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Mißmutig liege ich auf meinem harten Lager und starre auf die unverputzte Decke unseres Salons.
Wenn ich von uns rede, dann sind damit folgende Personen gemeint: Erstens Gowin, der Mischling, der rätselhafte Bär. – Ein- oder zweimal am Tage poltert er mit scharrenden Tritten in den Salon, wirft vom Herd aus ein paar mißbilligende Blicke auf mich und beginnt zu kochen. Es ist für mich jedesmal ein Rätsel, wie der Kerl es anstellt, bei diesem Sauwetter da draußen etwas Eßbares aufzutreiben. Auf einem verbeulten Blechteller, der früher einmal der Deckel einer Keksdose gewesen ist, serviert er dann später mit einer so hoheitsvollen, manchmal auch verachtungsvollen Miene das Essen, daß ich mich oft des Eindrucks nicht erwehren kann, er wäre froh, wenn er mich draußen liegen gelassen hätte. –
Aber darauf komme ich noch zu sprechen. –
Vorerst möchte ich weiteres über das Essen sagen.
Wenn es auch undefinierbar ist, was mir mein Küchenmeister mit herablassender Gebärde herüberreicht, – wenn ich auch oft den Eindruck habe, daß Gowin mich am liebsten mit der alten rostigen Bratpfanne erschlagen möchte, oder mir das Essen ins Gesicht schütten würde, – der Fraß schmeckt gut. – Ich weiß oft nicht, was ich esse, denn Gowin ist kein Europäer, er ist ein asiatischer Mischling – halb Mongole oder Chinese und halb Sibirier – und richtet sich bei der Herstellung der Speisen ausschließlich nach seinem Geschmack, aber weiß der Teufel, es schmeckt. – Und wenn es ein Ragout von fetten Ratten gewesen sein sollte, es hat geschmeckt.
Wenn Gowin seinen Küchendienst beendet hat, verschwindet er wieder, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen …
Oft sehe ich ihn dann den ganzen Tag nicht wieder und wenn ich nicht einen so leichten Schlaf hätte, würde ich es wohl nicht hören, wenn er sich mitten in der Nacht auf leisen Sohlen ins Zimmer schleicht und sich in seiner Ecke auf dem Fellager, zusammengerollt wie ein Hund, schlafen legt. – Rücksichtsvollerweise pflegt er sich, wenn er zu später Stunde heimkommt, die Stiefel auszuziehen …
Oh, Gowin …!
Wie viele Stunden der Nacht und des Tages habe ich schon damit verbracht, das Rätsel um deine Person zu lösen …
Es gelingt mir nicht …
Da er nicht reden kann, nützt es mir nichts, wenn ich ihn frage. Wenn er Lust hat, antwortet er wohl, da ihm aber die halbe Zunge fehlt, klingt seine Antwort wie das heisere Bellen eines Hundes …
Ich kann nichts damit anfangen …
Ich habe es versucht, in großer Blockschrift Buchstaben auf einen Zettel zu malen. – Er muß doch lesen können. –
Ohne daß er es der Mühe wert gefunden hätte, den Zettel überhaupt einmal richtig anzusehen, läßt er ihn, wie ein welkes Blatt auf den Boden fallen …
Und doch …!
Ich weiß, daß du lesen kannst, du Schurke – oder Freund, was du auch bist …
Einmal bemerkte ich, daß deine Augen kurz aufblitzten. – Das war damals, als ich dir den Zettel mit der Aufschrift über die Höhlen gab …!
Wenn ich jetzt wieder gesund bin, werde ich erneut versuchen, hinter dein Geheimnis zu kommen. – Aber – habe ich eigentlich ein Recht dazu?
Ich glaube, Ja! Denn es ist nicht Neugierde, die mich dazu treibt, sondern Dankbarkeit …
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Ich kenne jeden Riß in den Brettern, die das Zimmer notdürftig gegen das Dach unseres Hauses abschirmen! – Ja, ich möchte wetten, daß ich dazu in der Lage bin, aus dem Kopf die Maserung des Holzes aufzuzeichnen, auch heute noch, trotzdem schon Monate vergangen sind seit dieser Zeit …
Wie oft habe ich, damals auf Sachalin, die Gedanken durch mein Leben laufen lassen, und habe mehr oder weniger zweckmäßige Überlegungen darüber angestellt, ob mein Leben überhaupt noch einen Wert hatte oder nicht …
Wenn man so wie ich damals, wochenlang an ein Lager gefesselt ist, kommen solche Überlegungen, ob man will oder nicht. –
Im Anfang mag es einem gelingen, sie zu verscheuchen. – Aber sie kommen wieder. – Unerbittlich! –
Sie kommen aus der finsteren Ecke des Zimmers an dein Lager geschlichen und setzen sich auf deine Brust. – Wie ein Alpdruck …
Sie schleichen sich ein, in den Reigen deiner Gedanken und tanzen mit, so lange sie wollen …
Wehr dich Mensch …!
Wenn du kannst …!
Du kannst es nicht. – Sie kommen wieder. –
Sie begleiten dich durch den Tag. Sie verfolgen dich im Schlaf. Sie befruchten deine Träume …
Weil ich das Alleinsein nicht mehr ertragen zu können glaubte, faßte ich damals in meiner Heimat den wahnwitzigen Entschluß, die freundliche Pension, in die man mich auf Staatskosten untergebracht hatte, weil eine Frau es so wollte, auf eigene Faust wieder zu verlassen. – Ich ging ohne Abschied. – Heute scheint es mir eines der unfaßbaren Wunder zu sein, daß mir die Flucht gelang …
Und doch! –
Sei ehrlich, Abelsen, wäre es nicht besser gewesen, wenn …?
Du glaubtest damals, das Leben hinter den dicken Steinmauern sei unerträglich … Sie hemmten deine Gedanken … Sie nahmen dir die Luft …
Du wolltest wieder als Gleichberechtigter teilnehmen am Leben, wolltest wieder unter freien Menschen leben …
Und was wurde …?
Sternschnuppen gleich begleiteten wenige Menschen deinen Weg. Wo sind sie geblieben?
Coy Cala … Tot! – Warum war es mir nicht vergönnt, auch diesen Weg mit dir zu gehen? – Das Leben an deiner Seite, Coy, war schön. – Das Sterben mit dir, wäre bestimmt nicht schwer gewesen. –
Bell Diego …? Glücklicher, du fandest das, was ich bis heute vergeblich suchte … Die Frau! … Ethel. – Ich weiß, daß ihre Liebe zu dir stets groß genug sein wird, um den Farbunterschied der Haut, der sich trennend zwischen die Menschen legt, zu verwischen. – Edler Schwarzer … Freund!
Chi Api, – Borstel, – Menschen, die noch vor wenigen Wochen um mich herum waren … Männer und Freunde …
Magrit, – Frau und Freundin, die einem anderen gehört …
Sie gingen zurück in ihr Leben …
Die Erinnerung bleibt bei mir …
Ich kann zu ihnen kommen. Zu jeder Zeit, doch ich werde es nicht machen … Ich habe eingesehen, daß ich ein Ausgestoßener bin und bleibe …
Ewig …
Diese Feststellung ist schmerzhaft – aber, warum soll man sie nicht akzeptieren, wenn sie wahr ist? …
Das war es, was ich damals in jener Nacht, als ich über die dünnen Kabel flüchtete, nicht wußte:
Du kannst die Mauern die dich umgeben sprengen, – aber es wird dir nicht gelingen, die eine Schranke zu überspringen, die dich von den Menschen, den wirklich freien, trennt …
Abseits vom Alltagswege, nah und doch so fern von allen Menschen, wirst du ein ewig Flüchtender bleiben …
Wie das Gesetz es befahl …!
Frage nicht nach Recht oder Unrecht … Das Gesetz ist stumm. Es antwortet nicht …
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Der Starke ist am mächtigsten allein …!
