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Ich hatte den Ölmantel übergezogen, zwei Sweater, die Ölkappe und hohe Stiefel. Es goß in Strömen. Ein stumpfes Licht lag über dem Kanal und den himmelhohen Wänden. Schwarzes Gewölk, nur mit einzelnen helleren Stellen, schob sich wie eine feste Masse von Süd nach Nord.
»Wir können weiter«, erklärte der Alte kurz. »Südwind bringt hier immer rasches Abflauen des Seeganges. Erst den Buganker, Abelsen ... Zu zweien werden wir's schon trotz unserer zerfetzten Hände schaffen ... Vorwärts! Ich möchte keine Minute verlieren. Wir müssen als erste zur Stelle sein.«
»Wo?« entschlüpfte es mir ...
»Komm, beeilen wir uns ...!«
Der Anker ging hoch. Dann auch am Heck. Ich rollte die Manilataue sauber zusammen, denn Jörnsen wollte es so.
»Wir müssen auf alles vorbereitet sein, Abelsen ... Deshalb habe ich auch den Motor überholt.«
Der Torstensen wendete langsam, und bald waren wir mitten in dem gefürchteten Fahrwasser der Magelhaens-Straße, dieser Verbindung zweier Ozeane. Es wehte hier noch recht anständig, und die niederkommenden Hagelschauer, die dauernden Brecher und die Kälte verwandelten das Deck sehr schnell in eine holprige Eisbahn. Ich stand neben Jörnsen am Ruder, und oft genug mußte ich mit in die Radspeichen greifen, wenn irgendeine Strömung den Torstensen mit geradezu verblüffender Kraft aus dem Kurse drängte. Unsere Mäntel waren längst Eispanzer geworden, unsere Hände abgestorben und ohne jedes Gefühl.
Zunächst steuerte Jörnsen direkt südwärts, also schräg über die Straße hinweg, bis wir unter Wind der Desolation-Insel kamen, ruhigeres Wasser fanden, und nach diesen vier Stunden, in denen Frau Helga uns verschiedentlich heißen Grog gebracht hatte, ein wenig aufatmen konnten. Das Wetter freilich blieb gleich schlecht. Und auch weiterhin fuhren wir nur mit Hilfe des Motors. Unsere Segel wären hier zu Brettern geworden und gerissen.
An der Ostspitze der Desolation-Insel beginnt der engste Teil der Magelhaens-Straße. Feuerland schickt hier eine große Halbinsel tief nach Süden, und in dieser gefährlichen Strecke der mörderischen Passage, die wir gegen neun Uhr abends erreichten, bemerkte ich die traurigen Wahrzeichen von Ultima Thule: Schiffswracks, auf den Klippen hängend oder eingekeilt zwischen Riffen – oft in den wunderlichsten Stellungen –, Dampfer, Segler jeder Größe, manche nur noch Gerippe, andere gut erhalten, aber dick bedeckt mit Rost, rotbraun schimmernd im matten Glanz der Abendsonne, die zeitweise durch das jagende Gewölk hindurchgrinste und uns höhnisch an die vergangenen Sonnen- und Sommertage erinnerte.
Jörnsen ließ den Motor laufen, was er nur hergeben wollte. Halb zehn war es, als der Alte wieder scharf südwärts steuerte, in einen Kanal zwischen zwei Felszungen hinein, deren ungeheure einzelne Blöcke wie Ruinen von mittelalterlichen Wachttürmen aussahen. Er deutete auf die westliche dieser Halbinseln ...
»Santa Ines, Abelsen ...!«
Ich merkte, daß seine eiserne Ruhe ihn verlassen hatte. Er war sichtlich nervös.
Ich hatte mir inzwischen auf der Seekarte die Nordküste der Hauptinsel genau betrachtet, hatte dort Bucht an Bucht gefunden, die meisten nur punktiert, nur angedeutet, nie richtig vermessen. Und vor diesen Buchten an der Insel, die etwa so groß wie Sachsen ist, und an der doch niemand ein Interesse hat, weil die steinigen Gebirgsmassen selbst den Betrieb von Schaffarmen verbieten, überall kleinere Eilande – was man so klein nennt ...
Zwischen diesen Eilanden schlängelte sich der Torstensen bei rasch zunehmender Dunkelheit hindurch ...
