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Uns beschwert keinerlei Gepäck. Was Wera mit nach Sachalin genommen hatte, ist ein kleiner Koffer und ein gewöhnlicher Rucksack. Die Chinesen tragen sie, und Wera und ich schreiten voran, neben uns der hinkende Wrangel, hinter uns die vier schweigsamen Wangs, von denen der eine ein Mongole von ungewöhnlicher Länge ist.
Die Nacht ist sternenklar, der Mond steht hoch, und wir meiden den kürzesten Weg zur Bucht und halten uns stets in buschreichen Tälern. Meine Begleiterin zeigt keine Neigung, Tschanlis Mitteilungen kritisch zu erörtern, aber ich habe das Gefühl, daß Wera bereits wieder bei dem häßlichen Verdacht, ihr Gatte könnte mit einem anderen Weibe in dem Blockhaus zusammengelebt haben, angelangt ist, und sich scheut, diese Gedanken vor mir zu entblößen.
Wir schreiten mächtig aus, obwohl es mir zuweilen vor Übermüdung und Abspannung heiß über den Leib rinnt. Mein Kopf ist benommen, und es ist mir im Grunde nur lieb, daß Wera so stumm neben mir hergeht. Die kurzen Bemerkungen, die wir austauschen, beziehen sich nur auf Dinge, die dieser Nachtmarsch uns aufdrängt: Über einzuschlagende Richtung, über das nächtliche Getier, dem wir begegnen, und auf die Möglichkeit einer Verfolgung durch Steenpool.
Wera spricht über Steenpool nie in gehässigem Tone. Sie ist einsichtsvoll genug: Der Engländer tut nur seine Pflicht, und ein anderer an seiner Stelle wäre wohl weit rücksichtsloser vorgegangen.
Auf den weiten Wiesen mit ihren kniehohen Grasbüscheln und dicken Moospolstern stoßen wir auf kleinere Rentiertrupps. Vielbegehrte Zobel, hier auf Sachalin mit das häufigste Wild, flitzen wie Blitze in ihre unterirdischen Baue, – ein paar Füchse traben mißmutig von einem stinkenden Aas ins Gestrüpp, und das langgezogene Geheul eines jagenden Wolfsrudels bleibt merkwürdigerweise beständig in der Nähe.
Wrangel wird unruhig. Mitunter macht er Miene, einem flüchtenden Ren zu folgen, – auch die Wölfe stören ihn, und als gar in einem schmalen Waldstück ein brauner Bär in komischen Sätzen davoneilt und wiederholt stehen bleibt und vorsichtig zurückblickt, kann ich ihn kaum am Riemen zurückreißen.
Nach zwei Stunden spüren wir den Salzhauch des Meeres. Der eigentümlich aromatische Duft, den die Täler Sachalins aushauchen, verschwindet und der lauere Wind des Pazifik fächelt unsere müden Gesichter.
Die Hütte an der Bucht liegt vor uns. Wir halten im Gebüsch, und Wrangel und ich ziehen erst einmal allein auf Kundschaft aus. Über der Bucht liegt der Mondschein als silberner Streifen, und drüben das Vorgebirge grüßt mich mit vertrauten Zacken und Spitzen. Dort hatte Wassili Gowin seinen Lieblingsplatz, dort habe ich ebenso oft gesessen und über das Meer geschaut und unbestimmte Wünsche in die Ferne geschickt.
Wrangels feine Nase ist mir auf diesem Gange bester Schutz. Im Bogen nähern wir uns der Balkentür. Der Wind hat wieder ganz feinen Seesand in langem Strich hier zur Tür aufgehäuft, Sand so fein wie Puder, Milliarden winzigster Körnchen, denen niemand es mehr ansieht, daß sie einst Felsbrocken des Urgesteins gewesen sind und nur durch die Schleifwirkung des unruhigen Meeres oder durch die gleiche des Windes zu Sand gerieben sind.
Ich umkreise das Steinhaus. An der Rückseite hängen noch die ausgespannten Fuchsfelle. Nichts hat sich geändert. Ich kehre zur Tür zurück, und ich stutze. Dicht vor der Schwelle in der Sandwehe erblicke ich einen kleinen gebogenen Eindruck: Der Absatz eines Stiefels, mit Hufeisen benagelt, hat sich hier durch die Unachtsamkeit dessen, der die unverschlossene Hütte betrat, deutlich eingeprägt.
Steenpool! – Und Howard Steenpool muß vor kurzem hier gewesen sein. Die Spur ist frisch. Ich kenne mich mit Spuren aus.
Mein mißtrauischer Blick überfliegt die nahen Stöße Klobenholz … Nein, wäre der Engländer noch in der Nähe, würde Wrangel ihn gewittert haben. Gerade Steenpools persönlicher Geruch würde dem Hunde niemals entgehen. Steenpools gepflegte Erscheinung hat das hier fremde Odeur der Kultur.
