition mit sich bringt. Erfüllung der Gesetze ist das Kernstück des Rabbinismus. Sie sind seine Wirklichkeit. Alles andere ist von sekundärer Bedeutung. Darum ist der Rabbiner insgeheim der größte Feind des Messias gewesen. Noch jeder Messias, der auftrat, hat seinen Rabbiner gehabt, der ihn bekämpft oder verraten hat.

So lebt also ein Volk jahrhundertelang mit einem Glauben an das Ende seiner Verbannung, und dieser Glaube wird ihm unter den Händen unwirklich, ungreifbar, unsubstantiell. Nur wenn die Leiden, die es aus den Verfolgungen der Umwelt zu erdulden hat, unerträglich werden, wendet es sich wieder lebhafter dem fernen Glauben an die Erlösung zu. In der Mitte des 17. Jh., als in Polen der Kosakenaufstand des Chmelnizky Tod und Verderben über Hunderttausende brachte, lebte der Gedanke wieder bis an die Grenze der Wirklichkeit auf, und es entstand eine messianische Bewegung, die diese Grenzen zur Wirklichkeit sogar hätte überschreiten können, wenn der Repräsentant – Shabbatai Zewi – nicht solch ein aktionsunfähiger Schwächling gewesen wäre. Aber dann sank der Erlösungsgedanke um so entscheidender in sich zusammen. Er hat noch einmal – in der Chassidischen Bewegung unter den Juden Osteuropas zu Beginn des 19. Jh. – einen Versuch gemacht, sich seelisch und gefühlsmäßig zu stärken, und er hat sogar zu gelegentlichen Rückwanderungen nach Palästina geführt, aber an der Grundhaltung der Volksmassen hat er nichts entscheidendes geändert.

Diese Grundhaltung mußte selbstverständlich eine Funktion des unreal gewordenen Glaubens an die Erlösung sein. Mit anderen Worten: die Vorstellung, man werde eines Tages in die Heimat zurückkehren, wird immer schwächer. Schon beginnt man, sich mit der Tatsache der Verbannung abzufinden. Palästina wird eine ideologische Heimat, eine Heimat des Glaubens, der Religion. Das Land, in dem man gerade lebt, ist zwar noch Fremde, aber nur deswegen, weil die „Anderen“, die Umwelt, das jeweilige Land zur Fremde machen. Vielerorts, besonders im von Juden dicht besiedelten Osteuropa, bleibt die Tendenz sichtbar, im Alter nach Palästina auszuwandern, um dort, auf heiligem Boden, zu sterben und begraben zu werden. Aber leben möchte man da, wo man geboren ist, gelernt, gearbeitet, Kinder erzeugt und sich um ihre Zukunft bemüht hat. Das Wort Verbannung wird eine unverpflichtende religiöse Vokabel. Der Zustand selber wird mit zunehmender Neigung „Diaspora“ genannt, Zerstreuung. Die Nation, die einmal auf Zeit verbannt war, ist nun nichts mehr als zerstreut, und diese Zerstreuung muß man hinnehmen. Man kann nur versuchen, den Zustand erträglicher zu machen und die Fremde nach Kräften abzuschwächen.

