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Wotan auf der Heiden

Der westliche Teil vom Himmerland ist magerer, sandiger Erdboden. Es verlohnt sich kaum, ihn zu bestellen. Aber auch auf diesen armen Erdschollen wohnen Leute – irgendwer muß ja auch da wohnen. Die Bewohner des Westerlands sind übrigens gar nicht so ärmliche Leute. Sparen müssen sie freilich – aber das zeitigt bei manchen sogar bescheidenen Wohlstand.

Einige Meilen lang zieht landeinwärts vom Fjord eine breite, hügelige Höhe. Wie wenn ein Riese sie verloren hätte, als er mit Sand in den zerrissenen Taschen vom Fjord hineinging ins Land. Wo er in Grübeln versunken stehn geblieben war, lief so viel auf den Boden, daß daraus ein Hügel entstand. Die Gegend erzählt auch von so einem Riesen. Eine andere alte Sage meint wieder, daß auf dem Strandholmsfeld zwei Stiere einander anfielen und so viel Sand aufwühlten, daß der Wind kurzen Prozeß machte und die Sandwolke landeinwärts blies. Das klingt ja nicht so unwahrscheinlich – zweifellos ist jedenfalls, daß ein Sandflug die Höhe bildete.

Auf diese Art wurde aber guter Boden überdeckt. Und da sind viele, die das wissen und nicht verwinden können, daß der von ihnen bestellte Sandboden auf Fruchterde liegt. Sobald man acht oder zehn Ellen tief kommt, zum Beispiel beim Brunnengraben, stößt man auf die schwarze, fruchtbare Erdrinde. Es ist auch nicht sehr erfreulich, sozusagen auf doppeltem Boden zu leben mit dem Bewußtsein, daß die Bedingungen besser sein könnten, daß aber die Möglichkeit dazu unter unsern Füßen begraben liegt.

Der Erdboden begnügt sich mit Heidekraut. Was sollte denn auch andres drauf wachsen. Der größte Teil des Westerlandes liegt als Heide da.

Hier wohnte mitten in der Linderup-Heide Wotan, der Heiden-Wotan, wie ihn die Leute nannten.

Ursprünglich hatte er weiter oben im Norden gehaust, in der Gegend von Björnsholm. Als er in die Linderuper Gegend kam, brachte er etwa tausend Kronen mit, die er in der Jugend als Knecht verdient hatte. Für dieses Geld kaufte er sich ein weites Stück Heide – einen ganz nackten und so gut wie wertlosen Grund.

Eine Reihe von Jahren verging, ohne daß Wotan auch nur einen Spatenstich getan hätte. Die Leute fragten, warum er denn das Land gekauft hätte. Ja, er wollte eben Erde haben. Wo hätte er denn sonst sein Geld anlegen sollen? In der Sparkasse, meinten die Leute. – Die konnte bankerott werden. Dann in der ›Landmannsbank‹ – es war dies die würdigste Stelle, die man kannte. – Die konnte abbrennen. –

Wotan machte sich auch in dieser Sache verschiedene Gedanken; aber wenn er sie zu entwickeln begann, konnten ihm die Leute nicht folgen. In der Hauptsache ging Wohl alles dahin, daß Erde das einzige zuverlässige Besitztum sein konnte.

Mitten auf dem Heideland hatte Wotan sein Haus. Man konnte es schwer finden. Wer sollte denn auch ahnen, daß ein paar Stangen mitten im Heidekraut etwas bedeuteten. Wotan wohnte da; er hatte sich ein Loch gegraben, das geradewegs in die Erde hinab führte. Oben drüber lagen ein paar Latten, die mit Heidekraut zugedeckt waren. Das Loch selbst war mit Heu und Moos gefüttert.

Die zwei Stangen über dem Loch bildeten Wotans Speisekammer. Er hatte eine Schnur dazwischen gespannt und trocknete dort an der Luft seine Nahrung. Da war es immer voll von Fröschen, Eidechsen und anderm kriechenden Getier, das im Winde baumelte. Wotan aß das Zeug, sobald es für ihn genießbar war. Dazu erbettelte er alles, was bei den Leuten in der Nachbarschaft schimmlig und verdorben war. Wenn er erfuhr, daß man irgendwo ein verendetes Tier verscharrt hatte, eilte er hin und erhielt die Erlaubnis, es wieder auszugraben. Besonders Pferdeköpfe, die bereits einige Tage in der Erde gelegen hatten, zogen ihn an. Die waren seine Lieblingsspeise.

