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Sämtliche Schlittenpartien waren nun wieder an Bord zurückgekehrt, und die Reisezeit im hohen Norden war für diesmal vorüber. Die ganze Zeit seit unserer Einsperrung im Eise, – die dunkelste Winternacht und die Krankheitsfälle ausgenommen – hatten wir beständig an unserer Aufgabe gearbeitet. Doch der Sommer schwand dahin, und das Eis um uns wollte und wollte nicht aufbrechen. Soviel wir erkennen konnten, blieb zwischen uns und der Baffinsbai alles unerschütterlich fest. Meine Umgebung begann wegen des kommenden Jahres besorgt zu werden, wozu schließlich auch alle Veranlassung vorlag. Ehe das Nordwasser sich bis zu unserm Winterhafen erweiterte, konnte es im günstigsten Falle noch 50 Tage dauern; und dann vielleicht noch weitere Tage oder Wochen, bevor das Binneneis um die Brigg sich löste. Dann befänden wir uns aber im September – und am 7. September des vorigen Jahres waren wir bereits in bester Form hier eingefroren! So bestand größte Wahrscheinlichkeit, daß uns der Winter unterwegs im Packeise festhalten würde; selbst wenn unser Aufbruch von hier so zeitig als möglich geschehen könnte. Dazu kam, daß wir sehr schlecht auf einen neuen Kampf mit dem nordischen Winter gerüstet waren. Uns fehlte Gesundheit, Nahrung und Brennstoff; und wenn ich die kranken und geschwächten Leute um mich ansah und an die Leiden der letzten langen Winternacht dachte, dann mußte mir wohl bange werden. Geradezu unehrenhaft erschien mir der Gedanke, das Schiff im Stich zu lassen; selbst wenn ich ihn für ausführbar gehalten hätte. Und wo sollten wir uns auch hinwenden? Die nächstmöglichen Punkte – Uppernavik und die Beechey-Inseln – lagen für kranke und verstümmelte Leute furchtbar weit entfernt.
Dennoch wollte ich das Eis wenigstens mit eigenen Augen prüfen. Ich machte mit Hans eine Fahrt nach Süden, für die wir unsere armen strapazierten Hunde mit Segeltuch beschuht hatten. Auf einer Strecke von 35 englischen Meilen fanden wir die Wasserdecke völlig dicht; der Zufluchtsinsel gegenüber trafen wir endlich auf sich öffnende und schließende Spalten; doch von hier bis zum Schiff war nicht ein einziger Sprung zu entdecken. Ich trieb die Hunde über die losen Eisfelder weiter vor, und so erreichten wir nach mancherlei Gefahren endlich den Rand des Nordwassers. Es war zwar offen, aber seit Mai – wo MacGary es gesehen – nur um vier englische Meilen weiter nördlich gerückt. Und jetzt hatten wir den 10. Juli! Bei dieser gewaltigen Eisfläche zwischen dem Wasser und der Brigg wäre der Gedanke, in offenen Booten zu entkommen, geradezu wahnwitzig gewesen. Es blieb also nichts übrig, als sich auf das Schlimmste gefaßt zu machen.
In dieser Situation beschloß ich, wenigstens den Versuch zu machen, ob sich nicht eine Verbindung mit den Beechey-Inseln herstellen ließe. Dort mußte eine englische Flotte unter Fd. Belchers Kommando liegen; und wenn wir sie erreichten, so fanden wir alles, was wir bedurften. Möglicherweise konnten wir die Vorräte des Nordsterns auf der Wolstenholminsel finden und bei besonderem Glück einem Schiff der Flotte in den Weg kommen, um so unsere Lage bekannt werden zu lassen.
Gewiß – solch Unternehmen war ein Wagnis, doch die Not drängte. Ich fühlte, daß ich die Verantwortung auf keine fremden Schultern wälzen durfte und mich an die Spitze der Expedition stellen mußte; umsomehr, als niemand außer mir Ortskenntnisse vom Lancastersund und seinen Eisbewegungen besaß.