Es sah eine zeitlang so aus, als ob diese Abschwächung der Fremde möglich sei. Vorgänge, die in den geistigen Problemen der europäischen Welt begründet lagen, schienen eine andere Einstellung zum Juden zu begünstigen. Da war das England des Oliver Cromwell, dessen religiöse Grundhaltung und dessen starke Beziehung zur Bibel eine größere Duldsamkeit gegenüber dem Juden einleiteten. Da waren die Niederlande, die als erstes europäisches Land die für die damalige Zeit unerhörte Idee von der Gewissensfreiheit dachten und sie bis zu einem gewissen Grade sogar dem Juden gegenüber zur Anwendung brachten. Da war die französische Revolution, deren Parolen zwar nicht unmittelbar auf den Juden Anwendung fanden, (der Schulfall für humanistische Ideen, deren Verallgemeinerung an der Erbschaft der Jahrhunderte scheitert!), die aber bei den Eroberungszügen Napoleons für die Juden anderer Länder wenigstens zeitweise eine zwangsläufige Anwendung fanden. Denn was Napoleon bei sich zuhause nicht zuließ – die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden – zwang er den deutschen Kleinstaaten auf. Da war ferner das große Amerika in seinem kolonisatorischen Aufbau und seinen Freiheitskriegen und der ersten Konstitution, die Freiheit und Duldsamkeit zu Fundamental-Gesetzen machte. Da waren auch romantische und liberale Strömungen im mittleren Europa, humanistische Anwandlungen einer an Wissen und Ideen reichen Zeit. Die europäische Welt entdeckte, daß sie schön und gut und edel sei. Für einige historische Sekunden ersetzte das Denken in Kategorien des Humanen das immer schwächer werdende religiöse Grundgefühl. Und schon diese entfernte Verwandtschaft dieser beiden Haltungen berauschte den Juden und belebten seine Hoffnungen auf eine neue und friedliche Gestaltung seines Lebens in den Ländern, die er nicht mehr als Fremde ertragen, sondern als „Heimat“ akzeptieren wollte.

Das Vokabular, solche Umstellung entsprechend auszudrücken, lieferte Napoleon den in seinem Herrschaftsbereich befindlichen Juden. In dem großen Sanhedrin, das er 1807 aus deutschen, französischen und italienischen Juden zusammenstoppelte, ließ er sie Loyalitätserklärungen gegenüber dem „Vaterland“ exerzieren. Diese Exerzitien waren der Ausgangspunkt dessen, was man in der einschlägigen Literatur die Emanzipation der Juden nennt.

Der Begriff „Emanzipation“ ist einer kurzen Betrachtung wert. Seine Quelle ist der römisch-rechtliche Begriff der manumission, der Entlassung aus der Macht, der Verfügungsgewalt eines anderen. Ursprünglich auf die Entlassung des Hauskindes aus der patria potestas, der väterlichen Gewalt angewendet, wird er später dafür gebraucht, die Freilassung eines Sklaven zu bezeichnen. In der Mehrzahl der Fälle war diese Freilassung keine absolute und unbedingte. Das Sklavenverhältnis wurde nur in ein leichteres Abhängigkeitsverhältnis übergeführt. Der Freigelassene blieb der „Klient“ seines Herrn; er nahm den Namen seines „Patrons“ an; er war ihm obsequium und officium schuldig, respektvolle Unterwerfung und Hülfeleistung; er konnte nicht frei über seinen Nachlaß verfügen; er konnte bei Verletzung seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Patron wieder in den Zustand der Unfreiheit versetzt werden; seine Kinder blieben Bürger minderen Rechtes, und erst in der dritten Generation wurden sie Vollbürger.

Es ist sicher kein Zufall, sondern eine Folgerichtigkeit, daß die europäischen Völker, die so fundamental Erben der griechisch-römischen Mischwelt sind, ihren Rechtsbegriff aus dieser manumissio bezogen, als sie dazu übergingen, sich mit der Frage zu befassen, ob es möglich sei, den tausendjährigen Fremden, das seit undenkbaren Zeiten unter ihnen wohnende Besitzstück, dieses Objekt, über das man zu allen erdenklichen Zwecken so bequem verfügen konnte – in den politisch-bürgerlichen Rahmen „von rechtswegen“ einzufügen. Denn es handelte sich ja de facto darum, das Recht auf jemanden aus der Hand zu geben; auf eine Nutznießung zu verzichten, die im ungünstigsten Falle in einer Sonderbesteuerung aller Arten, in der Fernhaltung von konkurierender Tätigkeit oder der zwangsweisen Beschränkung auf gewisse Berufe bestand, und im günstigsten Falle in der Wegnahme des ganzen Vermögens und der radikalen Eliminierung eines „unerwünschten“ Elements. Auch auf die psychologischen Vorteile, von denen man bisher so guten Gebrauch gemacht hatte, mußte man eventuell verzichten. Das Recht, über andere Menschen „minderen Rechtes“ Gewalt auszuüben, sie als Waare und Gegenstand zu behandeln, war ja im Denken der europäischen Völker tief verwurzelt und vor Recht und Wirtschaft unbedingt anerkannt. Noch im Jahre 1790 gab es an den afrikanischen Küsten 40 europäische Faktoreien für den Fang und den Export von Sklaven, die in jenem Jahre 74000 Sklaven handelten, davon die englischen Faktoreien mehr als die Hälfte, nämlich 38000. Um das Recht, Sklaven handeln zu dürfen, hat ein Robert Walpole sogar Spanien den Krieg erklärt.

