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Andreas Olufsen

Ein Bub, die Leute kannten ihn unter dem Namen Drejs, ging am Sonntag neben dem Küster zur Kirche. Der Küster bemerkte, daß dem Jungen etwas aus der Hosentasche hervorsah.

»Was hast denn da?« fragte er.

»Das is mei Knallprügel,« antwortete der Bub.

»Is a gueter Stutzen, der deinige?«

»Ja, is nit so übel.«

Der Küster hatte einen Einfall und fing an zu lachen.

»Wannst' 'n Pfarrer damit triffst, kriegst vier Schilling von mir.«

Dem Küster war's ja eigentlich nicht ernst damit, wenn er dem Pfarrer auch wohl eine Ladung Schrot gönnen mochte. Drejs sah auf zu seinem Lehrer und Zuchtmeister. Er lächelte nicht und schwieg.

Aber als der Pfarrer mitten in seiner Predigt war, und kein Laut sich in der Kirche regte, da bemerkte die Gemeinde auf einmal, wie eine kleine, in Fries gekleidete Gestalt sich in einem der Kirchenstühle der Kanzel gegenüber erhob und den Ladstock seiner Fliederbüchse gegen die Brust stemmte. Ein tüchtiger Knall; der Pfarrer taumelt, als ob er tödlich getroffen wäre. Das war aber nicht der Fall, denn der Pfropfen hatte die Heiligengeist-Taube getroffen, die an einem Strick über dem Kopf des Pfarrers schwebte; sie begann sich ganz langsam im Kreis herum zu drehen. Drejs hatte seine Büchse zu hoch gehalten. Totenstille trat ein; der Pfarrer und Drejs sahen einander an. Dann setzte sich Drejs nieder, und der Pfarrer holte einen tiefen Seufzer, worauf er in seiner Rede fortfuhr, wie wenn nichts geschehen wäre.

Als der Gottesdienst vorüber war, stellten sie mit Drejs ein hochnotpeinliches Verhör an. Drejs war geständig, aber er weigerte sich kaltblütig, das Motiv seiner Tat anzugeben. So wurde er vom Pfarrer streng zurechtgewiesen und vom Dorfschulzen seinem Herrn zu einer Tracht Prügel empfohlen. Damit war die Sache erledigt. Als aber der Küster und Drejs sich das nächste Mal unter vier Augen trafen, wurde der Junge für seinen Mut gelobt. Der Küster zollte ihm alle Anerkennung und zahlte ihm die vier Schillinge aus.

Drejs kaufte Messingdraht für das Geld und machte Haken und Ösen daraus, die er wieder weiter verkaufte. Er bekam dafür sechs Schillinge bar, Waren im Wert von zwei Schillingen, ein Restchen altes Bienenwachs und einen Spiegelscherben. Dazu versprachen ihm die Käufer noch feste Kundschaft in Haken und Ösen. Für die sechs Schillinge kaufte Drejs neuen Messingdraht, den er teils zu Haken verarbeitete, teils machte er eine schöne Kette draus. Die versilberte er mit Scheidewasser und dem Belag, den er von dem Spiegelscherben abgekratzt hatte. Wenn man eine auf diese Art versilberte Kette an dem einen Ende hält und sie sonst frei in der Luft hängen läßt, ohne sie an irgend etwas zu reiben, dann kann sie sich ganz gut bis zum Verkauf weiß halten. Das Bienenwachs schmolz er so lange um, bis es weiß wurde; dann verkaufte er's als ›Jungfernwachs‹ den Mädchen, die hohle Zähne hatten. Den gesamten neuen Verdienst legte er in einem Lammfell an. Daneben versah er seine Arbeit als Hirtenbub auf dem Uenshof und vergrößerte eine bedeutende Niederlage von Kuhhaar, das er teils als fertige Bälle zum Verkauf, teils als Rohmaterial liegen hatte. Im Laufe des Sommers nahm seine Haken- und Ösenindustrie einen bedeutenden Aufschwung, und als es ihm im Herbst beschieden war, einige Stück Vieh auf den Markt zu treiben, führte er auf eigne Rechnung einen halben Decher ein Decher = 10 Stück. (Anm. des Übersetzers.) Lammfell mit, das er auch mit Vorteil absetzte. Bis zu seiner Konfirmation behauptete er sich im Kirchspiel als fester Aufkäufer von Lammfell; wenn möglich gab er Haken und Ösen für das Fell. Aus reiner Gnade wurde er dann eingesegnet. Der Pfarrer liebte ihn nicht. Aber Drejs war nicht festzulegen. Die Bibelstellen flossen von seinem Mund wie Mehl von der Mühle, und so mußte man ihn durchschlüpfen lassen. Denselben Herbst zog Drejs auf den Markt mit zwei guten Schafen, die sein Eigentum waren. Als er nach Hause kam, konnte er drei andre gegen bares Geld kaufen.

Ein Jahr darauf verlor man ihn aus den Augen; seine Marktbekanntschaften verleiteten ihn zu immer längeren Reisen, von denen er zuletzt gar nicht mehr zurückkam. Es vermißte ihn übrigens niemand, denn er hatte sich auf dem Uenshof weder durch Arbeitslust noch durch Willigkeit unentbehrlich gemacht; er hatte von Natur aus kein Talent, irgendwo warm zu werden, wenn man ihn auch wieder nicht nachlässig nennen konnte. Er tat genau das, was er sollte. Er war eben mit einem Bezahlungssystem im Kopf auf die Welt gekommen. Dagegen läßt sich nun nichts sagen, wenn schon die Leute lieber sehn, daß man sich hingibt.

Drejs war ein Bursch von zwanzig Jahren, als er wieder in seiner Heimat auftauchte. Er hatte sich übrigens nicht viel verändert. Er kam mit einer hohen Tracht Wollzeug auf dem Rücken, vorn baumelte ihm ein Bündel von Hosenträgern und schmalen, leinenen Bändern; im Knopfloch hing ein Ellenmaß. Drejs sah aus wie ein wandernder Laden. Es hieß, daß er in Hobro bereits viel Geld auf Zinsen stehen hatte. Einige Jahre zog er nun als Wollkrämer im Land umher und verdiente sicher nicht schlecht. Allmählich beugte sich seine Gestalt vom vielen Tragen vornüber, und er wurde in dieser Zeit schmalwangig. Er war aber auch immer unterwegs. Es war gar kein Humor in ihm, er lachte nie, wenn er verkaufte. Die untere Kinnlade stand ihm vor, und den Leuten wurde es immer kalt unter dem Blick seiner höflichen Augen. Seine Waren waren immer leidlich gut. Ein Jahr waren sie nichts nutz; das Wollzeug schrumpfte im Wasser völlig ein, die Hosenträger rissen, und das nächste Jahr erschien Drejs nicht auf der Bildfläche.