Ich rufe Tschanli und den riesigen Mongolen Gupa herbei. Sie umkreisen einzeln das Haus, während wir anderen in aller Eile das am Strande liegende Boot des Schoners flott machen und aus unserem Heim alles an Bord des Sakramento schaffen, was irgend mitnehmenswert wäre. Da sind Felle aller Art, tadellos eingesalzen, sie stellen ein Vermögen dar. Da sind Rentiergeweihe, andere Jagdtrophäen, an denen ich hänge. Sechsmal fährt das Boot hin und her. Wera ist an Bord geblieben und richtet die Heckkammer für sich her.
Als das fahle Grau der ersten Dämmerung im Osten erscheint, wirft Gupa, der in den Ölfeldern Maschinist war, den Motor an.
Ich habe von dem Steinhause, das mich ein halbes Jahr zusammen mit Gowin beherbergte, allein Abschied genommen. Dieses Haus auf Sachalin war wieder ein Markstein auf meinem ziellosen Lebenswege. Es war mir vorübergehende Heimat, und der Abschied wird mir schwer.
Der Schoner gleitet hinter der Riffbarriere hervor in offenes Wasser. Wera und ich stehen an der Reling und sehen still das Land entschwinden. Tschanli hat das Steuer übernommen. Der Alte, scheint mir, ist vielseitiger wie all diese Kulis, die alles versuchen, die nur sparen, sparen und deren Sehnsucht eine eigene Scholle an einem der großen Flüsse ihrer endlosen Heimat ist.
Es flimmert mir vor den Augen. Die Müdigkeit nimmt überhand, und nachdem ich noch Tschanli Bescheid gegeben, daß wir außer Sicht der Küste nordwärts steuern wollen, drücke ich Wera die Hand und gehe in meine kleine Kajüte. Ich wollte sie ihr einräumen, sie hat es abgelehnt. Ich werfe mich in Kleidern auf das Bett, schlafe im Nu ein und erwache am Spätnachmittag. Kap Elisabet, Sachalins Nordspitze, liegt bereits hinter uns, wir durchkreuzen den Sachalin-Golf und befinden uns zwischen dem asiatischen Festland und Sachalin, also in einer Wasserstraße von durchschnittlich hundert Kilometer Breite.
Tschanli lehnt am Steuer, raucht und blinzelt mich an. »Wir besser nachts in Amurmündung einlaufen, Missu …«
»Allerdings, Tschanli, – ohne Pässe, Papiere. Es wird ein ewiges Versteckspiel werden …«
Die Rauchfahnen mehrerer Dampfer beweisen die Nähe bewohnter Gegenden.
Tschanli deutet auf die Takelage. »Ich schon sprechen mit Gupa … Besser sein, wir ändern da vieles, Missu … dies sein amerikanische Klippertakelung und fallen zu sehr auf … Wenn dunkel, wir bauen auf zum Schein vorn noch große Kajüte.«
Seine Vorschläge haben Hand und Fuß. Wenn wir unbelästigt den Amur hinab bis Chabarowsk wollen, wo die sibirische Bahn den Fluß kreuzt, muß der Schoner ein ruppiges Flußboot werden. –
Wera ist unsichtbar. Vielleicht schläft sie. Ich gehe an Deck auf und ab, und Wrangel hinkt neben mir. In der Kombüse klappert ein Chinese mit Töpfen, und der Duft, der aus dem Niedergang aufsteigt, reizt meinen Magen.
Es ist dunkel, als ich dann wieder meine Kajüte betrete. In Weras Kammer brennt Licht, aber ich mag nicht bei ihr anklopfen, ich kann es verstehen, sie hat in den letzten Tagen allzu herbe Enttäuschungen durchgemacht, ich begreife durchaus, daß sie allein sein will.
Der Koch bringt mir das Abendessen, und dann kommt Gupa, der wie ein Seeräuber aussieht, und bespricht mit mir die Einzelheiten über den Umbau des Schoners. Wir werden im Laderaum die Zwischenwände herausbrechen, die Bretter werden genügen.
Um Mitternacht liegen wir zwischen den Sandinseln der flachen Amurmündung. Alle Lichter sind an Bord gelöscht, Wera hilft, aber sie ist still und stumm, nur die Hammerschläge dröhnen nervenaufreizend durch die mondhelle Nacht.
Gupa kennt den Amur. Gupa und Tschanli scheinen hier einmal weniger ehrlich als auf Sachalin gearbeitet zu haben. Ich kenne nichts von Sibirien, nichts von der Mandschurei, und was Gupa erzählt, – wird wohl stimmen.
Der Amur ist von der Stadt Mariinsk an total versandet. Der Warenverkehr geht über diese Stadt mit der Bahn nach Alexandrowsk, – Gupa betont, daß die meisten Orte umgetauft sind. Die neuen Namen sind ihm weniger geläufig.
