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Der Winter kam nun schnell heran. Das Jungeis kittete alle Schollen zu einer einzigen Masse zusammen, so daß wir um das Schiff herum Schlitten fahren konnten. Etwa 60 Schritt nördlich von uns war ein Eisberg festgefroren, unser Nachbar während unsers Aufenthaltes in dieser Bucht, die wir Rensselaerhafen nannten. Die Felseninselchen um uns waren mit Hummocks eingesäumt. Die Vögel hatten Abschied genommen; sowohl die Scharen der Seeschwalben wie die ihnen nachstellenden graurückigen Möven, die spätesten Wanderer außer der Schneeammer, waren nach Süden gezogen.
Wir hatten jetzt alle Hände voll wichtiger Dinge zu tun. Die lange Nacht, in der niemand wirken kann, war vor der Tür. Im nächsten Monat verlieren wir die Sonne. Astronomisch genommen soll sie am 24. Oktober verschwinden; aber unser Horizont ist durch eine Bergkette verdeckt. So können wir, selbst wenn wir die Lichtbrechung so stark als möglich annehmen, nicht darauf rechnen, sie nach dem 10. noch zu sehen.
Vor allen Dingen müssen wir den Schiffsraum leeren und für die Vorräte eine Niederlage auf einer der kleinen Inseln errichten. Eine Abteilung ist scharf bei der Arbeit; denn der Kanal, in dem die Landungsboote gehen, muß jeden Tag neu durchs Eis gehauen werden. Ein anderes wichtiges Kapitel ist der Winterproviant. Auf Wild ist im Smithssund offenbar wenig oder gar nicht zu rechnen, und Salzfleisch ist in Situationen wie der unserigen stets ungesund. Glücklicherweise bietet ein offenbleibender Süßwasserteich in unserer Nähe die Möglichkeit, unsere gesalzenen Vorräte einigermaßen auszusüßen. Schnitte von Salzfleisch werden an Schnüre gereiht wie Aepfelschnitte; und diese Girlanden hängen wir unter dem Eise ins Wasser. Die zu Fiskernaes gekauften Salzfische packen wir in durchlöcherte Fässer und hängen sie unter Wasser. Unser Pökelkraut erfährt eine ähnliche Behandlung. All diese Artikel werden zwölf Stunden lang abwechselnd eingeweicht und dem Frost ausgesetzt, indem vor jedem neuen Eintauchen die entstandene Eiskruste entfernt wird.
Alle Hände sind voll beschäftigt: die einen nehmen die Vorräte auf, andere bauen das Bretterdach über das Schiff, während ich selbst mit dem Entwurf der inneren räumlichen Anordnung im Schiff beschäftigt bin, die so luftig, trocken, warm und behaglich als irgendmöglich werden soll. Den Platz für unser Observatorium haben wir etwa 1000 Yards vom Schiffe entfernt gewählt, und die Leute schleppen bereits die Steine dazu auf Schlitten heran.
Neben der Einrichtung unserer Winterquartiere beschäftigen mich die Vorbereitungen für Lebensmitteldepots längs der grönländischen Küste. Meines Wissens ist Kennedy der einzige gewesen, der im Oktober und November in arktischen Breiten Unternehmungen im Freien ausführte. Für unsere künftigen Pläne aber hielt ich es für wichtig, daß die Depots vor Einbruch der Dunkelheit fertig seien. Es sollen, mit Zwischenräumen, drei werden; so weit als möglich vorgeschoben. Im ganzen sollen sie etwa 1200 Pfund Proviant, darunter 800 Pfund Pemmikan, erhalten. Mein Forschungsplan für die Zukunft hing nämlich geradezu von dem Gelingen dieser Anlagen ab. Mit einer Kette von Depots längs der Küste konnte ich meine Reise mit Hilfe der Hunde leicht weiter ausdehnen. Diese edlen Tiere bilden die Voraussetzung unserer künftigen Operationen. Der einzige Uebelstand bei ihrer Benutzung als Zugtiere liegt darin, daß sie auf Reisen nicht die Menge Futter schleppen können, deren sie bedürfen. Ein schlecht gefütterter und ein schwer beladener Hund sind aber für eine längere Reise gleich nutzlos. Mit Proviantdepots zur Seite konnten wir dagegen ohne Ladung losfahren und brauchten uns erst später zu versorgen.