Bei der Mannschaft und den Offizieren fand mein Plan die erfreulichste Aufnahme. Wohl jeder an Bord hätte die Expedition gern mitgemacht, doch beschränkte ich mich auf fünf Begleiter: MacGary, Morton, Riley, Hans und Hickey. Als Fahrzeug nahmen wir unser altes, leichtes Walfischboot, die »verlorene Hoffnung«, von 23 Fuß Länge, 6-1/2 Fuß Bodenbreite und 2 Fuß 6 Zoll Tiefe – eine wahre Nußschale. Durch eine Art Halbdeck oder Wetterschirm aus Segel- und Gummituch ließ ich ihrer Höhe etwas zusetzen. Die Ausrüstung mit Segeln war MacGarys Amt. Morton beschaffte die Proviantvorräte: Wildbret hatten wir nicht, sondern nur Pökelschweinefleisch, wovon wir 150 Pfund mitnahmen. Auch der Pemmikan war ausgegangen. Von den Fässern, die wir auf dem Eise ließen, als wir im vergangenen März die Kranken hereinholten, konnte von allem, was damals liegen blieb, nicht die leiseste Spur mehr gefunden werden – ein Beweis, wie sinnverwirrt uns damals die Kälte gemacht hatte. Denn wir glaubten alles sehr sorgfältig markiert zu haben.
Das Boot wurde auf den großen Schlitten »Faith« gesetzt; und mit Ausnahme der Kranken spannten sich alle vor, um ihn nach dem offenen Wasser zu schleppen. Eine schwere Arbeit; denn das Eis war sehr uneben und voller Wasserpfützen. Der Schlitten brach unter seiner Last zusammen, und wir hatten einen weiten Rückmarsch, um einen andern zu holen. So ging der Transport langsam und beschwerlich vorwärts, bis wir nach vier Tagen das Boot ins Wasser brachten. Wenn die Kanäle auch sehr mit Treibeis verstopft waren, so konnten wir die Küstenfahrt nach Süden doch ohne Schwierigkeit fortsetzen. Wir landeten an der Stelle, wo wir voriges Jahr das Rettungsboot mit den Vorräten gelassen hatten, und fanden zu unserer Freude noch alles unberührt. Die Bucht und die Inselchen lagen fest im Eise.
In der Nähe der Littletoninsel erwartete uns ein angenehmes Bild: wir sahen eine Anzahl Enten – sowohl Eider- als Haralda-Enten – die uns durch ihren Flug nach ihren Brutplätzen hinleiteten: einer Gruppe von Felseninselchen, über denen der ganze Horizont von Vögeln wimmelte. Eine rauhe Klippe war so übersät mit Brutplätzen, daß wir kaum einen Schritt tun konnten, ohne auf ein Nest zu treten. Wir erlegten hier mit Flinten und Steinen in ein paar Stunden über 200 Vögel ... –
Nahe dabei war eine Felsklippe, die von blaugrauen Möven, diesen nordischen Vielfraßen, in Scharen bewohnt wurde. Die Jungen waren bereits völlig flügge und saßen dichtgedrängt auf den mit Guano geweißten Felsen. Die Alten aber kreisten mit ausgestrecktem Halse, den gelben Schnabel weit aufgesperrt, über den Plätzen der friedlichen Eiderenten und schossen nach Lust und Bedarf hinab, um sich eine junge Ente zu holen ... –
Wir lagerten in diesem Hauptquartier der Möven und füllten vier große Kautschuksäcke mit Geflügel, das wir ausnahmen und notdürftig von den Knochen befreiten. Das Boot wurde an Land gezogen und ausgebessert; wir hatten gefunden, daß es zu schwer beladen war, und nahmen daher von unseren Vorräten mancherlei fort, was wir unter den Felsen versteckten.
Am 19. Juli verließen wir diese Gegend, steuerten mit vollen Segeln W.S.W. und fuhren am Abend desselben Tages mit frischem Nordwind aus dem schützenden Kanal in die offene See hinaus. Hier begann nun ein anderes Leben. Der älteste Seemann, der auf seinem Deck sich wie zu Hause fühlt, besitzt eine scharfe Abneigung vor einer Seefahrt im offenen Boot, wie der Binnenländer sie kaum empfinden würde. Dies Gefühl überkam uns, als wir das Land aus Sicht verloren. Selbst MacGary – ein in der Baffinsbai geschulter Walfischfahrer und Bootlenker – wurde bedenklich, wenn sich das Boot immer wieder in die Mulden zwischen den stoßenden kurzen Wogen eingrub, denen auszuweichen er seine ganze Steuerkunst aufbot. Baffin hatte im Jahre 1616 mit zwei kleinen Fahrzeugen die Runde in diesem Golf gemacht, aber es waren Riesen gegen die unsrigen. Ich gedachte dieses meines Vorgängers, als ich seine Route kreuzte und mit allen Aussichten auf schweren Sturm – dem etwa noch 60 englische Meilen entfernten Kap Combermere zusteuerte.