Vorn gleißt wieder der Scheinwerfer. Vorn steht jetzt Kamerad Boche Boche und späht nach den oft so trügerischen Vorzeichen unterirdischer Riffe aus ...
Wie Jörnsen sich hier zurechtfindet, hier, wo Kanal an Kanal sich reiht, wo Kanal mit Kanal sich kreuzt, wo die dunklen Felsmassen der Inseln einander so vollkommen gleich sehen, ist mir unklar.
Dann – genau zehn Uhr – hinein in eine ganz enge Bucht ...
Ein gewundener Weg ...
Ein stiller Binnensee schließlich, und wir werfen an der Südseite unter Wind Anker, fünfzig Meter von der zerklüfteten Küste ab.
Wir vier sind gleichmäßig erschöpft. Jeder von uns hat bei dieser Wettfahrt mit einem unsichtbaren Rivalen, denn das war dieser Tag, alles hergeben müssen, was an Spannkraft irgend aufzubringen war. Keiner hat sich geschont, auch Frau Helga und Boche Boche nicht.
Als wir nun in der Heckkajüte bei der verspäteten Abendmahlzeit sitzen, sagt Jörnsen mit zufriedenem Nicken:
»Für heute war's genug, meine Freunde ... Ich danke euch ... Auch morgen könnt ihr ausruhen. Das Barometer steigt. Vielleicht lacht uns morgen wieder die Sonne.«
Boche Boche trinkt den heißen Tee – mehr Rum als Tee – mit der Gier eines Menschen, der einer augenblicklichen Abspannung Herr werden will.
Und Jörnsen bewilligt ihm einen zweiten Becher ... erzählt ... animiert auch mich zum Trinken ...
Ich trinke ...
Oh, Holger Jörnsen, hältst du Olaf Abelsen für ein Kind??
Jede Wette gehe ich ein: Wir sind ganz dicht am Ziel! Und wir sollen trinken, damit wir wie die Murmeltiere schlafen, damit das fragwürdige Ehepaar sich nachts im Boot davonschleichen kann ...
Holger Jörnsen, so fertigst du uns nicht ab!!
Dann sagen wir den beiden Gute Nacht ...
Und als ich dem leicht taumelnden Kameraden die Treppe zum Deck emporhelfe, sehe ich über uns klaren, ausgestirnten Himmel, empfängt uns oben ein milder Lufthauch – vom Pazifik her!
Der Wind ist umgeschlagen, und unser vereistes Deck schwimmt vor Nässe.
»Der Tauwind kam von Westen her ...« deklamierte Boche Boche mit müder Stimme ...
Wir machen mittschiffs halt, freuen uns über das Blinken der Sterne im stillen Wasser ...
»Glaubst du daran?« flüsterte der Kamerad plötzlich ...
»Nein!«
Wir haben nicht viele Worte nötig, um uns zu verständigen. Jörnsens letzte Bemerkung beim Auseinandergehen, daß diese Nacht niemand zu wachen brauche, hat Boche Boches Argwohn geweckt.
»Ich werde munter bleiben«, erklärte ich leise. »Ich wecke dich dann.«
»Wenn sie das Boot nehmen?!«
»Fahren wir mit dem Kutter hinterdrein ...«
In unserer Kajüte hätten wir dies nicht besprechen können ...
»Gut ... Wecke mich!«
Dann entkleiden wir uns in der Back. Ich lösche die Lampe aus. Und im Dunkeln schlüpfen wir lautlos wieder in die Unterkleider. Liegen dann unter den Decken ...
Ich habe mir zwei Zigarren und Zündhölzer mit in die Koje genommen. Nach einer Weile will ich zu rauchen beginnen, damit der Schlaf mich nicht überrumpelt. Müde genug bin ich. Meine Hände schmerzen, meine Stirnwunde, erst halb vernarbt, Andenken an Punta Garras, meldet sich gleichfalls: Wetterumschlag!
Boche Boche schnarcht leise ...
Totenstill ist es auf dem Torstensen ...
Wie damals, als ich Gerdas Zettel fand – nachher die Toten ...
Ich reibe ein Hölzchen unter der Decke an, und der Tabak wird zum treuen Gefährten peinvoller Stunden des Wartens.
Wird etwas geschehen?