Ich besaß teils Eskimohunde, teils Neufundländer. Von letzteren hatte ich zehn. Sie waren sorgfältig lediglich auf Stimme dressiert, so daß sie ohne Peitsche vor dem Schlitten gingen und sich durch ihre Lenksamkeit im schweren Lastzuge recht nützlich zu machen versprachen. Schon jetzt fuhr ich sie häufig vor einem leichten Schlitten ein, und zwar zwei nebeneinander, während die Eskimohunde einzeln hintereinander gehen. Sechs Neufundländer bilden einen starken Schlittenzug; schon vier von ihnen zogen mich und meine Instrumente mit Bequemlichkeit auf kleineren Ausflügen in die Nachbarschaft. Der dazu gebrauchte Schlitten war mit der Sorgfalt eines Kunsttischlers aus völlig trockenem amerikanischen Hickoryholz gebaut; die beste Krümmung der Kufen war durch Versuche ermittelt worden; die Kufen waren mit Schienen von weichem Stahl belegt, die mit leicht auszuwechselnden kupfernen Bolzen befestigt waren. Alle Teile des Schlittens waren mit Riemen von Seehundsfell zusammengebunden, so daß er sich allen Gestaltungen des Bodens fügte und plötzlichen Stößen durch Nachgeben widerstand. Er vereinigte in sich restlos die drei Haupttugenden: Leichtigkeit, Dauerhaftigkeit und möglichst geringe Reibung. Dieser schöne, praktische und ausdauernde Schlitten hieß »Little Willie«.
Die Eskimohunde blieben für die eigentlichen großen Aufsuchungsexpeditionen vorbehalten. Sie waren damals noch in halbwildem Zustande, in dem sie dem Wolfe so ähneln, daß sie nach der Versicherung ihres Wärters Petersen für Reisen auf solchem Eise, wie wir es vor uns hatten, ganz unbrauchbar waren. Damals hatte noch keine harte Erfahrung mir die Augen geöffnet über den unschätzbaren Wert dieser Tiere. Erst in der Folgezeit sollte ich ihre Kraft und Schnelligkeit kennenlernen; ihre geduldige, ausdauernde Tapferkeit, den Scharfsinn, womit sie sich in den Eiswüsten und Morästen zurechtfinden, in denen sie geboren und aufgewachsen waren.
Auf unserm früheren Ausfluge hatte ich festgestellt, daß der Eisgürtel mit seinen vielen Hindernissen zur Zeit für Schlitten nicht gangbar war; das äußere Eis war es noch weniger, da ihm noch der Zusammenhang fehlte. Zwar hatte infolge der eingetretenen Kälte das Treiben nach Süden aufgehört; doch die einzelnen Felder waren noch so wenig miteinander verwachsen, daß jeder Windstoß und selbst die Flut sie übereinandergeschoben hätte. Das Eis wurde noch unwegsamer durch die zahlreichen Eisberge, die infolge von Strömungen in der Meerestiefe ihren südlichen Weg unbeirrt fortsetzten und mit unwiderstehlichem Anlauf das stehende Eis zu Barrikaden aufpflügten. Deshalb war es am geratensten, mit den Schlittenexpeditionen zu warten, bis das Jungeis tragfähig geworden. Dies zieht sich jetzt in einem Gürtel von der Breite einiger hundert Ellen dicht an der Küste hin und würde bereits betretbar sein, wenn nicht Ebbe und Flut störend einwirkten.