Die Leute hatten ihn fast vergessen; da tauchte er wieder als Kolporteur auf und verkaufte Traktätchen und fromme Malereien. Er hatte nicht mehr so viel zu tragen, denn er führte nur Proben mit und ließ das übrige durch die Post besorgen. Er hatte die Buchbinderei erlernt und rahmte die Bilder selbst ein. Das Lager hatte er ganz im Süden unten, in Varde, wo er im Winter wohnte. Man brauchte nur zu schreiben, wonach einen verlangte; die Sache kam dann mit der Post. Viele kauften bei Drejs ein, denn sie mußten nicht sofort bezahlen; es mochte später vielleicht manchen gereut haben. Die Malereien waren aber auch schön. Allein stellten sie freilich nichts vor und glichen einander aufs Haar; aber wenn so in einem hübschen Rahmen mit prunkenden, vergoldeten Buchstaben dastand: Gott! segne unser Heim! so konnte das den Leuten schon gefallen. Es gab so eine gewisse Ruhe in der täglichen Kümmernis, wenn es in der Stube hing und über die menschliche Gebrechlichkeit wachte. Viele rechneten ganz im stillen darauf, daß sie sich nun eine Schlechtigkeit mehr erlauben dürften, wenn sie ihrem Haus einen so sichtbarlichen frommen Stempel aufgedrückt hatten. Drejs hatte einen großen Absatz in diesen Haussegen. Als aber schließlich jeder sein Bild hatte, hörte der Handel von selber auf.

In der Zeit kam es heraus, warum der Krämer Drejs alljährlich in sein Heimatsdorf zurückkehrte, obgleich er sein Glück sicher auch in größeren Orten hätte machen können. Plötzlich wurde es ruchbar, – und es lag drüber ein Schimmer, wie über einem Mordversuch, – daß Drejs um die Iverstochter vom Uenshof gefreit hatte. Er soll auch sofort einen Korb bekommen haben und in derselben Stunde aus dem Dorf verschwunden sein. Der Uenshof, der mitten im Dorfe lag, war das älteste und vornehmste Bauerngut in der Gegend, und Dorthea war die einzige Erbin. Da war noch viel, viel Geld da außer dem Grund und Boden. Dorthea hatte von Geburt aus einen doppelten Hüftschaden, so daß es bei jedem Schritt schien, als ob sie mit einem Bein um das andre herumginge, aber sie war ja sonst ein sehr sittiges Mägdlein. Jedenfalls stand es so mit ihr, daß man sie in Ruhe lassen konnte. Sie war ein sanftes Mädchen und sehr beliebt unter ihren Schulkameraden. Drejs, dem als Knabe am Spielen nichts lag, hatte sich ihrer sehr angenommen, als er auf dem Hofe diente, und sie auch später nicht aus den Augen verloren. Wenn er im Dorf war, ging er immer auf den Uenshof; nicht nur um Handel zu treiben, sondern auch um mit Dorthea von alten Tagen zu reden. Er war ihr gegenüber galant und verehrte ihr viel hübsche Dinge. Dorthea konnte ihn gut leiden. Aber Iver vom Uenshof antwortete an ihrer Statt, als Drejs freien kam; der Bauer war herzensroh genug zu sagen: »Aus dem Handel werd aber amal nix!« –

Ehe Drejs aus dem Dorf ging, suchte er einen Bekannten auf und erzählte ihm die ganze Geschichte. Drejs war sonst alles eher als geschwätzig, aber diesmal konnte er wohl nicht schweigen. Es fiel ein allzu falsches Licht auf ihn, da Dorthea doch ein Krüppel war. Die Leute konnten gemein genug sein zu glauben, er freite um den Hof, wenn er auch Dorthea von Kindesbeinen auf gekannt und um ihrer selbst willen geliebt hatte. Drejs erging sich in bittern Anklagen über die Art und Weise, in der er abgewiesen worden, und über das Standesvorurteil, dessen Opfer man ihn gemacht hatte. Es fiel ihm gar nicht ein, Iver könne gegen ihn selbst einen persönlichen Widerwillen gehabt haben. Drejs zog weiter, und als sein Freund weitererzählte, was Drejs ihm gesagt hatte, da fanden sich wirklich Leute, die dem Uenshofer unrecht gaben. Und dann vergaß man Drejs wieder. Dorthea wurde verheiratet. Sie bekam einen Hofbauernsohn aus einer guten Familie. An ihrem Hochzeitstag war kein schmetternder Ton in der Musik; höchstens ein kaum hörbares Tuscheln, daß der Doktor auf eine Anfrage hin erklärt habe, daß Dorthea an einer Schwangerschaft sterben müßte. Die Zeit verging, und die Leute warteten, was geschehn würde. Aber Dorthea wurde nicht schwanger. Der Mann schonte sie. Das Leben auf dem Uenshof blieb gut und ruhig, mit dem neuen Bauer in der Wirtschaft und dem alten Iver im Ausgeding.

