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III.
Wir begegnen einander.

Aus dem, was bisher gesagt worden ist, kann schon jetzt ein allgemeiner Schluß gezogen werden: daß nämlich die Begegnung zwischen dem Juden und dem Nichtjuden unter einer gewissen Belastung erfolgt; mit Voraussetzungen, die beide Teile von vornherein in die Begegnung einbringen. Vom Juden aus gesehen ist es die Zweigleisigkeit, mit der er notwendig aufwächst. Und vom Nichtjuden aus gesehen sind es gewisse Vorstellungen, die in ihm aus seiner Erziehung und seinem Milieu fixiert sind. Die Voraussetzung, die der Jude mit sich bringt, ist bis jetzt nur an dem individuellen Fall des Verfassers bewiesen worden. Ich will im Nachstehenden versuchen, sie auf eine allgemeine, eine historische Linie zu bringen. Die zweite Voraussetzung – die des Nichtjuden mit seinem von vornherein feststehenden Urteil, ist einstweilen nicht mehr als eine Behauptung, die von jedem Leser bestritten werden kann. Wir werden also auch hier die Historie zur Hülfe rufen müssen.

Wenn man Urteile von Nichtjuden über Juden einmal nicht nach ihrem Inhalt prüft, sondern nach ihrer formalen Fassung, so fallen zwei Dinge auf: einmal, daß die Urteile generell gelten sollen, für die Juden als Gesamtheit und nicht etwa als Einzelne; und zweitens, daß sie auch zeitlich generalisiert werden, das heißt: daß sie dem jüdischen Volke als eine von allem Anfang an historisch begründete Eigenschaft zugeschrieben werden. Man müßte also, wenn man sich die Mühe des logischen Denkens macht, zu dem Schluß kommen, daß wir schon immer ein sonderbares Volk waren und daß folglich die Begegnung zwischen uns und den Anderen immer mit besonderen Voraussetzungen belastet gewesen wäre.

Der erste Schluß ist richtig. Der zweite ist falsch. Gehen wir einmal um 3000. Jahre zurück, als wir noch in Kanaan saßen und immerhin schon ein Kulturvolk mit einer sehr bedeutenden religiösen Konzeption waren, was man zu jener Zeit für manche europäischen Völker wohl noch nicht sagen konnte. Aber damals waren wir numerisch ein überaus kleines Volk. Wir lebten, kaum der Wüste entronnen, auf einem schmalen Streifen Land, auf einer Brücke, an deren Zugängen die großen Nationen der damaligen Welt saßen, Ägypten im Süden und die babylonisch-assyrische Welt im Norden. Wir waren Hirtenstämme von gestern, die auf der Scholle eines verheißenen und eroberten Landes kaum zur Ruhe gekommen waren. Wir sind im Verhältnis zu der großen Umwelt politisch immer sehr schwach gewesen und haben immer zwischen den Großmächten lavieren müssen. Wir haben nie ein ernsthaftes politisches Problem für sie dargestellt, obgleich wir sowohl den Griechen wie den Römern militärisch erheblich zu schaffen gemacht haben. Kulturell waren wir sehr abgeschlossen. Wir haben unsere eigene religiöse Welt gehabt und hatten nicht das geringste kulturelle Expansionsbedürfnis. Wir hatten auch kein Bedürfnis nach Bekehrung und Mission. Daß es später unter den Heiden, insbesondere unter den Griechen Kleinasiens, eine nicht unbeachtliche Schicht von sogenannten Judaisierenden gab, die sich in ihren religiösen Vorstellungen sehr eng an das Judentum angeschlossen hatten, lag nicht so sehr an einer bewußten religiösen Propaganda, als vielmehr an der natürlichen Werbungskraft, die von dieser Religion ausging. Aber im übrigen lebten wir so, wie der Heide Bileam uns sah: „Es ist ja ein Volk, das für sich wohnt, und es wird nicht zu den anderen Völkern gerechnet ...“

Wie mag unter diesen Umständen die Reaktion unserer Umgebung auf uns gewesen sein? Sie war absolut normal. Sie verlief mit denjenigen Spannungen und Beziehungen, wie sie sich aus dem Zusammenleben normaler Völker zu ergeben pflegen. Zuweilen schlossen wir Verträge mit ihnen, zuweilen lagen wir mit ihnen im Kampf. Zuweilen waren wir politisch unterworfen, zuweilen selbständig. Und auch unsere kulturelle Beziehung war grundsätzlich normal. An unsere kanaanitische Umgebung haben wir uns teilweise assimiliert, teils haben wir ihre primitiven Kulturelemente sublimiert, und im Ganzen haben wir sie aufgesogen. Mit den übrigen west-semitischen Völkern des Nordens hatten wir den allgemeinen kulturellen Umkreis gemeinsam, wenn wir uns auch innerhalb dieses Umkreises ungeheuer differenziert hatten. Im Süden, in Ägypten, existierte eine religiöse Kultur, die zwar farbenprächtig, aber viel zu primitiv und gedankenarm war, als daß sie ein Stoff für Auseinandersetzung gewesen wäre. Und was endlich unsere philistäischen Nachbarn anlangt, waren sie kulturell zu unwichtig, um in mehr als in ihrer militärischen Bedeutung zur Kenntnis genommen zu werden.

Aber diese normale Beziehung, die ein volles Jahrtausend angehalten hatte, änderte sich eines Tages. Es trat ein neuer Kulturträger in die Erscheinung: der Grieche. Es handelt sich dabei nicht um den sogenannten klassischen Griechen, den der europäische Mensch sich etwa 2000 Jahre später erdichtet hat, sondern um jenes Auswanderungsprodukt, das man Hellenismus nennt. Es ist hier nicht der Ort, diese Kultur im Einzelnen darzustellen. Hier interessiert sie nur, soweit sie anderen Kulturen begegnet, d. h. soweit die Begegnung selber infrage kommt.

