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Kurz nach Neujahr verbreitete sich in der Gegend die Nachricht, daß die alte Schmiedin Kirsten gestorben sei. Es machte einen eigentümlichen Eindruck auf die Leute. Kirsten war in den letzten zehn Jahren vollständig in Vergessenheit geraten, und doch kam einem der Gedanke, daß sie nun tot sein sollte, unnatürlich vor. Zu Kirstens Brudersohn kamen die Papiere; die Alte war in der Irrenanstalt zu Aalborg gestorben. Und nun mußte Christen Sörensen als der nächste Angehörige eine Bestimmung über ihr Begräbnis treffen.
Es konnte nicht die Rede davon sein, daß man Kirsten etwa nicht holen und nicht auf dem Kirchhofe begraben würde, wo Schmied Anders und alle Kinder Kirstens ruhten; war es doch Kirstens einzigster Wunsch gewesen, so lang sie noch bei vollem Verstande war. Dieser Wunsch war in der Familie zu einer Art Überlieferung geworden. Christen Sörensen machte seinen Wagen in Ordnung und fuhr mit seinem Knecht, um die Tante zu holen. Es war acht Meilen bis Aalborg. An einem Dienstag verließen sie das Gehöft. Es war klares und scharfes Wetter, und sie wollten bestimmt am nächsten Tage, für den das Begräbnis bereits festgesetzt war, zurück sein.
Aber am selben Abend noch wurde ein Teufelswetter, mit Südoststurm und Schneegestöber, und hielt an. Ein dreitägiges Schneegestöber mit beißender Kälte, Orkan und Schnee; Himmel und Erde lagen in einem einzigen Nebel. Mittwoch mittag hellte sich das Wetter ein bißchen auf, und als man weiter ins Feld kam, zeigte es sich, daß da bereits mannshohe Schneewehen lagen. Streng und schneidend pfiff der Sturm, über die ganze Welt sauste das eisige Gestöber.
Gegen zwei Uhr arbeitete sich der Pfarrer mühsam zur Kirche hinauf und fand dort etwa zehn erstarrte Menschen des Kirchsprengels, die sich in einem Winkel der Vorkirche zusammengedrückt hatten, halb geblendet von Schnee und Kälte. Die Leiche war noch nicht gekommen. Der Pfarrer schloß sich dem Gefolge an, und man besprach die Sachlage. Die Leute standen in einem dichten Klumpen unter dem Turm, sie konnten einander kaum sehen. Der Schnee jagte in haushohen Wirbeln über den öden Kirchhof, hier und da ragte ein Stückchen von einem nackten Eisenkreuz aus den Schneewehen hervor.
»I glaub nit, daß die sich bei den Wetter durcharbeiten wer'n,« rief Jörgen Pors.
»Na, na – das war wirklich unmöglich,« schrie der Kaufmann hinter seinem nassen Mundtuch hervor. »Ma sieht ja kan Weg mehr und kan Grab'n. Es is ganz unmöglich.«
Der Schnee pfiff ihnen um den Kopf. Hoch oben stieß der Wind hohl in die Schallöcher des Turmes, und die Glocke gab ab und einen kaum hörbaren, schrillen Ton, wenn ihr der Wind am Rande entlang zischte; es klang so jammervoll und bedrängt.
Der Pfarrer ertrug das Warten mit Fassung; er war alt und geduldig. Als sich etwas später der Küster hinzugesellte, schnaufend und atemlos vom Stapfen durch die Schneehaufen, schlossen sie sich alle in der Vorkirche ein und standen dort eine Stunde und warteten und froren. Jörgen Pors, der das Grab gegraben hatte, war hinausgegangen, um den Schnee noch einmal auszuräumen. Ein Mann wurde zu Christen Sörensens Haus hinuntergeschickt, um Bescheid zu holen. Schon begann es dunkel zu werden. Die wenigen Männer standen in der dämmernden Vorkirche und spähten mit scharfen Augen durch die Türöffnung hinaus, wo der Schnee fein und eiskalt tanzte. Draußen lag der Kirchhof in einem rasenden Schneewirbel, und das Dunkel wurde immer drohender. Die Kälte machte die Männer ganz klein.
