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Am Vormittag des 5. August passierten wir die von John Roß so getauften Karmoisinklippen, benannt nach dem auf ihnen lagernden roten Schnee, der aus der Ferne deutlich zu erkennen war. Alle mit Schnee bedeckten Stellen zeigten eine tiefe Rosafarbe, die vielleicht in Karmoisin übergeht, wenn die Schneelager sich weiter ausbreiten. In der Nacht passierten wir die Wolftenholm- und Saundersinseln. Wir hatten einen prächtigen Tag; das Schiff mit Segeln dicht besetzt, offenes Wasser vor uns, näherten wir uns schnell dem Schauplatz unserer Arbeiten. Am nächsten Tage erreichten wir die Insel Hakluyt mit ihrer merkwürdigen schlanken Felsenspitzsäule, die sich 600 Fuß über den Wasserspiegel erhebt und auf viele Meilen in der Runde eine ausgezeichnete Landmarke abgibt. Es war uns bestimmt, noch sehr vertraut mit ihr zu werden, bevor wir die Regionen des hohen Nordens verlassen konnten.
Kap Alexander und Kap Isabella, die Torsäulen von Smithssund, lagen nun vor uns. Die Gegend ist nicht sehr einladend: im Westen schwerer Schnee, gleichförmig bis zum Wasserspiegel herab, rechts eine Reihe von Klippen, die vermöge ihrer Großartigkeit als Eingangspforte für den stolzesten Hafen des Südens passen würden. Einige ihrer steilen Abstürze mögen 800 Fuß Höhe haben; selbst die Seeleute waren ergriffen, während wir in ihrem schwarzen Schatten dahinfuhren.
Am 7. August ließen wir Kap Alexander südlich und erreichten die Littletoninsel, hinter der sich Kap Hatherton verbirgt, der äußerste vor uns genau bestimmte Punkt dieses Sundes.
Während wir an der Littletoninsel vorüberkamen, sah ich vom Mastkorb aus leider den ominösen Eisblink im Norden. Der Wind war seit ein paar Tagen aus Norden gekommen; und wenn er anhielt, mußte er uns die Eisfelder über den Hals bringen. Es wurde nun wichtig, daß wir uns einen Rückzugspunkt sicherten, um im unglücklichen Falle nicht völlig hilflos dazustehen. Zudem hatten wir einen Punkt erreicht, wo die, welche uns etwa folgen sollten, anfangen würden, sich nach deutlichen Spuren umzusehen. Ich beschloß, auf der Littletoninsel einen Steinkegel zu errichten und an einem passenden Platz in der Nähe ein Vorratsdepot anzulegen. Entbehren allerdings konnten wir nur das metallene Rettungsboot, das nicht über 20 Fuß lang war, so daß wir zwanzig Mann kaum mit einigen Tagesrationen darin Platz gefunden hätten; doch vermöge seiner Luftkammern war es wenigstens sehr tragfähig. Wir trafen eine Auswahl von Lebensmitteln und anderen Dingen, die wir günstigsten Falles glaubten entbehren zu können. Der Platz für diese Niederlage mußte notwendig auf dem Festlande gesucht werden, da die Insel durch Strömungen und Eis für eine Expeditionstruppe leicht unzugänglich werden konnte. Wir fanden einen solchen in Südsüdost vor Kap Hatherton, das sich in der Ferne aus dem Nebel reckte. Hier begruben wir unser kleines Boot mit seinem Inhalt; umgaben es mit den schwersten Felsblöcken, die wir bewältigen konnten; füllten die Zwischenräume mit kleineren Brocken, mit Stubben von Moos und Heidekraut, und schütteten Sand und Wasser dazwischen, Das Ganze fror sofort in eine feste Masse zusammen, die, wie wir hofften, den Klauen der Eisbären würde widerstehen können.
Zu unserer Verblüffung stellten wir fest, daß wir nicht die ersten menschlichen Wesen waren, die in dieser grauenhaft trostlosen Gegend eine Zuflucht gesucht hatten. Denn einige zerstreute Ueberreste von Gemäuer bewiesen, daß hier einst eine rohe Ansiedlung bestanden hatte; und unter einem kleinen Steinhügel, den wir zur Ueberbauung unserer Vorratskammer mit verwandten, fanden wir die sterblichen Ueberreste der früheren Bewohner. Nichts kann trauriger und unheimlicher sein als solche Denkmäler erloschenen Lebens. Kaum eine Spur von Pflanzenleben war an den nackten, vom Eis gescheuerten Felsen zu erkennen, und die Hütten glichen so vollkommen den übrigen Felsbruchstücken, daß kaum eins vom andern zu unterscheiden war.