Man kann über die Griechen, wenn man will, sehr viele schöne Dinge aussagen: über ihren Individualismus, über ihre Kunst und Ästhetik, über ihre Philosophie und Wissenschaft. Aber über eines kann man beim besten Willen nichts Positives aussagen: über ihre Eignung, eine menschliche Gemeinschaft zu bilden. Und darauf muß etwas ausführlicher eingegangen werden, denn hier wird etwas berührt, was nicht nur den alten Griechen, sondern auch den Menschen der heutigen europäisch-amerikanischen Kulturwelt sehr nahe angeht, denn er tritt insofern als der direkte Erbe dieser griechischen Welt auf. (Wenn hier und im weiteren Verlauf der Darstellung die Begriffe „Europa“ und „europäisch“ verwandt werden, so sollen sie nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt sein, sondern umfassen selbstverständlich Amerika als einen Bestandteil der europäischen Kulturwelt).

Die Griechen – wenn wir einmal diesen ungenauen Sammelbegriff gebrauchen wollen – sind in verschiedenen Einschüssen als Eroberer nach Hellas gekommen. Sie haben vom Lande nicht in dem Sinne Besitz ergriffen, wie die Juden von Kanaan Besitz ergriffen haben: indem sie sich auf die Scholle begaben, indem sie sie bearbeiteten und sie sich durch ihrer Hände Mühe aneigneten, indem sie den produktiven Übergang vom Nomadentum zum Bauerntum vollzogen. Sie sind immer Eroberer geblieben, eine Herrschergruppe, die darauf bedacht war, daß die unterworfene Bevölkerung sie durch Arbeit ernähre. Sie betrachteten sich als das, was man Aristokraten nennt. Als solche war es ihre natürliche Tendenz, die Herrschaft über andere, die ihnen die Existenz ermöglichten, aufrecht zu erhalten, und selber in ihrer Herrschaft nicht von oben beeinträchtigt zu werden. Darum taten sie ein doppeltes. Nach oben hin schwächten sie das Königtum, um es endlich ganz zu beseitigen, (bis auf Sparta), und nach unten hin nutzten sie rücksichtslos die wirtschaftlichen Verschiebungen aus, die sie durch den Übergang zu Seeräuberei und Handel und den starken Import von Sklaven selber erzeugt hatten. Sie herrschten im steigenden Maße über Sklaven und Besitzlose. Und „besitzlos“ hieß in ihrer Sprache zugleich: in den politischen Rechten gemindert. Die Griechen haben späterhin, als sie ihre anfängliche Kulturlosigkeit überwunden hatten, sehr schöne und geistvolle Dinge über Staat und Politik und Herrschafts-Systeme gedacht. Aber realisiert haben sie nichts davon. Politisch sind sie über konkurierende Klein-Staaten nie hinaus gekommen. Eine Nation als Einheit haben sie nie gebildet. Gesellschaftlich haben sie in ihrer Ohnmacht jedes Experiment gemacht, das man nur machen kann, von der Tyrannis bis zum politischen Unfug des Ostrakismus. Unter sich waren sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verfeindet. Einig waren sie nur einmal, zur Zeit der Perserkriege, als das Wasser ihnen bis zum Halse stand. Und noch einmal hat sie ein Nicht-Grieche, Alexander der Makedonier, für kurze Zeit zu einer Einheit gezwungen, man könnte beinahe sagen: zur Einheit geprügelt.

Ihre gesellschaftlichen Talente waren also außerordentlich gering. Aber was bedeutet das, wenn ein Volk nicht imstande ist, eine geordnete und gerechte Gesellschaft aufzubauen? Was ist in dem Sinne, der hier gemeint ist, Gesellschaft überhaupt? Gesellschaft ist der Ordnungsrahmen, in dem Menschen verschiedenen Willens, Begehrens, verschiedener Ansprüche und Gelüste, verschiedener Begabung und Macht und Interessen mit einander leben wollen. Wie werden solche Ordnung und solches Mit-Einander hergestellt? Sie werden hergestellt durch die Anwendung gesellschaftlicher Ideen. Und was ist das Wesen solcher Ideen? Ihr Wesen ist nicht die Zweckmäßigkeit und nicht die Vernunft. Solche Motive versagen völlig gegenüber dem primitiven Instinkt, der herrschen und besitzen will und der durchaus keine Bereitschaft zeigt, einen Konflikt der Interessen zu vermeiden, wenn er auch nur einige Aussichten hat, in diesem Konflikt der Stärkere zu sein. Aber gerade darauf kommt es bei der Bildung einer Gesellschaft an: auf die Ausschaltung von Konflikten, auf den Ausgleich der natürlichen, widerstreitenden Interessen, auf die freiwillige Unterordnung unter ein Gesetz, eine Norm, eine Regel, die Pflichten auferlegt, die Verzicht verlangt, die den natürlichen Egoismus des Einzelnen negiert. Und das Wesen solcher Ideen ist religiös, und – von seiner praktischen Seite her gesehen – ethisch.

Die Schlußfolgerung ist zwingend: eine Gesellschaft ist so schwach oder so stark wie die religiösen Elemente sind, die sie bei ihrem Aufbau verwendet hat. Allerdings sind schwach und stark hier Begriffe, bei deren Verwendung sich schon ein Unterschied von Welten ergibt. Hier sind stark und schwach nicht im Sinne des Heidentums gemeint, d. h. im Sinne der Möglichkeit, Macht auszuüben; sondern sie sind im ethischen Sinne gebraucht und bezeichnen also die Möglichkeit, eine gerechte Gemeinschaft aufzubauen, d. h. auf Machtausübung zu verzichten. Das typische Beispiel der heidnischen Struktur ist heute Deutschland. Seine religiöse Grundlage ist gleich null; seine Gesellschafts-Form ist also stark im Sinne der Macht und nicht vorhanden im Sinne der Ethik.