Bei dem Kampf um die Abschaffung des Sklavenhandels, der am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh. in den europäischen Ländern geführt wurde, interessieren vor allem zwei Länder, England und Frankreich. In England – vor allem unter den Quäkern und den Mitgliedern des ersten Komitees von 1787 – wurde die Motivierung aus dem religiösen Bestande entnommen, das heißt: der Sklavenhandel wurde als mit dem christlichen Geiste unvereinbar angesehen; und in Frankreich wurde das Motiv aus dem Gedanken der Humanität entnommen, die in der Atmosphäre der französischen Revolution für geraume Zeit aufblühte. In beiden Fällen aber stießen die Ideale für lange Zeit auf den Widerstand derer, die die „Wirklichkeit“, die geschäftliche Seite des Unternehmens vertraten. Und als nach vielen Zwischenstadien der Sklaven handel endlich verboten war, dauerte es noch geraume Zeit, (in Frankreich bis 1848, in Portugal bis 1878) bis die Sklaverei als solche abgeschafft wurde.

Der Begriff „Abschaffung“ oder „Beseitigung“ ist allerdings nicht allzu wörtlich zu nehmen. Eine wirkliche „Freilassung“, einen endgültigen Verzicht auf das Zugriffsrecht des Patrons enthält er nicht. In der Ausbeutung von Kolonien, in der Verfügung über „minder entwickelte Völker“ und in den entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Ansprüchen, die daraus abgeleitet werden, leben sie in sublimierter Form weiter, und in der Ideologie der faschistischen Staaten Europas haben sie in ihrer Totalität fröhliche Wiederauferstehung gefeiert.

Was ließ sich bei dieser Mentalität der europäischen Völker für den parallelen Fall der manumissio der Juden erwarten? Es mag übertrieben scheinen, hier von einer Parallele zu sprechen, aber das ist es durchaus nicht. Die Kette der Vertreibungen, der Verfolgungen, der Entrechtungen, der Massenmorde, der Diffamierungen und die vielfach etablierten und kommerziell ausgenutzten Rechte der „Patrone“ auf den „Besitz von Juden“ lassen den Unterschied als recht gering erscheinen, zumal es sich hier um das Verhalten gegenüber Menschen handelt, die durchaus nicht auf dem geistigen, zivilisatorischen und religiösen Niveau von Negern standen, sondern um Menschen, deren religiöse Formung immerhin gewaltig genug war, entscheidende Grundelemente für die Glaubensgestaltung ihrer „Herren“, der europäischen Völker herzugeben. Wenn im Falle der Sklaven religiöse Bedenken an dieser einträglichen Institution rüttelten, wenn das „christliche Gewissen“ und die „Humanität“ es nicht mehr verantworten zu können glaubten, ihr gestriges Tun fortzusetzen, dann müßte man eigentlich bei der manumissio der Juden ähnliche Motivierungen erwarten.

Aber das ist nicht der Fall. Es wird zwar hier und da ein religiöses Vokabularium benutzt, aber es wirkt schal und nicht überzeugend in einer Zeit, die sich in ihrer gedanklichen Haltung entschieden von der Religion entfernte, die mit dem Begriff der Aufklärung, der raison éclairée arbeitete, oder im besten Falle mit der „Religion der Vernunft“, also dem strikten Gegenteil von Religion. Dieser Begriff der Aufklärung will das mittelalterliche, im wesentlichen durch die Zwangsherrschaft der Kirche geformte Weltbild ersetzen durch ein Denken in Kategorien der Vernunft und des Vernünftigen. Dementsprechend sollen alle zwischenmenschlichen Beziehungen, von der Ethik bis zu den Rechten des Staatsbürgers, auf Vernunft gegründet werden, auf dem Gesetz, das die rationalen Denker in der „Natur“ entdeckt hatten. Was gestern noch Religion war, muß morgen „natürliche Religion“ werden; was gestern Recht war, muß zum „Naturrecht“ werden, und was einmal Ethik war, wird morgen ein sublimierter Egoismus, ein Zustand der erhobenen Vernunft, der das Heil der Welt herbeiführen wird.