Schiller: Wilhelm Teil …
Ich weiß nicht welcher Akt und welche Szene. – Ist ja auch gleich. –
Jedenfalls, Schiller hat diese Worte einmal geschrieben. –
Warum …?
Er wird es gewußt haben. – Soviel ich weiß, ist auch sein Leben nicht einfach gewesen. – Jedenfalls behauptete unser Geschichtsprofessor es immer …
Hatte er recht? – Hatte Schiller recht als er die Worte:
Der Starke ist am mächtigsten allein, seinen Helden Tell ausrufen ließ …
Heute bezweifle ich es …
Es müßte nach meiner Ansicht heißen:
Die Macht des Starken wächst proportional mit der Zahl seiner Freunde …
Der Schwache bleibt am besten allein …
Bei allem was das Leben mir an Glück oder Unglück bescherte – wo wäre ich, wenn meine Freunde, und mögen sie noch so dünn gesät sein, mir nicht geholfen hätten?
Auch Gowin könnte mein Freund sein …
Besser: Gowin ist mein Freund, wenn er mich auch jetzt so von oben herab behandelt …
Ich danke ihm mein Leben. Er war es, der mich fast vier Tage lang auf seinem breiten Rücken schleppte, – damals!
Es ist ja alles erst wenige Wochen her …
Ein Schneesturm tobte seit Tagen um unser Haus. Wenige Tage erst waren vergangen, seit Borstel und Chi und alle anderen uns verlassen hatten. –
Ich selbst beschäftigte mich mit meinen Aufzeichnungen, während Gowin sich die Zeit damit vertrieb, ein ganzes Rudel Hunde, von denen unheimlich viele auf der Insel ihr Leben fristeten, zu Schlittenhunden zu erziehen. – Mit der Zähigkeit, die so viele primitive Menschen auszeichnet, hatte er sich aus Balken und Bohlen einen Schlitten gebaut. Irgendwie hatte er es auch fertiggebracht, aus Fellstücken die Geschirre zu basteln. Wie ein vorsintflutliches Ungeheuer tauchte er nun ab und zu vor dem kleinen Fenster auf, wie ein Eskimo auf den Kufen des Schlittens stehend. Mit schrillen Rufen trieb er die Hunde durch das Schneegestöber … Ich weiß heute noch nicht, wie er es fertigbrachte, die Tiere, die vollkommen wild hier lebten, soweit zu bringen, daß sie sich einspannen ließen. Wenn ich ihm meine Bewunderung darüber in wenigen Worten zum Ausdruck brachte, grinste er über sein ganzes Gesicht.
Morgen für Morgen begann für uns der Tag damit, daß wir riesige Schneehaufen vor unserer Tür wegräumten. – Eine harte Arbeit, überhaupt dann, wenn der eiskalte Nord-Ost dabei mit einer Stärke blies, die auch den dicksten Rock durchdrang. – Die Kälte war aber noch zu ertragen, denn die dicken Holzscheite, die wir in unserer Behausung aufgestapelt hatten, gaben ein gutes Feuer und tauten uns immer bald wieder auf. – Das Gemeine an dem Wind war, daß er unsere Arbeit in wenigen Minuten wieder zunichte machte. –
Kaum, daß wir glaubten, die Tür wäre nun frei, – schon hatte der Wind wieder den Gang zugeweht …
Bis ich dann eines Tages die Lust an dieser unnützen Arbeit verlor und mich daran erinnerte, daß ich doch eigentlich Ingenieur sei … Ich baute einen Tunnel durch den Schnee. Gowin sah sich mein Werk interessiert an. Als ich es vollendet hatte, grunzte er anerkennend. Das wollte etwas heißen, denn schon damals beobachtete er meine Schreiberei mit verächtlicher Miene. –
Auch hier auf Sachalin hört der tollste Schneesturm einmal auf. Eines Morgens, als wir unseren Gang wieder einmal freigeschaufelt hatten, lachte uns ein strahlend blauer Himmel entgegen. Die Sonne strahlte mit einer Kraft vom Himmel, als hätte sie sich vorgenommen, innerhalb eines Tages den ganzen Schnee wieder wegzutauen.
Nach dem Frühstück schirrte Gowin seine Hunde an und brauste, wilde Rufe ausstoßend, davon. Auch ich verspürte in mir die Lust, ein wenig Schneesport zu treiben und holte meine selbstgefertigten Skier heraus. Mit kräftigen Schwüngen stieß ich mich durch den Schnee. –
Zum ersten Male genoß ich die friedliche Landschaft. Ich freute mich über die sanften Wölbungen der Hügel, die wie große erstarrte Wellen die Ebene bedeckten. In herrlicher Weitsicht konnte ich zum ersten Male in Ruhe und Frieden einen Blick auf das Gebirge werfen, das im Osten das flache Land umsäumte.
Ein schönes Bild, so rein und so voller Frieden …
Mittags beim Essen war Gowin merkwürdig unruhig. Immer wieder lief er hinaus, arbeitete an seinem Schlitten. Zog hier ein Tau an und dort. Drehte ihn herum und fuhr mit der Hand über die Kufen, sorgsam die Glätte prüfend. –
Er hatte Reisefieber. Ich kenne das.
Auch mich zog die Neugierde hinaus …
Als ich Gowin zu verstehen gab, daß ich gern einmal einen Streifzug durch die Insel machen würde, heulte er auf. Vor Freude! Ohne ein weiteres Wort machte er sich daran, den Schlitten mit Vorräten zu beladen. – Ich durfte ihm nicht dabei helfen. – Alles wollte er mit seiner Kraft alleine machen. Wenn er eben Zeit dazu hatte, kam er zu mir und klopfte mit seinen riesigen Händen auf meine Schulter, daß ich fast zusammengesackt wäre. Seine sonst so stumpfen Augen leuchteten …
Am Nachmittag zogen wir los. Gowin auf den Kufen des Schlittens, ich auf meinen selbstgefertigten Brettern. –
Es war eine herrliche Fahrt. Wenn es eine Zeit bergauf ging, schmiß Gowin eine Leine aus und zog mich mit. –
Am Abend lagerten wir im Windschatten eines Waldes. Irgendwie brachte Gowin es fertig ein Feuer anzuzünden. – Der aromatische Duft von Tee zog in meine Nase. – Der aufgewärmte Stockfisch schmeckte fabelhaft. –
Als dann später am Abend einzeln nacheinander die Sterne am Himmel aufleuchteten, und später in ihrer Vielzahl ein großer Schwärm Leuchtkäfer am Himmel stand, wurde es romantisch. –
Erinnerungen an meine Jugend. –
Ich bin in Schweden geboren und habe meine Ferien stets in diesem Land, auch später als ich in Deutschland studierte, verbracht. –
Manches Zeltlager habe ich mit aufgeschlagen. – Viele Abende im Kreise gleichgesinnter Jugendlicher verbracht …
Schöne Zeit …
Am nächsten Tage erreichten wir das Gebirge. Besonders hoch sind die Berge hier nicht. Ich schätze den höchsten auf etwa 1200 bis 1500 Meter, aber wie sie da vor uns liegen und ihre unbefleckte Sauberkeit im Glanze der Sonne strahlen lassen, wirken sie mächtig.
Während Gowin sich um seine Hunde kümmerte, ging ich auf die Jagd. Lange belauschte ich einen großen Bären, der sich verspielt im Schnee tummelte, daß die Flocken nur so umherflogen. – Ich brachte es nicht übers Herz ihn zu töten. Dafür erlegte ich dann einige Vögel, die ähnlich wie unsere Schneehühner hier in ganzen Schwärmen die Luft bevölkern …
Auch in dieser Nacht schliefen wir ungestört …
Die folgenden Tage waren einfach unbeschreiblich schön.