»Das is mir do noch nit vorkommen,« sagte einer von ihnen kleinmütig zu sich selbst. Die Männer atmeten schnaufend durch die Nase und traten von einem Fuß auf den andern, sie schüttelten stille den Kopf. »I hab' so was mei Lebtag nit g'sehen.«
»Mei lieber Gott, wie's jetz schneit.« –
Endlich kam der Bote zurück. Zu Christen Sörensens Haus wäre kein Leichenzug gekommen, und man hätte vom Bauer nicht das Geringste gehört. So schob der Pfarrer das Begräbnis auf. Der Küster schloß die Kirchentür, und die Leute gingen jeder in seiner Richtung tüchtig verwundert wieder nach Hause.
Die ganze Mittwoch-Nacht raste das Wetter wie toll. Beim Bauer Sörensen wachten alle und warteten, aber der Bauer blieb aus. Am Donnerstag ließ das Unwetter etwas nach, der Schneefall war nicht so stark, aber der Sturm und das Gestöber rasten weiter über den Erdboden hin. Schneewehen lagen hoch wie die Scheunen im Dorf und alles, was Weg hieß, war wie ausgewischt. Der Straßenmeister schickte die Schneeschipper aus, um den Weg mit Strohwischen abzustecken; das hatte aber übrigens gar keinen Zweck, denn in diesem Wetter fuhr niemand auf der Landstraße. Auch in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag wachte man auf dem Hof von Christen Sörensen. Der Leichenschmaus stand bereits auf den Tischen. Die Hausfrau war ganz verstört. Kein Fuhrwerk kam.
Am Freitag wurde das Wetter so schlimm, daß seinesgleichen noch von keinem erlebt worden war. Es kam zu einem Orkan, und die Luft war so voller Schnee, daß der Tag die Schneewolke nicht durchdringen konnte. In einem dämmrigen Licht saßen die Leute drinnen in den Stuben. Man konnte wegen des Schnees nicht zur Tür hinaus kommen, sondern mußte über Böden und Nebengebäuden, wenn man zu den Wirtschaftsgebäuden gelangen und dem Vieh Futter geben wollte. Während zweier Tage war aller Verkehr abgebrochen, man kann sagen, alle Kultur hörte auf.
Aber in all den Häusern, die nun vollständig voneinander abgeschlossen einsam dalagen, wußte man, daß Kirsten sich auf dem Wege zum Dorfe befand. Die Gemüter waren voll von dem Gedanken. Man stellte sich vor, wie jetzt im Schneegestöber da draußen auf der Aalborger Straße der Wagen hielt oder weiter fuhr. Am Donnerstag kam ein einziger Kunde zum Kaufmann, und der war fast erschöpft. Am Freitag kam niemand. An diesem Tag konnten Dorf und Kirchsprengel ebensogut verödet gewesen, sein.
Zwei Menschen begegneten einander am Freitag in einer Schneewehe, in der sie bis an den Hals steckten.
»Oho, wer is denn das?« rief der eine.
»Ich bin's.«
»Ach, Sie sind es, Doktorchen. Geht Ihnen nicht der Atem aus? Ha-ka-ka.«
Das eine der zwei Lebewesen war Doktor Eriksen, das andere war Niels Liv. Und Niels Liv blieb im Schnee sitzen und schrie vor Vergnügen. Er war neunundsechzig Jahre alt, liebte aber noch Schneegetriebe und Strapazen mehr als mancher junge Bub. Er lachte gewaltig, polterte über all die Wirtschaft hier, und Doktor Eriksen konnte ihn dabei gar nicht sehen.
»Das schneit ja ganz hübsch,« jubelte Niels Liv. »Merken Sie's? Ha-ka-ka. Ich sage es schneit, Doktorchen. Was glauben Sie denn, wo die alte Kirsten landen wird? Ich habe es ja zu Christen Sörensen gesagt. Wir bekommen Schnee, sagte ich, nimm den Schlitten, sagte ich, aber er fuhr mit dem Wagen, denn Niels Liv ist ja nur ein alter Faselhans. Ha-ka-ka. Sehen Sie, Doktorchen, wir zwei, wir müssen raus, wie das Wetter auch sei. Gott befohlen.«
Niels Liv lachte sich eins und verschwand im Schnee. Er hatte ein großes Schwarzbrot unter jedem Arm und beabsichtigte einen Besuch in einer kleinen Keusche, wo, wie ihm eingefallen war, das arme Pack vielleicht nichts zu essen hatte.
Sonnabend morgen war das Wetter ganz ruhig und klar, völlige Windstille war eingetreten und Sonnenschein.
Als die Leute hinauskamen und die Schneewehen bestiegen, erkannten sie ihr Dorf und die Gegend kaum wieder. Der Schnee lag da in einer Höhe von zwanzig Ellen, und man hatte ein eigentümliches Gefühl, wenn man sich von den Spitzen der Wehen umsah. Mehrere Häuser waren gänzlich eingeschneit bis über den Dachfirst hinaus.