»Wie kannst denn bloß so was essen?« fragte ihn eines Tages der Kaufmann. »Frösch und Kröt'n und das andre Zeug, das is ja giftig – pfui Teufel!« –

»Hast's denn schon amal probiert?« fragte ihn Wotan.

»Gar ka Idee, fallet mir a gar nit ein!« –

»Wie kannst denn nachher so dumm daherreden,« sagte Wotan kalt und mit seiner wohlbekannten Bissigkeit. »Schau,« – der Kaufmann wurde unsicher, aber Wotan ließ nicht locker und stellte ihm all seine Ansichten auf den Kopf. –

Nun, die Leute wußten, daß gegen Wotans Schlagfertigkeit mit Worten nicht aufzukommen war. Drum hielten sie ihn auch nie zum besten, wie es andern Sonderlingen so oft geschieht. Man hatte eine gewisse Achtung vor ihm, trieb er doch mit seinem Wissen alle Welt in die Enge, – und selbst den Herrgott. Den Katechismus konnte er von einem Ende zum andern hersagen; er brauchte dort nur Atem zu holen, wo andre das Blatt umwendeten. Er wußte auch etwas aus der Geographie – wahrscheinlich hatte er den alten »Ingerslew« gelesen. Lesen konnte er nämlich, aber das Schreiben hatte er nicht gelernt.

Aus zerstreuten Anekdoten über ihn kann man schließen, daß er der Kaste der bittern Philosophen angehörte, die man Zyniker nannte – Hunde, die treu an verstoßenen und vergessenen Lebensgesetzen hängen. Aber er war einseitig und barsch wie alle treuen Hunde. An allem hatte er etwas auszusetzen. Besonders streng war er gegen die Weiber, die seiner Ansicht nach aus eitel Schwäche bestanden. Gegen die wütete er ernsthaft. Er war auch ein Gegner der Familie, ein hartnäckiger Verneiner aller Lebensberechtigung. Wenn in der Gegend ein Kind zur Welt kam, zeterte er dagegen, wenn's auch längst zu spät war. Mit einer Häuslerin, die vom Kinderkriegen nicht ablassen wollte, lag er viele Jahre in Streit. So oft sie in Wochen kam, ging er zu ihr und donnerte sie an.

»Na, bist scho wieder bei der Arbeit g'wesen,« – sagte er schroff und bissig – »kriegt nicht vielleicht dei Kueh a bald a Kaibl?«

Die Frau verteidigte sich mit allen menschenmöglichen Entschuldigungen, und Wotan nörgelte viele Jahre lang ganz vergeblich an ihr herum.

Wenn die Leute mit Wotan in ein Gespräch kamen, waren sie alsbald übel daran. Er erging sich in stundenlangen Erklärungen, zerkrümelte ihnen voll Überlegenheit alle Einwendungen und machte seine Opfer ganz hilflos – sei es nun, daß er nachwies, wie unvernünftig es sei, Geld zu gebrauchen, erbärmliches Metall und Papier – oder daß er Gott für das völlige Mißglücken der Welt verantwortlich machte. Wotan bestritt zwar nicht die Allmacht Gottes, aber er warf ihm Unverstand vor und ging scharf ins Gericht mit ihm. Er nannte ihn einen kurzsichtigen, unmündigen Gott. Nach Wotans Ansicht war es auch von Gott nicht gut gewesen, daß er seinen Sohn zu Hilfe nahm, der sich dann auch in alles einmengte. In all den Jahren seit dem Anfang der Dinge hätte sich der Himmel nur Mißtrauen verdient, meinte er.

Wotan hatte eine wunderliche Stimme, leise und schnarrend, gleichsam muffig; sie kam hervor hinter einem abgebissnen, schmutzigen Schnauzbart und war einförmig drohend und zerknirschend wie die Stimme eines Propheten. Seine Sprache war auch ganz eigenartig; das kam daher, daß er so viel allein lebte und sich seine Worte selbst machte. Auch seine geographischen Kenntnisse bereicherten seine Sprache.

Ein halbes Jahr konnte vergehen, ohne daß man etwas von Wotan sah.

Man erzählte in der Gegend, er stamme aus einem Heim, in dem Armut und Hunger mit Ohnmacht und Notdurft zusammen hausten. Die Eltern konnten kaum den eignen Lebensunterhalt verdienen, und doch bekamen sie ein Kind ums andre. Ein Wesen nach dem andern wurde erzeugt zu Not und Elend. In diesem Rattennest war Wotan aufgewachsen, und der Hunger hatte ihm das haßvolle Nein und den verknöcherten Lebensgrimm gelehrt, der ihn dann zum Einsiedler machte.