Die Unfähigkeit, eine Gesellschaft aufzubauen, beruht also auf der Abwesenheit oder der Unzulänglichkeit derjenigen religiösen Elemente, die fundamental für jeden Gesellschaftsbau sind. Diese religiösen Elemente sind beim Griechen äußerst primitiv. Ihre religiösen Vorstellungen sind im Prinzip nichts als eine geringwertige Projektion menschlicher Eigenschaften auf eine Götterwelt, die weder in ihrer Konzeption noch in ihren Möglichkeiten irgend etwas an gestaltenden Ideen abgibt, sondern die lediglich alle Skalen menschlicher Emotionen und Leidenschaften und Schwächen in vergrößertem Format daherlebt. Von einer solchen Götterwelt kann keine gesellschaftliche Gestaltung ausgehen. Sie kann dem Einzelmenschen, dem Träger der Gesellschaft, keine Ruhe und Sicherheit geben. Sie kann ihn nur auf sich selber verweisen, auf sich selbst als isoliertes Individuum. Wenn er zu der Einsicht kommt, daß seine Götter ihm nichts geben können, muß er entweder seine Zuflucht in Mysterien suchen, oder er muß von seinen Göttern davonlaufen und sich in der Philosophie die Sicherheit suchen, die ihm die Religion nicht gibt.

Der griechische Mensch tat beides. Als er in den Orient hinauszog, war er der Träger einer großen individuellen Kultur und zugleich der Spielball religiöser Unruhe und Unsicherheit. Aber seine kulturelle Grundhaltung gegenüber der Umwelt nahm sich sehr sicher aus. Er hatte sich daran gewöhnt, die Welt aufzuteilen in Hellenen und Barbaren. Er war das Salz der Erde. Alle anderen waren gerade als Sklaven oder als Handelsobjekte gut genug. Das war die Grundhaltung, mit der er in den Orient hineinging. Aber der, der ihn hineinführte, der Nicht-Grieche Alexander, gab den Scharen, die er führte, eine Idee mit auf den Weg, der sie nicht gewachsen waren: die Idee eines hellenistischen Imperialismus. Er wollte nicht nur Länder erobern, sondern auch Kulturen besiegen. Er wollte die Kultur der hellenistischen Welt zur alleinigen Kultur des Orients machen.

Da beginnt nun ein interessanter Prozeß: der Orient ist bereit, viele zivilisatorische Werte zu akzeptieren. Aber mit seiner Religion begibt er sich in eine Haltung der passiven Resistenz. Seine Religion, auch wo sie noch nicht die letzte Sublimierung erfahren hat, ist sehr stark. Sie hat eine Tradition von langen Jahrhunderten, und in diesen Jahrhunderten hat er um religiöse Probleme gerungen. Seine Religion bindet ihn an das Leben, und sie gibt ihm eine ungeheure menschliche Überlegenheit, ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Vom Religiösen her gesehen hat er alles das, was der Grieche nicht hat. Darum hat er diejenige Kraft, die es vermag, den Hellenismus zu paralysieren und ihn eines Tages ganz zu töten, teils direkt, teils durch das Medium des neuen Glaubens, der aus den Grundelementen des Judentums entstand: durch das Christentum. Edwyn R. Bevan formuliert es wie folgt: “... in the end Greek intellectual culture and Roman imperial sagacity had to accept the supremacy of a Hebraic religion.”

Da es sich um eine so prinzipielle und folgenschwere Begegnung handelt, war es notwendig, das Spannungsverhältnis etwas ausführlicher zu motivieren. Wie nun diese Kämpfe noch in ihrem Anfang stehen, stößt der Hellenismus mit dem Judentum zusammen. Es gab im Judentum eine dünne Oberschicht, die bereit war, das Griechentum zu imitieren, jedenfalls in seinem zivilisatorischen Bestande, denn in seinem religiösen Bestand gab es nichts zu imitieren. Da gab es, vom Juden aus gesehen, nichts als ein Sich-Wegwerfen an ein Weniger und an ein Geringeres. Die Mehrzahl – das Volk in seiner breiten Masse – stand in Ablehnung. Dieses kleine, glanzlose, politisch ohnmächtige Volk wagte es, die hellenistische Kultur abzulehnen. Diese Kultur war aber nach dem Willen dessen, der sie über den Orient ausgebreitet hatte, nach dem Willen Alexanders, imperialistisch, zur Herrschaft bestimmt. Sie erhob einen Anspruch auf Totalität. Sie war durchtränkt von dem alten Dünkel des Hellenen gegen den Barbaren. Sie fühlte sich vom ganzen Orient anerkannt, weil sie den Städten ihr Gesicht aufprägen und den lokalen Verwaltungen ihre Formen und technischen Bezeichnungen geben konnte. Daß sie religiös schon unterhöhlt war, spürte sie noch nicht. Daß sie schon zu Tode verurteilt war, konnte ihr Hochmut nicht ahnen. Was sie dagegen klar erkannte, war diese entschlossene, grimmige, vom Sicherheitsgefühl des Besitzenden getragene Ablehnung vonseiten des Juden.

Sie kannte diesen Juden von früher her, aus der Distanz, aus Berichten zweier Schüler des Aristoteles. Da schienen sie noch ein recht interessantes Volk zu sein, ein Volk von „Philosophen“, die ihre Zeit damit verbringen, „sich über göttliche Dinge zu unterhalten“. Aber diese „Liebe der Jugendzeit“ hält nicht vor. In den hellenisierten Städten Kleinasiens und Syriens kommt der Hellene mit dem Juden in alltäglichen Kontakt, und in diesem Kontakt lehnt der Jude eben das „alltägliche“ ab, d. h. er lehnt den gesellschaftlichen und damit den kulturellen Kontakt mit dem Griechen ab.

Hier stößt also der Totalitätsanspruch auf seine Verneinung. Das ist das äußerlich Sichtbare. Das innerlich Spürbare ist noch weit schlimmer: daß ihm hier eine Gemeinschaft entgegentritt, die über jene religiöse Sicherheit und damit über jene gesellschaftsbildende Kraft verfügt, die dem Hellenen abgeht. Daß der Totalitätsanspruch hier sowohl in seiner Erscheinung wie in seiner Motivierung verneint wird, untergräbt sein Gefühl der Sicherheit, des Selbstgefühls, der Selbstachtung. Und so wird er gehässig, feindselig, bösartig. Er ist gezwungen, seinen Hochmutskomplex zu übersteigern, um seinen Minderwertigkeitskomplex nieder zu halten. Er geht dazu über, seine abgelehnte Kultur den Anderen mit Gewalt aufzwingen zu wollen. Er verbietet dem Juden die Ausübung seiner Religion und befiehlt ihm bei Leibesstrafe die Annahme seiner eigenen. Er treibt den Juden in die Revolte hinein, in einen bewaffneten Aufstand, in eine Reihe von Kriegen, und er wird in diesen Kriegen – den bekannten Makkabäer-Kriegen – wieder und wieder vernichtend geschlagen, bis er seinen Kulturanspruch aufgeben muß.