Drei Stunden arbeiten wir wie gehetzt, denn wir müssen noch bei der Dunkelheit in den Fluß einlaufen der Zollboote wegen.
Dann schleicht der Schoner zwischen Sandbarren durch schmale Kanäle, Tschanli sitzt oben im Hauptmast mit dem Glase. Wieder zwei Stunden, in denen die Nerven prickeln … Aber wir kommen durch, und das bewaldete, inselreiche Westufer bietet uns überall Schutz. Fahrzeuge gleiten vorüber, Fischer starren uns nach, am Ufer flackern Feuer, brenzliger Duft zieht über das trübe Wasser.
Die Fürstin hat sich niedergelegt, und der kleine Schoner ist nicht wiederzuerkennen. Tschanli reibt sich zufrieden die Hände. Drei verdächtige Motorboote mit der Sowjetflagge am Heck haben uns ruhig passieren lassen.
Als ich dann meine Kajüte aufsuche, als ich die Deckenlampe anzünde und Wrangel, den ich vergessen habe, an der Tür kratzt, sagt Howard Steenpool von meinem Bett her:
»Abelsen, Sie werden mich schon mitnehmen müssen.«
Ich starre ihn an wie eine böse Erscheinung.
»… Ich hatte mich an Bord geschlichen – natürlich. Ich schwamm … Ich wußte, daß Sie Sachalin verlassen würden, Abelsen … Ich steckte im Kielraum. Aber ewig konnte ich dort nicht bleiben.«
Sein Kürbisgesicht lächelt freundlich.
»Betrachten Sie mich nicht als Gegner, Abelsen. Was ich erfahren wollte, weiß ich nun, und ich werde treu zu Ihnen stehen.«
Er sitzt bequem auf dem Bettrand, und gemächlich zündet er eine Zigarette an. »… In den Brandruinen des Blockhauses Zubanoffs fand ich den Sender und manches andere … Wenn ich Sie und die Fürstin wirklich hätte festnehmen lassen wollen, wäre dazu an der … sagen wir ›Tigerinsel‹ die beste Gelegenheit gewesen, denn mein Fernglas, Abelsen, ist schärfer als Chinesenaugen. Sie verstehen mich …«
»Nicht ganz …«
»Sprechen Sie doch leiser, Abelsen … Die Bretterwand nach Frau Wera hin ist dünn, und es ist für der Fürstin Seelenruhe besser, sie hört nichts, nichts. Ihr Gatte war der Ober-Tschu-Wang. Gowin ist es jetzt. Es ist eine Eigentümlichkeit von mir, stets mehr zu wissen, als man ahnt. Howard Steenpool ist ein Zwerg, aber er hat Muskeln, und ein dreifaches Hirn und könnte als Keulenwerfer auftreten. Tschanli glaubte, ich wäre blind und taub … Und von der nächtlichen Unterredung zwischen Gowin und dem Fürsten schnappte ich auch einiges auf … leider nicht genug. Das eine ist sicher: Zubanoff trat an Gowin seine hohe Stellung als Dreizehnter freiwillig ab, und die beiden und Chedee sind unterwegs nach einem Dorfe westlich von Charbin in der Mongolei …«
»Möchten Sie mich nicht auch einmal zu Worte kommen lassen, Steenpool …« Sein Redefluß machte den Eindruck, als ob er meinen Fragen ausweichen wollte.
»Bitte … Lassen Sie doch den Hund herein.«
Wrangel knurrte Steenpool an, legte sich dann nieder, und ich zog einen Schemel herbei und nahm eine Zigarre.
»Weshalb floh der Fürst vor seiner Gattin?« fragte ich gespannt.
Steenpool hob die Schultern. »Wenn ich das wüßte, – ich weiß es nicht! Er sagte zu Gowin nur – wenigstens verstand ich soviel: ›Ich muß für die Welt tot sein … Es ist eine selbstauferlegte Buße.‹ – Können Sie sich daraus einen Vers machen?!«
»Nein …« – aber ich traute ihm nicht ganz, denn, daß er mir alles enthüllen würde, war kaum anzunehmen.
Er las mir die Zweifel von der Stirn ab. Er streckte mir die Hand hin und blickte mich fest an. »Abelsen, – ehrlich Spiel! Ich habe an Wera Zubanoff kein Interesse mehr. Bix und Fattmoore starben von anderer Hand … Und über den Wang-Bund weiß ich alles. Meine Mission ist erfüllt.«
Seine Finger drückten die meinen. Ich merkte, er log nicht.
»Wer tötete die beiden?«
»Fürst Zubanoff«, erwiderte er noch leiser.
Nicht leise genug, denn in der kleinen Verbindungstür zu Weras Kammer stand eine schlanke Gestalt im schwarzen Kimono mit ungewöhnlich bleichem Gesicht …