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III.

Wie lange noch??

Ich begann zu schwimmen. Mußte schräg gegen die Wogen ankämpfen, wenn ich nicht nach Osten abgetrieben werden wollte. Im Osten gab es kein rettendes Inselgestade. Ich mußte die Küste Fehmarns erreichen, oder ich war verloren.

Die beiden Korkwesten behinderten mich. Der Mantel war noch lästiger. Ich hätte ihn ausziehen sollen, bevor ich den Sprung wagte.

Schon nach kurzer Zeit merkte ich, daß mein Kampf gegen die seitlich herandrängenden Wellenberge völlig aussichtslos war. Meine Arme waren abgestorben, meine Beine hingen gleichfalls wie Eisklumpen schlaff herab, und selbst die äußerste Anspannung meiner Energie reichte nicht mehr hin, diese Vorboten des nahenden Endes zu verscheuchen.

Ich erinnerte mich noch genau, daß ich mit einer gewissen Neugier dem Kommenden entgegensah, wie ein Unbeteiligter, wie ein kaltherziger Zuschauer, der einen mit dem Tode Ringenden beobachtet und jede einzelne Phase des langsamen Nachlassens der Kräfte und des letzten Aufflackerns des Lebensflämmchens voller Interesse aufzeichnet. Meine Persönlichkeit war gleichsam geteilt worden. Mein Körper starb dahin, mein Geist spielte den Arzt, der ein Tier viviseziert hat und das Nachlassen der Arbeit der einzelnen Organe mit der Gefühllosigkeit des begeisterten Wissenschaftlers feststellt.

Ich schluckte viel Seewasser. Mein Kopf pendelte hin und her. Traf mich ein Wellenkamm mit voller Wucht von vorn, so war es, als erhielte ich Ohrfeigen.

Wie lange ich in diesem Zustande merkwürdiger Gleichgültigkeit ein Spiel der Wellen gewesen, habe ich erst später ungefähr feststellen können: etwa anderthalb Stunden!

Dieser Zustand fand bei noch immer völlig verfinstertem Himmel und bei noch immer in Gießbächen herabplätscherndem Regen und orkanartigen Sturmstößen durch einen überaus schmerzhaften Stoß ein Ende, der meine linke Schulter traf.

Der Schmerz war es, der mir Siedehitze über den Leib jagte, der meine Lebensgeister wieder weckte und meine geteilte Persönlichkeit plötzlich wieder zusammenschmolz.

Ich war Olaf Abelsen, und ich sah, fühlte, hörte, schmeckte.

Ich sah die mächtige Eisenkugel, die dort im Wellental davontaumelte – eine Mine!

Sie hatte mir den Schlag versetzt.

Ich fühlte die stechenden Schmerzen in der getroffenen Schulter, hörte das Toben des Meeres ringsum und schmeckte den bitteren Salzgeschmack der erbarmungslosen Ostsee auf meiner Zunge.

Ich erbrach mich und kämpfte gegen eine Ohnmacht. Mir wurde noch heißer. Ich konnte Arme und Beine wieder bewegen. Auch meine Halsmuskeln hatten wieder Spannkraft gewonnen. Mein Kopf war kein Kürbis mehr, der mir lediglich an einem halb verfaulten, weichen Stiel zwischen den Schultern baumelte.

Ich schaute mich um. Ich wurde gerade von einem Wellenberg emporgetragen und erspähte so links von mir einen dunklen Fleck, der in seinen verwischten Umrissen immerhin dem Bug eines kleinen Dampfers glich.

Es war ein Dampfer.

Wenn er diesen Kurs beibehielt, war er verloren und ich ebenfalls, denn er mußte gerade auf die treibende Mine aufrennen.

Ich wollte brüllen, rufen. Eine Welle füllte mir den Mund. Ich spuckte, spuckte.

Da schwenkte der Dampfer scharf nach Süden ab. Ich sah, daß offenbar die ganze Besatzung vorn am Bug versammelt war und sich wie eine Rotte Tollhäusler benahm. Die meisten hatten Stangen in den Händen, mit denen sie andauernd in die Wogen stießen. Es war nur ein kleiner Frachtdampfer, und am Heck wehte eine Flagge, deren Anblick gemischte Gefühle in mir aufsteigen ließ.

Und doch – hier ging es um mein Leben!

Also Lungen voll Luft gepumpt.

Ein Schrei sollte das werden, den die Leute drüben unbedingt hören mußten.

Er wurde es aber nicht, denn drüben gab es plötzlich einen Knall, als ob das Himmelsgewölbe auseinanderriß.

Dort, wo eben noch der Dampfer seinen Bug in die Wogenberge gebohrt hatte, wo noch eben vielleicht fünfzehn Menschen sich eng zusammengedrängt hatten, gab es nur mehr eine Fontäne von Wrackteilen und menschlichen Leibern.