In diesen kulturellen und militärischen Kämpfen nun, die eine wirkliche Begegnung zwischen zwei Völkern darstellen, wird zum ersten male in der Geschichte eine Waffe geboren, die unsterblich zu sein scheint, und deren sich, soweit meine geschichtlichen Kenntnisse reichen, nur die Völker der europäischen Zivilisation bedient haben: die Waffe der Verleumdung.

Der erste, der sie benutzt, ist ein kleiner, belangloser Epigone des Alexander: der Seleuzide Antiochus Epiphanes. Der Inhalt seiner Verleumdung ist an sich kindisch und stupide: er behauptet, im Tempel zu Jerusalem gesehen zu haben, daß man dort jährlich einen Griechen mäste und ihn dann dem Gott der Juden, (der nota bene nach seinen eigenen, zuverlässigen Beobachtungen in einem Bildnis mit Eselskopf dargestellt wird) zum Opfer darbrächte. Das Seltsame an dieser Beschuldigung ist nicht, daß sie auf dem geistigen Niveau von Buschnegern steht, sondern daß sie offenbar Elemente enthält, die sie dazu geeignet machen, auch von anderen Kulturvölkern übernommen und gehegt zu werden. Mit geringen Änderungen des Wortlauts und kleinen technischen Verschiebungen hat sie immerhin das stattliche Alter von 2000 Jahren erreicht. Die Römer haben sie später übernommen und sie als Motiv zur Verfolgung gegen die ersten Christen verwandt, wobei das Gottes-Opfer dann natürlich ein Römer war. Als die Christen zur Macht kamen, haben sie ihrerseits die Anschuldigung übernommen und sie gegen die Juden gewendet und ihr später die stehende Form des Ritualmordes gegeben. Offenbar hat ihnen diese Einrichtung so gut gefallen, daß sie sie – trotz gelegentlicher Abmahnung durch Päpste – bis zum 20. Jahrhundert gehegt und gepflegt haben. Und wer vermag zu sagen, ob sie endgültig gestorben ist?

Unterbrechen wir die historische Betrachtung einen Augenblick, um eine aktuelle Bemerkung einzuschalten. Hier liegt einer der Fälle vor, in denen sich der Jude für die Dauer von 2000 Jahren – für längere Zeit also, als manches europäische Volk überhaupt als Kulturvolk angesprochen werden kann, – dauernd in Abwehrstellung gegen eine klare und eindeutige Verleumdung zu begeben hat, und nicht nur das: sondern Tausende seines Volkes als Blutopfer hergegeben hat. Als unsere Generation jung war, war sie noch Zeuge solcher Ritualmord-Prozesse, in Polna 1899, Konitz 1900, und der berühmte Beilis-Prozeß in Kiew, der sich von 1911 bis 1913 hinzog. Das waren Vorgänge, in denen dunkle Instinkte und dunkler Aberglaube sich hemmungslos auslebten. Wenn es so etwas wie das Gedächtnis eines Volkes gibt – und es gibt so etwas – dann ist anzunehmen, daß mindestens unser Unterbewußtsein nicht ganz frei von Erinnerung an diese Vorgänge ist, und daß unsere unbewußte Beziehung zu den Völkern der Umwelt nicht ganz frei ist von der Erkenntnis, über welche Möglichkeiten diese Umwelt uns gegenüber verfügt. Wir werden später auf diesen Begriff der „Möglichkeiten“ noch zurückkommen.

Worauf beruht nun eigentlich die Lebensdauer solcher Verleumdungen? Haben die Verleumder materielle Vorteile davon? Zuweilen haben sie sie gehabt. Geistliche und weltliche Behörden haben sehr oft an der Beschlagnahme der Vermögen der „Schuldigen“ sehr gut verdient. Aber das war nicht immer der Anlaß, denn oft waren die Opfer zu arm, um eine materielle Bereicherung zu gewähren. Aber das, was diese Verleumdungen in allen Fällen gewährten, waren ideelle Vorteile, seelische Befriedigung, psychische Vorteile; eben diejenigen Dinge, die eine Verleumdung gewährt.

Denn eines muß klar gestellt werden: es geht hier nicht um Lüge, sondern um Verleumdung. Und der Unterschied liegt nicht in irgend welchen juristischen Finessen, sondern im Wesen beider. Die Lüge ist das Werkzeug des Primitiven. Der Beduine schwört mit hundert Eiden und mit einem Dutzend gekaufter Zeugen, daß ein bestimmtes Grundstück, das er vielleicht nur einmal von ferne gesehen hat, ihm gehört. Wird er der Lüge überführt, dann gibt er das Spiel mit einer versöhnlichen Gebärde verloren. Was er tut, ist der Versuch, eine Tatsache zu erfinden, die ihm realen Nutzen bringen kann. Die Verleumdung aber ist das Werkzeug des Ideenträgers, wobei es ganz gleich ist, ob die Idee erhaben oder primitiv ist. Er will keine materiellen Vorteile, obgleich er sie kaum ablehnen wird, wenn sie sich nebenher einstellen. Er will durch die Verleumdung zwischen sich und dem Verleumdeten abgrenzen. Er will sich dem Anderen gegenüber auf ein Postament stellen. Er will den Anderen um dieser Abgrenzung willen verächtlich machen oder ihm das Leben erschweren oder ihn ins Unglück stürzen. Er ist auf seelische Befriedigung aus. Zuweilen ist diese seelische Befriedigung identisch mit der Befriedigung von Ur-Instinkten.