Über Berg und Tal ging unser Weg. Stundenlang, ja tagelang zogen wir unsere Spuren zwischen riesigen Bäumen …
Damals machte ich mir keine Sorgen, ich lebte auf in der Freiheit der Natur. Vergessen war alles, was hinter mir lag …
Vergessen war Margrit …
Gowin und ich und die Hunde, das war meine Welt …
Ich war glücklich …
Unser Weg führte nach Norden. Wir hatten uns vorgenommen, diesen Teil der Insel zu erforschen.
Mir war es recht. Zwar fürchtete ich mich vor niemanden, aber es war doch gut, wenn man wußte, von wo einem gelegentlich Gefahr drohen konnte …
Auf unserer ganzen Wanderung fanden wir nicht eine Spur von Menschen. –
Gowin unternahm oft lange Wanderungen in Felsschluchten. Im Anfang begleitete ich ihn öfter. Eines Tages aber, als ich mich wieder zu ihm gesellte, wies er mich schroff ab. –
Verwundert sah ich ihn an, – sein Gesicht war beinahe feindselig zu nennen. – Was sollte das bedeuten?
Kopfschüttelnd ließ ich ihn seines Weges ziehen. –
Ich war gekränkt, – es gehörte sich nicht, nach meiner Ansicht, daß man, wenn man so wie wir auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen ist, Geheimnisse voreinander hat.
Auf keinen Fall wollte ich mich aufdrängen …
Abends im Schein des Lagerfeuers war er wieder zutraulich, wie zuvor. Keine Spur mehr seines abweisenden Verhaltens am Morgen …
Diese Ausflüge unternahm Gowin an den nächsten Tagen immer öfter. Oft sah ich ihn den ganzen Tag nicht. –
Wenn ich aufwachte, war er schon weg. – Auf dem kleinen Feuer kochte das Wasser für den Tee. Er sorgte für mich, aber er ging seine eigenen Wege. – Langsam gewöhnte ich mich daran. – Auch ich behandelte ihn wie Luft. – Als er sich an einem Abend in meine Nähe setzen wollte, rückte ich klar und deutlich an die Seite. Betroffen sah er mich an. – Heute glaube ich, daß ich damals richtig gesehen habe, als ich seine Augen feucht werden sah. – Damals aber glaubte ich an eine Täuschung. Ich war wütend über sein Benehmen. Als ich mich in meinem Schlafsack zur Ruhe legte, streifte ich ihn mit einem kurzen Blick.
Nie werde ich diese Augen vergessen …
Am sechsten Tag unserer Reise wurde Gowin unruhig. Auch die Hunde wollten sich an diesem Abend nicht beruhigen. Immer wieder sprang einer auf und heulte in klagenden Tönen in die Nacht. Schaurig klang das Echo von den Bergen zurück.
Am nächsten Morgen lag eine feine Decke Neuschnee über unserem Lager. Ohne ein Wort zu verlieren, packte Gowin wie immer die Zelte und Vorräte zusammen.
Täuschte ich mich? – Nein, als wir im Laufe des Tages durch einen Wald zogen bestätigte sich meine Vermutung:
Wir zogen nach Süden. – Warum hatte Gowin den Kurs geändert?
Warum sagte er mir nichts davon?
Ich sollte es bald genug selbst merken …
In der Nacht wurde ich durch einen peitschenden Knall aus dem Schlaf gerissen. Erschreckt riß ich die Augen auf …
Ich vermutete einen Überfall …
Es war der Wind. – Mit unheimlicher Stärke hatte er unser Zelt, in dem wir unsere Vorräte aufbewahrten, davongetragen. –
Nie werde ich das grausame Heulen des Sturmes, das von dem ängstlichen Gejaule der Hunde noch untermalt wurde, vergessen …
Sofort war ich aus dem Schlafsack und wurde fast vom Wind davongetragen, wenn Gowin mich nicht gehalten hätte. –
Wie ein Schatten tauchte er an meiner Seite auf. – Gemeinsam versuchten wir unsere Vorräte, die der Wind verstreut hatte, wieder einzusammeln. – Die Dunkelheit hinderte uns daran. Wir fanden nur einen Bruchteil wieder. –
Aber was macht das. Wir hatten ja unsere Gewehre und Munition. Wir konnten auf Jagd gehen und in wenigen Tagen sind wir wieder zu Hause …
Dachte ich …
Das Schlimmste war, daß am nächsten Morgen ein Teil der Hunde in der Nacht Reißaus genommen hatte. Verwundert sah Gowin auf die zerrissenen Seile. Die Angst mußte in diesen Kreaturen so groß gewesen sein, daß sie besinnungslos ihre Fesseln zerbissen …
Von der Schönheit der Landschaft war von nun an nicht mehr viel zu sehen. Soweit wie der Himmel über uns überhaupt zu sehen war, war er schwarzgrau. Tief lag er über den Bäumen.
Und dann kam der Wind …
Ich bin, wie ich schon sagte, gebürtiger Schwede. Deshalb kann ich wohl von mir behaupten, daß ich so einigermaßen winterfest bin. – Aber so etwas von entfesselten Gewalten habe ich seither nicht wieder kennengelernt. –
Sachalin liegt auf dem 50. Grad nördlicher Breite. Das ist, wenn ich mich nicht täusche, ungefähr der Breitengrad von Frankfurt am Main. – Meine schwedische Heimat liegt also viel nördlicher. Das Klima unserer Landeshauptstadt verglichen mit dem Klima von Frankfurt am Main ist ungefähr so, wie das Klima von München und Rom nach der anderen Seite der Erdkugel. – Wenn bei uns schon eisige Winde durch die Straßen fegen, sitzen die Frankfurter noch gemütlich im Garten bei ihrem Äppelwein. –
Also, hier merkte man nichts mehr davon. – Der Wind peitschte die kleinen glashart gefrorenen Schneekristalle mit einer solchen Wucht in mein Gesicht, daß mir in wenigen Minuten an verschiedenen Stellen das Blut herunterlief. Es half auch nichts, daß wir unsere Fellhauben tief ins Gesicht zogen, die zwar den Schneesturm abhielten, dafür aber den Nachteil hatten, daß sie uns blind machten. Als ich mich das fünftemal aus einer Schneewehe erhob, schob ich die Kapuze gern wieder zurück. Lieber Schnee ins Gesicht, als dauernd ganz im Schnee zu baden. –
An diesem Tag kamen wir nicht weit. – Ich glaube fast, daß wir am Abend noch die Stelle, von der wir am Morgen aufgebrochen waren, sehen konnten. Müde schlich ich durch die Gegend. – Es war wie verhext, kein schießbares Wild war zu sehen. Auch Gowin, der nach mir sein Glück versuchte, kam mit leeren Händen zurück …
Es gab also nur etwas dünnen Tee und einige Keks zu Abend. –
Aber morgen wird der Sturm sicher vorbei sein, dachte ich als ich mich hungrig in den Schlafsack hüllte …
Am nächsten Morgen weckte mich der Wind, der noch schlimmer wie am vergangenen Tag heulte. – Es gelang Gowin nicht, Feuer anzumachen. – Zum ersten Male mußten wir den Tag ohne wärmende Flüssigkeit beginnen …
Auch die Hunde waren müde. Der kleine Rest des Fleisches war lange nicht ausreichend für sie gewesen. Was das heißt, wenn so eine halbgezähmte Bestie Hunger hat, spürte ich, als sich eine kräftige Hündin heimtückisch auf mich stürzen wollte. Aus Gewohnheit lief ich dicht an der Reihe entlang, ohne mich um die Hunde zu kümmern. – Fast wäre es mein Tod gewesen. So wurde es der Tod der Hündin. Gowin erschlug sie kurzerhand mit der bloßen Faust. Es wird schon richtig gewesen sein.