Das sah ich noch. Dann hatte mich der Luftstoß der Explosion tief in die See hinein gedrückt und als ich wieder emportauchte, konnte ich nur noch gerade feststellen, daß der von dem Dampfer übriggebliebene Teil langsam versank. Die Kessel explodierten erst unter Wasser und warfen zwei mächtige, grüne Berge empor.

Um mich her hagelten nun die Einzelheiten der Fontäne herab. Und mit einer gewissen Ungeduld wartete ich darauf, daß ein Balkenstück mich treffen würde, was alle weiteren Gedanken, ob ich die Fehmarnküste jemals noch zu Gesicht bekäme, überflüssig gemacht hätte.

Balken fielen herab, trafen mich aber nicht. Bald war die Luft von umherfliegenden Gegenständen befreit. Ein halber Lukendeckel schwamm vorüber, in dessen geborstene Bretter zwei Tote eingeklemmt waren, Beine nach oben, Köpfe und Rümpfe sah ich nicht. Ihnen folgte ein menschliches Bein, das durch das Drahtgeflecht eines Hühnerkäfigs geflogen war. Der in einem schwarzen Stiefel steckende Fuß leistete so vier toten Hühnern Gesellschaft. Dem Beinkleid nach zu urteilen, hatte das Bein einem Fahrgast des Dampfers gehört. Es war eine olivfarbene Breecheshose.

Auch der Käfig glitt vorüber.

Dann kam ein menschlicher Rumpf ohne Kopf. In der Brust steckte wie eine Harpune ein spitz zulaufendes, langes Brett. Die Jacke des Toten hatte an den Ärmeln einige goldene Streifen, wahrscheinlich also der Kapitän.

Dann war die Prozession von Leichen vorüber.

Ich wunderte mich, daß dieser Anblick mich so vollständig kalt gelassen hatte.

War ich wirklich roh, abgebrüht, vertiert?? Hatte nicht der Herr Untersuchungsrichter mir damals vor acht Monaten bei einer Vernehmung ins Gesicht geschrien, ich hätte Mörderaugen, und ich sollte nur gestehen, daß ich Sir Stuart Barclag mit Vorsatz und Überlegung getötet hätte.

Mörderaugen? Roh und abgebrüht??

Nein, doch wohl nicht. Nur Nerven, die mir besser gehorchten als Löwen ihrem Dresseur – trainierte Nerven.

Ich hielt nun in weiterem Umkreis Ausschau nach irgend etwas, das mir gestattete, das eisige Wasser zu verlassen und auf einem Wrackstück vielleicht diese Fahrt ins Ungewisse fortzusetzen. Ich erkannte im Wogengischt zunächst nur einen menschlichen Kopf, der halb in ein großes Blechstück wie in eine Tüte eingerollt war. Das Blechstück wieder war ein Teil des Bodenbeschlages eines der Boote des versunkenen Dampfers und saß noch an mehreren Planken fest, die nach der einen Seite fächerartig auseinander strebten, während sie sich am anderen Ende an einem Zinkblechkasten zusammenschlossen – an dem noch unversehrten Luftkasten des zerstörten Bootes.

Sechs Planken, ein Luftkasten, dazu ein zwischen den Planken festgeklemmtes Tau, das sich im Wasser wie eine Seeschlange ringelte und bewegte. Ein besseres Floß konnte ich mir kaum wünschen!

Gewiß, der in den Blechtrichter eingekeilte Kopf, der mit seinen grauenvoll verzerrten Zügen und mit der aus dem aufgerissenen Munde heraushängenden Zunge wahrhaft abschreckend wirkte, war eine wenig angenehme Zugabe. Das Blechstück ließ sich aber leicht auseinanderbiegen, und der scheußliche Schädel rollte aus dem Trichter in die Tiefe.

Nachdem ich die Planken dann an ihren freien Enden mit dem Tau zusammengebunden und außerdem daran noch eine meiner beiden Korkwesten befestigt hatte, setzte ich mich auf den Zinkkasten und war mit meiner Arbeit durchaus zufrieden. Nur meine Beine hingen noch bis zu den Knien im Wasser, und mein Floß bewährte sich auch gegenüber den gefährlichsten Wellenbergen so vorzüglich, daß ich hoffen durfte, mit diesem primitiven Fahrzeug der unfreundlichen Ostsee noch viele Stunden trotzen zu können.

Die Arbeit des Zusammenbindens der Planken hatte meinen durchkälteten Leib noch mehr erwärmt. Freilich, meine zerschundene Schulter schmerzte derart, daß mir zuweilen alles vor den Augen verschwamm. Aber ich war jetzt nicht mehr willens, hier elend zu versaufen, und der Lebensdrang verscheuchte diese Ohnmachtsanwandlungen immer wieder.

So mochte ich vielleicht fünf Minuten auf meinem Floße dahingetrieben sein, als ich rechts von mir den selben Lukendeckel sichtete, der vorhin mit den beiden eingeklemmten Toten an mir vorübergeschwommen war.

Es war derselbe Lukendeckel.