Walroßknochen lagen in allen Richtungen umher, so daß dies Tier das hauptsächlichste Subsistenzmittel geliefert haben mußte. Auch einige Ueberbleibsel vom Fuchs und Narwal zeigten sich; aber keine Spur von Seehund und Renntier.
Von einem Grabe nahm ich verschiedene roh bearbeitete und durchlöcherte Stücke von Walroßzahn, augenscheinlich Teile von Schlitten und Speeren. Holz muß bei ihnen eine große Seltenheit gewesen sein. Wir fanden z. B. einen Kinderspeer, der, obwohl sauber gespitzt mit Walroßzahn, nur einen aus vier Stückchen zusammengeflickten Holzschaft hatte. Die Verbindung war sehr sorgfältig durch Riemen bewirkt. In der Umgegend trafen wir noch auf andere Spuren von Eskimos: Hütten, Gräber, Vorratsräume mit Fuchsfallen aus Felsstücken. Sie waren augenscheinlich sehr alt, aber so wohl erhalten, daß sich nicht sagen ließ, ob sie vor fünfzig oder hundert Jahren verlassen worden.
Nach Bergung unserer Vorräte gingen wir daran, ein Signal zu errichten und an ihm Nachrichten von uns niederzulegen. Wir wählten hierzu die westliche Spitze der Littletoninsel, da diese mehr in die Augen springt als Kap Hatherton. Es wurde ein Steinkegel errichtet, ein Flaggenstock in eine Felsspalte getrieben und mit dreimaligem Hurra die amerikanische Flagge gegrüßt, wie sie sich im eisigen Hauch des Nordens entfaltete. Erleichterteren Herzens bestiegen wir am frühen Morgen des 7. August die Brigg wieder und kreuzten gegen Winde und Strömungen gen Norden.
Das am Himmel als Reflex gesehene Eis zeigte sich bald leibhaftig: noch nicht zwei Stunden später stießen wir westlich auf schweres, mehrere Winter altes Packeis. Anfangs drangen wir noch durch loses Stromeis vor; doch bald, etwa vierzig englische Meilen von unserm heutigen Ausgangspunkt, wurde das Weiterkommen unmöglich: ein dichter Nebel lagerte sich um uns, und hilflos wurden wir gegen Osten getrieben. Es schien sicher, daß wir auf die grönländische Küste getrieben würden; doch eine zurückschlagende Brandung erlöste uns für den Augenblick von einem unmittelbaren Zusammenstoß. Es gelang, ein Tau nach dem Felsen zu bringen und uns in eine schützende Nische zu bugsieren. Am Abend wagte ich mich bei veränderter Strömung wieder hinaus, und wir bestanden einen erneuten, jedoch nutzlosen Kampf. Die Flut drängte jetzt den südwärts treibenden Eisflarden entgegen und warf sie mit solcher Wucht an die Küste, daß selbst kleine Eisberge mitgerissen wurden. Wir waren froh, nach mehrstündigem Kampf ein neues Asyl zu finden: eine schöne Bucht mit dem Eingang nach Norden, wo wir unser Schiff an den Felsen festankerten und ein Tau nach dem schmalen Ausgang hinzogen. Wir nannten diesen Ort anfangs Nebelinsel, später in dankbarer Rückerinnerung Zufluchtshafen.