Werden die Jörnsens den Kutter verlassen?
Und wenn – wird es uns glücken, endlich dem großen Geheimnis auf die Spur zu kommen??
Ich sitze aufrecht, schütze die glimmende Zigarre mit der hohlen Hand, denn – man könnte wieder einmal spionieren – »man«, die Jörnsens!
Nervöses Ameisenlaufen in den Beinen ... Schweißperlen auf der Stirn ...
Wird etwas geschehen??
Ich verliere jede Schätzung der entrinnenden Zeit.
Wie spät mag's wohl sein?
Die glimmende Zigarre genügt für das Zifferblatt der Nickeluhr.
Halb eins erst ... Und ich hätte auf drei Uhr morgens geschätzt ...
Boche Boche wälzt sich im Schlafe hin und her, lallt einzelne Worte, stöhnt ...
Einmal verstehe ich deutlich: Gerda!!
Gerda!!
Und wieder schleichen die Minuten ...
Ich nehme die zweite Zigarre.
Sie brennt nicht, hat Nebenluft ...
Ich drücke den Stummel auf dem Fußboden aus. Und sitze und horche, kämpfe gegen die Müdigkeit. Die Tür zum Deck ist offen. Ganz selten der ferne Schrei einer Möwe ...
Einziges Lebenszeichen von draußen.
Die Müdigkeit steigert sich ...
Ich schrecke auf ...
War ich wirklich für Sekunden eingenickt??
Meine Sinne sind wieder wach.
Merkwürdiger Geruch, der mir da in die Nase dringt ...
Gestank ...
So stinken Fischer in ihrem Arbeitshabit ...
So stanken die Eskimos von Labrador, die ich auf meiner einzigen Fahrt ins Eismeer kennenlernte ...
Eskimos ... hier??
Nein – aber Feuerländer ...
Eingeborene, die hier wie Eskimos leben, in Robbenfellen, die Tran saufen, Robbenfleisch fressen ...
Mein Hirn sprüht Gedanken ...
Meine Hand gleitet unter das Kissen zur Pistole ...
Ich schiebe die Sicherung zurück ...
Der Gestank wird noch aufdringlicher ...
Ich strecke die Waffe vor ...
Der Lauf berührt etwas – etwas, das zurückweicht, etwas, das nicht vorhanden sein dürfte ...
Knall ... Schrei ... Krachen eines umsinkenden Körpers ...
Geräusche ...
Im matten Lichtschimmer auf der Treppe eine Gestalt, nach oben flüchtend ...
Dicht an meinem Kopf saust etwas vorbei, fährt in die Wand mit hohlem Ton ...
Wurfmesser ...
Ich feuere auf die Gestalt ...
Knall ... Schrei ... Die Gestalt schlägt nach rückwärts ... Eine zweite ... dritte ...
Boche Boche feuert ...
Und von den fünf Robbenfressern kommt nicht einer wieder an Deck.
Unsere Lampe brennt. Zwei leben noch ...
Ich in Unterkleidern nach oben ...
Ein Blick rundum ...
Ein hochbordiger Kahn, von vier Eingeborenen gerudert, schießt der Ausfahrt zu.
Das Deck ist leer ...
Boche Boche schon neben mir, drückt mir die Sniders-Büchse in die Hand ...
»Los – Schnellfeuer!!«
Die Felswände werfen das Echo der Schüsse vielfach zurück ...
Die Kerle drüben rudern um ihr bißchen Leben ...
Hätten sich retten können, wenn sie umgekehrt wären. Dachten nicht daran.
Wir zielen ... drücken ab ...
Drüben rudern nur noch zwei ...
Nur noch einer ...
Der steht aufrecht jetzt ...
Der trägt keine Felle, der trägt dunklen Anzug ... Seemannsmütze ...
Der rudert im Zick-Zack ... auf das Ufer zu ...
Hat Glück ...
Gerade der! Glück ... bis er auf das Gestein springt. Da stolpert er vornüber ...
Die Mondsichel zeigt uns, daß er weiterkriecht und das linke Bein nachschleppen läßt ...