Bestimmt.

Nur die eingeklemmten Beine fehlten, und an deren Stelle lag nun quer über den halb zerfetzten Brettern ein Mensch, der einen Matrosenanzug trug und dessen dunkles, triefendes Haar tief ins Gesicht hing.

Ein Toter?

Nein – der Mann bewegte sich. Der Mann hatte die Hände um den Lukenrand gekrallt, hielt sich daran fest, kämpfte um sein Leben.

Wogenkämme gingen über ihn hinweg. Zuweilen werden seine Beine von den Wellen hochgerissen, und jeden Augenblick mußte der Ärmste, der vielleicht der einzige Überlebende des Dampfers war, vor Erschöpfung in diesem unheimlichen Ringen gegen den nassen Tod der Verlierer sein.

Ihm helfen?!

Mein Floß war gut dreißig Meter entfernt. Ich besaß nichts, um die Richtung meines Fahrzeugs zu ändern, war wie mein Unglücksgefährte ein Spielball der unberechenbaren Launen von Wind und Wetter.

Und doch – ich durfte ihn nicht elend umkommen lassen. Ich hatte ja zwei Korkwesten zur Verfügung.

Einen Moment erinnerte ich mich daran, daß ich mir einst fest vorgenommen hatte, nie wieder eine Hand hilfreich für einen Mitmenschen zu rühren.

Hatte ich diesen Vorsatz nicht schon durchbrochen, als ich den Kerl vom Balkon in die Hecke beförderte??

Ich verließ den Luftkasten, band die Korkweste vom freien Ende der Planken los und suchte den Lukendeckel schwimmend zu erreichen.

Es gelang.

Als ich neben dem Kopf des Matrosen auftauchte und dem Manne in die Ohren brüllte, er solle die Korkweste umschnallen, ich würde ihn derweilen festhalten, da schüttelte er die nassen Haare aus dem mageren Gesicht, blickte mich aus grauen, klaren Augen merkwürdig an und brüllte zurück:

»Sehr anständig von dir!«

Das weitere verstand ich nicht, da eine Woge uns überflutete.

Ich hatte mich, als ich ihn anrief, der deutschen Sprache bedient, und auch er hatte mir in derselben Weise geantwortet.

Ich half ihm.

Als er erst einmal in der Korkweste steckte, hatten wir gewonnenes Spiel. Wir nahmen den Lukendeckel mit und gelangten glücklich wieder an mein Floß, banden nun auch den Lukendeckel an den Planken fest und erhöhten so die Tragfähigkeit unseres Fahrzeugs.

Mein Gefährte, dem sicheren Tode entrissen, bewies mir bald, daß er mir an Zähigkeit zum mindesten gleichwertig, an praktischem Sinn aber überlegen war. Nachdem er sich neben mir auf dem Zinkkasten ein wenig ausgeruht hatte, wo wir eng umschlungen dasitzen mußten, öffnete er den Mund zu einer zweiten Bemerkung – für überflüssige Worte war er nicht zu haben, schien es:

»Dort schwimmt das Dach der Achterkajüte, Kamerad. Wir können's brauchen ...«

Und schon glitt er von unserem schmalen Sitz in die Flut, schwamm hinüber.

Vortrefflich konnten wir's gebrauchen! Der Matrose und ich drückten das große viereckige Dach unter unser Floß, vertäuten es und hatten die Genugtuung, daß wir jetzt auf dem Luftkasten völlig trocken saßen.

Über dieser Arbeit war eine geraume Zeit verstrichen. In unserem Eifer hatten wir gar nicht bemerkt, daß das schwarze Regengewölk sich zerteilt hatte, daß es nur noch ganz schwach regnete und nun mit einem Male die Sonne strahlend hervorbrach.

»Kamerad«, sagte ich da, »du hast mir Glück gebracht. Die Sonne scheint. Wir werden leben. – Wie heißt du? Mein Name ist ...« – ich zögerte – aber ich wollte doch vorsichtig sein – »... ist Gunnar Aalfström ...«

Wieder schaute er mich seltsam an. In seinem Blick war etwas Geistesabwesendes ...

»Hm – ich, ich heiße ...?!« meinte er achselzuckend. »Kann dir mit meinem Namen leider nicht dienen. Habe keinen, Kamerad. Habe ihn vergessen. Außerdem ist das jetzt auch sehr gleichgültig, denn dort der große Kutter, Kamerad, der hat uns bemerkt. Und das ist wichtiger.«

Unser Floß, das sich willkürlich drehte, hatte eben erst die Aussicht nach Norden freigegeben.

Ein Kutter mit zwei Masten schoß mit gerefften Segeln herbei. Vorn erkannte ich einen graubärtigen Mann in Ölzeug, hinten am Steuerrad einen zweiten.

Der Kutter trug am Bug die Inschrift »Torstenson, Trelleborg«.

Ich las es, während der Alte mit einem Bootshaken unser Floß geschickt ins Schlepp nahm.


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