Durch diesen Umstand kamen die Hunde für die nächsten Tage zu ihrer Fleischration …
Am Nachmittag, wir hatten im Schatten eines Waldes Schutz gesucht, sah und hörte ich zum ersten Male Wölfe …
In dieser Nacht mußten wir wachen …
Das Feuer mußte in Gang gehalten werden. – Es war ein grausiges Bild … Die schleichenden Schatten, die grünschillernden Augen … Ich vertrieb sie, indem ich von Zeit zu Zeit brennende Äste zwischen die Bäume schleuderte.
Am nächsten Tag heulte der Wind so stark, daß wir beschlossen, unseren Lagerplatz nicht zu verlassen. Hier im Wald hatten wir es immerhin noch verhältnismäßig gut. Der Wind konnte uns nicht so packen, und hier konnten wir auch am ehesten damit rechnen, etwas Eßbares zu erlegen. –
Gowin versuchte sich als Jäger … Ich glaubte schon, daß er sich verlaufen hätte, aber dann kam er, auf einem Ast einen Bären hinter sich herziehend, durch die Bäume. –
Es wurde ein Festessen. Für uns und für die Hunde. –
Satt und faul wälzten sie sich in ihrer kleinen Schneemulde. – Gowin übernahm die erste Wache, so konnte auch ich mich bald schlafen legen. Es war ein herrliches Gefühl. –
Die Welt sieht ganz anders aus, wenn man sie mit einem vollen Magen betrachtet. –
Ich weiß heute nicht mehr, wie lange ich geschlafen habe, oder ob ich überhaupt zum Schlafen gekommen bin in dieser Nacht. –
Jedenfalls riß es mich hoch, als plötzlich dicht neben meinen Ohren peitschende Schüsse die Nacht zerrissen. –
Sofort war ich hellwach. Automatisch griff ich zu meiner Pistole, die ich immer in meiner Nähe liegen hatte und krabbelte aus dem Schlafsack.
Gowin stand dicht am Feuer. Seine Flinte in die Hüfte gepreßt.
In der freien Hand hielt er einen glimmenden Ast, den er, kurz bevor ich ihn erreichte, in das Finstere schleuderte. Einen Kometenschweif Funken hinter sich herziehend, zerschellte er irgendwo in der Nacht. Mehrstimmig heulte es zwischen den Bäumen auf.
Als es wieder ruhig wurde, hatte ich mich an das Dunkel gewöhnt. Ich glaube, die Haare standen mir zu Berge, als ich die vielen dunklen Schatten sah, die dicht an dicht unser Lager umschlichen. –
Wölfe!
Irrlichtern gleich schwangen die grünen Lichter der Augen durch die Nacht.
Verschwanden und tauchten vermehrt wieder an einer anderen Stelle auf.
Mit kurzem Nicken hatte Gowin mein Auftauchen zur Kenntnis genommen. Ich übernahm die Deckung nach der anderen Seite des Feuers.
Unsere Hunde hatten sich ebenfalls dicht um das Feuer gedrängt. Sie fürchteten ihre Verwandtschaft, die uns hier nächtlicherweise besuchte, anscheinend mehr als wir. –
Deutlich sah ich, daß ihnen der Pelz auf dem Rücken wie eine struppige Borste in die Höhe stand. –
Ein großes Tier näherte sich auf meiner Seite dem Feuer. Wütend riß ich einen glimmenden Strunk aus dem Haufen und schleuderte ihn direkt zwischen die beiden grünen Punkte. – Schmerzliches Gebrüll folgte. Das Tier sprang mit solcher Wucht zurück, daß es sich überschlug. Bevor es wieder auf die Beine kam, fielen fünf, sechs dunkle Schatten über ihn her und zerfleischten es. – Sie zerrissen ihn buchstäblich. –
Ein häßlicher Schrei durchriß die Nacht. Erschreckt hielt ich mir die Ohren zu. – Eine Gänsehaut überzog meinen Rücken.
Das dunkle Knäuel bot für mich ein gutes Ziel. Ohne mich zu besinnen und ohne besonders zu zielen, schoß ich ein ganzes Magazin meiner Pistole leer. Ich muß mehrere Male getroffen haben, wenn ich das wütende, schmerzliche Aufheulen, das meinen Schüssen folgte, richtig beurteilen konnte. –
Auf meiner Seite trat nach meinem Feuer eine kleine Pause ein. Verschnaufend drehte ich mich kurz nach Gowin um. Auch auf seiner Seite war es ruhiger geworden. – Anscheinend waren die Biester jetzt damit beschäftigt, ihre auf dem Felde gebliebenen Genossen auf ihre Art zu beerdigen. – Das heißt, das Krachen der Knochen und das immer wieder wütend aufheulende Gebrüll zeigte uns, daß sie sich nicht einmal bei ihrem Leichenschmaus vertrugen.
Es wurde wieder still zwischen den Bäumen. –
Anscheinend zogen sich die jetzt etwas Gesättigten zur Beratung zurück. Daß sie den Angriff gegen uns abbrechen würden, kam nach meinem Dafürhalten gar nicht in Frage. Ich kannte diese Biester, zwar nicht hier von der Insel, aber die, die ich an der Seite meines Freundes Coy kennengelernt hatte, waren bestimmt nicht anders. –
Hunger tut überall weh, ob auf Feuerland oder auf Sachalin. –
Und eigentlich ist es das gute Recht dieser Tiere, wenn sie sich ihr Fressen da holen, wo sie es finden?
Sie greifen sowieso nur ungern den Menschen an. – Nur wenn der Hunger sie treibt, wagen sie es. Allerdings, sind sie dann auch am gefährlichsten. Sie siegen fast immer, weil sie in großen Rudeln angreifen. Daß oft bis zu drei Viertel der Wölfe bei diesen Angriffen ihr Leben lassen müssen, schreckt sie nicht zurück. Im Gegenteil, es scheint fast, als würde durch den Tod ihrer Gefährten ihr Blutrausch erst richtig angefacht …
Fast hätte ich, in meinen Überlegungen versunken, die nötige Aufmerksamkeit vergessen. – Hätte nicht einer unserer Hunde plötzlich warnend gebellt … vielleicht wäre ich zu spät gekommen.
So aber konnte ich gerade noch einen glühenden Ast aus dem Feuer reißen, zum Werfen langte es nicht mehr. – Mit einem kurzen Ruck riß ich den Arm hoch und stieß den Ast mit aller Gewalt in den weit geöffneten Rachen vor mir.
Der Duft verbrannten Fleisches zog in meine Nase. Ich achtete nicht darauf. Kein Auge ließ ich von der vor Schmerz zusammengezogenen Gestalt des Tieres. Der Ast war durch die Gewalt des Stoßes abgebrochen. Die eine Hälfte hatte ich in der Hand, – die andere hatte sich im Maul des Wolfes verklemmt. – Heulend, den ungeheuren Kopf nach allen Seiten auf den Boden reibend, versuchte das Tier sich von dieser Marter zu befreien. Es gelang nicht.
Wenn es nicht wegen der Munition gewesen wäre, gern hätte ich das Tier von seinen Qualen erlöst. Aber ich bezweifle noch, daß ich es getroffen hätte, so wild zuckte und sprang der Körper hin und her. In gebührender Entfernung beobachteten die anderen Wölfe mit gierigen Augen diesen Kampf. Vorsichtig näherten sie sich, als das riesige Tier langsam ermattete … Und dann sprangen sie von allen Seiten darauf zu …
Wenige Minuten später war nur noch ein blutiger Rest von dem Tier zu sehen …
Ich spürte einen Brechreiz in mir aufsteigen. Mühsam schluckte ich und atmete tief nach Luft.
Es war ein grausiges Bild …
Bevor ich noch richtig zur Ruhe kam, war hinter mir der Teufel los. Das heisere Kläffen der Wölfe vermischte sich mit dem ängstlichen Heulen unserer Hunde. – Blitzschnell drehte ich mich herum.
Das war das Ende …
Ein Rudel Wölfe war über unsere Hunde hergefallen. Verzweifelt setzten sich die braven Tiere zur Wehr, aber sie schafften es nicht. Einer nach dem anderen hauchten sie ihr Leben unter schreiendem Geheul, das wie Hilferufe in meine Ohren klang, aus.