Wir haben bei dem Beispiel der hellenistischen Welt gesehen, wo die Quelle der Verleumdung aufbrach: aus einem verwehrten und verweigerten Anspruch auf Totalität. Wenn wir also dem Argument, dessen er sich bedient, in genau der gleichen Form auch später, in anderen Kulturwelten begegnen, so dürfen wir annehmen, daß sich auch dort die gleiche Voraussetzung findet, eben der verwehrte und verweigerte Anspruch auf Totalität. Und so ist es in der Tat. Wir begegnen ihm zunächst – in der zeitlichen Folge – bei den Römern. Ihr Imperialismus war natürlich nicht kultureller Art, schon weil sie eine originale Kultur nicht besaßen. Ihr Imperialismus war politisch und erwuchs aus der Urform ihrer städtisch-adligen Organisation der Gemeinschaft. Aber es scheint jedem politischen Imperialismus der Drang innezuwohnen, sich geistig zu begründen, sich ein kulturelles Air zu geben, selbst wenn das Motiv imgrunde nichts ist als Besitz- und Machtwille. Es scheint im Untergrunde seines Wesens ein peinlicher Rest von Ehrlichkeit zu schlummern, ein unbehagliches Wissen, daß er eigentlich nichts an Ideen zu vertreten habe, die über den kollektiven Willen zu Besitz, Ausbeute und Genuß hinausgehen. Darum sind die Imperialismen – die von einst und die von heute – immer da besonders reizbar, wo man die sogenannte kulturelle Grundlage ihrer Existenz verneint.

Die Juden verneinten gegenüber Rom beide Grundlagen. Sie widersetzten sich mit erheblicher Tapferkeit und in langen und schweren Kriegen dem politischen Anspruch, sodaß Rom aus der endlichen Besiegung dieses kleinen Volkes eine Staats- und Triumph-Aktion machte. Und sie verneinten Rom in dem, worin in jenen klassischen Zeiten die Kultur von Völkern überhaupt bestand: in seinem religiösen Weltbild. Daß ein Römer ihren Tempel betrat, galt ihnen schon als eine Entweihung. Ja sogar die Anwesenheit von Standarten, die das Bild eines Menschen trugen, oder das Hineinbringen einer Münze, auf die der Kopf eines Kaisers geprägt war, galt ihnen als verhaßt und verboten. Und gar dem Wahnsinn der göttlichen Verehrung römischer Herrscher standen sie mit höhnischer Ablehnung gegenüber.

Als die ersten Juden – Kriegsgefangene und Sklaven – nach Rom kamen, wiederholte sich auf anderer Ebene das, was die Römer erlebt hatten, als griechische Sklaven sie mit den Grundbegriffen einer Kultur vertraut machten: die Juden wurden zu einem religiösen Ferment, das Unruhe, Unsicherheit, Ärger und Feindseligkeit hervorrief. Die religiöse Welt des Römers war – wenn möglich – noch primitiver als die des Griechen, weil sie ein Flickwerk aus dämonistischen und animistischen Grundvorstellungen mit einem Aufputz von importierten und oft misverstandenen fremden Göttern war. Die praktische Intelligenz, über die der Römer der herrschenden Schicht zweifellos verfügte, hinderte ihn keineswegs daran, auf die Anwesenheit und die geringe religiöse Propaganda des Juden unter den Heiden so zu antworten, wie religiöse Unruhe und Unsicherheit immer antworten: mit Wertungen, die den Anderen verächtlich machen sollen. Unter diesen Wertungen befindet sich auch die nicht uninteressante Behauptung, daß der Jude ein Götzendiener sei, der Naturkräfte anbete. Daß auch die Geschichte von der alljährlichen Opferung eines Römers im Tempel zu Jerusalem Bestandteil der religiösen Reaktion war, ist schon erwähnt worden. Wir haben es hier – ganz wie bei den Griechen, denen es ebenfalls an Intelligenz nicht mangelte – mit der Verleumdung in ihrer objektivsten Form zu tun, das heißt: als Behauptung von Tatsachen, von denen der Behauptende weiß, daß sie nicht wahr sind.

Das muß deswegen klargestellt werden, weil wir von da an – in der zeitlichen Folge gesehen – dieser Verleumdung in einer Variante begegnen. Das heißt: sie macht sich von dem, der sie erfunden hat, unabhängig, und wird unter denen, die sie annehmen sollen, zu einer Wahrheit, die geglaubt und nicht mehr bezweifelt wird. Diesem Vorgang begegnen wir von der Zeit an, wo das Christentum seinen Zug über die europäische Welt beginnt und auf diesem Zuge dem Juden begegnet.

Wir wollen hier nicht die Frage erörtern, ob das Christentum als solches, das heißt als Religion, als religiöses Weltbild, imperialistisch ist. Aber in seiner Erscheinungsform, in seiner Organisations-Form als Kirche ist es das größte imperialistische Gebilde, das je in der Kulturgeschichte der Menschheit aufgetreten ist. Schon der Begriff Katholizität enthält ja alle nötigen Elemente. Die katholische Kirche hat steigend mit ihrem organisatorischen Wachstum den Anspruch auf Totalität der Herrschaft erhoben; nicht nur den totalen Anspruch auf Leib und Seele des Einzelmenschen, sondern auch den totalen Anspruch auf die Welt. Solche totalen Ansprüche bleiben aber niemals auf Ebene des Geistigen. Sie werden nebenher immer Aktionen der Gewalt. Sie waren es früher und sie sind es bis auf unsere Tage geblieben. Die katholische Kirche hat sich neben dem geistlichen Schwert auch das weltliche geschmiedet. Der Islam hat Glaube und Eroberung weitgehend verkoppelt. Der Nazismus von heute – ein Pseudo-Messianismus, der wesentlich auf dem Versagen des christlichen Glaubens als einer die Gesellschaft ordnenden Kraft beruht – und der Kommunismus – die Pseudoreligion der sozialen Gerechtigkeit – und der japanische Imperialismus – eine echte, zum Größenwahn gesteigerte Hypertrophie eines gefälschten Shintoismus: alle haben die gleichen Grundelemente einer Idee und ihrer gewaltsamen Durchsetzung unlösbar mit einander verbunden.