»Stopp!« ruft Boche Boche. »Er entgeht uns nicht ... Mit dem angeschweißten Flügel kann er nicht schwimmen, also auch nicht die Insel verlassen. Da – er humpelt, knickt wieder zusammen. Er schauspielert nicht, er würde sich unseren Kugeln niemals so als klares Ziel darbieten, wenn er nicht wirklich etwas abbekommen hätte.«
Der Mann dort ist der Feind. Wie richtig doch Jörnsen vermutet hatte, daß der Giftmischer sich mit Feuerländern verbünden und daß das Gold diese gelbbraunen Transäufer ihm ins Garn bringen würde!
Boche Boche deutet nach achtern ...
»Dort liegt das Boot des Kutters, Olaf. Und doch können die Jörnsens nicht an Bord sein. Die Schüsse hätten sie längst nach oben gelockt.«
»Oder – sie sind abgetan worden«, meinte ich bedrückt, denn ich habe als Wächter, als Wache versagt, war eingeschlafen ...
»Wollen sehen ... Ich glaube es nicht, Olaf. Ich denke an die drei Patagonier, die in Punta Garras dich aus dem Wasser zogen und gute Freunde Jörnsens waren. Vielleicht haben die drei das Ehepaar abgeholt ...«
»Ich werde allein nach achtern gehen, Boche Boche«, schlage ich vor. »Bleib' hier. Gib acht, daß der Mann nicht den Kahn drüben holt ...«
»Gut so ... Geh nur ...«
Die Jörnsens sind nicht an Bord. Das ist schnell festgestellt.
Als ich wieder an Deck komme, meldet sich unser Mann auf seine Weise. Mit feinem Singen streicht dicht an meiner Nase ein Geschoß vorüber, so dicht, daß ich den Hauch der verdrängten Luft spüre.
»Hinwerfen!« brülle ich dem Kameraden zu.
Der hat den Schuß vom nahen Ufer, gerade gegenüber unserer Anlegestelle, ebenso deutlich gehört wie ich.
Wir liegen hinter der Steuerbordreling und mustern vorsichtig die zerklüfteten, von der Mondsichel schwach beschienenen Uferpartien. Unmöglich, dort einen versteckten Menschen herauszufinden.
»Das hat man für seine Nachsicht«, brummt Boche Boche wütend. »Nun können wir hier Schnecken spielen und kriechen ... Der Bursche löscht uns aus, wenn wir die Köpfe hochrecken.«
Ich habe vorhin geschlafen. Ich habe diese Nachlässigkeit wett zu machen.
»Oder ich lösche ihn aus«, sage ich mit allem Nachdruck. »Ich werde an Land schwimmen, nehme die Büchse mit. Der Feind ist lahm. – Ich tue es ... Es ist gar keine Gefahr dabei.«
»Es wäre das richtigste, Olaf ... Wenn ich völlig bei Kräften wäre, würde es mir ein Spaß sein, den Kerl aus nächster Nähe zu betrachten. Spare die Kugel. Wir müssen ihn lebendig haben.«
Eine zweite Feuertaufe ...
Der Gegner hat meinen Kopf erspäht ...
Und neben mir klatschen seine Geschosse ins Wasser – hier ... dort ...
Doch auch Boche Boche feuert, hat wohl das Aufblitzen der Schüsse gesehen, macht dem Burschen das Zielen schwer ...
Dieser Steinkessel von Bucht hallt wider von dem hellen Klang der Repetierbüchsen – ein förmliches Feuergefecht ...
Als ich den hochbordigen Kahn der Feuerländer erreicht habe, als ich ihn abschleppe und vor mir her zum Kutter stoße, verstummt der Lärm der Schüsse. Ich beeile mich. Das Wasser ist kühl, aber nicht kalt. Es erfrischt. Meine Lebensgeister sind munterer und tatenfroher denn je.
Über die Reling wirft Boche Boche mir eine Leine zu. Ich vertäue den großen Kahn, und dann lasse ich mir die Zeit und ziehe mich an der Bordwand hoch. Vier stille Gestalten am Boden – vier.
Also waren es mit dem Weißen doch fünf gewesen.
Dann schwimme ich zurück, wähle als Ziel eine schmale Felszunge mit hohem Geröll, das mich genügend schützt.
Im Osten zeigt sich über den Randhöhen der Bucht der erste fahle Schein der Dämmerung. Der neue Tag bricht an.
Der Tag, an dem sich alles klärt, der Tag der Überraschungen ... der Freude ...