Zu unsern kleinen Leiden gehörte, daß wir mehr als fünfzig Hunde an Bord hatten, von denen die Mehrzahl reißende Wölfe genannt werden könnte. Diese Gesellschaft, von deren Ausdauer unsere Erfolge abhingen, mit Futter zu versorgen, war keine leichte Aufgabe. Der Mangel an Küsteneis in der Baffinsbai war Ursache, daß wir mit unseren Gewehren nichts schaffen konnten; unsere zwei Bären vermochten das Leben der Vielfraße nur acht Tage zu fristen. Ich wußte sie, mit zwei Pfund Fleisch jeden andern Tag, auf das Aeußerste setzen. Salzfleisch nämlich hätte sie umgebracht. Wir zogen daher an jenem Morgen aus, um Walrosse zu jagen, von denen die Bucht wimmelte. Wirklich trafen wir auf mindestens fünfzig dieser unheimlichen Ungeheuer und kamen manchen Gruppen bis auf zwanzig Schritt nahe. Doch unsere Kugeln prallten von ihrer dicken Haut völlig wirkungslos ab, und auf Harpunenweite konnten wir keinem einzigen nahekommen. Im Laufe des Tages jedoch entdeckte einer meiner Leute, als er einen Hügel erstieg, um nach der See auszuschauen, einen toten Narwal. Dieser Fund verschaffte uns für die Hunde wenigstens 600 Pfund gutes gesundes Stinkfleisch. Das Tier war vierzehn Fuß, sein Horn vier Fuß lang. Wir machten Feuer und brieten den Speck aus, der reichlich zwei Fässer Tran gab.
Während wir unsern Narwal an Bord hißten, sprang der Wind nach Südwest um, und das Eis begann rasch wieder dem Norden zuzutreiben. Dies deutete wenigstens darauf hin, daß nördlich kein großes Hindernis, sondern eher weite Flächen offenen Wassers oder loses Eis zu erwarten sein dürfte. Doch die Stellungen der Eisfelder an unserer Ostseite waren derart, daß an kein Herauskommen zu denken war. An der Küste schoben sich Eisbarrikaden zusammen, deren eine höher als 60 Fuß emporstieg. Dabei war der ganze Sund, soweit das Auge reichte, in wilder Aufregung.
Am folgenden Morgen kam wieder frischer Wind aus Südwest und bewirkte eine so deutliche Erschlaffung in dem Kampfe zwischen Eis und Wasser, daß ich einen Fluchtversuch aus unserer Bucht zu wagen beschloß. Wir schleppten das Schiff heraus, bedeckten es mit Segeln und bohrten uns in das Treibeis ein.
Ich beschreibe nicht im Einzelnen unsere Anstrengungen, durch die Eisfelder hindurch die See zu gewinnen. Jedes Manöver hatte seine besonderen Zufälle, doch alle waren gleicherweise erfolglos. Am Abend dieses Tages voll Kampf und Gefahren lagen wir dicht an der Landspitze, welcher ich den Namen »Cornelius Grinnells Kap« gegeben; doch getrennt vom Lande durch eine Eisbarriere, unser Schiff an einem Eisberg verankert.
Das Wasser um uns ist so flach, daß wir bei Ebbe nur zwölf Fuß Tiefe haben. Große, vom Eis abgeschliffene Felsmassen ragen überall heraus, und das innere Treibeis hat sich in phantastischen Formen um sie herum gruppiert. Auch die Eisberge sitzen weit nach der See hinaus sämtlich auf dem Grunde. Angeklammert an unsern Eisberg, sind wir im Augenblick zwar in Sicherheit, aber es geht nicht vorwärts; und uns jetzt loszumachen und in das Eis hinein zu wagen, will ebensowenig gehen ...
Endlich am 14. August verließen wir unsern Eisberg und kamen durch hartes Bugsieren etwa dreiviertel Meile vorwärts. Es ist unmöglich, an der Küste dieser unseligen flachen Bucht weiter zu kommen. Mächtige Haufen von Felstrümmern ziehen sich bis dicht an die Küste, und draußen tobt das Chaos des treibenden Packeises. Unser nächster Wunsch gipfelt darin, ein vor uns liegendes Felseninselchen zu erreichen und hinter seinem Kamme auf besseren Wind zu warten.
Wir erreichten es um Mitternacht; gerade noch rechtzeitig. Denn wenige Minuten, nachdem wir unser erstes Tau am Felsen festgemacht, blies uns eine frische Brise so direkt in die Zähne, daß wir jetzt unsern Ankerplatz nimmermehr erreicht hätten. Alles hinter uns ist bereits starres Packeis geworden.
Hier liegen wir nun seit zwei Tagen fest! Der Wind schläft ein. Das Eis draußen schließt sich mehr und mehr. Wie es scheint, sollen wir den ganzen Winter an diesem Felsen hängen bleiben, wenn nicht der Himmel noch einen günstigen Wind schickt, der das Eis fortjagt und uns einen Weg nach Norden öffnet.