Noch waren wir in der Mitte dieser weiten Wasserfläche, als der Sturm aus Norden losbrach. Wir waren dem Sinken nahe genug. Der schwache Wetterschirm und unsere Kautschukverkleidung waren bald durchschlagen. Kaum mit äußerster Anstrengung konnten wir verhindern, daß uns der Wind breitseits faßte; wäre ein Ruder gebrochen oder ein Tau gerissen, so hätte das unseren Untergang besiegelt. Aber MacGary führte den Zauberstab der Walfischjäger, das lange Lenkruder, mit wundervoller Geschicklichkeit. Keiner von uns hätte seine Stelle einnehmen können; und so stand er 22 geschlagene Stunden auf seinem Posten, ohne eine Sekunde in seiner Aufmerksamkeit und Anstrengung nachzulassen.
Auf solchen Sturm waren wir nicht vorbereitet, und eine wildere See hatte ich noch nicht gesehen. Endlich sprang der Wind nach Osten um; und wir waren froh, als er uns auf Küsteneis zutrieb. Wir hatten mehrere Eisberge passiert; aber die See peitschte sie so gewaltig, daß nicht daran zu denken war, unter ihnen Schutz zu suchen. Das Pack- und Flardeneis, dem wir sonst gern aus dem Wege gingen, sollte nun unsere Zuflucht werden. Ich denke noch daran, wie wir nach dem vierstündigen gefährlichen Treibjagen voll Besorgnis zwischen die losen Eisflarden hineinsteuerten und wie tröstlich es uns war, zu bemerken, daß sie das Wasser zwischen sich ruhig erhielten. Wir ankerten uns an eine alte, kaum 50 Schritt messende Scholle fest, krochen unter den Wandschirm und ließen den Sturm über uns hingehen.
Als neues Hindernis hatten wir nun Packeis, das uns den Weg nach Süden versperrte. Wir begannen uns in seine Spalten einzubohren, nachdem der Sturm sich gelegt hatte – jedenfalls eine langsame Art des Vorrückens, die jedoch auch ihre Gefahren hat. Denn mehr als einmal schien es, als seien wir für immer eingekeilt inmitten einer unübersehbaren Fläche von Eisfeldern. Endlich begannen die Eisfelder mehr auseinander zu weichen. Am 13. schien die Sonne freundlich; die Kanäle erweiterten sich mehr und mehr; wir konnten wieder Segel setzen und kamen mit jeder Eiszunge der grönländischen Küste näher. Nach einer Weile zeigte sich eine gute Gelegenheit, Kurs nach der Hakluytsinsel zu nehmen. Nachmittags landeten wir auf ihrem Küsteneis, schlugen unser Lager auf, trockneten und sonnten uns und schliefen unsere Müdigkeit aus.
Am andern Morgen begann unsere Arbeit von neuem. Wir fuhren an der Landseite des Packeises in der Richtung der Cary-Inseln, begegneten ab und zu einer vorspringenden Eisfläche, die wir umgehen oder durchbrechen mußten, kamen aber doch im Ganzen leidlich vorwärts auf den Lancastersund zu. Doch an der Südspitze der Northumberlandinsel hielt uns das Packeis abermals fest. Das Treibeis aus Süden hatte sich uns in den Weg gelegt. Getrieben von dem Wunsche, die Cary-Inseln und freies Wasser zu erreichen, bohrten wir unser Boot in die erste beste Spalte des Packeises ein. Die nächsten drei Tage zwängten wir uns mühselig durch halboffene Spalten und bewältigten insgesamt etwa 15 englische Meilen in südlicher Richtung. Sehr selten hatten wir Raum genug, um die Ruder gebrauchen zu können. Der Gefahr, eingequetscht zu werden, entgingen wir dadurch, daß wir in drohenden Fällen das Boot schnell auf das Eis zogen. Trotzdem empfing es einige harte Stöße und Sprünge, die es nicht gerade seetüchtiger machten. Vielmehr begann es leck zu werden, was uns in Verbindung mit dem jetzt einsetzenden starken Regen zwang, es alle Stunden auszuschöpfen. Natürlich war unter solchen Umständen nicht an Schlaf zu denken. Einer von uns brach denn auch vor Müdigkeit zusammen.