Diese Dinge müssen hier deswegen erwähnt werden, weil es ja durchaus nicht gleichgültig ist, aus welchem Grunde man daran ging, die Lebensbedingungen und den Rechtszustand eines ganzen, wenn auch zerstreuten Volkes zu ändern. Je tiefer und solider das Motiv ist, aus dem heraus der „Patron“ den Unfreien in die Freiheit schickt, desto echter und wirksamer wird sein Wille sein, etwas wieder gut zu machen, was vor seinem Gewissen oder seiner Überzeugung nicht mehr bestehen kann; oder – wenn ihm der Gedanke an „Wiedergutmachung“ peinlich ist, weil er sich dann etwas vorwerfen müßte, was er gestern noch für durchaus natürlich hielt – oder aber einen Zustand herzustellen, der für alle Zukunft seinem Gewissen oder seiner Überzeugung entspricht. Auf den konkreten Fall angewendet heißt die Frage: haben die Völker Europas die Emanzipation des Juden vorgenommen, weil sie religiöse Begriffe wie „Gerechtigkeit“ und „Nächstenliebe“ oder die „Gleichheit aller Menschen vor Gott“ in die Wirklichkeit ihres Lebens überführen wollten? Oder haben sie es getan, weil sie im Verlaufe ihrer eigenen staatlichen und gesellschaftlichen Probleme sich allmählich zu Grundbegriffen bekannten, deren Anwendung auf Andere die Vernunft oder die Toleranz oder die Zweckmäßigkeit forderten?

Es ist kein Zweifel daran, daß die europäischen Staaten, einschließlich Amerikas, den letzteren Weg gegangen sind. Ihre manumissio war eine Konzession an ihr zeitlich gebundenes Denken, und nicht die Anerkennung irgend welcher Grundwahrheiten des Glaubens, der Ethik, der Menschlichkeit und der Humanität. Es ist also auch einleuchtend, daß der Versuch einer Emanzipation der Juden, wenn auch natürlich tastend und zögernd, und mit mancherlei Rückschlägen in einem Lande zuerst gemacht wurde, in dem solche Grundbegriffe der gesellschaftlichen Gestaltung am frühesten gedacht und rechtlich verankert wurden: in England. Da ist zweifellos eine gerade Linie von der Magna Charta und der Habeas-Corpus-Akte und der Bill of Rights bis zur allmählichen bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden nachweisbar, (Endgültig vollzogen wurde sie allerdings erst 1858, sie ist also heute erst 85 Jahre alt!). In anderen Staaten ist die Linie weniger klar, aber auch da ist sie in der allgemeinen Entwicklung um die Wende vom 18. zum 19. Jh. zu finden: in der Bedeutung, die man dem „Individuum“ als solchem zubilligte; in der Konzeption der sogenannten allgemeinen „Menschenrechte“, und nicht zuletzt in den internen soziologischen Verschiebungen, die sich infolge der wirtschaftlichen Entwicklung in der Struktur der einzelnen Völker ergaben. Wir haben es also in jedem Falle zu tun mit einem Ideengut aus staatlichen, soziologischen, rechtlichen und „humanistischen“ Kategorien.

Nun stellt sich eine einfache Frage ein: ist solch eine Einstellung prinzipiell dazu geeignet, das Problem zu lösen, das hier auf der Tagesordnung stand? Denn daran kann ja wohl kein Zweifel sein, daß es sich hier darum handelte, ein wirkliches, seit endloser Zeit bestehendes Problem zu lösen. Nur hatte dieses Problem leider zwei vollkommen verschiedene Seiten. Es war für den Juden durchaus nicht dasselbe, was es für seine jeweilige Umgebung war. Jeder versprach sich etwas anderes davon, und jeder ging mit seinen prinzipiellen, bis heute noch aktiv nachwirkenden Irrtümern an die Lösung heran.