Ich vergaß den letzten Rest meiner Überlegungen.
In beiden Händen einen Ast von ziemlicher Stärke stürzte ich mich in den brodelnden Haufen. – Wild stoben die Funken auf, als ich drauflos schlug. Gowin kam mir von der anderen Seite zu Hilfe.
Fast schien es, als sollte es uns gelingen, die Meute zu vertreiben. Gerade drehte ich mich um, neue Äste aus dem Haufen zu reißen, als ich plötzlich zusammensackte …
Etwas Schweres hatte sich auf meinem Rücken festgekrallt, und schmiß mich zur Seite. Mit letzter Kraft versuchte ich mich herumzuwerfen …
Ich fiel … doch es gelang mir, mich wenigstens soweit zu drehen, daß ich nicht mit dem Gesicht zur Erde, sondern auf die Seite, mehr auf dem Rücken, zu liegen kam.
Noch im Fallen griff ich blindlings in unser Feuer. Es gelang mir einen kurzen Ast zu fassen zu bekommen …
Ein weit aufgerissenes Maul, aus dem der Geifer stoßweise herausspritzte, tauchte dicht vor meinem Gesicht auf. In dicke Schwaden hüllte der häßliche Gestank des unreinen Atems mich ein. Besinnungslos stieß ich zu. Aufheulend verschwand das häßliche Gebilde vor meinen Augen …
Bevor ich wieder auf die Füße kam, flog ein neues Knäuel auf mich zu. Noch, als es in der Luft war, stieß ich mit beiden Füßen dagegen, so daß es im hohen Bogen wieder in das Dunkel zurückfiel …
Gowin wollte mir zu Hilfe kommen, konnte aber nicht, weil er selbst von drei Seiten angefallen wurde.
Die Biester waren zum Großangriff übergegangen …
Ich gab in dieser Minute nicht mehr viel für unser Leben …
Wieder versuchte ich auf die Beine zu kommen … Und wieder wurde ich von hinten angesprungen. Ein beißender Schmerz durchzog meine Schulter. Mir wurde es vorübergehend schwarz vor den Augen. Mit aller Gewalt riß ich mich zusammen. –
Diesmal rettete mich einer unserer Hunde vor der Vernichtung. Aufheulend stürzte er sich auf den an meiner Schulter hängenden Wolf und verbiß sich in seine Flanken …
Das tapfere Tier, unser Hund, mußte seine Hilfe mit dem Leben büßen. Noch im Fallen riß der Wolf sich herum und begrub den Hund unter sich. Ein kurzes Aufheulen noch, dann war es aus …
Doch auch der Wolf kam nicht wieder weg. Gowin zerschmetterte ihm mit dem Kolben der Flinte den Schädel. Dicker Brei flog durch die Luft …
Ich schwöre, daß ich den Wolf, wenn Gowin ihn nicht erledigt hätte, mit meinen bloßen Händen erwürgt hätte und wenn ich selbst dabei draufgegangen wäre. So eine Wut hatte ich.
Der Kampf schien langsam abzuflauen. Die Wölfe zogen sich zurück. Schwankend stand ich auf … und fiel sofort wieder der Länge nach hin. Und diesmal so, daß ich selbst mich nicht mehr zur Wehr setzen konnte …
Ich schäme mich nicht. Ich weiß, daß ich kein Held im Sinne der Schundromanschreiber bin …
Ich schrie, laut und gellend hallte mein Schrei durch den Wald.
Er übertönte sogar das Heulen der Wölfe für einen Augenblick.
Als die langen Fangzähne in meinen Nacken eindrangen, überschlug sich meine Stimme in höchster Dissonanz …
Und ohne schamrot zu werden …
Ich gestehe es, es war Angst, pure Angst, die mich schreien ließ. –
Ich fühlte noch einen stechenden Schmerz irgendwo im Rücken, dann verließen mich meine Gedanken.
Eine barmherzige Ohnmacht nahm mir die Sinne.
Als ich wieder zu mir kam, war es hell.
Die Sonne strahlte in all ihrem Glanz über mir.
Zuerst glaubte ich allen Ernstes, ich sei im Himmel. – Als sich aber Gowins häßliches Gesicht über mich beugte, aus dem seine großen Tieraugen mich besorgt anblickten, kamen die Schrecken der Nacht wieder zurück …
Ich lebte. – Gowin lebte auch …
Es war den Wölfen also nicht gelungen, uns umzubringen.
In einer alten Konservendose reichte Gowin mir etwas Warmes zu trinken. Es war eine kräftige Brühe. – Was fragte ich, woher er sie hatte. – In gierigen Schlucken trank ich sie … Und fühlte neue Kraft durch meinen Körper rinnen …
Von Gowin unterstützt, richtete ich mich auf.
In meinem Nacken saß ein schweres Gewicht. Vorerst achtete ich nicht darauf, denn das Bild um mich nahm meine ganze Aufmerksamkeit gefangen …
Wüst sah es aus …
Große Blutlachen verfärbten den Schnee …
In weitem Umkreis lagen die Kadaver der Wölfe, zum Teil böse zerstückelt, um uns herum …
Von unseren Hunden keine Spur …
Fragend sah ich in Gowins Gesicht. Er nickte ernst …
Was sollte das bedeuten?
»Wo sind die Hunde«, fragte ich ihn?
Unförmiges Gestammel, begleitet von ungewissen in die Ferne deutenden Handbewegungen, war seine Antwort.
»Weg«, fragte ich? Ich hoffte, daß er verneinen würde.
Doch, – ich hatte schon richtig vermutet …
Nickend bejahte Gowin meine Frage …
Eine tiefe Niedergeschlagenheit überfiel mich. Was sollte nun werden? Wie sollten wir jetzt nach Hause kommen? Wir hatten weder zu essen, noch zu trinken. –
Aber, – ich hatte doch noch meine Ski. –
Ich wollte aufspringen, doch die Kräfte versagten mir. Taumelnd fiel ich zurück. Mein Kopf schmerzte und dann fühlte ich plötzlich das Gewicht in meinem Nacken. Ein stechender Schmerz durchzog meinen ganzen Körper vom obersten Halswirbel bis hinunter zu den Fußspitzen …
Was war mit mir geschehen?
Gowin versuchte mich wieder aufzurichten. Vorsichtig ging er dabei zu Werke. Es gelang ihm. Als ich saß, bedeutete er, daß ich jetzt versuchen sollte ganz aufzustehen. – Mit seiner Hilfe gelang es mir …
Doch ich mußte mich schwer auf ihn stützen, wenn ich nicht gleich wieder umfallen wollte. –
Wenn ich doch bloß wüßte, was mit mir passiert ist!
Mühsam überlegte ich. –
Stück für Stück kam die vergangene Nacht wieder in meine Erinnerung. – Dann hatte ich es. – Ein Wolf hatte mich überwältigt. – Wieder spürte ich den Schmerz in meinem Nacken, als wenn sich die Zähne noch einmal einbohren würden. Ich wollte mit meiner Hand über die Stelle fahren, die besonders stark schmerzte, – aber aufstöhnend ließ ich sie wieder fallen.
Der Schmerz war zu groß …
Langsam bekamen meine Füße einen festen Halt. Ich konnte ohne Hilfe Gowins einige Schritte gehen … Und wenn ich vorsichtig genug war, konnte ich sogar meinen Kopf hin und her bewegen.
Als Gowin dies bemerkte, kümmerte er sich nicht mehr um mich. Er suchte jetzt in den Trümmern unseres Lagers herum. –
Auch ich machte mich auf die Suche nach meinen Brettern. – Ich mußte sie finden. Nur mit ihrer Hilfe konnte es mir gelingen, wieder in unser Steinhaus zurückzukehren. –
Wie verlockend schön erschien mir jetzt unsere Hütte, die ich vor wenigen Tagen noch haßte …
Ich fand mit vieler Mühe meine Bretter wieder.