Wieder vergingen zwei, drei Jahre. Da kehrte Drejs zurück. Die Wunde war geheilt. Er hieß jetzt Andreas Olufsen (Olsen) und hatte allen Handel aufgegeben. Auf den alten Namen Krämer Drejs hörte er nicht mehr; wenn ihn einer so nannte, gab er keine Antwort und schaute gar nicht aufmunternd drein. Er war übrigens sehr verändert. Er trug einen Vollbart wie ein Fischer und wußte seine Worte zu stellen. Er machte einen gebieterischen Eindruck. Nun, er hatte sich eben in der Welt umgeschaut und etwas gelernt, wie die Landleute voller vagen Respekt sagten. Er war völlig fertig mit dem, was er seine Entwicklung nannte. Er war jetzt ein reifer und erprobter Mann, der sich selbst geprüft hatte; jetzt war er ausgerüstet mit Geduld und mit Willen gewappnet. Er sprach sich vorläufig über seine Lebensanschauung und seine Geschäfte nicht weiter aus. Er ließ nur aus Andeutungen verstehn, daß das, was er nun zu geben hätte, etwas Geistiges sei. Erst wollte er sich im Dorf niederlassen, um von dem, was er der Erde abgezwangt, so wie seine Vorahnen, die alten Dänen, zu leben. Andreas Olufsen hatte sich freilich viel Geld zurückgelegt, so an die paar tausend Reichstaler, meinten die Leute; aber auch dafür kauft man sich noch nicht in die gute Gesellschaft ein. Es ist viel bequemer, einen Hof zu erben, als sich ein Menschenalter lang aus dem Nichts zum Besitz emporzuarbeiten. Andreas Olufsen nahm ein Haus am Rande des Dorfes, das gerade zu kaufen war. Er wohnte dort und richtete nun seine Aufmerksamkeit auf des Ortes Mitte. Man konnte die Absichten Andreas Olufsens erraten. Er wollte das Haus erst in Stand setzen, um es dann später zu erweitern.

Es mag wohl sein, daß das seine redliche Absicht war; aber er hatte bald so viel an so viele geistige Dinge zu denken, daß ihm wenig Zeit blieb, in der Erde zu kratzen. Und die will einmal tüchtig gekratzt werden, ehe sie ihr Fett hergibt. Man muß aber immer beide Teile hören; vielleicht hatte Andreas Olufsen gar nicht unrecht, wenn er in Gesprächen bekümmert über die geistige Finsternis klagte, die in der Gegend herrschte, und über den Hang der Leute, die Augen an die Erde zu heften und sich in geistloser Plackerei zu verlieren. Die Leute verstanden ihn eigentlich recht gut, besonders die, die etwas hatten; die verstanden so recht innig, daß sich andre in ihrem Gefühl der Leere und Ohnmacht mit voller Überzeugung auf etwas Höheres und Größeres warfen. Es muß eben überall ein Gleichgewicht hergestellt werden. Außerdem langweilten sich die Leute und sahen es daher gerne, daß ein Mann auftrat, der sich für das allgemeine Vergnügen opferte. So durfte Andreas Olufsen nach Herzenslust seine Reden führen.

Nun begann eine neue und bewegte Zeit für die Bevölkerung. Andreas Olufsen trat ungefähr gleichzeitig mit Niels Kristian, dem Dichter und Laienprediger, auf. Die Erweckung der beiden hatte unter ganz ähnlichen Umständen stattgefunden; eine tiefe, einschneidende Enttäuschung im Liebesleben, allerdings verbunden mit einer großen Unlust zur harten Bauernarbeit, war bei beiden zum schmerzlichen Ausgangspunkt der Selbstvertiefung geworden. Sonst waren sie ganz entgegengesetzte Naturen und nicht weit davon, einander für den Antichrist zu halten, der da kommen sollte. Niels Kristian verkündete ein Reich der Furcht; seine Verkündigung war wie ein banges, jammervolles Blöken, welches die Pausen ausfüllte, die das Gebrüll des Teufels machte. Niels Kristian führte seine Herde unter Tränen zum Heil; das Dasein war für ihn nichts andres als eine Gelegenheit, ein Quentchen von der großen Schuld der Erbsünde abzutragen, die wir mit uns durchs Leben schleppen. Hu, wie es fror und durch Niels Kristians nackte Rippen zog, wenn er zähneklappernd das Stundenglas wandte und sein reifbedecktes Knochengesicht im Schein des Wintermondes sehen ließ. Es ging ein Todeshauch aus von seinem vereisten Herzen.

Andreas Olufsen brachte eine lichtere, hoffnungsfreudigere Lebensanschauung. Er kam mit einer kindlicheren und heitern, um nicht zu sagen frivolen Annäherung an den lieben Gott. Seine Verkündigung, die er übrigens voller Vorsicht in weiter Allgemeinheit hielt, richtete sich mehr aufs Volkstümliche, das heißt, auf eine Hebung des persönlichen Lebens verbunden mit der lebendigen Aneignung des Gotteswortes, oder auf ein Wiedererwecken der alten Volkskraft der Dänen gepaart mit der innigen Überlieferung des Lebens in Christo. Sein Reich war mit einem Wort ein Reich der Gnade. Ohne einem der beiden geistigen Führer unrecht zu tun, darf man wohl sagen, daß sich Niels Kristians Verkündigung gleichsam zur Tiefe wandte, während das Evangelium Andreas Olufsens in lichtere Höhen strebte. Während man in Niels Kristians sauertöpfischen Betstunden seufzte und sich in dem Gefühle von Gottes Ferne abquälte und unter der Hoffnungslosigkeit litt, je zu ihm zu gelangen, sang man in dem kleinen, schwülen Freundeskreis Andreas Olufsens kühne Vaterlandslieder und betrachtete es als gegebene Tatsache, daß man durch die Taufe gerettet war. Es galt nur noch, die gute Laune aufrecht zu erhalten und das möglichst Beste aus dem Erdenleben herauszuschlagen. Das Dasein sei ja nur eine kurze Reise nach dem lichtern Freudenheim, meinte Olufsen, und unterwegs ließe sich manches genießen. Ja, es wäre nicht nur recht, sondern sogar Pflicht der biedern Leute, sich auf diesem Erdenreich die günstigsten Lebensbedingungen zu schaffen. Während Niels Kristian und seine Anhänger immer und überall vom Irdischen loszukommen trachteten, nahm die Bewegung, an deren Spitze Andreas Olufsen stand, immer mehr praktische Formen an. Es war darum ganz merkwürdig, daß sich die beiden Sekten nicht vertragen konnten. Es war doch wahrhaftig kein Grund zur Eifersucht vorhanden, da es doch im Interesse der einen Partei liegen mußte, daß die andre sich ausbreite.