Wie sah das Problem für den Juden aus? Es ist schon im Anfang dieses Kapitels kurz dargestellt worden, wie die Überdehnung der Zeit, die Enttäuschungen der messianischen Hoffnungen, die Verflüchtigung des realen Gehalts im Gedanken der Rückkehr den provisorischen Charakter der „Verbannung“ untergruben. Der Erlösungsgedanke verschwand aus dem Alltag. Die Gegenwart, deren geschichtliche Bedeutung er prinzipiell geleugnet hatte, wurde immer drängender und aktueller. Man konnte ihr nicht mehr mit dem Trost begegnen, sie werde ja einmal aufgehoben werden. Denn ihm war etwas geschehen, was keinem Volke ungestraft geschieht: er hatte den Glauben an den Sinn seines Aufenthalts in der Fremde verloren. Er glaubte nicht mehr daran, daß er in der Fremde sei, bis Gott ihn geläutert genug fand, um ihn heimzuholen. Also mußte er einen neuen Glauben und einen neuen Sinn finden, denn ohne einen Glauben und einen Sinn kann ein Volk nicht leben. Und so begann er mit der Idee zu spielen, daß sein Aufenthalt in der Welt, seine Zerstreuung über die Länder einen Sinn in sich selber habe; daß er in der Welt so etwas wie eine Mission zu erfüllen habe; daß er berufen sei, durch seine Anwesenheit die Idee des reinen Monotheismus und der Ethik als Grundgesetz des Alltags zu bezeugen.

Das war im doppelten Sinne ein historischer Irrtum. Der eine Irrtum lag im folgenden: nirgends im Judentum gibt es die Idee, daß wir eine Mission in der Welt zu erfüllen hätten. In den klassischen Zeiten unserer Gestaltung, als unsere Propheten wirkten, jene Männer, für die es keine Parallele im Geistesleben der Völker gibt – damals durften sie von der Höhe und Reinheit ihrer sittlichen Forderungen den enthusiastischen Glauben hegen, daß ihre Ideen eine Mission an der Welt zu erfüllen hätten. Sie glaubten mit tiefem Optimismus, daß einmal die Welt in ihrer Ganzheit sich zu den Grundprinzipien bekennen würden, die im Untergrunde des Judentums lagen. Sie glaubten im engen Rahmen ihres winzigen Landes, für die ganze Welt. Wohl gemerkt: sie erwarteten keine Bekehrung der Welt zum Judentum, sondern ein geistiges Wachstum der Völker, das sie instand setzte, ihre Welt nach denjenigen Grundsätzen zu gestalten, nach denen die Propheten die Gestaltung ihrer eigenen nationalen Gemeinschaft erstrebten. Aber dabei war Voraussetzung, daß die Nation ihr Leben im eigenen Umkreis und im eigenen, durch das Erlebnis „heilig“ gewordenen Lande weiter führte. Verbannung war nicht Mission, sondern Strafe. Zerstreuung war keine Aufgabe, sondern ein außerhalb des eigenen geschichtlichen Willens liegender Zwangszustand.

Der zweite Irrtum lag im folgenden: eine Mission kann nur an Menschen oder Gemeinschaften erfüllt werden, die bereit sind, sie anzunehmen oder sich überhaupt damit zu befassen. Jeder Versuch, als „Missionar“ zu wirken, ist vollends überflüssig und sinnwidrig in dem Augenblick, in dem der Andere sich selber zu einer eigenen Mission bekennt. Wenn man sich nicht dazu entschließen kann, oder nicht die Macht dazu hat, für seinen Missionsanspruch den „Heilbringenden Zwang“ anzuwenden, (wie es die Katholische Kirche getan hat), dann muß man auf jede Propaganda verzichten und sich darauf beschränken, in den eigenen vier Wänden so vorbildlich nach seinen eigenen geistigen und religiösen Prinzipien zu leben, daß dieses Leben jederzeit den Anderen zum Vorbild dienen kann, wenn sie einmal den Drang verspüren sollten, sich nach einem Vorbild umzuschauen. Und die europäische Welt hat noch in jedem ihrer Stadien ihren eigenen Missionsanspruch und die Vorbildlichkeit ihrer eigenen religiösen und gesellschaftlichen Lehren aufrecht erhalten. Für den Juden als Missionar hatte sie garkeine Verwendung.