Am 15. kam ein plötzlicher Windstoß und warf unsere Brigg auf die Felsbank. Sie stampfte schwer, hatte aber nirgends Schaden genommen. Vom Heck legten wir ein Tau nach einem festsitzenden Eisberge.
Welch verwünschter Hundekrawall! Schlimmer, als hätte eine ganze Straße von Konstantinopel sich auf unser Deck ausgeleert. Unbändige, diebische wilde Bestien! Keine Bärenpfote, keinen Eskimoschädel, keinen Korb mit Moos, nichts kann man eine Minute in ihrem Bereich lassen, ohne daß sie darauf losstürzen und es nach Kampf und Geheul verschlingen! Ich habe gesehen, wie sie sich an ein ganzes Federbett machten, und erst diesen Morgen verschlang eine dieser Karsukbestien zwei ganze Vogelnester, die ich eben vom Felsen geholt hatte – Federn, Schmutz, Steine, Moos – zusammen wenigstens einen Viertelscheffel. Wenn wir eine Eisflarde, einen Eisberg oder Land erreichen, so springt die ganze Meute fort und läßt sich weder durch Worte noch durch Schläge zurückhalten. Zwei unserer größten Hunde waren bei der Nebelinsel zurückgeblieben, und ich mußte zu ihrem Einfangen ein Boot mit Leuten abschicken, die sich acht Meilen weit durch Wasser und Eis arbeiten mußten, ehe sie die Ausreißer trafen. Man fand sie fett und frech bei den Resten eines toten Narwals. Nach stundenlanger Jagd wurde der eine gefangen und gebunden zurückgebracht – der andere mußte seinem Schicksal überlassen werden.
Die Bildung des Jungeises scheint durch den bedeckten Himmel verzögert zu werden: es hat in der Nacht vom 16. August nur dreiviertel Zoll stark gefroren. Am 17. morgens gelang es uns, mit unserm »roten Boot« bis zu dem mächtigsten der Eisberge vorzudringen, die auf der Seeseite in einer langen Reihe auf dem Grunde festsitzen. Ich erklomm ihn in der Hoffnung, irgendeine Schlippe zu erspähen. Doch soweit das Auge reichte, war nichts als Eis zu entdecken, einige Wasserlöcher ausgenommen, die sich wie Tintenspritzer auf einem Tischtuch ausnahmen. Im Osten dehnt sich die grönländische Küste hin und läßt nicht weniger als fünf Landvorsprünge zählen, bis sie im geheimnisvollen Norden verschwimmt.
Am Nachmittag setzte straffer Wind von Norden ein. Die Eisflarden scheuerten unbarmherzig an den drei schweren Tauen, mit denen wir uns an die Felsen geklammert. Sie hielten tapfer aus, aber um Mitternacht sprang das schwächste von drei Zoll Stärke. Im Dankgefühl dafür, daß diese kleine Felseninsel uns so tapfer gegen die vorbeidrängenden Eismassen beschützt, haben wir sie Gottesgabe ( godsent ledge) genannt.
19. August:
Der Himmel sieht drohend aus; die Vögel scheinen dem Wetter nicht zu trauen, denn sie haben den Kanal verlassen. Aber die Walrosse umkreisen uns in Scharen; sie kommen uns bis auf zwanzig Schritt nahe, schütteln ihre finsteren Häupter und wirbeln mit ihren Hauzähnen das Wasser auf. Ich habe immer gehört, daß die Annäherung dieser sphinxköpfigen Ungeheuer an das Land Sturm bedeutet. Wir wünschten einen geschützten Zufluchtsort zu finden und haben gestern die Brigg nach dem Südende der Klippe gezogen.
Am 20. morgens stürmte ein schwerer Orkan. Wir hatten ihn kommen sehen, hatten drei starke Haltetaue ausgelegt und alles an Bord wohlverwahrt. Der Sturm aus Norden kam stärker und stärker und brüllte wie ein Löwe. Das Eistreiben wurde so wild, wie ich es kaum je gesehen. Ein lauter gellender Krach sagte mir, daß unser sechszölliges Haltetau gesprungen war. Das Schiff schwankte an den beiden übrigen hin und her. Eine halbe Stunde später kam ein zweiter Knall – es war wieder ein Tau geplatzt – aber unser schönes zehnzölliges Manilahanftau hielt noch. Wir hörten seine tiefen Aeolstöne durch das Geknatter und Wehklagen des Takelwerkes hindurch – aber es war sein Sterbegesang: es sprang mit einem Krachen wie ein Kanonenschuß; und wir wurden hineingerissen in die wüste Jagd des sturmgepeitschten Eises.