Zuweilen kam er aber doch ins Dorf. Man sah ihn mit zwei armdicken Stangen dahinstolpern; es waren dieselben Stangen, die daheim seine Speisekammer bildeten. Sie dienten ihm als Trockengestell, als Wanderstab und gewissermaßen auch als Schlüssel zu seinem Haus. In jeder Hand hielt er einen von diesen zwei krummen, abgeschälten Weideästen, die doppelt so hoch waren als er selbst. An den obern Enden waren sie mit Lappen umwunden – was das wohl wieder bedeuten sollte. Wotan kam ins Dorf, um Brot zu holen. Das heißt, wenn er ohne Geld ein verbranntes und verdorbenes bekommen konnte.

Die Dorfkinder wußten schon, daß sie sich um Wotan zu scharen und ihn zu fragen hatten, wie seine beiden Stecken hießen. Er antwortete stets bereitwillig mit einer Art privaten Lächelns: »Das is mei Vater, und das is mei Mutter.«

Dann sangen die Kinder:

»Wotan, wann wirst Hochzeit machen?«

Die Kinder verstanden nicht, warum es gar so komisch war, ihn danach zu fragen. Der Volkswitz hatte sich im Lauf der Jahre diese eine ›Nadel‹ für ihn ausgesucht.

Wotan antwortete niemals auf diese Frage – er ging unverwandt seines Weges und stieß seine schrecklichen Stecken auf die Erde, einmal rechts, einmal links, als wollte er den Weg nach Klaftern messen. Hin und wieder sah er zu Boden mit seinen tiefliegenden Augen, die so fremd dareinschauten, wie die eines Wildschweins. Und während er wanderte, ging der borstige Schnauzbart auf und nieder. Wotan war nämlich während des Gehens beim Wiederkäuen. Wotan kaute immer; so oft man ihn sah, sein Mund war immer in Bewegung. Einmal war's eine Wurzel, die ihn zum Essen einlud, einmal ein Mistkäfer. Er fettete sich wohl auch mit einer toten Feldmaus das Zahnfleisch. –

Wotan lebte in seinem Loch seine dreißig bis vierzig Jahre – unter der Erde, mitten in der kargen, unfruchtbaren Heide. Wenn im Winter der Schnee niederstob, traf er an Häusern und Höfen Widerstand und legte sich an Mauern oder hinter Gartenzäunen zur Ruh. Über Wotans Behausung pfiff er unbeirrt hinweg – nicht einmal der wilde Schnee konnte von einem Wotan erzählen. Wenn Wotan verschwunden war, dachte niemand an ihn. Wer stellt sich den Maulwurf vor, wenn er in seinen Bau hinabgekrochen ist. Niemand war in Wotans Höhle gewesen, kein Mensch hat sie je gesehn. Aber all die vergess'ne Zeit saß er unten in seiner Höhle. Einsam, und so gut wie tot, saß er da unter der Erde und lehnte sich gegen alles auf, worüber sich die Menschheit längst geeinigt hatte; er wütete gegen jeden Zufall, der Gesetz geworden war, gegen jede Form, in die sich das Leben mit seiner fließenden Willfährigkeit ergossen hatte, um darin zu Stein zu erstarren. Wotan lebte sein Leben wie ein störrisches Kind, das grobes Brot verschmäht, weil der Weizenkuchen ihm einmal an der Nase vorbeigegangen.

Einige Monate, ehe er starb, kam Wotan eines Tages zum Lehrer ins Dorf. Er trat in die Stube mit allen Zeichen, die auf die Nähe großer Dinge deuten konnten; er sah aus, als hätte er nach lebenslanger Prüfung einen schicksalsschwangeren Entschluß gefaßt.

»Herr Lehrer, möchten S' mir nit Papier und Schreibzeug geben?«

»Ja, wozu denn, Wotan?«

»I muß a Buch schreiben – i muß endlich an Ernst machen und die Welt umdichten. Notwendig war's; denn die Wort stimmen nit zum G'sang. Der Reichtum und die Armut sein ungleich aufg'schmiert; der ane hat Elend mehr wie g'nue, der andre erstickt in seiner eignen Fetten. Die ganze Welt is nix anders als wie die Überschrift von an Buch, was no nie g'schrieben worn is. Das Buch wer i jetzt schreibn, die Welt erbarmt mir schon. – Das soll aber a a Buch wern, so was hat die Welt no nit g'sehn.«

Der Lehrer gab Wotan etwas Papier. Der aber hob die Hände in die Höh und schüttelte zweifelnd den Kopf. – »Z'weng, viel z'weng. Das Buch werd' ganz b'sonders groß.«

Da gab ihm der Küster Der Dorflehrer ist zugleich Küster und Organist. (Anmerk, des Übers.) so viel, daß Wotan zufrieden war.