Gott sei Dank!
Jetzt konnte nicht mehr viel passieren. Ein so geübter Skiläufer wie ich kennt keine Gefahren mehr, wenn er seine Bretter bei sich hat …
Sorgfältig untersuchte ich die Bindungen. Alles in bester Ordnung …
Auch Gowin schien seine Sachen zu finden. – Er hatte ein Paar Schneeschuhe, wie sie hier oben sehr oft von den Eingeborenen getragen werden. – Die kanadischen Waldläufer benutzen ähnliche. Schnell laufen konnte man damit nicht, aber dafür sicher und lange. –
Beide sortierten wir in den Trümmern unseres Lagers. Es war nichts mehr dabei, was sich noch mitzunehmen gelohnt hätte. –
Gowin bepackte sich mit einem Bündel Eßwaren, – ich selbst war infolge meiner Verwundung nicht dazu in der Lage etwas zu tragen und dann, nachdem wir noch einen letzten Blick über die traurige Stätte geworfen hatten, machten wir uns auf den Weg. –
Gowin voran – ich immer hinterher. –
Wenn die Schmerzen nicht gewesen wären, die bei jedem Schritt durch meinen Körper zuckten, wäre es eine ganz schöne Sache gewesen. – Aber so. –
Jeder Schritt dröhnte in mir. Ich konnte den Fuß noch so vorsichtig aufsetzen, es schmerzte. Wütend biß ich die Zähne zusammen. – Sei kein Feigling. – Reiß dich zusammen. –
Es gelang mir wieder für einige Zeit Schritt zu halten. – Doch bald fiel ich wieder zurück. –
Schon am ersten Tage fühlte ich, daß ich es nicht bis zur Hütte schaffen könnte. – Niemals. –
Mittags, als wir uns zu einer kurzen Rast niedergelassen hatten, versuchte ich noch, vor Gowin meine Schwäche zu verbergen. – Nachmittags konnte ich vor Schmerzen nicht mehr laufen. – Der Schweiß lief mir in dicken Strömen übers Gesicht – Die Lippen sprangen auf und schmerzten ebenfalls. –
Mit Mühe konnte ich mich noch bis zum Abend halten. –
Guter Gowin. – Ohne ein Wort zu sagen, übernahm er die Nachtwache. – Selbstverständlich hätte ich auch meinen Teil übernommen. – Aber, als ich erwachte, war schon wieder Tag. – Freundlich lächelnd reichte Gowin mir den Becher mit Tee. –
Er mußte die ganze Nacht kein Auge zugemacht haben. –
Wütend machte ich ihm Vorhaltungen. –
Er lächelte nur. – Dann ging der Marsch weiter. – Wie stark hatte ich mich doch beim Start gefühlt. – Heute würde ich das Tempo besser durchhalten können wie gestern. –
Glaubte ich. –
Nach wenigen Kilometern schon ging die Tortur wieder los. – Die Schmerzen … Unbeschreiblich … Verbissen kämpfte ich mich hinter Gowin voran. – Ich mußte es schaffen. – Ich mußte. –
Es gibt aber eine Grenze, für jeden Willen und sei er noch so stark. –
Am Nachmittag fiel ich zusammen. –
Es war mir gleich, ob Gowin sich um mich kümmerte. – Ich konnte einfach nicht mehr. – Aufatmend streckte ich mich in den Schnee. Ein herrliches Gefühl. –
Vielleicht war es auch ein schöner Tod, hier im Schnee zu erfrieren. –
Ach ja, jetzt sterben, hier am Fleck. –
Es wäre in diesem Falle nichts anderes, als eine Erlösung für mich gewesen. –
Doch Gowin kam zurück und schleppte mich – gegen meinen Willen bis unter die nächsten Bäume. – Er sorgte für Feuer – er sorgte dafür, daß ich wieder etwas Warmes zu essen bekam. – Ich weiß nicht woher. – Auf jeden Fall es war etwas da. –
Noch unterm Kauen schlief ich ein. So ermattet war ich.
Am nächsten Tag versuchte ich es mit neuer Kraft.
– Nur daß ich jetzt nicht mehr hinter, sondern vor Gowin gehen mußte. So konnte ich nicht wieder verloren gehen. –
Ich weiß nicht, ob schon mehrere Menschen, jemals so verzweifelt gewesen sind, daß sie ohne jede Rücksicht nur den einen Wunsch hatten, jetzt und gleich sofort auf der Stelle umzufallen und nicht mehr aufzustehen. –
Mir ging es damals so. –
Es wurde noch schlimmer, als ich am Nachmittag plötzlich feststellte, daß es vor meinen Augen zu flimmern begann. – Bunte Kreise bewegten sich in großen Ringen vor meinen Augen. – Wenn ich die brennenden Lider schloß, schienen sie auf der Innenseite der Deckel weiter zu kreisen. –
Entmutigt ließ ich mich zusammenfallen. –
Schneeblind. –
Das Fürchterlichste, was einem Menschen in einer Schneewüste überfallen kann. – Es gibt Leute, die allen Ernstes behaupten, daß sie lieber einige Erfrierungen auf sich nehmen, als von der Schneeblindheit befallen zu werden. –
Gowin schien es nicht gleich zu merken. –
Doch, als ich dann plötzlich in den Schnee flog, und mich anstatt aufzustehen immer weiter in diesen hineinwühlte, stellte er mich mit kurzem Ruck wieder auf die Beine. –
Verzweifelt setzte ich mich zur Wehr. Mit Händen und Füßen schlug ich um mich. – Ich wollte hier liegen bleiben. – Warum noch weiter quälen?
Warum? – Hier wollte ich sterben. Aufgeregt gestikulierend schrie ich auf Gowin ein.
»Mach daß du wegkommst. – Verschwinde!«
Wie ein Felsbrocken stand er vor mir. – Die Worte prallten von ihm ab, als hörte er sie gar nicht. –
Als alles Reden und Schreien nichts nützte, begann ich auf ihn einzuschlagen. – Erst wehrte er sanft die Schläge ab, ungefähr so, wie ein spielender Hund die Tatze einer Katze abwehren würde. –
Doch als ich ihn – wohl mehr aus Versehen einmal richtig auf die Nasenspitze traf, wurde er böse. – Ein kurzer Kinnhaken seiner kräftigen Rechten beendete das Spiel. Aufblitzend versank die Welt um mich. –
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf seinem Rücken festgeschnallt, so daß ich mich fast gar nicht bewegen konnte. –
Mit weiten ausholenden Schritten stapfte Gowin durch den Schnee – so richtig bin ich wohl erst hier in der Hütte wieder zu mir gekommen …
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Wie viele Wochen liege ich nun schon hier auf meinem Lager?
Sechs Wochen, so lang ich zurückdenken kann. – Wie lange ich hier lag ohne bei Besinnung gewesen zu sein, weiß ich nicht, werde ich auch wohl nie erfahren. –
Kalender haben wir hier keine. – Und Gowin kann nicht sprechen. –
Vielleicht werde ich, wenn ich später einmal wieder in eine bewohntere Gegend kommen sollte, feststellen können wie lange ich krank lag. – Aber, warum soll ich so neugierig sein? –
Ist es nicht egal, ob wir jetzt im April oder im März oder sogar schon im Mai leben?