Für die erste Expedition wurde ein starker, 14 Fuß langer und vier Fuß breiter Schlitten ausgerüstet, der leicht 1400 Pfund Lebensmittel aufnehmen konnte. Den Vorspann bildeten sieben Mann mit Zugleinen und Schulterbändern. Die Ladung bestand fast ausschließlich aus Pemmikan, teils in verzinnten Eisenzylindern mit konischen Enden, teils in starken, eisenbeschlagenen Fässern von etwa 70 Pfund Inhalt. Auf die Ladung wurde ein leichtes Gummiboot gestaut; für den Fall, daß offenes Wasser angetroffen würde. Die persönliche Ausrüstung der Mannschaft bestand in einem Büffelpelz als gemeinschaftliches Lager, und für die einzelnen in einem Flanellsack zum Hineinkriechen. Gummituch schützte die unteren Extremitäten gegen Nässe. Hierzu kam noch ein Zelt von Segeltuch. Später lernten wir unsern Reisebedarf immer mehr verringern und fanden, daß unsere wirkliche Bequemlichkeit und Reisetüchtigkeit gerade um soviel zunahm, als wir die Ausrüstung vereinfachten und vermeintlich notwendige Dinge fortließen. Schritt vor Schritt verkleinerten wir, solange uns die Pflicht in der arktischen Zone festhielt, unsern Bedarf für Schlittenreisen; bis wir zuletzt bei dem von den Eskimos angenommenen Ultimatum der Einfachheit – rohem Fleisch und Pelzsack – anlangten.
Während unserer Vorbereitungen für den Winter hatte ich zwei meiner Leute nebst dem Eskimo Hans ausgesandt, um das Innere des Landes zu prüfen und festzustellen, welche Hilfsmittel an Wild es bieten möchte. Am 16. September kehrten sie nach einer harten, mit Mut und Umsicht ausgeführten Reise zurück, nachdem sie 90 englische Meilen weit ins Innere vorgedrungen. Hier waren sie durch einen 400 Fuß hohen prächtigen Gletscher aufgehalten worden, der nach beiden Seiten kein Ende absehen ließ. Sie fanden keine großen Seen, sahen von fern einige Renntiere, zahlreiche Hasen und Kaninchen, aber keine Schneehühner.
Nun wollte ich unsere Schlittenexpedition nicht länger zurückhalten, und so verließ sie am 20. September das Schiff mit einem dreimaligen Hurra! Unsere eigentliche Schiffsmannschaft besteht jetzt nur noch aus drei Mann, denn alle Offiziere nebst dem Arzt sind eifrig mit Bau und Einrichtung der Sternwarte beschäftigt.
Die Insel, auf der wir die Sternwarte errichteten, ist etwa 50 Schritt lang und 40 Schritt breit und erhebt sich ungefähr 30 Fuß über den Wasserspiegel. Hier erbauten wir aus Granitblöcken ein Mauerviereck, wobei Moos und Wasser unter Beistand des nie versagenden Frostes den Mörtel lieferten. Obenauf legten wir ein derbes Holzdach, mit einer Oeffnung gegen den Meridian und Zenith. Als Ständer hatten wir eine Mischung von Sand und Eis, indem wir nassen Sand in eisenbeschlagene Pemmikanfässer fest einstampften. Sie waren so frei von Erschütterung wie der Fels, auf dem sie standen. Hier stellten wir unsern Theodoliten und das Passage-Instrument auf. Die magnetische Warte wurde nebenan in ähnlicher Weise, nur etwas wohnlicher, eingerichtet, denn sie hatte außer dem Holzdach auch Dielen und einen kupfernen Feuerrost. Hier befanden sich Magnetometer und Inklinatorium. Das Häuschen für Wetterbeobachtungen wurde ein Stück vom Schiff auf dem freien Eise errichtet und mit Wasser fest an seine Unterlage gekittet. Durch offen gelassene Spalten und überall angebrachte Bohrlöcher war der Luft ein völlig freier Zugang gestattet. Zur Abhaltung des überall eindringenden, fast unfühlbar feinen Schneegestöbers wurden im Innern mehrere Schirme zusammengestellt und in der dadurch gebildeten Kammer die Thermometer aufgehangen. Durch eine Glastafel konnte das Licht einer Laterne die Instrumente erleuchten, und mit Hilfe eines Perspektivs vermochte man die Grade von weitem abzulesen, so daß die sehr empfindlichen Instrumente durch die Nähe des Beobachters nicht gestört wurden.
