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»Ein Saufraß, den die dreckige Vettel zusammenkocht«, sagte mein Kamerad drei Tage später, als der Torstensen bereits auf den langen Wogen des Atlantik schaukelte, Kurs Nordwest. »Keine Ahnung hat sie vom Kochen! Der Raum unter uns ist vollgepfropft mit bestem Proviant, und das Weib pantscht uns hier etwas zurecht, das ich nicht mal meinem Hunde vorgesetzt hätte.«
Wir waren schon am ersten Tage in die vordere, noch kleinere Kajüte umquartiert worden. Achtern hauste das Ehepaar Jörnsen.
Boche Boche saß auf seinem schmalen Bett, löffelte trotz seiner gereizten Reden den allerdings undefinierbaren Saufraß mit bestem Appetit.
»Hattest du denn einmal einen Hund?« fragte ich, an seine letzte Bemerkung anknüpfend.
Es geschah häufiger, daß ihm derartige Andeutungen über seine Vergangenheit unbewußt über die Lippen kamen. Wenn ich dann näher nachforschte, ob sich diese Andeutungen nicht vielleicht zu einem klaren Erinnerungsbild umformen ließen, versagte sein Gedächtnis regelmäßig. Solche Bemerkungen waren lediglich wie ein schwaches Wetterleuchten ferner, dunkler Eindrücke von einst. Auch jetzt schaute er mit zusammengekniffenen Augen vor sich hin und spannte die Haut über den Backenknochen straff, so sehr mühte er sich ab, die Fesseln zu sprengen, die ein gewisses Zentrum seines Hirns eingeengt hielten.
»Einen Hund ... einen Hund ...« murmelte er. »Ja, ich muß wohl mal einen Hund besessen haben, an dem ich sehr hing ... sehr ...«
Dann zuckte er mutlos die Achseln.
»Mein Hirn will nicht, Olaf ... Es ist bockbeinig wie ein störrischer Esel ...«
»Wird schon werden ...« tröstete ich.
Zwischen unseren Betten stand der kleine Klapptisch. Über uns pendelte die Karbidlampe hin und her. Es war abends neun Uhr.
Ich goß mir in den Teebecher einen gehörigen Schuß Rum hinein, und mein Freund griff nach einer Zigarre. Wir waren schweigsamer als sonst. Ich hatte mittags zufällig festgestellt, daß die Rückwand unserer Bugkajüte, die an die noch winzigere Küche stieß, in den dicken Eichenbrettern zwei durch Pfropfen verschlossene Löcher in Augenhöhe hatte. Diese Pfropfen waren mit derselben grauen Ölfarbe überpinselt wie die Bretter. Aber ich hatte doch gemerkt, daß sie schon wiederholt herausgezogen worden waren. Die Farbe war an den Rändern der Pfropfen abgeblättert.
Diese Entdeckung hatte uns vorsichtiger gemacht. Frau Helga Jörnsen, die nur in Männertracht herumlief und die anscheinend ihren Südwester selbst beim Schlafen nicht abnahm, konnte uns von der Kombüse aus, die wir nie betreten durften, unschwer beobachten und belauschen.
Boche Boche sog an seiner Zigarre und betrachtete seine Hände, die er in diesen drei Tagen bei dem leichten Dienst an Bord wieder tadellos gesäubert und gepflegt hatte. Dann schielte er nach der Rückwand hin und meinte gedämpft:
»Wollen nach oben gehen ... Ich habe mit dir zu reden, Olaf ...«
Ich trank den Tee aus, steckte mir ebenfalls eine Zigarre an und folgte ihm, der bereits das steile Treppchen emporgeklettert war.
Das Meer lag unter dem ausgestirnten Himmel in ruhiger Pracht da. Lange, gleichmäßige Wogen hoben und senkten unser tadelloses Schifflein, dessen starker Hilfsmotor jetzt bei dem schwachen Winde taktmäßig arbeitete. Wir machten so etwa acht Knoten Fahrt.
Hinten am Steuer stand Holger Jörnsen, wie stets die kurze Holzpfeife im Munde. Aus dem Kombüsenniedergang erklang das Klappern von Geschirr nach oben.