Die Gegend selbst war unkenntlich; die Höhen und Ackerwellen, die man zu sehen gewöhnt war, hatte der Schnee geebnet; an anderen Stellen des Bodens hatten sich bis dahin ungekannte Erhöhungen gebildet. Der Gesichtskreis war ein anderer geworden.
In lauter Falten und Wellen dehnte sich von Südost her das ganze gewaltige Schneeland, als wäre es in wilder Hast und unter schweren Kämpfen eingeströmt. Wie weiße, umgestürzte Kolosse starrten die Schneewehen. Über dem großen Bilde erstorbener Flucht schien die Sonne. Eine halbe Meile davon sah man in der blendenden Wüstenei einen Mann sich bewegen. Er glich einer schwarzen Ameise.
Die Schneeschipper versammelten sich am frühen Morgen bei der Schenke. Da gab es Arbeit genug für sie heute. Fast der ganze männliche Teil des Dorfes war ›aufgeboten‹ worden. Auch Niels Liv kam in Holzstiefeln und mit der Schaufel über der Schulter angestiegen, feurig wie ein Fohlen; er hopste, er war im siebenten Himmel. In seiner Jugend war das Schneeschippen der beste Spaß gewesen, den ein Mensch mitmachen konnte.
Inzwischen war es bekannt geworden, daß Christen Sörensen sich endlich mit der Leiche dem Dorfe näherte. Er war noch eine Meile Wegs entfernt, diesseits der Flejsborger Schenke, aber da den ganzen Weg entlang der Schnee vor seinen Füßen erst weggeschaufelt werden mußte, konnte er nicht vor dem Nachmittag im Dorfe sein.
Drei Tage und Nächte lang hatten sie auf Christen Sörensen gewartet; er war zu einer Fabelfigur geworden. Tage und Nächte waren lang, und alles Neue spärlich genesen. So eilte es wie ein Lauffeuer durch den Ort, daß Christen Sörensen mit der Leiche unterwegs war. Wer am Morgen die Neuigkeit mitgebracht hatte, wußte niemand; aber sie war durchgedrungen. Es verlautete nichts anderes, als daß, wie gesagt, Christen Sörensen eine Meile Wegs vom Dorfe entfernt war und sich mit der Leiche herausarbeitete. Ein Stab von Schneeschippern ging ihm voran.
Das war die große Zeitung. Der Empfang des Einzuges nahm fabelhafte, unklare Formen an. Das ganze Dorf kam auf die Beine. Man strömte herbei aus dem ganzen Kirchsprengel, alle wollten dabei sein, wenn Christen Sörensen nun mit Kirsten kam. Das Dorf war den ganzen Sonnabendvormittag über in einer stark bewegten Stimmung. Die Schneeschipper arbeiteten sich nordwärts zum Dorfe hinaus, man sah sie kaum noch in den tiefen Mulden, welche sie ausschaufelten, und die Stelle, an der sie sich befanden, und emsig arbeiteten, verriet sich nur durch die Schneeklumpen, die seitwärts hinaufflogen wie durch eigene Kraft.
Die Meldung wurde ausgegeben, daß Christen Sörensen bei Per Allerups Haus über den Hügel gelangt sei, und daß er jetzt nördlich vom Dorfe ins Tal herunterfahre.
Mitten in dem Tale, in dessen Tiefe die Landstraße verschwindet, steht der Meilenzeiger mit der Inschrift: 8 Meilen von Aalborg. Hier stießen die Schneeschipper des Dorfes auf den Zug. Im Verein mit den Leuten, die Christen Sörensen durch das Dorf Hornum hindurchgegraben hatten, waren es über einhalb hundert Mann, die, gestützt auf ihre Schaufeln an je einer Seite des ausgeworfenen Weges standen, während Christen Sörensen hindurchfuhr und nach rechts und links grüßte. Jetzt war Christen Sörensen endlich wieder zwischen den Seinen. Er hielt an und reichte die Hand so vielen er nur konnte. Man scharte sich um ihn.