30. September:
Wir haben entsetzlich von Ratten zu leiden. Vor einigen Tagen versuchten wir sie auszuräuchern, und zwar nach einem so widerwärtigen Rezept, als wir uns irgend ersinnen konnten: Schwefel, verbranntes Leder und Arsenik. Wir brachten eine eisige Nacht auf Deck zu, um der Sache ihren Lauf zu lassen, doch die Ratten überlebten das Experiment. Jetzt beschlossen wir sie durch Kohlensäure zu ersticken. Wir zündeten eine Quantität Holzkohlen an, schlossen die Luken und verstopften alle Ritzen. Unten in dem abgeschlossenen Raume entwickelte sich das Gas außerordentlich rasch, und es war alle Veranlassung zu größter Vorsicht geboten. Unser französischer Koch aber, der brave, tollkühne und diensteifrige Pierre Schubert, stahl sich ohne mein Wissen und Willen hinab, um eine Suppe zu würzen. Zum Glück sah ihn Morton im Finstern taumeln und fallen und stürzte ihm nach. Beide mußten heraufgezogen werden – Morton fast ganz entkräftet, der Koch völlig besinnungslos.
Diesem Unglück folgte ein größeres: wir waren nahe daran, völlig abzubrennen. Während des ersten Unfalls war die angeordnete Ueberwachung der Feuer und das zeitweilige Oeffnen der Luken versäumtworden. Als ich eine Laterne hinabließ, die augenblicklich verlöschte, schlug mir ein verdächtiger Geruch wie von brennendem Holz entgegen, Sofort stieg ich hinab und sah vom Verdeck des Vorderkastells aus, daß bei den Oefen alles in Ordnung war; als ich mich jedoch zurückwandte, sah ich an einer andern Stelle des Decks eine Kohlenglut von etwa drei Fuß Durchmesser. Das Gas begann bereits auf mich zu wirken, meine Laterne erlosch, als würde sie mit Wasser übergossen, und ich wäre am Fuße der Leiter hingestürzt, hätte nicht einer von oben meinen Zustand bemerkt und mich heraufgeholt. Nachdem ich mich erholt, entdeckte ich den vier um mich versammelten Männern mein furchtbares Geheimnis. Vor allem mußte Verwirrung vermieden werden. Wir warfen die Türen der Mittelwand zu, um die übrige Mannschaft im Hinterteil des Schiffes zurückzuhalten, und holten aus dem Löschloch neben der Brigg Wasser herauf. In weniger als zehn Minuten war die Gefahr beseitigt. Als Ursache des Brandes fanden wir, daß sich ein Rest Holzkohlen in einem Fasse der Zimmermannskajüte auf unerklärliche Weise entzündet hatte. Das Löschloch hatte sich glänzend bewährt; und ich war erfreut, daß dies im hohen Norden so wichtige Erfordernis bei unseren sonstigen schweren Pflichten nicht versäumt worden war. Dabei war das Eis um die »Advance« bereits 14 Zoll stark. – Als wir am nächsten Tag nach dem Erfolg unserer Maßregel sahen, konnten wir achtundzwanzig wohlgenährte Ratten aus allen Lebensaltern sammeln.
Dieser Tage fanden wir an der Küste nach Südost alte, aber deutliche Spuren von Eskimoschlitten. Dies läßt hoffen, daß die Leute diesen Winter wieder hierher kommen werden. Auch besuchte ich eine Gruppe verlassener Eskimohütten, die etwa drei Meilen vom Schiffe entfernt waren.
Unser Hundevolk hat sich vermehrt. Von dem Nachwuchs haben wir vier vielversprechende Welpen aufgespart, sechs sind schimpflich ersäuft, zwei mußten für mich ein Paar Handschuhe abgeben, und sieben wurden von den zärtlichen Müttern aufgefressen. Gestern zeigte eine der Hundemütter auffällige Symptome. Wir erinnerten uns, daß sie schon seit einigen Tagen das Wasser gemieden und nur widerwillig und unter Krämpfen gesoffen hatte – aber an Wasserscheu dachten wir bei 70° nördlicher Breite natürlich nicht. Das Tier war am Morgen mit taumelnden Schritten, hängendem Kopf und schaumiger Schnauze auf Deck hin und her gelaufen. Schließlich schnappte es nach Petersen und fiel schäumend und umsichbeißend zu seinen Füßen nieder. Widerstrebend sprach er das Wort »Wasserscheu« aus und bat mich, den Hund zu erschießen. Ein Zögern gab es nicht mehr. Denn er war schon wieder aufgesprungen, schnappte nach Hans und begann seinen taumelnden Trott von neuem. Natürlich wurde er erschossen.