Die katholische Kirche trat also mit dem Anspruch auf Alleingültigkeit auf den Plan. Die heidnischen Völker, soweit sie nicht bereit waren, den neuen Glauben anzunehmen, hatten diesem Anspruch im besten Falle eine passive Resistenz entgegen zu setzen, die im Laufe der Jahrhunderte teils durch freiwillige Angleichung, teils durch Anwendung von Gewalt gebrochen wurde. Der einzige, der einen aktiven Widerstand entgegen zu setzen hatte, war der Jude. Er lebte in keiner heidnischen Furchtwelt, von der er durch die neue Religion hätte erlöst werden können oder müssen. Darum war seine Meinung, daß er diese neue Religion nicht nötig habe. Da, wo er dem Christentum begegnete, lebte er zudem in einem religiösen Schwebezustand. Er hoffte auf die Heimkehr in sein Land, dorthin, wo er seine eigene Religion empfangen hatte und wo ihr natürlicher Boden war. Er beharrte in dieser Selbstbeschränkung, ohne sich der Umwelt gegenüber wesentlich als religiöser Propagandist zu betätigen.

Er war also nicht der aktive Konkurent der katholischen Kirche. Er war nur der passive Konkurent. Aber als solcher war er wichtig, denn er stellte den lebendigen Gegenbeweis gegen den Anspruch dieser Kirche auf Allgemeingültigkeit und absolute Herrschaft dar. Die Heiden konnten immer darauf hinweisen, daß der Jude den neuen Glauben nicht annahm. Er stellte aber auch weiter einen dogmatischen Gegenbeweis dar, daß nämlich der „Neue Bund“ den „Alten Bund“ abgelöst und ungültig gemacht habe. Die Wirklichkeit, das heißt: die Existenz von Juden überall in der Welt widersprach dem durchaus. Wieder sieht sich also ein Anspruch auf Totalität seiner Verneinung gegenüber.

Die Reaktionen sind die gleichen wie bisher: Verleumdung und Gewalt. Die Verleumdung ist aus uraltem heidnischen Material aufgebaut und hat immer die gleichen Grundelemente: den Vorgang eines Mordes und des Blutvergießens. Die Juden morden Christenkinder; die Juden durchstechen geweihte Hostien, um damit symbolisch Mord am Leibe des Erlösers zu begehen; und endlich, als quasi-historisches Argument: die Juden haben Jesus ermordet.

Im Rahmen dieser Darstellung kann auf das Mord- und Blut-Motiv nicht eingegangen werden. Hier haben wir es nur mit den Elementen zu tun, aus denen sich der Zusammenprall zwischen dem Juden und dem Totalitäts-Anspruch des Katholizismus vollzog. Denn eine echte Begegnung war es nicht, weil sie von keiner Auseinandersetzung begleitet war. Es war im besten Falle eine Begegnung mit einem einseitigen Angriff, und da das der Fall ist, sind auch nicht die Folgen einer echten Begegnung eingetreten, d. h. es ist niemals zu einer echten Auseinandersetzung zwischen dem Nichtjuden und dem Juden gekommen, sei es, daß man sich verständigt habe, sei es, daß man seine Bezirke friedlich von einander abgegrenzt hätte, oder daß man zu einem gegenseitigen Kampf auf Tod und Leben angetreten wäre, um eine Entscheidung zu erzwingen. Versuche einzelner Individuen oder kleiner Gruppen im letzten Jahrhundert, zumindest zu einer sachlichen Einstellung zu gelangen, sind belanglos geblieben und mußten belanglos bleiben. Sie mußten es deshalb, weil eben die unechte Begegnung nicht Urteile erzeugt hat, sondern Überzeugungen von der Wahrheit gewisser Tatbestände. Ein solches Ergebnis ist einleuchtend. Wenn ein Tatbestand einer Generation nach der anderen – wenn auch mit leichten Variationen – eingehämmert wird, dann wird dieser Tatbestand zu einem geistigen Requisit der Gruppe; zu einem jener geistigen Bestände, die von Geschlecht zu Geschlecht weiter vererbt werden, so wie Lebensformen, gesellschaftliche Auffassungen, Volksmärchen, Handwerksgebräuche weiter vererbt werden. Ich will hier durchaus nicht den Begriff Aberglauben verwenden, denn das wäre ein zu schwacher Begriff, der zudem von einer auch nur geringen intellektuellen Entwicklung überholt werden kann. Ich will vielmehr die Tatsache fixieren, daß gewisse Verleumdungen gegenüber dem Juden auf dem Wege der kontinuierlichen Tradition für Jahrhunderte zu Denkwahrheiten des Nichtjuden geworden sind. Ich bin durchaus nicht davon überzeugt, daß ein geistiger Fortschritt der Menschheit eingetreten sei, der diese „Denkwahrheiten“ endgültig beseitigt habe.

Die Kehrseite der Medaille ist die, daß der Jude sich eben für Jahrhunderte solchen Denkwahrheiten gegenübergestellt sah. Seine Stellung war denkbar ungünstig. Im konkreten Falle mochte es ihm vielleicht hier und da einmal gelingen, zu beweisen, daß er ein Kind zu Paßah nicht geschlachtet habe; oder – und ein solcher Beweis ist tatsächlich versucht worden – daß er persönlich für die Kreuzigung Christi nicht verantwortlich gemacht werden könne, da seine speziellen Vorfahren zu der historisch relevanten Zeit bereits zusammen mit römischen Kohorten an den Ufern des Rheines gesessen hätten. Aber wie wollte er beweisen, daß sein Volk oder seine Religion oder sein Gesetz solchen Mord nicht kenne, geschweige denn fordere? Gegen Kollektivverleumdungen gibt es nur dann eine Möglichkeit des Gegenbeweises, wenn der Verleumder überhaupt prinzipiell bereit ist, irgend eine Widerlegung anzuerkennen. Aber das käme einem Bekenntnis gleich, daß er bislang verleumdet habe, oder – da der Begriff hier ohne jede Diffamierung gebraucht wird – daß er etwas Falsches behauptet habe. Ich weiß von keinem Fall in der Geschichte, daß Völker solche Schuldbekenntnisse abgegeben hätten. Wenn sie gewisse Behauptungen vor ihrem eigenen wachsenden Intellekt nicht mehr aufrecht erhalten konnten, haben sie es vorgezogen, sie stillschweigend fallen zu lassen. Bei der kulturgeschichtlichen Betrachtung ihrer eigenen Vergangenheit haben sie dann mit der Gebärde des Fortschrittlichen die Achseln über ihre Väter gezuckt. Nach außen hin, dem Opfer der Verleumdung gegenüber, haben sie die Anwendung der Regeln des fair play verlangt und von ihm erwartet, to take the rough with the smooth and let bygones be bygones.