Die geistigen Führer im Judentum hatten vollkommen recht, als sie mit der beginnenden Ausbreitung des Christentums jede jüdische Propaganda nach Kräften unterbanden. Es hatte garkeinen Sinn, mit einer neuen Religion in Wettbewerb zu treten die nicht nur selber einen Missionsanspruch erhob, sondern sich noch dazu als Ablösung und Auflösung der Religion des Judentums ausgab. Solche geistigen Ansprüche können nie durch Wettbewerb und Propaganda und Disputation bewiesen werden. Sie können immer nur bewiesen werden durch das reale Leben, das die Bekenner führen und gestalten. Und zur Führung und Gestaltung eines solchen Lebens gehört, daß die Bekenner einen eigenen und autonomen Lebensraum haben, in dem sie etwas führen und gestalten können. Ist der Lebensraum kein eigener, sondern ein geborgter und gewährter und immer wieder bestrittener, so gibt es keine freie und produktive Gestaltung. Solange der Jude noch in in der „Verbannung“ lebte und den Raum dieser Verbannung als provisorisch empfinden konnte, hatte er noch Aussicht auf eigene geistige und religiöse Gestaltung. Sobald er in die „Zerstreuung“ überging, und die Tatsache „Fremde“ als seine geschichtliche Gegenwart und Zukunft akzeptierte, verzichtete er auf eines der Grundelemente seiner vorbildlichen Gestaltung. Er hatte also auch von hier aus keinerlei Mission in der Welt oder an der Welt zu erfüllen.

Aber es kommt hinzu, daß solche Gedanken durchaus nicht die Gesamtheit des jüdischen Volkes beherrschten. Diese Gedanken wurden nur von einer gewissen Mittelschicht getragen, von einer Schicht mitteleuropäischer Juden, deren Beziehung zu ihrer Religion noch eine lebendige und aktuelle war, und die in einer Welt, die einen ganz veränderten Inhalt trug, eine Orientierung finden wollten. Denn der Inhalt dieser Welt – der Austausch eines religiösen Weltbildes gegen ein rationales – hatte sich nicht nur in der Umgebung geändert, sondern auch im Judentum selbst. Es ist ja nicht nur eine theoretische Feststellung, wenn wir sagen, daß der Jude den Glauben an den Sinn seines Aufenthalts in der Fremde verloren habe. Wenn solcher Sinn verloren geht, dann geht auch der Sinn der Lebensformen verloren, mit denen man sich in der Fremde gegen die Fremde gewehrt und für die Heimat bereit gehalten hat. Das Judentum lebte im Raum der gottgewollten Verbannung dadurch, daß es sich Gottes Willen gehorsam fügte; daß es jedes seiner Gebote und Gesetze wahrte, so wie ihm der Rabbinismus diese Gesetze präsentierte; daß es im Gehorchen und Tun sein unbedingtes Bekenntnis ablegte. Wenn aber der Sinn des Lebens in der Verbannung entfiel, schwand auch die Notwendigkeit, sich im Gehorchen und Tun seine Existenzberechtigung vor Gott und vor dem Glauben zu beweisen. Wer an Fremde und Rückkehr glaubte, mochte noch bereit sein, das Ende der Zeit durch vertiefte Frömmigkeit zu bedrängen. Wer an die Zerstreuung und an das Recht zum Aufenthalt in der Fremde glaubte, hatte nichts mehr zu bedrängen. In dem Maße, wie sein religiöses Bewußtsein unaktueller wurde, in dem Maße wurde die Tradition sowohl des Geschichtlichen wie des Kultischen zu einer Formalität, an die man sich aus den verschiedensten Gründen – Sympathie, Gewohnheit, abergläubische Furcht – klammerte. Und das war etwas, das weiten Kreisen des europäischen Judentums geschah. Ihre religiöse Bindung wurde so schwach, wie der Glaube an die „Verbannung“ schwach wurde.