Diese Monatsbezeichnung ist hier sowieso nicht gültig. – Die Chinesen, die hier leben sollen – ich habe noch keine gesehen – rechnen nach einer anderen Jahresbezeichnung. –
Wichtig ist, daß meine Verwundung so langsam wieder heilt. – Ich kann den Kopf schon ganz gut wieder bewegen. Und wenn es eben geht, stehe ich auch schon einmal für einige Stunden auf, aber davon will Gowin nichts wissen. – Aufgeregt fuchtelte er gestern mit seinen Armen, die wie Mühlenflügel wirkten, vor meinen Augen herum. –
Energisch wies er auf mein Bett und ruhte nicht eher wieder, bis ich mich wieder hingelegt hatte. –
Ein oder zwei Wochen noch, dann werde ich es wieder geschafft haben. –
Wenn ich mich aufrichte, kann ich aus dem kleinen Fenster draußen die Landschaft bewundern. – Ich sehe, daß der Schnee schon fast verschwunden ist. – Nur fleckenweise liegt er noch da, aber seine leuchtend weiße Farbe hat er verloren. –
Der Wind heult um die Ecken des Hauses. – Die Dachpfannen, die zum großen Teil aus alten Petroleumkanistern angefertigt sind, klappern ihre monotone Melodie im Wind. – Es wirkt einschläfernd.
Im Winter wurde ich in dieses Haus zurückgebracht. – Jetzt scheint es auch hier auf Sachalin Frühling zu werden. –
Ich werde mit Gowin reden. Vielleicht kann ich, wenn die Witterung es erlaubt, vor dem Haus sitzen?
Die Luft hier im Zimmer ist muffig. – Sie ist verbraucht. – Das Fenster ist nicht zu öffnen. Die Tür ist den ganzen Tag geschlossen. – Ein furchtbarer Gestank. –
Was Gowin wohl den ganzen Tag treibt? –
Ich habe ihn vor kurzem vom Bett aus weggehen sehen. Ich werde es deshalb riskieren und ein wenig aufstehen. –
Vorsichtig erhebe ich mich. – Es geht schon ganz gut. – Komisch, daß Gowin mich mit aller Gewalt an das Bett fesseln will. –
Ich recke und strecke mich. Versuche ein paar Kniebeugen. –
Langsam gehe ich ans Fenster. – Sehnsüchtig sehe ich durch die halberblindeten Scheiben nach draußen.
Ich werde unbedingt mit Gowin reden. – Ich will nicht mehr liegen. Ich will endlich wieder hinaus …
Ich schleiche mich zur Tür. Mein Blick fällt auf Gowins Kiste. Hier bewahrt er seine Habseligkeiten auf. – Meine liegen unter dem Bett. – Die Kiste ist offen.
Vorsichtig hebe ich den Deckel. –
Allerhand Krempel liegt oben auf. –
Ich räume ihn zur Seite. Eine alte Kassette, halb verrostet, kommt zum Vorschein. – Ich versuche sie zu öffnen. –
Papiere. –
Russische Schriftzeichen. – Ich schüttele den Kopf. – Was will Gowin mit diesem unnützen Zeug?
Vorsichtig nehme ich eine der Urkunden in die Hand. Etwas russisch kann ich.
Bei diesem Papier handelt es sich um eine Besitzurkunde. – Sie ist auf einen Namen ausgestellt, den ich nicht entziffern kann. –
Erschrocken zucke ich zusammen. –
Dumpfe Schritte erklingen vor der Tür. –
Schnell lege ich die Papiere wieder in die Kassette zurück und schiebe das Gerumpel wieder darüber. – Mit einem leichten Knall fliegt der Deckel wieder auf die Kiste. –
Gerade, daß ich mich wieder auf meinem Lager ausgestreckt habe, in letzter Minute, ich schließe die Augen …
Gowin tritt ins Zimmer. –
Verschlafen öffne ich die Augen und sehe ihn forschend an.
Sein Gesicht ist gleichgültig wie immer. –
Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. – Wird er an die Kiste gehen?
Er setzt sich drauf. Mit schwerfälligen Bewegungen zieht er sich die klobigen Stiefel von den Füßen und schmeißt sie in die Ecke. –
Dann steht er auf. –
Bückt sich über die Kiste und hebt den Deckel. –
Jetzt …!
Ich schließe die Augen. – Jetzt wird es sich entscheiden, ob er etwas von meinem Einbruch bemerkte …
Ich wage nicht die Augen zu öffnen und halte sogar den Atem an.
Endlich schlägt der Deckel mit dumpfem Krach wieder zu. –
Gowins Schritte nähern sich der Feuerstelle …
Ich öffne die Augen wieder und sehe, daß er sich mit dem Feuer beschäftigt. –
Wenige Minuten später zieht der würzige Geruch eines Bärenbratens durch das Zimmer. –
Heißhungrig falle ich über das Fleisch her, das Gowin mir ans Lager bringt …
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Ich habe heute morgen mit Gowin darüber gesprochen, daß ich aufzustehen wünsche. –
Gleichgültig nickte er seine Zustimmung. – Ohne ein Wort darüber zu verlieren, wenn ihm irgend etwas nicht paßt grunzt er immer, ging er aus dem Haus. –
Zum erstenmal nach unserem Ausflug im Winter verlasse ich unsere Hütte. – Die Sonne brennt mit ihren milden Strahlen auf meinen Pelz. – Ein herrliches Gefühl. –
Aus einer alten Kiste und einem Kanister habe ich mir eine einigermaßen passable Sitzgelegenheit gebaut und lasse mich bräunen. –
Ich fühle direkt wie die Kraft in meine Glieder fährt …
Übrigens, warum habe ich gestern solche Angst vor Gowin gehabt?
Wäre es wirklich so schlimm gewesen, wenn er bemerkt hätte, daß ich in der Kiste herumgesucht habe?
Was soll Gowin, dieser arme Wicht, der durch seine fehlende Zunge nicht einmal mehr ein richtiger Mensch ist, schon für Geheimnisse in der Kiste verbergen?
Aber ich weiß nicht was es ist, manchmal ist er mir unheimlich.
Manchmal habe ich den Wunsch, allein zu sein …
Damals, auf unserer Reise, hat er doch auch schon so geheimnisvoll getan. – Mir fällt gerade ein, daß er mich absolut nicht in seiner Nähe haben wollte, als er die langen Streifzüge in den Schluchten unternahm …
Werde ich jemals das Geheimnis um ihn lösen können? –
Ich kann mir nicht helfen, – ich weiß, daß ich ihm mein Leben verdanke, aber – Gowin ist mir nicht ganz geheuer. –
Je länger ich hier in dieser Einsamkeit mit ihm zusammen bin, um so mehr setzt sich ein Mißtrauen gegen ihn in mir fest …
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Gerade jetzt, wo ich mich in meinen Gedanken so mit ihm beschäftige, taucht er hinter einem Hügel auf. – Was hat er denn?
Da steht er in seiner ganzen Größe und rudert mit beiden Armen durch die Luft. –
Was soll das?
Langsam erhebe ich mich. – Die windmühlenartigen Bewegungen verstärken sich. – Kopfschüttelnd gehe ich langsam auf ihn zu. – Endlich stehe ich neben ihm. Er deutet den Abhang des Hügels hinunter. Meine Augen folgen seinem ausgestreckten Arm. –
Unten am Fuße des Hügels sehe ich einige Eindrücke. –
Wie eine Perlenkette zieht sich eine Spur durch den Sand. – Wir haben also Nachbarn. –
Langsam gehe ich, gefolgt von Gowin, den Hügel hinunter. – Die Spuren interessieren mich. –
Neugierig untersuche ich sie. –
Es muß ein ziemlich kleiner Mensch gewesen sein, der hier durch den Sand ging. – Am liebsten würde ich der Spur in ihrer entgegengesetzten Richtung folgen um den Ausgangspunkt zu erreichen.
Aber Gowin will anscheinend nichts davon wissen. – Er zieht mich am Ärmel zurück, als ich mich auf den Weg machen will. –
Befürchtest du, daß meine Kräfte nicht ausreichen, oder weißt du mehr als ich?
Aufmerksam forsche ich in seinem Gesicht. – Es ist verschlossen wie immer. Er zieht mich ins Haus zurück.
Warum ruft er mich erst heran, wenn ich nachher nicht nachforschen soll woher die Spuren, die ihn anscheinend doch sehr aufregen, kommen?