Die Hasen beginnen sich seltener zu zeigen; sie ziehen sich nach der Küste, wenn der Schnee im Innern sich häuft. Petersen ist im Abschuß dieser Tiere sehr erfolgreich; wir haben jetzt vierzehn zur Verfügung. Häufig fanden wir auch Spuren von Füchsen und haben für sie Steinfallen gebaut.
Ich fahre jetzt meine Eskimohunde vor dem Schlitten ein, bis mir der Arm weh tut. Um solch ein Gespann mit Erfolg zu führen, ist die Peitsche unentbehrlich. Sie verlangt, so gut wie das Fechtrapier, eine ganz besondere Einübung. Die Peitsche ist sechs Yards lang, der Stock nur sechzehn Zoll; und mit diesem kurzen Hebel muß ein so langer Seehundriemen vorwärtsgeschnellt werden. Wer das nicht meisterlich kann, muß auf das Schlittenfahren verzichten. Denn die Hunde gehen bloß auf Peitsche, und man muß nicht allein jeden der zwölf, die den Zug bilden, besonders zu treffen wissen, sondern der Schlag muß auch von einem lauten Knall begleitet sein. Das Zurücknehmen der Peitsche hat ebenfalls seine Schwierigkeiten, weil sie sich leicht in den Hunden und Leinen verwickelt oder sich um Steine und Eisklumpen schlingt und einen kopfüber in den Schnee reißt. Die Regel bei Ausführung dieser verschiedenen Bewegungen ist, daß man mit steifem Ellenbogen einen Kreis um die Schulter beschreibt und den Schlag selbst nur aus dem Handgelenk führt. Solchem Schlag an das Ohr oder den Vorderlauf des armen Hundes folgt ein Geheul, dessen Bedeutung unzweifelhaft ist.
Die Schlittenexpedition ist jetzt, am 10. Oktober, zwanzig Tage fort und könnte zurück sein. Ihre Lebensmittel müssen sehr zusammengeschrumpft sein, da ich ihnen einschärfte, jedes nur irgend abzusparende Pfund in die Depots zu legen. Ich fahre mit Lebensmitteln aus, um nach ihnen zu sehen, und nehme vier unserer besten, völlig dressierten Neufundländer und den leichtesten Schlitten. Blake wird mich auf Schlittschuhen begleiten. Das Eis ist zu unsicher, und wir haben zu wenig Hunde, um einen schweren Zug auszurüsten. Das Thermometer steht noch immer 4° über Null (12-1/2° Kälte nach R.).
Das Eis zeigte keine Schwierigkeit, bis wir aus der Bucht herauskamen und uns nach rechts wandten. Hier fanden wir, daß die große Eisfläche vor uns durch Springfluten zerbrochen war und sich in jeder Richtung Spalten öffneten. Natürlich suchte ich schnellstens das feste Land zu gewinnen. Aber unglücklicherweise war gerade Ebbe, und der Eisgürtel ragte mauerhoch über uns. Mir lag alles daran, ein Asyl am Lande zu finden. Denn wenn die mehr nach außen das junge Eis umgebenden alten Eisfelder auch eine zeitweilige Zuflucht boten, so liefen wir hier wieder Gefahr, mit dem Treibeis fortgerissen zu werden. Die Hunde wurden matt, aber sie mußten vorwärts. Wir waren ja nur zwei Mann. Und wenn den Hunden einmal der Sprung über eine der so rasch sich mehrenden Eisspalten mißlingen sollte, so war kaum zu hoffen, daß wir unsern beladenen Schlitten retteten. Dreimal in zwei Stunden waren die beiden Hinterhunde bereits eingesunken. John und ich hatten nun schon 14 Meilen neben dem Schlitten hertraben müssen und waren so müde wie unsere Hunde. Dieser Stand der Dinge durfte nicht länger dauern; ich beschloß, seewärts auf das alte Eis zu gehen. Rasch näherten wir uns ihm; da kam eine breite Spalte, die Hunde machten einen Fehlsprung – und alles lag im Wasser. Eiligst durchschnitten wir die Leinen und halfen den armen Tieren heraus. Der zinnerne Kochapparat und die Luft in den Kautschukdecken hielten den Schlitten schwimmend, so daß wir ihn nach vieler Mühe unter Beihilfe der Hunde wieder auf das Eis brachten. Obgleich wir bei etwa 15° Kälte völlig durchnäßt waren, hatten wir doch nicht Zeit, viel darüber nachzudenken, sondern rannten mit den Hunden um die Wette unserm Ziele zu, während wir in der kalten Luft wie ein paar Lokomotiven dampften. Das alte Eis war so fest gefroren, daß wir unser Zelt nicht aufzuschlagen vermochten. Wir krochen in unsere Büffelsäcke und fanden sogar etwas Schlaf, bis es heller wurde und wir unsere Reise in derselben Weise fortsetzten. Sehr angenehm war es uns, zu finden, daß die Eisspalten sich bei Eintritt der Flut mehr schlossen; und so erreichten wir bei Hochwasser glücklich den Eisgürtel unter den Klippen. Dieser hatte sich seit unserer Septemberreise sehr verändert. Fluten und Frost hatten ihn spiegelglatt gemacht; und ich sah, daß wir an ihm eine sehr gute Straße für künftige Expeditionen haben würden.