Aber zuweilen ist es ihnen auch gelungen, zu einer subtileren Form des Angriffs überzugehen. Das ist z. B. geschehen bei der Aufstellung der Legende von Ahasver, dem ewig wandernden Juden.

Die Erzählung als solche mag vielleicht der Mehrzahl der heutigen Nichtjuden nicht mehr bekannt sein, und es gibt sicher auch viele Juden, denen sie ebenfalls in ihren Details nicht mehr bekannt ist. Aber den Begriff selbst kennen beide sehr gut; jener kennt ihn als eine Art Kains-Fluch, der dem Juden anhängt; und der Jude selbst kennt ihn als eine Art Schicksal, das ihm auferlegt ist. Und sowohl dieser wie jener sind das Opfer einer Fälschung.

Der Inhalt der Geschichte, gedrängt erzählt, ist folgender: als Jesus zur Kreuzigung geführt wurde, wollte er vor der Türe des Juden Ahasver eine Weile rasten. Aber Ahasver vertrieb ihn. Da fluchte ihm Jesus, daß er wandern müsse, und nicht sterben könne, bis er, Jesus, wieder erscheine. Und seitdem wandert Ahasver ruhelos und voll Reue und Schmerz durch die Welt, des Lebens überdrüssig und doch gezwungen, es weiter zu führen, bis Jesus ihn durch sein Kommen erlöst.

So wenig es einen jüdischen Namen Ahasverus jemals gegeben hat, so wenig gibt es irgend einen Tatbestand, der die Erzählung selbst rechtfertigt. Dagegen gibt es eine weniger bekannte Legende fast identischen Inhalts, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts zum ersten male in literarischer Form auftaucht, und zwar in Chroniken englischer und später auch französischer Mönche. Da wird der gleiche Tatbestand erzählt, aber das Objekt der Handlung ist kein Jude, sondern ein griechischer Heide namens Cartaphilos, der Türhüter des römischen Landpflegers Pontius Pilatus. Zu ihm sagt Jesus: „Ego vado et expectabis donec veniam.“ (Ich gehe, du aber sollst warten, bis ich komme).

Es handelt sich da um eine ziemlich späte Legendenbildung mit deutlicher Spitze gegen das Heidentum. Aber mit dem Vordringen des Christentums und dem Zurückweichen der heidnischen Welt wird diese Tendenzlegende unaktuell. Sie versandet und schläft ein. Aber plötzlich, in der Mitte des 16. Jahrhunderts, taucht sie wieder auf, jetzt aber mit einem Juden als Träger der Handlung, mit einem Juden, der den unjüdischen Namen Ahasver trägt. Der Bischof Paulus von Eitzen ist ihm persönlich begegnet und hat sich von ihm seine Lebensgeschichte erzählen lassen. Und nun bekommt die Legende eine geradezu stürmische Realität und Aktualität. Sie erscheint im Druck, wird in zwanzig Sprachen übersetzt und wird neben der Bibel für mehr als ein Jahrhundert das meist gedruckte und meist gelesene Buch der europäischen Welt. Fast in jedem europäischen Lande wird die Gestalt des Ahasver populär. Er wird zwar nicht überall Ahasver genannt, sondern der „Wandernde Jude“, „Le Juif errant“, „the wandering Jew“, „Ebreo errante“, „Isaaq Laquedem“, (vom hebräischen Wort kedem = Osten) und so fort. Aber gerade das beweist, daß die Figur als solche akzeptiert wurde, und daß sie in derjenigen Eigenschaft akzeptiert wurde, die ihr durch die Legendenbildung zugedacht war: als mit einem Fluch belastet und zur Ruhelosigkeit und Wanderung über die Welt verdammt. Es nimmt also auch nicht Wunder, daß eine Reihe von Berichten vorliegt, wonach man ihn zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten leibhaftig gesehen hat.

Selbst wenn man Legenden als Sekundär-Wahrheiten der Geschichte gelten läßt – und ich bin durchaus bereit, es zu tun – so bleibt diese Legende mit Rücksicht auf ihre ursprüngliche Quelle und ihren späten Ursprung immer noch eine Unwahrheit; und soweit ihr Inhalt jemanden mit einer Schuld und einem entsprechenden Schicksal belastet, erfüllt sie wieder einmal den Tatbestand der Verleumdung in der reinsten und – wenn man so will – in einer einigermaßen sublimierten Form. Es muß also, wenn unsere bisherige Betrachtungsweise richtig ist, wieder einmal der Totalitätsanspruch eines imperialistischen Gedankens in der Nähe sein, der dieses Werkzeug braucht und gebraucht. Und das ist der Fall: die Reformationsbewegung ist im Schwunge. Sie bekämpft die katholische Kirche und erhebt den Anspruch, wahrer und gültiger als sie zu sein, da sie näher den Gründen, und Quellen des Glaubens sei, näher den Grundwahrheiten, die in Bibel und Evangelien enthalten sind. Sie erhebt wieder den katholizistischen Anspruch, und er wendet sich wieder gegen alle, den Juden eingeschlossen. Er wendet sich in den Anfängen mehr an ihn als gegen ihn, denn es besteht die Hoffnung, daß er in diese Variante des Christentums einkehren werde. Aber der Jude will auch diese neue Wahrheit nicht annehmen. Gegenüber diesem Fiasko der Werbung muß nun den Gläubigen erklärt werden, warum er nicht will. Es ist der alte Fluch, der auf ihm lastet. Es ist Ahasver, der in ihm steckt. Wenn man auf einer Landkarte die Verbreitung der Ahasverlegende einzeichnen würde, so hätte man das Gebiet der Kämpfe um Reformation und Gegenreformation ziemlich genau umrissen.