Ich weiß schon länger, daß wir hier einen geheimnisvollen Nachbarn haben.
Gern hätte ich gewußt, ob es ein Chinese oder ein Russe oder, was ich allerdings nicht zu hoffen wagte, sogar ein Europäer ist?
Sachalin hat nämlich, und das wissen die meisten nicht, eine sehr gemischte Bevölkerung. –
Erst haben die Russen diese Insel im Besitz gehabt. Sie errichteten hier ein Straflager. – Dann vertauschten sie die Insel nach China. –
Die Chinesen hatten sie aber auch nicht lange im Besitz. – Jetzt gehört sie wieder zu Rußland. –
Eine Zeitlang war sie einmal in aller Munde, damals, als hier riesige Öllager in der Erde entdeckt wurden. – Die Russen frohlockten aber anscheinend zu früh, denn es wurde nichts mit dem assibirischen Baku. –
Die Bohrtürme sind schon alle wieder zerfallen. –
Aber allerhand Gesindel treibt sich hier schon noch herum. –
Man spricht auch davon, ich habe es von Chi Api erfahren, daß sich hier auf der Insel das Hauptquartier einer chinesischen Geheimorganisation befindet. –
Ich glaube nicht daran …
Wenn ich damals schon gewußt hätte, was ich heute weiß, ich glaube, ich wäre nicht ganz so oberflächlich gewesen …
Durch Schaden wird man klug. – Das ist eine alte Weisheit. – Ich habe schon oft erlebt, daß es stimmt, aber immer wieder vergesse ich, daran zu denken. –
Eine Zeitlang stehe ich noch in der Türöffnung und sehe auf den schönen Abendhimmel, der sich in buntesten Farben produziert. –
Wo kommen nur diese Farben her? –
Und warum wirken sie so echt, wenn man sie in der Natur beobachten kann?
Früher habe ich oft in München und Berlin große Kunstausstellungen besucht. – Ich liebe alles, was schön ist. – Einmal war ich sogar in Paris im Louvre. – Oft habe ich stundenlang vor den Bildern gestanden und sie betrachtet. – Und immer wieder habe ich feststellen müssen, daß gerade die natürlichsten Farben auf einem Gemälde am leichtesten kitschig wirken. –
Seitdem ich mich nun als Vagabund am Rande der Gesellschaft herumtreibe und mich da aufhalten kann wo ich will, wenigstens meistens, von wenigen Ausnahmen abgesehen, habe ich auch mehr Zeit wie früher, mich um die Schönheiten der Natur zu kümmern. –
Nun habe ich schon oft festgestellt, daß ich damals doch wohl nicht die richtigen Augen für die Farbtöne gehabt habe. – Die Natur hat mir die Augen geöffnet. –
Aber so schön wie der Abendhimmel auch leuchtet, freuen kann ich mich nicht darüber. – Denn hier bedeutet dieser bunte Himmel nichts anderes wie Sturm. –
Sturm, – wie ich ihn noch an keiner Stelle der Erde stärker erlebt habe. –
Überhaupt, wenn der Wind vom Meer kommt, ist er gefährlich. –
Er bringt dann eine Kraft mit, die man nur noch mit einem Orkan vergleichen kann. –
Flüchtig denke ich jetzt gerade an Berlin. – Da hatte ich während meiner Studienzeit einen Kommilitonen, der fürchtete sich vor jedem Windstoß. – Einmal wollten wir ihm einen Denkzettel verpassen. Im Herbst. – Wir luden ihn zu einer Segelpartie auf dem Wannsee ein. Der Wetterfunk hatte Sturmmeldung durchgegeben, da wir aber mit der Jacht eines Freundes unterwegs waren, konnte uns niemand zurückhalten. – Unser Freund mußte mit, denn wenn er sich geweigert hätte, wäre er unsterblich blamiert gewesen. – Es war Leichtsinn, aber fragt man schon danach, wenn man jung ist? –
Es wurde eine tolle Fahrt. Unser Freund war vom ersten Augenblick an seekrank. Wir wollten uns kranklachen. – Man bedenke, mitten in Deutschland, auf einem Binnensee und seekrank. – Wir beschlossen, diese Sache ziemlich auszuschlachten, doch es kam anders. –
Auch wir hatten uns getäuscht. – Ehe wir uns versahen, kenterte das Boot. Wir lagen im Wasser und … unser Freund konnte nicht schwimmen … Damals habe ich zum erstenmal in meinem Leben Respekt vor den Elementen bekommen. – Es ging zwar alles gut aus. Wir hielten unseren Freund gemeinsam über Wasser, schluckten zwar mehr davon, als uns lieb war, aber glücklicherweise hatte man unser Kentern beobachtet und kam von Land aus zu Hilfe …
Außer einem tüchtigen Anranzer, vom Käpten des Polizeibootes, einem gesalzenen Strafmandat und Erstattung der Bootseinrichtung, passierte uns nichts. – Er trug uns aber diese Sache nicht nach. –
Ja, aber jetzt bin ich hier auf Sachalin …
Der Himmel färbt sich immer mehr. Weite Strecken des Himmels haben sich mit der blutigen Farbe überzogen …
Die Wunde in meinem Nacken beginnt zu brennen. –
Ein weiteres Zeichen dafür, daß der Sturm nicht mehr lange auf sich warten läßt. – Ich gehe noch einmal ums Haus und sehe nach ob alles, was sich draußen befindet, so befestigt ist, daß es der Wind nicht davontragen kann …
Da ist vor allem unser kleines Boot. –
Der Wind, der vor einer Stunde noch heftig blasend um das Haus zog, hat sich jetzt verkrochen. Die Luft ist still. – So still, daß es unheimlich wirkt. –
Es ist die bekannte Ruhe vor dem Sturm. – Im wahrsten Sinne des Wortes. –
Gowin hat sich schon in unserer Behausung verkrochen. –
Auch ich gehe jetzt. – Sorgfältig verriegelte ich die Tür hinter mir. Aufmerksam sieht Gowin meinen Bemühungen zu. – Mir scheint, er lacht. –
Hält er mich für einen Angsthasen?
Wenn er wüßte wie sehr ich ihn in diesem Augenblick hasse. – Wie sehr mich die ganze Bude, in der ich mit ihm hausen muß, anekelt …
Und ich …?
Als ich den letzten Balken unter den Türgriff schiebe, weiß ich noch nicht, daß es die letzte Nacht sein wird, die ich in dieser Bude verbringen muß …
Ich weiß noch nicht, daß die Nacht nach diesem Sturm eine Änderung in mein Leben bringt, daß ich knappe vierundzwanzig Stunden später schon auf einer anderen Stelle der Insel endlich unseren geheimnisvollen Nachbarn kennengelernt habe …
Doch ich will es der Reihe nach erzählen …
Vorerst begebe ich mich einmal mit ruhigen Schritten an mein Lager. Lange überlege ich, bevor ich mich hinlege, ob ich mir den Luxus erlauben soll und eine meiner wenigen Zigarren, die ich sorgsam in einer Blechkiste unter meinem Lager verborgen habe, rauchen soll oder nicht …
Die Gier nach dem würzigen Rauch und nach Nikotin ist so groß, daß ich nicht widerstehen kann. –
Ich strecke mich lang aus und verfolge mit halbgeschlossenen Augen den blauen Rauch, der langsam zur Decke aufsteigt. –
Die ersten Ausläufer des Sturms rütteln an der Tür. – Ein kurzer Blick durchs Fenster überzeugt mich davon, daß der Himmel in der kurzen Zeit seine rote Farbe verloren hat. –
Ein drohendes Schwarz breitet sich aus. –
Tief über das flache Land gedrückt jagen die Wolken, vom Südoststurm getrieben, über das Land.
Aber ich bin müde …
Sorgfältig drücke ich den Stummel meiner Zigarre am Boden aus und schließe die Augen …