Die folgenden Nächte vergingen besser, als nach unserm durchweichten Zustande zu erwarten war. Wir hingen das Zelt und die Pelze in die Luft und klopften den Schnee heraus, wodurch sie allmählich wenigstens soweit trockneten, daß wir darin schlafen konnten. Die Hunde schliefen mit uns im Zelt und teilten uns ihre Wärme und ihren Duft mit.
Als ich am 15. November etwa zwei Stunden vor dem späten Sonnenaufgang einen Eisberg erkletterte, um Umschau zu halten, entdeckte ich in der Ferne auf dem weißen Schnee einen dunklen Gegenstand, der sich nicht nur bewegte, sondern auch seine Formen sonderbar wechselte und bald eine lange, schwarze, wogende Linie bildete, bald sich in einen Knäuel zusammenzog. Es war unsere zurückkehrende Reisegesellschaft. Wir konnten uns im Zwielicht noch nicht deutlich erkennen, doch das erste gute Zeichen war, daß ich sie singen hörte. Ich zählte ihre Stimmen – Gott sei Dank, es waren noch sieben. In wenigen Minuten trafen wir zusammen. Im ganzen waren sie wohlauf, obwohl keiner war, der nicht vom Frost irgendeinen Denkzettel erhalten hätte. Gemeinsam kehrten wir zum Schiff zurück, nachdem ich meine eigenen Schlittenvorräte in ein Versteck hatte legen lassen.
Die Expedition hatte eine tüchtige Reise gemacht, ihren Auftrag zufriedenstellend ausgeführt und mancherlei Abenteuer bestanden. Am 25. Tage ihrer Fahrt längs der grönländischen Küste wurden sie unerwartet durch einen mächtigen Gletscher an weiterem Vordringen gehemmt ...
Die Oefen und Züge des Schiffes bewähren sich so glänzend, daß wir unten eine mittlere Temperatur von 65° (15° R.) erhalten können und noch oben unter dem Bretterdach das Thermometer über dem Gefrierpunkt steht, während draußen die Kälte 25° unter Null ist und ein scharfer Wind weht.
Der November ist da. Die Winternacht schleicht heimtückisch heran; ihre Fortschritte lassen sich nur durch Vergleich eines Tages mit einem einige Zeit früher vergangenen erkennen. Noch lesen wir das Thermometer zu mittag ohne Licht; und die schwarzen Hügelmassen mit ihren grellen Schneeflecken sind etwa fünf Stunden lang erkennbar. Alles übrige ist in Finsternis versunken. Laternen stehen beständig auf dem Oberdeck, und unten werden die Specklampen nicht mehr ausgelöscht. Sterne sechster Größe glänzen, ohne zu irgendeiner Tageszeit zu verblassen. Außer auf Spitzbergen (das jedoch die Vorteile eines durch Strömungen gemilderten Inselklimas für sich hat) hat noch kein Christenmensch jemals in so hohen Breiten überwintert wie wir. Und dort auf Spitzbergen sind es abgehärtete russische Schiffer. Die Finsternis um uns wird noch 90 Tage dauern, bevor wir auch nur das gespenstige Zwielicht wiedersehen, das jetzt herrscht. Der ganze Winter wird 180 sonnenlose Tage zählen und wird nach allen Anzeichen ungewöhnlich streng.