Am 29. wurde der Wind, der noch immer aus Südwest kam, stärker; aber er blies kalt und steigerte sich fast zum Sturm. Wir hatten wieder eine schlaflose Nacht. Die Eisfelder narrten uns förmlich mit ihren eigensinnigen Bewegungen. Um 3 Uhr nachmittags hatten wir die Sonne wieder, und das Eis öffnete sich gerade so viel, um uns in Versuchung zu führen. Mit harter Mühe stießen wir unser kleines, übel mitgenommenes Fahrzeug vorwärts; seine Wände berührten oft auf beiden Seiten das Eis, das sich zuweilen buchstäblich über unseren Köpfen begegnete und in Stücken auf uns herunterbrach.
Eine dieser Passagen wird gewiß keiner von uns vergessen. Wir trieben in einem schmalen Kanal zwischen Eistrümmern, wie sie die zurückweichenden Flarden hinterlassen, nachdem sie die Schollen zwischen sich zerquetscht haben. Wir waren schon so weit vorgedrungen, daß eine Umkehr nicht mehr möglich war, als die Flarden sich wieder zu schließen begannen. Eine Zusammenquetschung schien unvermeidlich, denn alles um uns her war lose und in wälzender Bewegung; und wo die Flarden sich zerstießen, entstanden Wälle von aufgetriebenen Schollen. Die Bewegung war gerade vor uns und setzte sich allmählich nach uns zu fort. Schon flogen uns die Bruchstücke des berstenden Eises um die Köpfe – als wir auf einmal, gleich der »Advance« im Treibeise des vorigen Winters, von den sich auftürmenden Trümmern hoch über das Wasser emporgehoben wurden. Wohl zwanzig Minuten hingen wir so in der Schwebe. Als dann der Druck der Eisfelder nachließ, sanken wir ganz stetig wieder herunter.
Gewöhnlich aber schlossen sich die Eisfelder so allmählich, daß es möglich war, einem Zusammenstoß auszuweichen. Wenn Eile geboten und das Boot beladen war, nahmen wir gern die Bewegung der Eisfelder selbst zu Hilfe, um es aus dem Wasser zu bringen. Wir legten in solchen Fällen das Boot quer über die sich schließende Spalte, das Vorderteil nach der heranrückenden Eismasse gekehrt. Der Erfolg war jedesmal, daß das Boot von dem schiebenden Eise vorn niedergedrückt wurde und das Hinterende sich über die Ebene des jenseitigen Eises hob. Sobald das Heben begann, hielten wir uns bereit, herauszuspringen und das Boot nachzuziehen.
Diese Zeit ständiger Aufregung war im ganzen doch so einförmig, daß ein Tag dem andern glich. Vielleicht ein dutzendmal tagsüber hatten wir das Boot auf das Eis zu ziehen, und viermal waren wir bei dieser Eisfahrt völlig eingeschlossen. Wir hatten auch versucht, das Boot über die vorkommenden Eisfelder wegzuschleppen; mußten unsere Absicht aber bald aufgeben, weil es dadurch so mitgenommen wurde, daß es kaum noch seetüchtig blieb. In den letzten sechs Tagen war ein Mann beständig mit Wasserausschöpfen beschäftigt.
Am 31. endlich – in einer Entfernung von zehn englischen Meilen von Kap Parry – ging es nicht weiter! Eine feste Eismasse lag quer über unserm Weg und erstreckte sich, soweit das Auge reichte. Westlich waren Eisberge in Sicht, auf die ich mit MacGary über das schwimmende Scholleneis losging. Nach einer Wanderung von etwa vier Meilen erreichten wir glücklich einen dieser Eisberge, erstiegen eine Höhe von 120 Fuß und schauten durch unser treffliches Fernrohr nach Süden und Westen aus. Da war, in einem Umfang von 30 Meilen, alles eine ununterbrochene, bewegungslose, undurchdringliche Eiswüste. Darauf war ich nicht gefaßt. Kapitän Inglefield hatte zwei Jahre vorher genau auf dem gleichen Punkt offenes Wasser gehabt; und ich selbst hatte 1853, nur um sieben Tage später, hier kein Eis gefunden. Nun war es klar, daß von Kap Combermere im Westen bis herüber zur Hakluytinsel eine zusammenhängende Eisbarriere lag, deren Saum wir noch nicht einmal durchdrungen hatten. Ebenso klar war es uns allen, daß diese Schranke aus den Eismassen erwachsen sein müsse, die Jones Sund im Westen und Murchisons Sund im Osten ausgesandt und zusammengetrieben haben. Gelegentlich kann somit die unter dem Namen »Nordwasser« bekannte große Wasserfläche durch festes Eis in zwei Becken, ein südliches und ein nördliches, geschieden werden.