Der Torstensen hatte bei etwa neunzehn Meter Länge einen Gehalt von hundertfünfzig Tonnen, war scharf gebaut, sehr seetüchtig, so daß er den bösen Sturm, den wir im Kattegatt erlebten, leicht abgewettert hatte. Mit seinem mächtigen Gaffelsegel, dem etwas nach vorn geneigten Hauptmast und dem Treiber am Heck, dazu mit dem waagrechten, sehr langen Bugspriet und dem unverhältnismäßig großen Außenklüver glich er mehr einer Jacht als einem Hochseekutter.
Jörnsen hatte uns bestätigt, daß der Kutter erst vor einem halben Jahr vom Stapel gelaufen war, und mein Kamerad und ich waren uns längst darüber einig, daß der Torstensen niemals für die Hochseefischerei bestimmt gewesen und daß die Inneneinrichtung absichtlich so einfach gehalten war. Ohne Zweifel hatte Jörnsen den Kutter von vornherein für einen bestimmten Zweck bauen lassen, eben für eine weite Seereise, und ebenso zweifelsfrei war es, daß der Alte über beträchtliche Geldmittel verfügte. Das bewies schon der moderne Vierzylindermotor, der als Hilfsmaschine eingebaut war und an dem nichts fehlte, was die Motorenindustrie in den letzten Jahren ausgeklügelt hatte.
Wir saßen auf der Vorderluke. Ich hatte mich mit dem Rücken an die kleine Ankerwinde gelehnt. Die Reling war so niedrig, daß wir bequem darüber hinwegsehen konnten. In Lee zog ein großer Passagierdampfer mit hell erleuchteten Decks vorüber. Wir kreuzten gerade die Route Hamburg-New York.
Mein Freund rauchte und starrte dem schwimmenden Luxushotel nach. Dann – ganz leise:
»Die wissen, wohin es geht. Wir wissen nichts, Olaf. Wir haben nun schon so oft zwischen uns erörtert, was der Alte wohl vorhaben mag ... Jedenfalls Seemann ist er! Bestimmt! Er wird Kapitän gewesen sein, hat sich dann zur Ruhe gesetzt und sich mit zweierlei beschäftigt: mit den Goldlagern der Erde und mit der Rutengängerei. Und jetzt?!«
»Soweit sind wir schon oft gewesen«, meinte ich gleichgültig. »Bis zu diesem ›Und jetzt?‹ ... Darüber hinaus kommen wir nicht, Kamerad.«
»Er will irgendwo mit der Wünschelrute Gold suchen«, murmelte Boche Boche vor sich hin. Und auch diese Bemerkung brachte nichts Neues.
»Du wolltest doch mit mir reden«, ermunterte ich ihn ...
»Ja ... reden ...! – Soll das so weitergehen, Olaf?? Sollen wir beide als Männer, denen manch' böser Wind die Nase gefächelt hat, wie die Kinder geduldig abwarten, was uns der Weihnachtsmann bescheren wird?! Wohin geht's?? Was will der Alte?? Es ist ein unwürdiger Zustand für uns, Olaf.«
»Irrtum, Kamerad ... Wir sind die Verpflichtung eingegangen, nichts zu fragen – und zu gehorchen. Dafür erhalten wir nach Beendigung der Fahrt jeder fünfzigtausend Kronen.«
»Auf dem Papier, Olaf ... Papier ist geduldig.« Er wurde erregt. »Ich mache nicht mehr mit ... Der Alte soll Farbe bekennen ... Komm' mit ...«
Er litt des öfteren an solchen Anfällen, die sein ganzes Wesen vollkommen veränderten. Dann war er jedem beruhigenden Wort unzugänglich. Dann brüllte er die Frau des Alten wie eine Dienstmagd an, machte ihr die gröbsten Vorhaltungen über ihre Unsauberkeit und den Schweinefraß, stritt auch mit ihr wegen Kleinigkeiten, wurde beängstigend blaurot im Gesicht und hatte Augen, die wie diejenigen eines Tollhäuslers funkelten. Der Alte und die Vettel ignorierten diese kritischen Ausbrüche vollständig, und ich blieb dem gegenüber gleichfalls stumm. So kam Boche Boche am schnellsten wieder zur Vernunft.
Auch jetzt erhob ich mich schweigend und lehnte mich ein paar Schritt weiter an die Wanten. Im Kombüsenniedergang erschien das braune, schmierige Gesicht Frau Helga Jörnsens. Unter dem Ölhut hervor hingen ihr die grauen Haarzotteln bis in die kleinen Äuglein, deren verminderte Sehkraft sie zumeist durch eine einfache Stahlbrille auszugleichen suchte, deren Steg sie, damit er die Nase nicht drücke, dicht und dick mit weißer Wolle umwickelt hatte.