Unter solchen Umständen ist es schwer, die Mannschaft bei guter Stimmung zu erhalten. Der arme Hans, unser Eskimojäger, litt bitter unter Heimweh. Einmal packte er seine Sachen zusammen und nahm sein Gewehr, um uns allen Lebewohl zu sagen. Dabei stellte es sich heraus, daß außer seiner Mutter noch eine andere Vertreterin des schönen Geschlechts zu Fiskernaes das Herz des Burschen beschäftigte. Er sah genau so jämmerlich aus wie die unglücklichen Liebhaber in milderen Himmelsstrichen. Ich glaube sein Heimweh kuriert zu haben, indem ich ihm zuerst mal eine Dosis Salz eingab und ihn dann avancieren ließ. Er ist jetzt mit der ganzen Würde eines Leibpagen bekleidet: er schirrt meine Hunde an, baut Fuchsfallen und begleitet mich auf meinen Ausflügen und Rekognoszierungen.
Wir erfinden hunderterlei Mittel gegen die lähmende Langeweile des Winters: wir veranstalten einen Maskenball, und am 21. November erschien die erste Nummer unserer arktischen Zeitung: »Der Eisblink«. Die Artikel sind von Verfassern jedes nautischen Grades, einige der besten stammen vom Vorderkastell. Ein anderes Mal veranstaltete ich ein Fuchs- und Jägerspiel auf dem Verdeck und setzte einen Preis aus für den ausdauerndsten Läufer.
Am 27. November schickte ich einen Trupp Freiwilliger unter Herrn Bonsall aus, um festzustellen, ob Eskimos in die Hütten zurückgekehrt seien, die wir früher auf dem Kap leer gefunden hatten. Das Thermometer stand 40° unter Null (- 35° R.), und der Tag war so finster, daß man zur Mittagszeit nicht lesen konnte. Ich war äußerst erstaunt, bei ihrer Rückkehr zu hören, daß sie eine Nacht auf dem Schnee kampiert hatten. Ihr Schlitten war zerbrochen, weshalb sie Zelte und alles andere hinter sich hatten lassen müssen. Es muß mörderlich kalt gewesen sein; denn eine Flasche vom stärksten Whisky war unter Herrn Bonsalls Kopf gefroren. Am andern Tage machte sich Morton allein auf den Weg, um die zurückgelassenen Sachen abzuholen. Er erreichte auch die Hütten, fand aber keine Bewohner. Dennoch sah er genug, um überzeugt zu sein, daß die Wohnungen erst kurze Zeit vor Ankunft der Expedition verlassen waren. Wohin sich die Leute gewendet haben mochten, blieb allerdings ungeklärt. Das verfallene Aussehen der weiter nördlich angetroffenen Hütten sprach nicht dafür, daß sie diese Richtung eingeschlagen hatten. Wahrscheinlich waren sie südwärts gezogen und dürften mit dem Frühling, den Walrossen und Seehunden wiederkehren.
Mit Einbruch der strengeren Kälte gegen Mitte September waren die letzten Walrosse verschwunden. Bis dahin hatten sie zwischen den Eisfeldern, wenn diese zur Flutzeit auseinanderwichen, noch Wasser genug gefunden, um zu spielen und zu schlafen. Denn das Walroß schläft oft auf dem Wasserspiegel, während seine Genossen sich im Spiel belustigen. Daher konnte ich oft Junge überraschen, weil ihre Mütter eingeschlafen waren. Sie haben zahlreiche Luftlöcher in das feste Eis nahe der Küste getrieben. Diese Löcher sind genau so rund und glattrandig wie die der Seehunde; doch liegen sie in viel dickerem Eis, und die strahlenförmigen Sprünge rund um sie sind viel markierter. Ohne Zweifel zerbrechen die Kolosse das Eis, indem sie aus der Tiefe auftauchen und wuchtig gegen die untere Fläche anrennen. Das Walroß und der bärtige Seehund haben übrigens die Gewohnheiten, aus unbekannten Gründen Steine zu verschlucken.