Jeder weitere Versuch, nach Süden vorzudringen, erschien somit gänzlich hoffnungslos, solange diese Eisschranke keine Aenderung erfuhr. Im Vorbeifahren hatte ich auf der Northumberlandinsel bemerkt, daß einige ihrer Gletscherabhänge mit Grün eingefaßt waren – ein beinahe nie trügendes Zeichen animalischen Lebens. Und da meine Leute von Durchfall sehr angegriffen waren und unsere Mundvorräte auf die Neige gingen, so beschloß ich, mich nach ihr durchzuschlagen, um dort Kräfte für neue Anstrengungen zu sammeln.
Mit Schleppen und Rudern brachten wir unser Boot die nächsten beiden Tage durch die verschiedenen Schlippen in östlicher Richtung vorwärts. Am Morgen des dritten gewannen wir nahe der Küste freies Wasser. Eine Brise kam uns zu Hilfe, und in aller Bequemlichkeit langten wir ein paar Stunden später an der Südseite der Insel an. Wir sahen bei unserer Annäherung verschiedene Schwärme kleiner Alken und entdeckten nach der Landung, daß hier Alken, Dovkies und Möven in ungeheuren Mengen sich versammelt hatten. Wir lagerten auf einer Niederung am Fuß einer Gletschermoräne, die zwischen grausig wilden Klippen herabstieg. Die Eskimos hatten hier offenbar Winterquartiere gehalten, wie fünf gut gebaute steinerne Hütten bewiesen. Drei von ihnen waren leidlich erhalten und dem Anschein nach noch vor kurzem bewohnt gewesen. Der Vogeldung hatte den Boden fruchtbar gemacht; wir fanden ihn bis an den Wasserrand reich bedeckt mit Gräsern, Sauerampfer und Löffelkraut. Füchse waren, natürlich wegen der Vögel, in großer Menge vorhanden – alle von der bleifarbigen Abart, ohne einen einzigen weißen. Die jungen, noch sehr mageren Tiere waren in höflichen Sitten noch ungeschult: sie bellten uns an, wenn wir an ihnen vorbeigingen ...
Mit sehr gemischten Gefühlen näherten wir uns unserer Brigg wieder. Unsere kleine Gesellschaft war wohl fett und kräftig geworden durch den Genuß von Alken, Enten und Scharbockkräutern. Wie es aber um unsere Kameraden und unser eingekeiltes Schiff stehen mochte, das machte uns viel Sorge. Die dank der Flut entstehenden zeitweiligen Spalten, die im vorigen Jahr eine notdürftige Durchfahrt bis zum Schiff gestatteten, waren diesmal kaum zu passieren. Beim Durchzwängen durch das gebrochene Eis erwies sich das Boot als derart defekt, daß wir es am Lande unter Klippen stellten und zu Fuß über die Felsen kletterten, bis wir durch unser plötzliches Erscheinen unsere Schiffsgenossen überraschten.
Die Freude des Wiedersehens wurde allerdings getrübt durch das Fehlschlagen unsers neusten Versuchs und die geringe Aussicht zu unserer und des Schiffes Befreiung überhaupt. Die Brigg lag nun schon elf Monate im festen Eise eingeschlossen und hatte sich während dieser ganzen Zeit nicht einen Zoll von der Stelle bewegt.