Die Bedeutung dieses Vorganges liegt diesesmal nicht so sehr in der Aufstellung einer neuen Verleumdung, als vielmehr in dem eigenartigen Zusammenhang, der hier zwischen Jude und Nichtjude geschaffen wird. Denn die Ebene, auf der hier gedacht wird, ist nicht mehr ganz so primitiv wie in den unbelasteten Zeiten des Anfangs. Das intellektuelle Quantum ist wesentlich größer geworden. Die europäische Welt hat schon bedeutende rationale Denker aufzuweisen. Der Mensch jener Zeit beginnt langsam, sich zur Welt in Beziehung zu setzen, um ihre Tatbestände gedanklich zu ordnen. Zu diesen Tatbeständen gehört auch die Anwesenheit des Juden in der europäischen Welt. Seine Gegenwart ist seit Jahrhunderten nicht zu übersehen. Man hat ihn bisher mit jenem Gefühl betrachtet, das ein deutsches Idiom so überaus treffend mit „Heidenangst“ bezeichnet. Es war wirklich die Angst des Heiden vor dem, was er nicht versteht; es war das Gefühl des Unheimlichen, Abgesonderten, Unverständlichen; genau das, was der Furcht vor Geistern und Dämonen zugrunde liegt.

Aber jetzt weitet sich der Blick. Die Zusammenhänge werden erkennbar. Zur Sachlichkeit und Logik langt es zwar noch nicht, aber es langt doch zu einer auf dem Grunde der Religion beruhenden Erkenntnis: die Existenz des Juden in der Welt beruht auf einem Fluch. Und daraus ergibt sich eine kulturgeschichtliche Monstrosität: eine Gemeinschaft unternimmt es, einer anderen Gemeinschaft den Sinn ihrer Geschichte zu erklären. Bislang hatte der Jude in dem Glauben gelebt, sein Aufenthalt in der Welt sei eine Strafe, die sein eigener Gott ihm wegen seines unzulänglichen Verhaltens ihm gegenüber auferlegt habe, und die Fremde sei zeitlich begrenzt durch den Entschluß seines Gottes und das Kommen seines Messias. Jetzt kommt die Umwelt des Christentums und belehrt ihn, daß sein Aufenthalt in der Welt ein Fluch sei, den ihr Gott ihm auferlegt habe wegen eines unzulänglichen Verhaltens ihm gegenüber, und er könne aus dieser Fremde nur erlöst werden, wenn Gott seinen, den Christen bereits erschienenen Messias sende.

Die Ahasver-Legende hat ihre Aktualität in dem Maße eingebüßt, wie die Religion selbst im Bezirk des Christentums unaktuell geworden ist. Die religiöse Atmosphäre ist dünn, kalt, leidenschaftslos geworden. Europa hat kein religiöses Klima mehr. Das Intellekt-Quantum in der Welt hat das Glaubens-Quantum derart überwuchert, daß sich der Gestaltungswille des Menschen und damit sein Geltungswille irdischen Werten zugewandt hat: der Wirtschaft.

Dieser Begriff „Wirtschaft“ ist nicht eindeutig, denn er tritt in einer Unsumme von Verkleidungen auf. Zuweilen nennt er sich bescheiden „Nationale Wirtschaft“; zuweilen heißt er „Lebensraum eines Volkes“, und dann greift er auf andere Länder über. Manchmal behauptet er, er führe die soziale Gerechtigkeit herbei, und dann gebärdet er sich als Weltanschauung. Zuweilen maskiert er sich auch kulturell und behauptet, daß er den „zurückgebliebenen Völkern“ den Fortschritt bringen wolle. Er deckt – mit anderen Worten – jeden Anspruch von wirtschaftlichen Interessenten, die sich im Rahmen der eigenen Gemeinschaft und darüber hinaus ein Maximum an wirtschaftlichem Einfluß sichern wollen; von wirtschaftlichen Interessenten, die durch Ausbeute von Rohstoffen, Gütererzeugung und Handel einen möglichst weiten Zugriff auf das Vermögen und die Arbeitskraft der eigenen Gemeinschaft und anderer Völker erreichen wollen. Immer aber meint der Begriff „Wirtschaft“ einen Imperialismus, dessen Grenzen lediglich bestimmt werden durch den Imperialismus des Nachbarn. Auf diesem Spannungszustand der akuten und latenten Imperialismen beruht das Schicksal der Welt seit mehr als hundert Jahren.

Sollte es da nicht verständlich sein, daß aus diesem Bezirk der Imperialismen wieder Behauptungen auftauchen, die sich speziell mit dem Juden befassen und sich speziell gegen ihn richten? Allerdings können sie nicht so einheitlich sein wie früher, da die wirtschaftlichen Imperialismen ja auch unter einander in feindlicher Spannung stehen, und sehr abweichende Interessen vertreten. Sie müssen sich notwendig widersprechen. Und das tun sie auch. Jeder wirtschaftliche Imperialismus beschuldigt den Juden, der Vertreter oder der Initiator derjenigen Wirtschaftsform zu sein, die er selber ablehnt oder bekämpft oder die ihm abträglich ist. So wird der Jude der Reihe nach der „typische“ Vertreter des Kapitalismus und des Kommunismus, des Monopols und der freien Konkurenz, des internationalen Großhandels und des Hausierertums. Und die Konsequenz daraus ist, daß jeder Vertreter einer Wirtschaftsidee den Juden als denjenigen angreift, der mit den Mitteln der entgegengesetzten Idee die Herrschaft über die Welt an sich bringen will; der also das anstrebt, was er, der Angreifende, mit seinen eigenen Ideen selber anstrebt. Quod licet Jovi ...

Insoweit handelt es sich um eine jener typischen Behauptungen, die von Imperialismen aufgestellt werden, von Ideen, deren Totalitätsanspruch entweder durch passive Resistenz oder durch aktive Konkurenz bestritten wird. Aber darüber hinaus wird der Sachverhalt kompliziert. Im konkreten Falle ist die Behauptung zutreffend, daß der Jude dieses und jenes Wirtschafts-System vertrete. Er vertritt alle Wirtschafts-Systeme, weil er keines von ihnen wirklich vertritt. Und er vertritt keines, weil er garkeinen autonomen Raum hat, in dem er überhaupt etwas vertreten kann. Er ist überhaupt nicht Träger einer Wirtschaftsidee, sondern ihr Objekt, so wie er in der Welt nicht Träger, sondern Objekt des Geschehens ist. Dieser Idee wollen wir im nachfolgenden Kapitel nachgehen. –


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