»Is ja nit dei eigener Wagen Christen.«
»Ha, is a nit der meinige; der steht mit aner gebrochenen Ax in Nibe. Deswegen hab i mir den da g'mietet.«
Es war ein langer Arbeitswagen auf Federn. Die Leute gingen rings um ihn herum und besahen ihn. Die Räder steckten bis zur Nabe im hartgefrorenen Schnee, alle unteren Teile waren mit Schnee verklebt; er glich einem Schneewagen. Obendrauf stand der schwarze Sarg; er war wie alles übrige fahl vor gefrorenem Schnee, der vom Holz nicht ablassen wollte. Christen Sörensens Gaul stand zwar etwas schlapp im Geschirr, war aber sonst ziemlich gut davongekommen. Christen Sörensen selbst aber erkannten die Leute nicht wieder. Sein Kopf war angeschwollen, und seine Stimme hatte sich ganz verändert. Er war redselig geworden: ob er nun stand und sich die Hände schlug, oder ob er in die Kniee sank, er schwatzte in einem fort. Dabei wandte er sich nicht an einen bestimmten und war ganz geistesabwesend. Man konnte Christen Sörensen nicht betrunken nennen, aber er roch doch weithin nach Schnaps. Unheimlich still wurde es um ihn. Ununterbrochen schwatzte er wie eine Maschine, ohne Spur von Aufregung. Alle mußten unwillkürlich auf sein zum Springen rotes Gesicht und die blöden Augen sehen. Er hatte sich an einem der Vorderräder des Wagens aufgestellt, und wurde immer gesprächiger, damit die Leute ja gewiß alles erführen. Er wollte ihnen nichts schuldig bleiben, obgleich er von Trunk und Schlaflosigkeit erschöpft und vor Kälte ganz dumm war. Die Zügel hielt er in den geschwollenen und kraftlosen Fingern ... auf einmal, während er so dastand, blinzelte er lange und schläfrig, die Stimme sank zu einem gedämpften Lallen, er nickte ein und schnarchte im Stehen.
»Manst nit, mir sollten schauen, daß mir schön langsam weiter kommen?« sagte Anders Nielsen und sah Christen starr an. »Is für was gut, daß wir so lang dastehn, Christen?«
Christen Sörensen fuhr mit einem Ruck in die Höhe und munterte wie im Traum die Pferde an. Der Zug setzte sich in Bewegung. Christen Sörensen begann im Weitergehn wiederum zu schwatzen. Sobald man auf dem Hügel angelangt war, wo der Schmied wohnte, konnte man das Dorf sehen. Hier traf der Zug auf eine Menge Leute in Trauerkleidern, und als Christen Sörensen nun so viel Leben um sich fühlte, erhob er die Stimme und erzählte von vorn die lange, lange Reise. Der Knecht ging hinter ihm und erzählte einer anderen Gruppe. Auch er war zu einem Wrack seiner selbst geworden, er schlich dahin mit einem wunderlich leeren und verweinten Ausdruck in seinem jungen Gesicht. Aber er wollte so herzlich gerne über alles Bescheid geben. Der Bericht kam von seinen Lippen, als ob ihm eine Lektion abgehört wurde. Seine Stimme war rauh. All das war aber nicht seine Schuld, »und jetzt war die Not überstand'n, jetz war mir ja wieder daham.«
Aus der Erzählung der beiden, die so hart mitgenommen waren, bildeten sich die Leute eine Vorstellung von der Reise. Christen Sörensen war Dienstag nachmittag nach Aalborg gekommen, gerade als der Schneesturm begann. Am nächsten Morgen fuhr er mit der Leiche ab, obgleich man in dem Unwetter den Pferden nicht über die Ohren sehen konnte. Bei der ersten Schenke, an die sie kamen, mußten sie einkehren, und sie fuhren erst weiter, als es sich etwas aufzuhellen schien. So ging es ihnen auf dem ganzen Wege, sie arbeiteten sich von Schenke zu Schenke vorwärts. Christen Sörensen war kein Trinker, aber hier gab es keinen anderen Ausweg. Die Widerwärtigkeiten, die sie zu überstehen hatten, waren fast unerträglich. Sie verirrten sich, sie verloren jede Orientierung und hatten zum Schluß keine Vorstellung mehr von Ort und Zeit. Oft saßen sie gänzlich fest und mußten erst Leute herbeiholen, die ihnen den Schnee vor den Füßen wegschaufelten. Mit knapper Not konnten sie sich bei der rasenden Kälte wach halten, auf einen großen Teil des Weges konnten sie sich gar nicht mehr besinnen, da waren sie gezogen wie Nachtwandler. Am Donnerstag waren sie fast umgekommen, da keine Menschen auf dem Felde waren, und sie sich mitten auf den wegelosen Äckern festgefahren hatten. Ein Stück südlich von Nibe stürzten sie in den Graben, so daß der Wagen auseinanderfiel, der Sarg aufging und die Leiche in den Schnee rollte. Da glaubten sie fast, sie müßten sich für überwunden erklären. Aber auch diesmal bekamen sie Hilfe und konnten sich aus Nibe einen anderen Wagen herbeischaffen.