Die praktischen Formen, die früher angedeutet wurden, bestanden hauptsächlich in der Auflösung der Verpflichtung, einer bestimmten Gemeinde anzugehören. Aus dieser Neuerung entstand die Freigemeinden-Bewegung, als deren Führer Andreas Olufsen erschien, und die viel Anhang unter den Zugehörigen des Kirchspiels gewann. Die Leute hatten ja möglicherweise nicht allzuviel Erkenntnis der geistigen Bedeutung der Sache, verstanden nicht zu viel von dem, was Andreas Olufsen den Völkerfrühling und Widerschein der Götterkraft im Norden nannte; es war aber immerhin angenehm, wieder einen Willen haben zu dürfen. Es tat den Leuten wohl, ihren Pfarrer selbst zu wählen oder zu verwerfen, anstatt wie früher seinen Mittagsschlaf bei dem ersten besten halten zu müssen, den man ihnen geschickt hatte. Störrigkeit und Krakeelsucht waren ja immer Bauerneigenschaften gewesen; es hat ihnen ja von jeher mehr Freude gemacht, einer Fuhre ein Stück Torf in den Weg zu legen, als ihr wieder aufzuhelfen, wenn sie umgefallen war.

Es waren nicht gerade die Besten, die Andreas Olufsen folgten, keineswegs. Die Besten haben sich ja überhaupt niemals auf eine geistige Bewegung eingelassen; weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit. Es hat von allem Anfang an Familien gegeben, die keinerlei Drang zu irgend einer Art von Gemeinschaft fühlten, und die sich nicht erst durch eine Sekte in die Gesellschaft Gleichgesinnter einzuführen brauchten. Man hat nie viel von ihnen gehört, weil sie sich selber genug und gerade in geistiger Hinsicht stumm waren. Seelische Fragen galten ihnen in bezug auf ihr Dasein nicht mehr, als wie Ziffern in bezug auf die Dinge, die man zählt. Sie glaubten an nichts und niemand, weil sie weder Vertrauen noch Furcht kannten. Daß es vor Zeiten Kopfhänger gegeben hatte, die Thor fürchteten und sich darum mit all jenen zu einer Glaubensgemeinschaft zusammentaten, die ebenfalls das Gruseln gelernt hatten, was ging sie der Aberglauben dieser Menschen an? Diese Großen schwiegen auch dann, als die stets Kleinen eine neue Form des Lebens importierten und vom Wunder ergriffen sich um den Gekreuzigten von Golgatha scharten. Sie sahen in dergleichen Schlichen und Kunstgriffen nichts anderes als verächtliche Schwäche. Sie gingen zwar willig in die Kirche, wenn sie damit dem König dienen konnten, und eigneten sich die neuen Flüche und Todsünden gerne an. In ihrem innersten Innern aber wurden sie niemals angesteckt von dem, was Iver, der Uenshofbauer, mit durchdringender Verachtung mit dem höhnischen Namen ›Liebedienerei‹ bezeichnet haben würde.

Iver war einer von jenen Alten; seine Natur war nicht nur heidnisch, sie war urheidnisch. Man konnte zu ihm nicht von der Seele, oder von Weckungen und Bewegungen sprechen, ohne daß er die Schultern in den Gelenken hochgezogen hätte – käme da vielleicht noch was nach? – und gleich hinterher jaulend aufgähnte wie ein Hund, der schläfrig ist. Iver vom Uenshof interessierte sich nicht ein bißchen für das neue, rege Geistesleben in der Gegend, weder für den schmierigen Pietismus, noch für das fröhliche Christentum. Und Niels Kristian wußte ebensogut wie Andreas Olufsen, daß dem Alten nicht beizukommen war.

Drum war es ein wahrer Triumph für die Freunde – so nannten sich die Anhänger Olufsens – und besonders war es eine Genugtuung für den Führer selber, als es gelang, die junge Frau auf dem Uenshof, Dorthea, für die Sache zu gewinnen. Das tat ihnen namentlich deshalb so wohl, weil sie wußten, wie hart die Sache den alten Iver treffen mußte. Da hatte er sich die Kiefer fast aus dem Gelenk gegähnt vor Geringschätzung, höchstens hin und wieder, wenn er gerade sehr gnädiger Laune war, ein kleines, höhnisches Wort über das empfindsame Pack geäußert; und nun hatte er, ehe er sich dessen versehen konnte, die Schmach innerhalb seiner eigenen Türen.

Dorthea fühlte sich zu den Freunden aus demselben Grunde hingezogen, aus dem sie sich seinerzeit dem damaligen Drejs angeschlossen hatte. Sie durfte da nämlich mitspielen. Zu Hause war kein einziger, der ihren Körperfehler hätte übersehen oder ihn ihr verzeihen können; unter den Freunden kam es aber auf ganz andere Dinge an, auf innere, geistige Vorzüge. Und Dorthea zeigte, daß sie ein lebendiges Herz hatte. Die kleine, verunstaltete und schwächliche Frau verbarg ein reiches Gefühlsleben, das sie in ihrer Ehe nun einmal unmöglich befreien konnte. Das fand jetzt seinen Ablauf in den Versammlungen der Freunde. Dorthea sang gut und war so dankbar dafür, daß sie sich hingeben durfte. Sie konnte, einmal unbefangen, über alles Maß hinausgehen, so daß viele der Freunde über sie lächeln mußten. Wenn sie mit ihrem armen, verhutzelten Körper in der Versammlung aufstand und aus ihrer vollen Seele heraus Zeugnis ablegte, so war das freilich ein ganz schamloses Beginnen, denn sie war ja doch ein Bauer unter Bauern; aber sie wollte nun einmal sich derlei erlauben dürfen, weil sie es war. Mancher lächelte eigentümlich, wenn Dorthea ihre Seele entblößte, den prächtigen Herzensmenschen, der sie war. Andere schlugen dabei die Augen nieder und fanden allerlei anderes zu denken, das sie vor der Scham retten konnte. Dorthea versammelte die Freunde oft auf ihrem Hof zu kleinen, geistig stark bewegten Speisungen. Ihr Mann war auch zur neuen Lehre übergegangen und hatte damit angefangen, sich im Gesicht einen großen Bart aufzusammeln. An den Freunde-Abenden zog sich der alte Iver in seine Auszüglerwohnung zurück. Dort konnte man ihn dann stundenlang gegen das Asthma und den störrischen Altmännerhusten räsonnieren hören.