Am 12. Dezember hatten wir eine Bedeckung des Saturn – ein großes Ereignis in unserm einförmigen Leben.
Vom 15. an schwand der letzte Schimmer des südlichen Zwielichts. Nun kann man nichts Gedrucktes mehr lesen; denn man sieht kaum das Papier und kann eine doppelte Handbreite vom Auge entfernt nicht mehr die Finger zählen! Mittag und Mitternacht sind gleich. Ohne einen schwachen Schimmer, der die Umrisse der südlich gelegenen Hügel erkennen läßt, besäßen wir kein Zeichen, daß diese arktische Welt überhaupt eine Sonne hat. In einer Woche erreichen wir des Jahres Mitternacht.
Ein Ereignis für unsere kleine Gesellschaft: der »alte Grimm«, der Altmeister der Neufundländer Hunde, ist fort. Dieser Hund war ein »Charakter«, wie man sie auch wohl unter höherstehenden Wesen antrifft. Er war ein so vollkommener Heuchler und wußte so einschmeichelnd mit dem Schwanz zu wedeln, daß er jedermanns Zuneigung und niemandes Achtung gewann. Alle abgesparten Bissen und Abfälle passierten Grimms Gurgel; sein Geschmack war universell; nie verschmähte er etwas, das man ihm gab oder das er sich nehmen konnte, und niemals sah man ihn zufriedengestellt. Grimm war ein alter Hund; seine Zähne zeugten von manchem zurückgelegten Winter; und seine Glieder, die ehemals kräftig den Schlitten zogen, waren jetzt mit Warzen und Ueberbeinen bedeckt. Wurden die Hunde zu einer Reise angeschirrt, so konnte man sicher sein, den alten Grimm nirgends zu finden. Und als man ihn bei solcher Gelegenheit einst hinter einem Fasse versteckt fand, war er auf der Stelle »lahm« geworden. Merkwürdigerweise blieb er seitdem immer lahm, außer wenn der Schlittenzug ohne ihn abging. Kälte behagte dem Grimm ganz und gar nicht. Durch geduldiges Wachestehen an der Tür des Deckhauses und unermüdliches Schweifwedeln erlangte er endlich das alleinige Zutrittsrecht. Mein Rock von Seehundsfellen war wochenlang sein Lieblingsbett. Aber mochte Grimm durch Schwanzwedeln auch noch so starke Anhänglichkeit an jemandem zum Ausdruck bringen – er war doch nie zu bewegen, dem Betreffenden auf das Eis zu folgen, nachdem die kalte Nacht angebrochen war. Bis zur Schwelle wedelte einem der alte Sünder nach und nahm dann Abschied mit einer entschuldigenden Schwanzbewegung, die keinen Zorn aufkommen ließ.
Als gestern, am 21. Dezember, ein Trupp ausrückte, um Untersuchungen vorzunehmen, glaubte ich: etwas Bewegung würde Grimm gut tun. Denn von dem Faulenzen in der warmen Kajüte war er unheimlich dick geworden. Eine Leine wurde um ihn geschlungen, weil er bei solchen kritischen Gelegenheiten widerspenstig und sogar wild werden konnte. So wurde er an den Schlitten gebunden und trat übelgelaunt seine Reise an. An einem Rastplatze angekommen, sprengte er mit plötzlichem Ruck die Leine kurz am Schlitten ab und verschwand, sie nach sich ziehend, in der Finsternis; mit Richtung auf das Schiff. Seitdem ist er nicht wieder gesehen worden. Leute mit Laternen begaben sich auf die Suche nach ihm; denn es bestand die Befürchtung, daß sich seine lange Leine in den vielen aus dem Eise aufragenden rauhen Spitzen verwickeln und er so ein hilfloser Gefangener werden würde; da seine Zähne zum Durchbeißen der Leine nicht mehr genügten.
Wir fanden seine Spur im Schnee innerhalb 600 Schritten vom Schiffe; aber sie wandte sich der Küste zu. Es bleibt ein Rätsel, weshalb er nicht wieder an Bord gekommen ist.