»Da hab'n mir halt z' trinken ang'fangen,« bekannte Christen Sörensen klagend, aber ohne Reue. »Mir hab'n die G'schicht ja do zu End' bringen müssen, freilich manchmal, da hätt'n mir uns glei zum Sterben hinlegen können, wann mir den Schnapsplutzer nit g'habt hätten. I hätt' mir wohl helfen können, aber der Anton, mei Knecht, is oft so schläfrig wor'n daß i mit der an Hand die Zügel halten und mit der andern den Burschen hab' aufbeuteln müssen, daß er mir nit ganz z'sammenschnappt.
Der Zug bewegte sich direkt zum Kirchhof hinunter. Man hatte um den Pfarrer geschickt, und das Begräbnis sollte sogleich stattfinden. Es waren mehr Menschen herbeigeströmt, als irgend einer sich erinnern konnte, je bei einem Begräbnis gesehen zu haben. Teils, weil es so viele gab, welche die Schmiedin Kirsten gekannt hatten, teils, weil das Gerücht ihrer beschwerlichen letzten Reise viele angelockt hatte.
Der Sarg wurde in die Kirche getragen und vor den Altar hingestellt. Die Weiber aus der Umgegend traten still hinzu, um die Kränze abzuliefern, und Christen Sörensen nahm sie geräuschvoll entgegen und lehnte sie an die Seitenwände des Sarges. Christen Sörensen wurde furchtbar heiß, jetzt, da er unter Dach und Fach gekommen war. Dampf stand ihm um den kahlen Kopf und seine Augen sahen aus, als ob sie springen müßten. Er war seiner selbst kaum mächtig. Während alle die anderen in der Kirche flüsterten oder schwiegen, redete er fortwährend laut und rückhaltslos, wie er es an jedem andern profanen Ort getan hätte.
»Dank schön,« sagte er zu einem alten Weibe, das mit einem Kranze ankam. »Is brav von dir, daß do auf unser liebe Kirsten denkst. Ja, sie is die Ehre schon wert. Dank schön. Dank schön dafür.«
Es dauerte ein Weilchen, ehe der Pfarrer kam. Inzwischen standen die Leute wartend in der Kirche, so viel nur in dem kleinen Schiff mit den schiefen Ständen und den beeisten Mauern Platz finden konnten. Der Fußboden war kalt, die Männer trampelten mit den Stiefeln auf und klopften die Füße aneinander, nur um zu fühlen, daß sie noch welche hatten.
»Wollt's vielleicht die Alte sehn?« fragte plötzlich Christen Sörensen lebhaft. »Könnt's sie schon anschaun.«
Christen Sörensen schraubte die kleinen, kreuzförmigen Nägel ab und hob den Sargdeckel in die Höhe, unter einem unaufhörlichen Strom kindlicher Äußerungen.
»Schaut's, wie ord'ntlich sie daliegt.«
Den aufgerichteten Deckel gegen seinen eigenen Körper lehnend, blieb Christen Sörensen stehen und schwieg eine Minute, während alle den kleinen, gelben Kopf im Sarge anblickten. Die Allerältesten unter den Anwesenden aus jenen alten Familien, die bei Lebzeiten Kirstens Leben und Schicksal miteinander geteilt hatten, die sahen wohl ihre Leiche; aber sie gedachten dabei eines großen, zwanzigjährigen Mädchens mit gelbem Haar und den mildesten Augen. Menschen, die nun nicht mehr jung waren, sahen sie in ihren Gedanken als die starke Witwe, die überall einsprang, wo Hilfe nottat. Auch einige Kinder waren in der Kirche, und ihre großen Augen sahen nichts als ein zusammengeschrumpftes Etwas im weißen Leichenhemd.
Als Christen Sörensen meinte, er hätte den Leuten Zeit genug gegeben zum Schauen, streckte er die Hand aus und legte sie behutsam auf das Gesicht der Toten.