All dieses geschah in längst vergangenen Zeiten. Die Bewegung hatte im Himmerland wesentlich denselben Charakter, wie in anderen Ländern; es wäre darum unnütz, über allbekannte Dinge zu reden. Hier handelt es sich ja doch nur darum, Andreas Olufsens Leben in kurzen Zügen für die Geschichte aufzubewahren.

Andreas Olufsen wurde bald ein angesehener, jedenfalls ein viel besprochener Mann. Merkwürdig an ihm war, daß, je mehr die von ihm entfesselte Bewegung in Gang kam, desto stiller er selber wurde. Zuletzt konnte man nur ganz selten und nur in ganz zweifelhaften Fällen einen dunkeln Orakelspruch aus ihm herausbekommen. Überließ er aber die Verkündigung und Ausbreitung des fröhlichen Gottesworts den begabten Jüngern, die dann aus der Menge hervortraten, so nahm er sich dafür mehr der praktischen Geschäfte der Sache an, die im Laufe der Zeit so weitläufig wurden, daß nur er sich darin zurecht finden konnte. Schon seit geraumer Zeit hatte er sich an die Spitze des Aufklärungswesens gestellt, das in der Gegend in Angriff genommen werden sollte. Zu diesem Zwecke hatte er auch eine Büchersammlung aufgebracht. Er hatte damals noch Zeit, die Buchbinderei zu betreiben; so konnte er glücklicherweise selbst dafür sorgen, daß die Bücher gut gebunden wurden. Er lebte noch in seiner Behausung und verschmähte es nicht, durch derlei Arbeit einen Schilling zu verdienen. Auch machte er durch Agitation Stimmung für eine Sparkasse im Kirchspiel und wies die Entschädigung nicht zurück, die man ihm für die Führung der Bücher anbot. Das waren aber alles nur Kleinigkeiten im Verhältnis zu der Bedeutung, die Andreas Olufsen später in der Gegend bekam, oder im Verhältnis zu den Vertrauensposten, die er dann selbst schuf, um sie auch selbst zu bekleiden.

Die große Veränderung in Andreas Olufsens Leben trat ganz unerwartet und plötzlich ein. Der junge Uenshofer bekam eine Lungenentzündung und starb. Das war ja eine traurige Sache. Ein Jahr darauf verheiratete sich die Witwe mit Andreas Olufsen. Die Geschichte war für die Leute ein ganzer Roman. Sie sahen drin deutlich genug eine Fügung Gottes. Andreas Olufsen hätte nie eine andere geheiratet, dessen war man sicher. So bekam er denn doch seine kleine Jugendgeliebte, die er still und treu und ohne alle Eifersucht im Herzen bewahrt hatte. Das war nun doch schön.

An seinem Hochzeitstag wurde Andreas Olufsen noch um einen Grad wortkarger. Die Trauung wurde in aller Stille gefeiert, nur wenige Freunde waren dabei. Als man von der Kirche kam, setzte sich Andreas Olufsen in die eine Ecke des alten Wachstuchsofas auf dem Uenshof und blieb dort für den Rest des Tages sitzen, als ob er müde wäre. Sein Unterkiefer schien an diesem Tag noch größer und stand noch weiter vor. In der andern Sofaecke saß der alte Iver und kämpfte mit seinem Husten; er trug seine Alltagskleider und sagte kein einziges, Wort. Es sprach ihn aber auch niemand an.

Andreas Olufsen verkaufte sein Häuschen und ließ auch seine ganze übrige Vergangenheit hinter sich, als er als Herr auf dem Uenshof einzog. Nur einige Bücher brachte er mit sich und seine Buchbinderpresse. Sonst fand sich alles, was er brauchte, auf dem Uenshof; er kannte den Hof durch und durch. Wie von altersher schien dort alles für ihn bereitet zu sein. Auch das tägliche Leben auf dem Hof veränderte sich nicht, wenn man davon absieht, daß das Gesinde verzagter und stiller wurde, als es ehedem war. Andreas Olufsens Augen hatten die Fähigkeit, wenn sie so von unten herauf einen ansahen, jedem die Lebenslust auszutreiben, auf den sie sich richteten. Die Hirtenbuben auf dem Uenshof hatten jetzt nicht mehr viele sorglose Stunden.

Ein Jahr nach der Hochzeit starb Dorthea im Kindbett unter entsetzlichen Qualen. Sie schrie zwei Tage und zwei Nächte lang, daß man sie durchs ganze Dorf hören konnte. Das Kind wurde ihr mit Zangen in lauter Stücke gerissen. Es sollte sich just treffen, daß Andreas Olufsen auf der Reise zu verschiedenen Versammlungen war, als sein Weib entbunden wurde. Er fand ein weißes, lebloses Ding, als er nach Hause kam. Die arme Dorthea, die sie nun in den Sarg legten. Sie sah aus wie eine Winterlandschaft, die nach einem rasenden Schneesturm starr und still daliegt. Drinnen im Altenstübl aber hatte Iver gesessen und gehört, wie sein Geschlecht ausstarb: nicht wie ein Mensch, der seinen Tod stirbt, sondern wie ein wildes, schreiendes Tier, das lebendig zerrissen wird.

Andreas Olufsen veranstaltete den größten, üppigsten Leichenschmaus, der seit Menschengedenken gesehen worden war. Die Freunde der Gegend – und es waren ihrer jetzt mehrere Hundert – Leute mit gesundem Appetit, wurden auf dem Uenshof bewirtet; die Überbleibsel bekamen die Armen. Den alten Iver hatte man auf dem Wachstuchsofa aufgestapelt; dort saß er lahm und steif vor Alter und empfing den Handschlag der Leichengäste. Der alte Iver sprach nicht mehr; die Zunge wollte nicht. Er saß die ganze Zeit stumm da. Aber seine Augen folgten dem Schwiegersohn und ehemaligen Dienstjungen, wo immer dieser auch ging und stand. Andreas Olufsen hielt den Blick aus. Die beiden Männer hatten am Tag nach Dorotheas Tod einen Wortwechsel miteinander gehabt, der damit endete, daß die Zunge des Alten gelähmt wurde. Er konnte nun nur noch mit den Augen fluchen. ›Mörder!‹ stand in ihnen. Zwei Jahre nach diesem Ereignis beugte sich Andreas Olufsen über den alten Iver und drückte ihm mit seinen Fingern die Augen zu.