Sie war unglaublich schlumpig, die Alte, und ohne Rußflecken am Kinn hatte ich sie noch nie angetroffen.
Ein Weib, das doch fraglos den gebildeten Ständen angehörte und das doch so gar nichts auf das Äußere gab, war mir noch nie begegnet. Helga Jörnsen hätte mal einen Monat das Hotel Düsterburg beziehen müssen. Dort würde sie zunächst mal in die Badewanne gesteckt worden sein.
Blinzelnd schaute sie sich um, rief mir dann zu:
»Hol Kaffee aus dem Raum, Abelsen ... Kannst Vorrat mahlen ... Hier ist die Mühle und die beiden Blechbüchsen ...«
Ihre keifende Stimme, die schrill wie eine Drahtsaite klang, lockte sofort Boche Boche herbei.
Ja – es waren seltsame Verhältnisse hier an Bord. Boche Boche hatte den allgemeinen Duz-Komment eingeführt. Er behauptete, er könnte sich an das lächerliche »Sie« nicht mehr gewöhnen ...
»An der Front duzte sich alles ... War recht so ... Weshalb hier auf dem Torstensen Salonmanieren?!«
Er kam herbei, die Fäuste in den Außentaschen der Bordjacke, den prachtvollen Kopf angriffslustig vorgereckt, die Zigarre im Mundwinkel ...
»Wirst dich doch von der Alten nicht kommandieren lassen, Olaf!« knurrte er grimmig. Das rote Licht der Backbordlaterne traf sein wütendes Gesicht. »Mahl' dir selber deinen Kaffee, Alte ...! Wir haben als Matrosen Heuer genommen und nicht als Schiffsjungen ... Überhaupt ...« – seine Stimme schwoll beängstigend an – »diese Schweinerei hört auf ...! Wenn der Käpten deine Saumahlzeiten verträgt – gut! Der Olaf und ich werden jetzt für uns selber kochen! Was war das heute abend wieder für ein Ragout – – he?? Büchsenfleisch, Bohnen, Schoten und Setzei darüber – – zeig' mir mal ein Kochbuch, du schmieriges Weibsstück, wo das drin steht!!«
Ich hatte inzwischen der Alten die Mühle und die beiden großen Blechbüchsen abgenommen und ging zur Hauptluke, öffnete den Verschluß und stützte den Deckel aufrecht. Frau Jörnsen verschwand wieder wortlos in der Kombüse. Sie hatte Boche Boche nur einen eigentümlich mitleidigen Blick zugeworfen.
Mein Kamerad geriet jetzt ganz aus dem Häuschen. Wie ein Verrückter, mit den Armen herumfuchtelnd, rannte er nach hinten ...
Was er dort am Steuer dem Alten ins Gesicht brüllte, konnte ich nicht verstehen. Ich sah nur, daß mein Kamerad plötzlich die kleine Pistole, die er heimlich aus meinem Wandschrank herausgenommen haben mußte, auf Jörnsen anschlug ...
Da sprang ich zu. Aber ich kam zu spät. Wir beide hatten Holger Jörnsen unterschätzt. Ein Fausthieb – und die Pistole flog im Bogen über Bord ... Ein zweiter, und Boche Boche kugelte mir, nach Luft schnappend, in die Arme.
Aber dieser Stoß vor die Brust hatte ihn wieder zur Vernunft gebracht.
»Laß mich los«, sagte er nur ...
Und zu dem Alten:
»Entschuldige, Käpten ... Bei mir im Oberstübchen ist's doch nicht ganz richtig ... Entschuldige ... Ich werde mir diese Abfuhr merken ...«
Der Torstensen hatte ein Steuerrad, keine Ruderpinne. Jörnsen umklammerte die eine Speiche des Rades mit der Linken, und mit der Rechten hielt er uns eine große Repetierpistole entgegen. Er traute offenbar Boche Boches Friedfertigkeit nicht recht.