»Die Nas'n is a bißl eindruckt wor'n,« erklärte er mit verhaltener Innerlichkeit. »Wie mir sie umg'schmissen hab'n. Könnt's es ja sehn; sie is auf der an Seite a bißl schief.«
Er versuchte behutsam den Fehler etwas auszubessern und bastelte an dem toten Ding herum, das er unter Aufgebot des letzten Restes einer harten Natur durch Wintersturm und beißender Kälte über ein wegeloses Land heimgebracht hatte, einzig geleitet von der Liebe zu derjenigen, die nicht mehr war. Unterdessen aber schwatzte er weiter, wobei er ununterbrochen mit seiner hautlosen Nase schnaufte, sich räusperte und mit den geschwollenen Augenlidern blinzelte.
»Sonst könnt's es wohl erkennen, 's is ja wirklich die Kirsten, de mir noch alle in Gedächtnis hab'n. Freilich, z'samm'gangen is sie wohl verdammt. Sie hat ja gar ka G'sicht, komm näher do Mette Marie, und schau; brauchst ka Angst nit z' hab'n. Der Sarg ist die kleinste Nummer für erwachsene Leut'. Ja, ja, sie ist verdammt z'samm'gangen. Aber hübsch liegt sie da. Soll i a paar Kränze eine leg'n zu ihr?«
Christen redete so weiter, bis der Pfarrer kam. Es war den Leuten peinlich gewesen, ihn anhören zu müssen. Christen Sörensen war für gewöhnlich ein Mann, der auf Formen hielt, ebenso empfindlich gegen seine Umgebung wie andere im allgemeinen, und niemals bisher hatte er in einer Versammlung so viel zusammengeredet. Aber die Anstrengungen der drei Tage und Nächte und die Kälte hatten die oberste Schicht seines Wesens zerstört. Wie durch eine stille Übereinkunft hatten ihm seine Bekannten gestattet, sich Blößen zu geben.
Das Begräbnis ging seinen Gang, Kirsten wurde in die gefrorene Erde hinuntergesteckt, die bereits alle die ihrigen barg. Ein frisches, schwarzes Hügelchen ragte über den weißen Schnee.
Nun ruhte also auch sie hier, die alte Schmiedin Kirsten, die Barmherzige und Starke; nun war auch sie zu ihren Toten versenkt. Nun hatten andere sie dahingetragen, sie, die immer trug, die Hilfreiche, die das Leben gekannt hatte und gleich trostreich am Wochenbett wie am Sterbelager gestanden war.
All die unvergleichliche Wärme, die aus Kirstens gefurchtem Gesicht hervorgeleuchtet hatte – die war jetzt nur ein armseliger Widerschein in den Augen derer, die sich darauf besinnen konnten. Die Schätze an Demut, an Erfahrung und Weisheit in menschlichen Dingen, all das, was in Kirstens tiefem Herzen verborgen gelegen, zeugte nur schwache Bilder in der Erinnerung der Hinterbliebenen.
Kirsten war nun bei den Getreuen, den alten, knorrigen Bauerngestalten, die sich niemals mehr erheben werden; sie war bei den alten, milden Leuten, die sich hatten entschuldigen lassen und die auf ihrem Holzkreuz keine andere Kunde zurückließen, als daß sie in Graabölle geboren waren und dort starben. Auch Kirsten war nun zur Lösung der großen Frage gelangt, die die Alten ängstigte, und die da mit der Verdunklung ihres Geistes endete; sie war hinabgestoßen und die Frage hatte aufgehört zu quälen. Sie, die zuletzt nicht mehr glauben konnte, und die bis zum Wahnsinn darüber nachdachte, was ihre eigentliche Aufgabe auf Erden gewesen sein mochte, sie hatte nun überhaupt und endlich vergessen, daß sie irgend eine Mission gehabt hatte. Sie war nun begraben, und es war über sie gebetet worden, und der letzte Psalm war gesungen.
Aber Christen Sörensen war vor den andern weggegangen. Anders Nielsen hatte ihn still am Arm ergriffen und ihn mit sich geführt, und Christen ließ sich willenlos leiten.
Als sie ein Stück Weges hinabgestiegen waren, fingen die Beine Christen Sörensens an zu wanken, Anders Nielsen mußte ihn beinahe tragen. Christen Sörensen redete ganz irre während des Gehens, er schluckte und kämpfte gegen den Schlaf. Als die beiden auf Christens Hof ankamen, hing Christen wie ein totes Gewicht an Anders Nielsens Arm; dennoch fuhren seine Beine fort, sich unter ihm zu bewegen. Er kannte sein Tor, als sie hineingingen, gab einen leisen Klagelaut und sank Anders Nielsen schlafend zu Füßen.
Seine Züge glätteten sich augenblicklich, es kam etwas so Linderndes über ihn.
Ende