Der größte Teil des August verlief unter häufigen Hoffnungen und Anstrengungen zur Befreiung. Zur Besichtigung des Eises wurden wiederholte Fahrten unternommen, doch stets war das Ergebnis trostlos. Das Schiff hatten wir mit Pulver losgesprengt und nach einer andern Stelle hingezogen, um eine etwaige Gelegenheit zum Fortkommen besser benutzen zu können. Aber diese Gelegenheit kam nicht. Zwar brach endlich das äußere Eis, und die durch den Winter gefesselten Eisberge wurden lebendig – aber nur, um sich in mehrfachen Ketten im flachen Wasser vor unserer Bucht hinzulegen, wo sie obendrein noch die treibenden Eisfelder aufhielten und zum Stehen brachte.
Mitte August gab es schon wieder reichlich junges Eis, und wir hatten als einzige Hoffnung noch die Ende August und im September zu erwartenden starken Winde. Mit jedem Tage wurde das neue Eis dicker und die Enttäuschung meiner Gefährten größer. Ich mußte wieder den Spaßmacher spielen, um sie bei Laune zu erhalten. Mitunter ließ sich sogar das Schiff ein Stück weiter warpen, ohne die geringste Aussicht des Durchkommens; es sollte nur die Leute frisch erhalten und den Anschein erwecken, als geschähe überhaupt etwas. Mitte August begannen die Schneevögel, die Vorboten des Winters, scharenweise gen Süden zu ziehen, wobei sie in unserm Takelwerk zu übernachten pflegten.
Jeder Ausflug in die Umgebungen zur Besichtigung des Eises lieferte das Ergebnis, daß die Dinge schlimm, sehr schlimm standen. Eine abermalige Ueberwinterung mußte ins Auge gefaßt werden – so furchtbar auch der Gedanke war an eine Wiederholung jener Zeit der Finsternis und des Siechtums; noch dazu ohne frisches Fleisch und ohne Brennmaterial. Unser tägliches Gebet war nicht mehr: »Herr, nimm unsern Dank und segne unser Unternehmen!«, sondern: »Herr, nimm unsern Dank und hilf uns heim!«
Unser gescheiterter Versuch, die Beechey-Inseln zu erreichen, hatte nach meiner Ueberzeugung zugleich die Unmöglichkeit bewiesen, bis zu den grönländischen Niederlassungen durchzudringen; denn es lag ja zwischen ihnen und uns eine ungeheure Eisschranke von Küste zu Küste. Die Vögel hatten ihre Wohnplätze verlassen; die Wasserläufe von den Eisbergen und Küsten waren durch den Frost schnell ins Stocken geraten. Das junge Eis machte selbst im freien Wasser eine Bootfahrt unmöglich und trug am 17. August schon einen Mann. Und so schien es klar, daß ohne einen gänzlichen Umschwung aller Verhältnisse, der aber gar nicht mehr zu erhoffen war, das Schiff nicht verlassen werden konnte, ohne daß wir uns in eine von allen Hilfsmitteln entblößte Wildnis hinauswagten, aus der die Rückkehr schwer oder ganz unmöglich war. So lag denn die Zukunft in dichten Nebel gehüllt vor uns, und die schlimmste Periode der ganzen Expedition schien nahe bevorzustehen.
In dieser Lage beschloß ich, auf der Observatoriumsinsel einen großen Steinkegel als Signal zu errichten und unter ihm Dokumente niederzulegen, die für den Fall unseres Unterganges denen, die etwa später nach uns suchen würden, Nachrichten von unseren Erfolgen und Schicksalen geben sollten. In Erinnerung an Franklins erste Winterquartiere und die schmerzlichen Gefühle, mit denen ich vor fünf Jahren bei den Gräbern seiner Toten vergebens nach schriftlichen Nachrichten von den Ueberlebenden gesucht hatte, wollte wenigstens ich mich einer ähnlichen Unterlassungssünde nicht schuldig machen.
Wir wählten eine augenfällige Stelle an einem die Eiswüste überschauenden Vorsprung und malten auf eine breite Felsfläche mit weithin ersichtlichen Buchstaben die Worte
ADVANCE A. D. 1843 – 54.
Oben darüber wurde eine Pyramide aus schweren Steinen erbaut und mit einem christlichen Kreuz versehen. Unter diese Pyramide wurden die Särge unserer beiden armen Kameraden gestellt, so daß unser Signalturm zugleich ihr Grabmal wurde. Nahebei wurde ein Loch in den Fels gehauen, eine in einem Glase steckende Schrift hineingetan und die Oeffnung mit geschmolzenem Blei geschlossen. Die Schrift lautete wie folgt:
Advance, 14. August 1854.