Noch ehe Iver gestorben war, hatte sich Andreas Olufsen, den sie nun auch den Uenshofer hießen, eine neue Frau auf den Hof gebracht. Sie gehörte zur Schar der Freunde und war ein lebensfrisches, tüchtiges Mädchen. Sie brachte auch eine ansehnliche Mitgift auf den Uenshof; wo viel ist, kommt eben auch viel hin. Als Mädchen war sie eine der frohesten und unbefangensten der ganzen Freien-Gemeinde. Sie war es freilich mehr von Natur aus als aus eigentlich geschulter Lebensauffassung; darum war es nicht ganz unerklärlich, daß sie als Uenshoferin so schnell die gute Laune verlor. Vielleicht erschreckte es sie auch, tagtäglich mit dem stillen Mann verkehren zu müssen, der an so vieles zu denken hatte, daß ihm für seine Familie nur Zeit zu kurzen Befehlen blieb. Die neue Uenshoferin war übrigens ein eisenstarkes Weib, wie geschaffen zum Gebären. Nach einigen Jahren war sie nur noch ihr Schatten.

Andreas Olufsen, der ein sehr alter Mann wurde, verbrauchte im ganzen drei Frauen.

Hier kann man nun gleich einen flüchtigen Überblick über Andreas Olufsens öffentlichen Werdegang geben. Er wurde seinerzeit Dorfschulze und Vorsitzender des Gemeinderates, Vorsitzender der Sparkasse und Mitglied des Amtsrates. Durch Akklamation kam er schließlich in den Reichstag. Dort schloß er sich den Nationalliberalen an, tat aber in der Kammer bei keiner Gelegenheit den Mund auf. Er hatte einen angeborenen Unwillen gegen das Vortreten. In seinem Kreis genoß er das unbedingte, blinde Vertrauen seiner Wähler. Es war ihm daher leicht, vor 1864 eine flammende Kriegsstimmung anzufachen, ohne eigentlich Reden zu halten oder sich auf andere Art zum verantwortlichen Mittelpunkt der Strömung zu machen. Es schien gleichsam nur von ihm auszustrahlen, welchen Standpunkt seine Anhänger einnehmen sollten, obgleich er auch manchmal seine Ansicht durch dunkle Kernsprüche durchschimmern ließ, die zu geflügelten Worten wurden. Unter den Freunden war nicht ein einziger, der nicht unerschütterlich auf die dänische Heldenkraft baute und der geistlosen Übermacht der Deutschen Hohn sprach. Und sie alle blickten auf zu Andreas Olufsen, dem Dänen- und Christenhelden, – er maß in seinen Holzschuhen sechzig Zoll und war nie Soldat gewesen – als demjenigen, der den Geist zum Sieg führen würde.

Das Vertrauen der Freunde wurde auch nicht geschwächt, als nach dem kleinen Krieg Andreas Olufsen eine etwas veränderte Haltung einnahm. ›Man hätte ihn schmerzlich mißverstanden; er hätte nie den Krieg gewollt!‹ – Wie bekannt, blühte übrigens ein Geist der Erneuerung aus der blutigen Wunde, das Volk schien sich nach der Verstümmelung gleichsam nach innen zu kehren und sich in einer fruchtbaren nationalen Stimmung zu sammeln, deren Flügelschlag das Land, das seiner Füße Schleswig-Holstein. (Anm. des Übersetzers.) beraubt worden war, erhob. Und in dieser Stimmung sangen sich Andreas Olufsen und seine Schar unverbrüchlich wieder zusammen.

Nach dem Jahr 64 schloß sich Andreas Olufsen der äußersten, radikalen Linken an, die sich der Landesbefestigung sowie aller militärischen Oberklassenpolitik widersetzte und aus dieser Veranlassung den Verfassungskampf entfesselte. In der Zeit des Provisoriums, als sich der Kampf in der »Riffelbewegung« zuspitzte, war Andreas Olufsen die rechte Hand der radikalen Linken. Er war es nämlich, der in den erregten jütländischen Kreisen heimlich aber nachdrücklich zum Aufstand riet. Als aber sechs Gendarmen in die Gegend kamen, war er derjenige, der das Volk beschwor, loyal aufzutreten, so daß es das ganze Land hören konnte.

In der folgenden Zeit verlor sich Andreas Olufsens Einfluß in der Öffentlichkeit und wendete sich auf verborgenere Dinge. Dafür zeigte er sich aber in umso vollerem Licht, als Andreas Olufsen mit mehreren Gesinnungsgenossen aus der Partei der Linken ausbrach – sie war nämlich gerade von dem Feind, den Nationalliberalen in einen Winkel gedrängt worden – und den Vergleich zustande brachte. Dies war zugleich Andreas Olufsens letzte große Tat im öffentlichen Leben. Nach dem Vergleich zog er sich ganz zurück, als ein alter Mann, der sich die Ruhe verdient hatte. Er hatte ja auch viel ausgerichtet. Anläßlich des Jubiläums kam man auch darauf, daß Andreas Olufsen der dänische Politiker war, der die längste Zeit im Reichstag saß. Den Systemwechsel Der Dänemark ein demokratisches Ministerium brachte. (Anm. des Übersetzers.) erlebte er nicht mehr; man darf aber ruhig sagen, daß sein Geist über das Grab hinaus wirkte und den Eifer der neuen Jugend beeinflußte. Andreas Olufsen verschwand an einem glücklichen Zeitpunkt. Nach einem langen, harmonischen Leben konnte er seine Herzenssache reifen sehn. Heut pfeift der Wind aus einem andern Loch in Dänemark; der Geist aber dürfte recht eigentlich doch derselbe sein.

Wenn man von der öffentlichen Wirksamkeit Andreas Olufsens spricht, ist es nicht am Platz, Züge aus dem Privatleben des Mannes einzumischen. Doch wurde hier mit der Geschichte seines Privatlebens begonnen, und so sollen zur Charakteristik des Menschen einige Erklärungen hinzugefügt werden. Da er viele Jahre lang eine feste, unveränderliche Figur in der Gegend war, wie überhaupt im dänischen Geistesleben, war uns seine Persönlichkeit so bekannt und heimisch, daß jede neue Anekdote über ihn freudig bewillkommt und mit größter Spannung aufgenommen wurde.