Stunden vergingen unter harter Arbeit, ohne daß wir unsere Lage irgendwie zu verbessern vermochten. Es blieb uns nur übrig, das Steuer dadurch einigermaßen in der Gewalt zu behalten, daß wir freiwillig dahin gingen, wohin wir sonst doch gerissen worden wären. Um 7 Uhr morgens lagen wir dicht bei aufgetürmten Eismassen. Wir warfen unsern schwersten Anker aus, in der verzweifelten Hoffnung, das Schiff wenden zu können – aber für den Eisstrom, der uns folgte, gab es keinen Widerstand. Wir hatten gerade noch Zeit, einen Balken als Boje an die Ankerkette zu binden, worauf wir sie schießen ließen. Unser Hauptanker war verloren!
Wieder trieben wir vor dem Winde und scheuerten hilflos an den Kanten von 30 bis 40 Fuß dicken Eisfeldern hin. Nie hatte ich so dickes Eis und in so hastigem Jagen gesehen. Eine überstürzende Masse erhob sich höher als unser Schiffskörper, zerquetschte unsere Schanzbekleidung und warf uns einen zehn Zentner schweren Eisklumpen auf Deck. Unsere tapfere kleine Brigg bohrte sich durch all dies Wirrsal hindurch, als hätte sie ein gefeites Leben.
Jetzt aber zeigte sich ein neuer Feind vor uns: gerade in unserer Fahrtrichtung, dicht neben der Kante des Eisfeldes, gegen die wir bald anrannten, bald längs derselben hinschleiften, lag eine Gruppe von Eisbergen. Wir vermochten ihnen unmöglich auszuweichen; und es fragte sich nur, ob wir an ihnen in Stücke zerschellen sollten oder ob sie uns einen willkommenen Winkel zum Schutz gegen den Sturm bieten würden. Als wir näher kamen, sahen wir, daß zwischen ihnen und der Eiskante noch etwas offenes Wasser war, und unsere Hoffnung wuchs, als uns der Wind in diesen Engpaß hineinjagte. Schon hatten wir ihn fast hinter uns, als aus unbekannter Ursache, wahrscheinlich durch den Rückprall des Sturmes von den hohen Eiswänden, die Brigg ihre Bewegung verlor. Im selben Moment bemerkten wir, daß die Eisberge überhaupt nicht ruhig lagen: sie rückten in selbständiger unaufhaltsamer Bewegung gegen den Rand des Eisfeldes vor – und so schien es uns denn bestimmt, in dieser Bewegung zerquetscht zu werden.
Gerade jetzt kam ein breites Eiswallstück oder flacher Berg von Süden angetrieben. Plötzlich fiel mir ein, wie wir uns einmal in der Melvillebai aus einer ähnlichen Lage gerettet hatten. Und während das riesige Eisstück rasch an unserer Langseite hintrieb, gelang es, einen Eisanker in eine seiner schrägen Flächen einzuschlagen und ein Tau anzulegen. Es war ein Augenblick von dramatischer Spannung: Unser edles schneeweißes Schleppferd zog scharf an; Schaum und Wasser spritzten an seiner Windseite hoch, und sein gigantischer Kopf pflügte wie zum Spaße das niedere Eis auf. Die Berge rückten währenddem immer näher, und die Fahrtrinne wurde zuletzt so eng, daß unser Quarterboot zertrümmert worden wäre, hätten wir es nicht von der Außenseite hereingenommen. Mit genauer Not kamen wir durch und lagen nun auf der Unterwindseite eines Eisberges in verhältnismäßig freiem Wasser. Wohl niemals haben hartgeprüfte Menschen so inbrünstig wie wir für ihre Rettung von elendem Tode gedankt!