»Steck' das Ding nur wieder weg«, meinte mein Kamerad mit einer halben Verbeugung. »Mehr als um Entschuldigung bitten kann ich nicht. Ich werde mich fernerhin zu beherrschen wissen. – Du hast doch nichts dagegen, Käpten, daß Olaf und ich uns die Mahlzeiten selber zubereiten?«
»Nein ... Aber nicht in der Kombüse. Ihr habt ja den kleinen Ofen in eurer Kajüte. Nur geht mir vorsichtig mit dem Feuer um.«
Er schob die Waffe wieder in die Tasche, und seine sehnige, gestraffte Gestalt nahm wieder lässigere Haltung an. Indem er nach seiner Pfeife griff, die er auf den Kompaßstock gelegt hatte, fügte er hinzu: »Damit deine Neugier befriedigt wird, Boche Boche, unser Ziel ist Punta Garras, der südchilenische Hafen!«
Punta Garras bedeutete für mich nichts, gar nichts. Ich kannte es nicht. Aber mein Freund rief staunend:
»Was willst du denn in dem gottverlassenen Nest?! Und – Monate brauchen wir bis dorthin!«
»Nein, genau einen Monat«, erklärte der Alte gelassen. »Ihr wißt noch nicht, was der Kutter zu leisten vermag. Wir werden Kap Horn vermeiden und durch den Panama schleusen, dann südwärts gehen ... Wenn das Wetter nur einigermaßen günstig ist, schaffen wir's in drei Wochen.« Und als wollte er uns beweisen, daß unser Motor bisher nur gespielt hatte, ließ er nun auch die beiden anderen Zylinder an ... Durch den Rumpf ging's wie ein Beben ... Ein dicker, sprudelnder Schwall quoll an Heck hoch ... »Wir haben nämlich zwei Schrauben«, sagte der Alte kühl. »Jetzt läuft der Torstensen zwölf Knoten, und frischt der Wind auf, fünfzehn. – Bist du zufrieden, Boche Boche?«
Der hatte sich in einen anderen Gedanken festgebissen.
»Hm – gedenkst du etwa dort bei Punta Garras herum in den Bergen mit der Wünschelrute Gold zu suchen, Käpten?!«
Ein Lächeln glitt um Jörnsens harten Mund. Der Widerschein der Kompaßlampe fiel auf seine verwitterten Züge. In den jungen Augen erschien ein verächtlicher Ausdruck.
»Gold?? Was sollte ich wohl damit??« erwiderte er ernst. »Nein, Gold hat mich noch nie gereizt, denn was man im Überfluß besitzt oder doch besitzen könnte, mein lieber Boche, das lockt niemand mehr ...«
Mich überraschte diese Äußerung offensichtlich viel weniger als Freund Boche Boche, denn ich hatte nie recht daran geglaubt, daß Holger Jörnsen in seinem Alter – er mochte siebzig sein – sich noch auf Goldsucherabenteuer einlassen würde.
Mein Kamerad verhehlte sein Erstaunen, das gleichzeitig Enttäuschung über eine unrichtige Mutmaßung war, in keiner Weise.
»Wie – – wirklich sollte es sich nicht um Gold handeln?!« rief er kopfschüttelnd. »Dann bist du mir erst recht unverständlich, Käpten ... Das Geheimnisvolle, das deine Person und die deiner Frau umgibt, wird nur noch verstärkt, wenn ...«
Jörnsen unterbrach ihn. Und auch jetzt war in seiner ganzen Art die kühle, selbstsichere Überlegenheit des gebildeten und auch ans Befehlen gewöhnten Mannes so hervorstechend wie bei all den bisherigen unliebsamen Auftritten mit dem zuweilen so krankhaft reizbaren Boche Boche.
»Mein Geheimnis bleibt mein Geheimnis, bis es mir selbst geeignet erscheint, euch beide einzuweihen ... – Gute Nacht ... Um elf Uhr beginnt deine Wache, Abelsen ... Gute Nacht.«
Wir waren entlassen.
Wir faßten stumm an die Mützen und kletterten wieder in unsere Back hinab. Mein Kamerad sprach kein Wort, warf sich in Kleidern auf sein Bett und kehrte das Gesicht nach der Wand.
Ich nahm mir eins der Bücher vor, das Jörnsen mir geliehen hatte. Keins von denen auf dem Wandbrett. Nein – ein Spezialwerk über den Magelhaens-Archipel bei Kap Horn ... Es führte den Titel »Letztes Land am Ende der Welt«, und der Verfasser war der chilenische Professor Rodrigo Pascaro.
Diese Lektüre sollte für mich später außerordentlich wertvoll werden.