Allerdings gab es im Osten Europas dicht gedrängte jüdische Massen, in denen die Atmosphäre eine andere Klangfarbe hatte. Sie hatten, schon weil sie in Massen wohnten, so etwas wie ein eigenes Volksleben, mit ihrer eigenen internen Verwaltung, ihren eigenen regionalen Sitten und Gebräuchen, ihrer eigenen Atmosphäre von Wohngasse und Lehrhaus, und endlich mit ihrer eigenen Sprache, jener seltsamen dialektischen Neuformung, die an die tausend Jahre alt ist, der jiddischen Sprache, die einmal aus der Berührung mit der Sprache jenes Landes entstand, dessen Brutalität dem Juden gegenüber im besten Falle zeitweise geschlummert hat, aber nie ausgetilgt war. (Vor diesem Kriege sprachen mehr als 12 Millionen Menschen diese Sprache, dachten darin und dichteten darin). Diese Massen hatten sich den Glauben an die „Verbannung“ viel länger und viel intensiver erhalten als jene mehr oder minder zerstreuten Gruppen in Mittel- und West-Europa. Sie hatten folglich auch das nationale Bewußtsein viel stärker bewahrt. Aber auch sie waren dem Schicksal nicht entgangen, daß mit der Überdehnung des Aufenthalts in der Fremde auch der messianische Gedanke seine reale Kraft verlor. Auch für sie, die das Produkt einer jahrhundertelangen talmudischen Zucht waren, war der Erlösungsgedanke, war die Bereitschaft zum Ausbruch aus der Fremde und zur Rückkehr in die Heimat aus dem Gebiet des Möglichen in das Gebiet des Wunders entrückt. Daß sie der Religion näher geblieben waren als der Westen Europas, hat nur dazu geführt, daß ihre Welt gespalten wurde. In ihrer religiösen Betätigung hegten sie den Glauben an Messias und Rückkehr. In ihrer weltlichen Betätigung verschrieben sie sich der Welt und ihren Möglichkeiten. Wenn sie ihr Wohnland verließen, gingen sie – auch als es schon einen Zionismus gab – in ihrer überwiegenden Mehrheit nach Amerika, nicht nach Palästina.

Schon diese kurze Skizzierung stellt klar, daß zur Zeit der Emanzipation von einer einheitlichen Gestaltung des Judentums garnicht mehr gesprochen werden konnte. Es gibt schon damals klar unterschiedene Gruppierungen, die von Land zu Land verschieden sind, die je nach ihren Wohnorten verschiedene Nähe (oder, wenn man so will: Ferne) zum Judentum haben. Der Grund dafür liegt aber nur zum Teil im Judentum selbst. Zu einem gewichtigen Teil liegt er in der geistigen und kulturellen Atmosphäre der Umwelt. Je enger und intensiver diese Umwelt klerikal gebunden war, und die alte Erbschaft der langen kirchlichen Erziehung noch mit sich trug, desto geringer waren sowohl die Möglichkeit wie die Bereitschaft der Juden, sich für dieses Leben der Umwelt zu interessieren oder gar den Versuch zu machen, daran teilzunehmen. Hier wirkte die alte historische Tatsache mit, daß das Christentum – im Gegensatz zum Islam – solange es die Länder und die Menschen beherrschte, für das Judentum nie eine produktive nachbarliche Möglichkeit bedeutet hat. In jenen Gebieten hingegen, in denen das kirchlich gebundene mittelalterliche Weltbild sich allmählich auflöste zugunsten von Aufklärung und Humanitätsgedanken, stellte sich sofort die Bereitschaft des Juden ein, sich nicht nur für dieses Leben zu interessieren, sondern auch daran teilzunehmen. Wenn der Jude das Wort „Menschenrechte“ hörte, glaubte er das Echo uralter prophetischer Stimmen zu vernehmen. Wenn er von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ sprechen hörte, glaubte er allen Ernstes, daß es sich hier um das Bekenntnis aller Menschen zu messianischen Ideen handle, zu Ideen der glückhaften Gestaltung aller Völker; und das erschütterte ihn bis auf den Grund seiner Seele.