Der Tag hatte schon sein gutes Teil Plage gehabt, aber es sollte noch mehr kommen. Ein Windstoß jagte uns wieder aus unserm Versteck auf, und die Brise trieb uns bald wieder zwischen das Eis hinein, wo wir je nach Umständen den feindlichen Begegnungen teils durch Bugsieren auszuweichen suchten, teils uns auf die Widerstandsfähigkeit des Schiffes gegen den Eisdruck verlassen mußten, während wir ein andermal wieder mit tollem Anlauf eine halboffene Spalte durchbrachen. Wir verloren unsern Klüverbaum und die Stützen unserer Schanzverkleidung und mußten das rote Boot mit drei braven Genossen und ihrem Bugsierzeug hinter uns auf den treibenden Eisfeldern lassen. Ein kleiner Kessel offenen Wassers nahm uns endlich auf. Wir lagen nun hart an einem hochragenden, mauergleich sich erhebenden Vorgebirge; ein festgefahrener Eisberg deckte uns gegen den Wind. Hier unter der düsteren Grönlandsküste, zehn englische Meilen nördlicher als der am Morgen verlassene Ankerplatz, gingen die Mannschaften zur Ruhe. Ich wagte nicht, ihnen zu folgen; denn der Wind blies ungeschwächt, und das Eis drückte so stark auf unsern Eisberg, daß er ins Wanken geriet und sein Gipfel einmal gerade über unserm Schiff schwebte. Meine armen Leute hatten nur einen kurzen Schlaf. Kaum waren sie wieder auf Deck, so brach das Eis unsern kleinen Hafen auf. Wir wurden rückwärts geworfen, unser Steuerruder zersplittert und der Ruderhaken abgedreht. Nunmehr begannen die Quetschungen, das Nippen. Den ersten Rippenstoß hielt die Brigg tapfer aus und richtete sich graziös wieder auf. Jetzt aber kam ein wahrer Eisveteran, eine über zwanzig Fuß dicke alte Flarde, mit Zungen und Zellen besetzt. Hiergegen vermochten Holz und Eisen nichts! Glücklicherweise hatte die nach der Küste gekehrte Seite unsers Eisberges eine schiefe Ebene, die tief ins Wasser hinabstieg und da hinauf wurde die Brigg getrieben, als würde sie mit einer großen Dampfschraube in ein Trockendock gehißt. Einen Augenblick fürchtete ich, daß sie sich auf die Seite legen würde; aber einer jener merkwürdigen Momente des plötzlichen Nachlassens, die ich anderswo Pulsierungen des Eises genannt habe, brachte uns ganz allmählich wieder herunter, und wir wurden nun aus der Drucklinie weg an die Küste gedrängt. Hier gelang es, ein Tau auszuwerfen und uns festzumachen. Als die Flut sich verlaufen hatte, saß das Schiff auf Grund und würde sich seewärts umgelegt haben, hätte nicht eine neben uns gelagerte Eismasse es durch Gegendruck verhindert.
Nach sechsundfünfzigstündigen schweren Kämpfen hatten wir jetzt endlich einmal Ruhe. Die tapfere und ruhige Haltung meiner Leute war bewunderungswürdig. Der Tumult des Eises bei See erweckt oft den Eindruck von Gefahr, die nicht vorhanden ist. Aber diese fürchterliche Fahrt mit all ihren Schreckensszenen würde selbst die Nerven des gestähltesten Eisfahrers erschüttert haben. Offiziere und Mannschaften arbeiteten mit gleichem Eifer. Bei jedem Zusammentreffen mit dem Rande des Eisfeldes, das wir auf unserer Treibfahrt unter dem Winde hatten, fanden sich Freiwillige, um die Taue hinüber zu schaffen; und mehrmals hätten Einzelne aus Pflichteifer fast das Leben eingebüßt. Herr Bonsall entging der Zerquetschung nur durch einen verwegenen Sprung auf eine treibende Eisscholle, und nicht weniger als vier meiner Leute wurden auf einmal vom Treibeis fortgetragen und konnten erst wieder hereingeholt werden, als der Sturm sich legte.
Als die Brigg ihre gefährliche Bergfahrt begann, war die Spannung natürlich überwältigend. Immer neue ungeheure Blöcke stürmten heran, faßten sie unter dem Kiel und warfen sie auf die Seite, bis sie dem wachsenden Andrang wich und langsam ihre abschüssige Bahn hinauf zu gehen begann. Höher und höher ging es – all ihre Fugen krachten und stöhnten – wir alle standen lautlos und unbeweglich.
Und als sie endlich so glücklich wieder hinabglitt und sich ruhig zwischen die Eistrümmer einbettete, atmeten wir tief auf. Doch erst nach längerer Pause fand der Strom der gegenseitigen Beglückwünschungen seinen Ausweg.