»Aber du kannst ja nicht schreiben, Wotan!« – das war dem Küster plötzlich eingefallen.

»Na, das kann i a nit – aber das macht nix aus.«

Wotan ging. Das Papier drückte er mit beiden Händen gegen die Brust.

Der Küster erzählte, Wotan habe an diesem Tag nicht gekaut.

Das Buch ist leider nicht geschrieben worden; es hätte wohl ganz gut werden können.

Wotan starb an einem Sonntag-Vormittag im Monat August. Nicht in seiner Höhle – sondern weit davon.

Ole und der Mann der Hebamme waren mit einigen Jungen am Kjeldby-See und besserten ein Netz aus, das sie als Zugnetz für die Hechte benützen wollten. Sie sahen Wotan und seine zwei lächerlichen Stecken im Sonnenschein dahinstelzen; aber sie waren zu beschäftigt, um sich um ihn zu kümmern.

»Je, jetz is er hing'fallen!« rief plötzlich Ole, als er den Kopf hob.

Als die Männer herankamen, lag Wotan auf dem Rücken; er atmete schwer, bei jedem Atemzug trat ihm der Schaum vor den Mund. Jörgen Nielsen war auch herbeigeeilt mit seinem Weib. Die Alte beugte sich über Wotan und schnüffelte an ihm herum.

»Er is ja besoffen; er dampft ja von Schnaps!«

Aber da sah der Sterbende auf zu Jörgen Nielsens Weib und hielt sie mit den Augen fest.

»Na, na« – sagte er heiser und tief schläfrig – »na, sie war für den Sören Paulsen – sie is brochen, wie i hing'fallen bin.« –

Als man den Liegenden ein wenig aufhob, sah man, daß er auf den Scherben einer Flasche lag. Man trug ihn zu Jörgen Nielsen in die Einfahrt und legte ihn auf einen Haufen Kartoffelkraut.

Mittlerweile klärte sich die Geschichte auf. Wotan war im Dorf gewesen; dort hatte man ihn auf einem Hof bewirtet, und die Bäuerin hatte ihm Speck gebraten. Als sie die Salztunke von der Pfanne abschütten wollte, ließ es Wotan nicht zu. »Das is ja viel z' gut zum Wegschütten, das mußt mir geben!« – Und Wotan trank die Lake bis auf den letzten Tropfen aus. Das hätte genügt, um ein paar Schweine umzubringen. Die Frau meinte, Wotan würde das scharfe Zeug schon vertragen können, da er's verlangte. Wotan aber war an gekochte Speisen nicht gewöhnt und konnte gut und schlecht nicht voneinander unterscheiden. Eine volle halbe Stunde war er mit dem Salzfeuer im Leibe herumgegangen, ehe es ihn verbrannte.

Wotan lag ganz still auf dem Rücken, und die groben Kartoffelstengel schlossen sich ungefügig um seinen kummervollen Kopf. Er lag da, von dunkler Erde umgeben – er sollte nicht weiß gebettet sein wie andre Leute. Die Augen starrten ohne Ausdruck geradeaus. Die struppigen Borsten um den Mund sahen bereits aus wie tote Haare – wie ein ausgequetschter Pinsel, den man zu allem möglichen gebraucht hatte.

Die Dorfjungen standen um Wotan herum. Sie merkten die säuerliche, eigentümliche Luft, die vom Kartoffelkraut ausging, und sahen den Mann, wie er in dem unbequemen Lager immer tiefer einsank, bis er endlich in eine sitzende Stellung kam. Da schnappte auch der Mund zu. Die erdschwarzen Hände lagen halb offen auf seiner Brust; – sie sahen innen ganz verkohlt aus, wie wenn Wotan die Achse der Erde umfaßt und dabei versengte Handflächen bekommen hätte. Jetzt drückten diese beiden Vordergliedmaßen endgültige, unheilbare Ohnmacht aus. Die Knaben standen da, scheu und vorsichtig – bis sie fühlten, daß Wotan tot war.

Da riefen sie Jörgen Nielsens Weib. Sie kam herbei und jammerte mitleidig und trocknete sich die Hand an der Schürze. Dann schob sie mit zwei feierlich ausgespreizten Fingern die Lider über Wotans gebrochene Augen.


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