Sein Äußeres mit den unscheinbaren und doch so gebieterischen Zügen ist wohlbekannt. Er hatte einen zarten, schmächtigen Körper, war aber weder behende in seinem Wesen noch gesprächig, wie man derlei oft bei gewöhnlichen Leuten findet. Im Gegenteil; er bewegte sich mit einer gewissen, bürgerlichen Grandezza, die Respekt einflößte, der dem nicht unähnlich war, den man dem alten Ivers vom Uenshof zollen mußte. Namentlich mit den Jahren wurde Andreas ein fast stummer Mann.

Er war arbeitsam wie wenige, so lange seine Kräfte es erlaubten. In seiner besten Manneszeit litt er viel unter nervösen Schwächezuständen, fand aber Heilung durch Anwendung des Rejersenschen elektrischen Kraftgürtels. Trotz der zarten Konstitution, die ihn von Jugend auf gezwungen hatte, sich vor harter körperlicher Arbeit zu hüten, war er ein fleißiger, stets wachsamer Mensch. Er hatte eine so lebendige Wißbegier in geistigen Dingen und faßte so gründlich auf, daß die Gedanken andrer, die er sich aneignete, bald nicht mehr von seinen eigenen unterschieden werden konnten. Man war daher oft im Zweifel darüber, wo seine Lebensanschauung ihre eigentlichen Quellen hatte. Seine Feinde wollten wissen, daß er eigentlich nie den Sinn dessen ahnte, was er verkündete. Seine Reden enthielten nur die flüssigsten Wendungen aus Grundtvigs Schriften, die der Spitzbube mit seiner Buchbinderschraube herausgepreßt und zu eignem Gebrauch verwendet habe. Andreas Olufsen selber bekannte sich niemals zu diesem großen Dichter als seinem Vorbild und wollte seine Sache nie gern als Grundtvigianismus bezeichnet hören ... was sich, wie bekannt, auch Grundtvig energisch verbat. Den Leuten in Olufsens Gegend, die sich keinerlei Sorge um irgend ein geistiges Eigentumsrecht machten, behagte es ihrerseits am besten, Andreas Olufsen sowohl die Bewegung als auch den genialen Ursprung der Sache zuzuerkennen.

Wir kommen nun noch zu Andreas Olufsens heimlichsten Eigentümlichkeiten, dem innersten bewegenden Nerv seines Lebens. Da über Menschen in exponierten Stellungen so viel loses Gerede umläuft, ist es oft gut für diese, wenn auch einmal die Wahrheit über ihre Person verbreitet wird, und nur die Wahrheit. Es wäre daher unrichtig, bei der Charakteristik Olufsens einen so hervorragenden Zug wie seine Sparsamkeit zu übergehn. Man könnte ja da von einer Neigung faseln, die stets den Blick aufs Nächstliegende lenkte, eine Eigentümlichkeit, die den Grundstock seines politischen Wesens ausmachte und den Gedanken an das edle Vorbild König Friedrich VI. weckte; wir wollen hier von seiner Sparsamkeit im rein praktischen Sinne reden. Er war ein Filz und knauserig bis zur Krankhaftigkeit. Man erzählt, und die Sache hat viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß er sich in seinem langen Leben kein einziges Mal von barem Geld getrennt habe; er umfaßte sein Barvermögen mit der Liebe des Sammlers. Seine Gegner, die freilich übertrieben, behaupteten, er würde ruhig einen Hof abgebrannt haben, um der Hoffnung willen, auch nur ein einziges Fünförestück aus dem Schutt der Brandstätte herauszuscharren. Durch die Zeit von fast zwei Menschenaltern, in der er sich durch alle Parteiänderungen hindurch im Reichstag behauptete, bezog er das Taggeld eines Volksrepräsentanten, das ziemlich ansehnlich war und das ihm viele mißgönnten. Man weiß, daß er diese Einnahme mit einem besondern pietätvollen Interesse betrachtete, und daß er ein Bankbuch mit dem Eintrag der vollen, nie angetasteten Summe besaß. Als er sich zurückzog, bildete die Summe dieser Taggelder ein kleines Vermögen, trotzdem er die Erhöhung der Diäten nicht mehr erlebte. Die großen Gastereien, die er besonders in den ersten Zeiten auf dem Uenshof seinen Gesinnungsgenossen gab, sollen ihn ja viel gekostet haben; aber das warf ja alles der Hof ab in Form von Lebensmitteln. In der spätern Zeit nahmen diese Gastereien teils ab, teils trugen die Freunde – wie ja ganz billig – unter der Hand ihr Scherflein dazu bei. Seine zahlreiche Familie zog Andreas Olufsen ohne bedeutende Kosten auf, da sich die Kinder als Entgelt für ihren Unterhalt auf dem Hof nützlich machen mußten. Einzelne von ihnen erhielten ihre weitere Ausbildung durch Freiplätze an den Hochschulen Grundtvigschen Bauernhochschulen. (Anm. d. Übersetzers.), die sich Andreas Olufsen verpflichtet hatte. Er war zu der Zeit ein außerordentlich reicher Mann. Kein Wunder, wenn man ein ganzes, ungewöhnlich langes Leben hindurch immer einnahm, ohne je bei irgend einer Gelegenheit auszugeben.

Andreas Olufsen war ein wichtiger Mann. Wichtig! was soll das nun sagen? Das heißt, daß er als scheinbar instinktives Gegengewicht gegen sein unscheinbares Äußere sich mit einem gewissen Hochmut, einer gewissen Kälte umgab, muß jedenfalls als wohlerwogene Sache erscheinen, wenn man die Verantwortung bedenkt, die auf ihm ruhte. Daß er aber wirklich den Eindruck eines hochgradig selbstbewußten Menschen machte, war in erster Linie in seiner unstreitbaren Begabung begründet, wohl auch mochte ihm der stark entwickelte Unterkiefer dazu verholfen haben, also ein organisch angeborner Zufall. Er ähnelte gewissermaßen einem Hecht, dessen raubgierig vorgesteckter Unterkiefer dem Tier ein besonderes Gepräge gibt. Hätte es darum aber einen Sinn, den Hecht des Dünkels zu beschuldigen? Es gab Leute, die behaupteten, daß sie Andreas Olufsen geradezu gelähmt vor Wichtigkeit gesehen hätten, wenn er in größerer Gesellschaft war. Er soll da eine volle Stunde lang steif und stier, mit unbeweglichem Unterkiefer, an einer Stelle gesessen sein. Ist das nicht aber geradezu eine Natureigentümlichkeit des Hechtes, sich in seinem Element so zu verhalten, und kann man ihn deshalb des Hochmuts zeihen? Der Hecht verdaut wohl einfach in dieser Stellung.