Warum erschütterte es ihn? Er selbst vertrat ja diese Idee schon 3000 Jahre lang. Sie war also nicht überraschend neu für ihn. Wühlte es ihn etwa so auf, daß er die Welt jetzt den Weg der Liebe zur Kreatur, den Weg der Anerkennung von „menschlichen“ Rechten betreten sah? Aber er mußte ja sehr bald erkennen, daß er selber mit diesem Weg nicht ohne weiteres gemeint war, daß es sich um gewisse prinzipielle Formulierungen handelte, die nicht ausschlossen, daß man gewisse Menschengruppen draußen ließ. Und ihn ließ man zunächst draußen, sogar im Geburtslande der großen Freiheitsparolen. Er stellte fest, daß man ihn draußen ließ. Und das ist das Entscheidende!

Diese Feststellung enthüllt den großen Wandel, der sich im Weltbild des Juden vollzogen hatte. Und dieses ist der Wandel: solange der Jude seinen Aufenthalt in der Welt noch als Teil seines religiösen Schicksals empfand, solange dieser Aufenthalt für ihn noch Verbannung und Hoffnung auf Rückkehr war, solange war das Verhalten der Welt ihm gegenüber ein Teil des Leidens, das ihm zugedacht war. Wie oft, wie erschütternd oft hatte er zum Leid gesprochen: „Um unserer Sünden willen ...!“ Wie oft hatte er sich dem immer neuen Leid gegenüber in die Frömmigkeit und die Bereitschaft zur Buße zurückgezogen! Wie erstaunlich selten hatte er den Mördern geflucht! Er hat immer nur Gott seine Rache anheim gegeben. Nur da, wo der stinkende und betrunkene Mob von ihm Bekehrung verlangte, von ihm Ehrerbietung forderte gegenüber Symbolen die man ihm mit blutbefleckten Händen vor Augen hielt – nur da hat er Worte der Verachtung, des Spottes und des Hohnes gefunden.

Aber die Zeit, in der das religiöse Weltbild des Juden seine entscheidende Schwächung erfährt, fällt beinahe genau zeitlich zusammen mit der Periode, in der auch die europäische Welt ihren Denkinhalt änderte. Wäre nur dieses Letztere geschehen, so hätte man sich als Reaktion des Juden vorstellen können, daß er erlöst aufgeatmet hätte, daß er von dieser Wandlung im Denken der Umwelt eine größere Sicherheit für sein äußeres Leben erwartet hätte, und vielleicht: daß er darin ein Zeichen gesehen hätte, daß seine Erlösung nahe war. Aber wie gesagt: auch sein Weltbild hatte sich gewandelt. Seine Zeitkategorien hatten sich geändert. Er lebte nicht mehr in einem Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Er hatte eine Gegenwart bekommen, die nicht mehr provisorisch, sondern unübersehbar lang war. Irgendwie mußte sie gestaltet werden. Irgend einen Inhalt mußte sie tragen, um überhaupt tragbar zu sein. Wenn man ihm, dem Juden, für diese Gegenwart keinen Inhalt gab oder den Inhalt verkürzte, verkürzte man ihm auch die Zukunft. Gegenwart und Umwelt waren jetzt eines geworden. Er lebte nicht mehr in der Verbannung, in der alles, was ihm geschah, eine Gerechtigkeit seines Gottes war. Er lebte in einer Zerstreuung, und was ihm da geschah, war eine Ungerechtigkeit seiner Umwelt. Gegenüber dem gerechten Tun Gottes gab es nur Gehorsam. Gegenüber dem ungerechten Tun der Welt gab es einen Anspruch auf Beseitigung des Unrechts. In den Kämpfen um die Emanzipation schließt sich der Kreis einer Entwicklung. Das jüdische Volk verlangt „Menschenrechte“. Und die Welt gibt ihm zögernd und unentschieden „Bürgerrechte“.

Sie konnte nicht anders. Wir werden jetzt darüber sprechen müssen, warum sie nicht anders konnte. –


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