E. K. Kane mit seinen Kameraden Henry Brooks, John Wall Wilson, James MacGary, J. J. Hayes, Christian Ohlsen, Amos Bonsall, Henry Goodfellow, August Sonntag, William Morton, J. Carl Petersen, Georg Stephenson, Jefferson Temple Baker, George Riley, Peter Schubert, George Whipple, John Blake, Thomas Hickey, William Godfrey und Hans Christian, Mitglieder der zweiten Grinnell-Expedition zur Aufsuchung Sir John Franklins und der vermißten Mannschaften des »Erebus« und »Terror«, wurden gezwungen, in diesen Hafen einzulaufen, während sie versuchten, in nordöstlicher Richtung durch das Eis vorzudringen.
Sie froren am 8. September 1855 ein und wurden befreit am .... –
Während dieser Zeit hat die Expedition 960 englische Meilen Küstenlinie aufgenommen, ohne irgendwelche Spuren der vermißten Schiffe zu finden oder die geringste Kunde über ihr Schicksal zu erlangen. Die Reisen, welche zu diesem Zweck unternommen worden sind, haben sich auf mehr als 2000 englische Meilen belaufen, alle entweder zu Fuß oder mit Hunden.
Grönland ist bis an sein Nordende verfolgt worden, wo es mit der gegenüberliegenden Küste eines noch nördlicheren Landes durch einen großen Gletscher verbunden ist. Diese Küste ist bis zur Breite von 82° 27' aufgenommen worden. Smithssund erweitert sich zu einer weitläufigen Bai, die in ihrer ganzen Ausdehnung aufgenommen ist. Von ihrem nordöstlichen Winkel auslaufend ist in 80° 10' Breite und 66° Länge ein Kanal entdeckt und soweit verfolgt worden, bis offenes Wasser das fernere Vordringen verhinderte. Dieser Kanal läuft in ganz nördlicher Richtung und verbreitet sich zu einem dem Anschein nach offenen Meer, wo Vögel, Bären und Seetiere sich in Menge fanden.
Das Sterben der Hunde während des Winters war Ursache, daß die bezeichneten Entdeckungen vorzugsweise durch die persönlichen Anstrengungen der Offiziere und Mannschaften gemacht werden mußten. Der Sommer findet sie sehr heruntergekommen an Gesundheit und Kräften. Jefferson Temple Baker und Peter Schubert sind gestorben an den Wirkungen der Kälte, denen sie in männlicher Pflichterfüllung sich ausgesetzt. Ihre Ueberreste ruhen unter der Steinpyramide auf der Nordspitze der Observatoriumsinsel.
Das Observatorium liegt 76 englische Fuß von der nördlichsten Spitze der Insel in der Richtung S. 14° zu O. Seine Lage ist 76° 40' westlicher Länge. Die mittlere Fluthöhe ist 29 Fuß unter dem höchsten Punkt der Insel. Diese beiden Punkte sind auch durch kupferne Bolzen bezeichnet, die mit geschmolzenem Blei in den Felsen eingelassen sind.
Am 12. Mai wurde die Brigg von ihrem früheren Lageplatze zwischen den Inseln fortgewarpt und etwa eine Meile weiter nordöstlich an das äußere Scholleneis festgelegt, wo sie noch liegt und auf weitere Veränderungen im Eise wartet.
Unterzeichnet E. K. Kane, Kommandant der Expedition.«
Ein paar Stunden später wurde folgende Nachschrift hinzugefügt:
»Da sich das junge Eis zwischen der Brigg und dieser Insel gebildet hat und sich Aussichten auf einen Sturm zeigen, so ist das Datum der Abreise unausgefüllt gelassen. Wenn möglich, soll die Stelle noch einmal besucht und das Datum hinzugesetzt werden, da unsere endliche Befreiung noch immer von dem Gang der Witterung abhängt. E. K. Kane.«
Jetzt erhob sich die Frage, wie einem zweiten Winter, diesem schlimmen Feinde, zu begegnen sei. Alles andere war besser als Untätigkeit. Trotz der Ungewißheit, in der unsere Angelegenheit noch schwebte, konnten immerhin mancherlei Arbeiten à la Robinson Crusoe in Angriff genommen werden. Da gab es zur Vermehrung unsers Brennstoffes Moos zu sammeln, Weidenstengel, Steinsamen und Sauerampfer als Skorbut-Heilmittel. Aber während dies alles geschah, erhoben sich ernstere Fragen.