Mancher fand es auch vonnöten, minder reinliche Handlungen Andreas Olufsens durchzuhecheln. Dieser hatte nämlich das auffallende Pech, ungefähr die meisten Dinge zu begehen, die er den andern strengstens verbot, in der Politik wie im Privatleben. War dies nun eine Ironie des Schicksals, die ihn verfolgte, oder sollte er im tiefsten Innern seines Herzens eine Art moralisches Freiheitspatent genommen haben? Das war wohl einer so einfachen Natur nicht leicht zuzutrauen. In einem unüberlegten Augenblick soll er einmal geäußert haben, Lügen und Stehlen sei keine Sünde; aber es sei schäbig, sich entdecken zu lassen und strafbar, ein Geständnis abzulegen. Diese Anekdote muß doch sicher erlogen sein. Andreas Olufsen hatte nie etwas Gesetzwidriges begangen, noch etwas getan, womit er sich die Achtung der Menschen verscherzt hätte.

Die traurige Geschichte mit Dorthea war freilich da, und den Tod seiner ersten Frau konnte ihm keiner vergessen, selbst diejenigen nicht, die unerbittlich an den Rechten der Ehe hielten. Einige blieben dabei, er habe sich in dieser Sache wie ein kaltblütiger Schuft aufgeführt; aber ist dies nicht ein Widerspruch? steht dies Urteil nicht im Widerstreit eigentlich mit dem Akt des ›Verbrechens‹? – Ausnahmemenschen gesteht man wohl etwas zu; ist man aber ein Schurke, so hört man wohl auf, Ausnahmemensch zu sein. Und wem sollte wohl dann etwas zugute gehalten werden? Unter allen Umständen steht es jedem frei, sich gegen die schlechten Menschen in dieser Welt zu schützen. So lange wir uns aber mit einem Mann nicht messen konnten, sei es nun, daß wir dazu nicht hart oder nicht willig genug sind, dürfte es wohl am passendsten sein, bis auf weiteres jedes Urteil über ihn hinauszuschieben.

Eine solche Betrachtung liegt nahe, wenn man das Ende Niels Kristians betrachtet, der in seiner letzten Lebenszeit als umherwandernder Liederverkäufer in dem tiefsten apostolischen Elend verkam, und der nie genug Pech und Schwefel vom Himmel über Andreas Olufsens sündiges Haupt herunterbeten konnte.

Überdies, wäre Andreas Olufsen der Schandbube gewesen, zu dem ihn viele machen wollten, dann wäre er wohl wie andre Unmenschen an der Läusekrankheit gestorben. Oder wäre auch wohl seine Leiche auf dem Weg zum Kirchhof durch die Ritzen des Sarges getrieben worden. Aber Gott verwendete bei seinem Tod keines seiner berühmten Strafurteile, und schmerzlos verschied Andreas Olufsen vor Alter in seinem ordentlichen Bett und wurde unter die Erde versenkt mit dem größten Stimmungsdusel und den größten Ehren. Hatte er als gieriger Schmarotzer von der Erde gezehrt, so gab er ihr jedenfalls mit Zins und Zinseszinsen zurück, seinen ganzen Körper mit Haut und Haar.

Die letzten zehn Jahre seines Lebens war Andreas Olufsen kindisch. Man kann wohl sagen, daß er nie dazu kam, sich die große Frage zu stellen: warum habe ich gelebt. Denn an dem Zeitpunkt, wo dieses Problem ihn hätte beschäftigen können, fing er an, kindisch zu werden. Seine Geisteskräfte nahmen allmählich ab, das Problem schrumpfte zusammen und entschwand mit seinem Bewußtsein. Daher lag auch nach seinem Tode das ganze große Vermögen da, ohne daß er eine Bestimmung über die Verwendung des Geldes getroffen hatte. Vielen war dies ein Anlaß zu seufzen und die kurze Machtdauer des Erdenlebens zu beklagen. Ja, ja; aber, wer weiß, ob Andreas Olufsen nicht nur noch mehr Geld aufgestapelt hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, noch länger zu wirken. Er war ja eingerichtet wie eine Falle, die alles fängt und nichts hergibt.

In ihm steckte eben ein Sammelgeist. Auch für seine Person war er geizig; fast alles, was er verzehrte, hielt sein Körper zurück; und viele, die ihn gut kannten, behaupteten lachend, daß von ihm nie etwas anderes als Luft abgegangen wäre. Alles, was er verzehrte, entwiche als ›Geist‹ von ihm.

Schließlich wurde er sehr beleibt und lebte in seinem höchsten Greisenalter dahin wie eine ungeheure, kopflose Talgmasse, mit langen, weißgrünen Haaren überwachsen, die wie Schimmel aussahen. Er ähnelte einem mächtig großen, zottigen Pilz, einem Riesenschwamm, der allein auf der Erde saß. Er roch auch so eigentümlich sauer wie faules, feuchtes Holz.

In der letzten Zeit schlossen sich alle seine Sinne; er wurde blind, taub und stumm, kannte weder seine Familie noch sich selbst. Als er endlich starb, veränderte sich mit ihm nichts, als daß er einfach nimmer gefüttert werden mußte. Er kroch in die Erde wie eine dicke, weiße Made, deren Enden nicht zu unterscheiden waren, und deren Inneres aus Finsternis bestand.

Er starb als ein typisches Abbild des unersättlichen, ziellosen Strebens und Wachsens. Nun verflüchtigte er sich nach eines langen Lebens privatem Mästen in die große Einsamkeit, die bloß wächst.


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