Einige von der Mannschaft hegten die Ueberzeugung, daß ein Entkommen nach Süden noch immer möglich sei. Sie fanden darin Unterstützung bei unserm dänischen Dolmetscher Petersen, der Kapitän Parrys Expedition begleitet hatte und die Wandlungen des nördlichen Eises aus reifer Erfahrung kannte. Sie hielten es, anstatt zu bleiben, sogar für besser, das Schiff im Stich zu lassen. Ich selbst war allerdings entschlossen, nicht von der »Advance« zu weichen. Erstlich betrachtete ich es als Ehrensache, zweitens aber hegte ich die Ueberzeugung, daß jedes Fortkommen unmöglich sei. Aber es war nun sehr die Frage, ob ich meine Leute dienstlich zwingen könne, sich meinen Entschlüssen unterzuordnen. Ein moralisches Recht hatte ich wohl nicht dazu, und das Dienstreglement traf auf unsere Lage nicht zu.
Wenn ein Walfischjäger hoffnungslos festsitzt, so hört die Autorität des Kapitäns auch auf, und die Mannschaft hält unter sich Rat, ob sie gehen oder bleiben will. Bei uns überdies kam noch der fatale Umstand hinzu, daß wir für eine zweite Durchwinterung so unsäglich armselig vorbereitet waren; wir waren ja von Krankheiten gebeugte Leute mit unzureichenden und für unsern Zustand nicht einmal passenden Lebensmitteln. Um unter solchen Umständen den Winter zu überstehen, war es unerläßlich, die Mannschaft bei guter Gemütsstimmung zu erhalten. Ein widerspenstiger, finsterer oder kleinmütiger Geist würde unsere Decks gleich einer Pest entvölkern. Das alles wußte ich als Arzt und Offizier; und eben deshalb durfte ich keinen, der nicht gutwillig bleiben wollte, wider seinen Willen zurückhalten.
Am 23. August unternahm ich nochmals einen Ausflug zu gründlicher Besichtigung des Eises. Nun stand es fest: das Schiff konnte nicht entkommen. Selbst die Abreise in Booten schien unausführbar; denn die Wasserströme schlossen sich bereits, das Packeis war beinahe wieder zum Stillstand gekommen und das Jungeis fast undurchdringlich.
Ich versammelte demnach die Offiziere und Mannschaften, schilderte ihnen ausführlich den Stand der Dinge und setzte ihnen die Gründe auseinander, die mich zum Ausharren bewegen. Ich bemühte mich, ihnen zu beweisen, welches Wagnis und wie unmöglich es sei, noch bis zum offenen Wasser vordringen zu wollen. Ich erinnerte sie an ihre Pflichten gegen das Schiff und ermahnte sie mit einem Wort ernstlich, ihren Plan aufzugeben. Dann sagte ich ihnen, daß ich denjenigen, die dennoch den Versuch wagen wollten, gern meine Erlaubnis erteile; nur müsse ich verlangen, daß sie sich unter die Befehle von Anführern stellten, die sie vor ihrer Abreise zu wählen hätten; auch müßten sie schriftlich allen Ansprüchen an mich und die Zurückbleibenden entsagen. Alsdann ließ ich jeden Mann einzeln aufrufen und seine Erklärung abgeben. Das Resultat war, daß von den 17 Leuten acht sich entschlossen, auf dem Schiff zu bleiben: es waren Brooks, MacGary, Wilson, Goodfellow, Morton, Ohlsen, Hickey und Hans. Den anderen gab ich ihren Anteil an den noch vorhandenen Vorräten richtig und selbst reichlich.
Sie verließen uns am 28. August; so gut ausgerüstet, als unsere kärglichen Mittel es erlaubten. Einer von ihnen, George Riley, kam schon nach ein paar Tagen zurück; aber Monate vergingen, ehe wir die übrigen wiedersahen. Sie hatten die schriftliche Zusicherung eines brüderlichen Empfanges von uns erhalten für den Fall, daß sie zur Umkehr gezwungen würden.
Und diese Versicherung wurde eingelöst, als sie sich nach harten Prüfungen entschlossen, unser Schicksal abermals zu teilen.