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Einleitung

Johannes V. Jensens Wiege stand im »Himmerland« (was dasselbe ist wie Kimberland, Land der Cimbern). Es ist das ein plateauartig-hügeliges Gelände im nordöstlichen Jütland zwischen Kattegat, Limfjord und Mariager-Fjord. Die Cimbern, jener wanderfrohe Stamm, der in die entferntesten Gegenden Europas vordrang, im Verein mit den Teutonen im Jahre 101 v. Ch. 80 000 Römern den Garaus gemacht haben soll und der, nachdem er im Jahre 101 v. Ch. im Kampfe gegen die Römer bis auf den letzten Mann gefallen war, nur durch den in der Heimat zurückgebliebenen Rest vor dem völligen Verschwinden vom Erdboden bewahrt worden war, jener wandernde Kriegerstamm mit dem Expansionstrieb in die Ferne, mit der Sehnsucht nach dem Süden, mit der heimatlosen Unrast im Blute, mit der Begier nach neuem Land und neuen Möglichkeiten: die sind die Ahnherren Johannes V. Jensens und aller seiner Gestalten – sie sind die versunkene Heldenwelt, über die die wilde Schwermut der jütländischen Heide graue Romantik breitet.

Schon die ersten Anfänge der dänischen Poesie haben in Märchen und Volksliedern jütländische Lokalfarbe benutzt. Aber poetisch ganz entdeckt wurde diese dänische Landschaft erst durch einen der eigentümlichsten dänischen Dichter, durch Steen Steensen Blicher (1782-1848), der mit seinem Nachfolger Jensen manche gemeinsamen Züge hat. Beide vermögen entsetzliche Geschichten mit unbewegter Miene zu erzählen, beide teilen mit trockenem Grimm ihre Hiebe aus. Beiden ist die Gabe verliehen, majestätische Eintönigkeit, das nie schweigende Surren, Sausen, Brausen der Vergänglichkeit mit dem Ausdruck beweglicher Mannigfaltigkeit zu vereinen. Und Blichers Jägerauge richtet sich genau wie das seines jüngeren Bruders in Apoll weniger auf die Erde, als auf die Luftphänomene, auf den Horizont. Der eine wie der andere sucht durch Lautmalerei und Natursymbole zu wirken, und ihre Bilder haben die große, lange Linie der jütländischen Landschaft. In einer Dichtung »Die Reise durch Jütland« beschreibt Blicher wie hier Ruinen einer alten Burg schimmern, dort das trockene Gras auf kahlen Äckern flattert »wie spärliches Haar auf dem wackelnden Kopf eines Greises«. Der Wildentenzug pfeift über niedrige Wiesen, die Sonne geht auf über dem braunen Revier. Der Rehbock guckt über den Hügelkamm, auf einer Erhöhung sitzt der Hase und blinzelt, der Birkhahn girrt, und das Herz des Jägers klopft, – alles wie durch Nebel. Das Werk macht den Eindruck, als ob ein Mensch seine Heimat sucht, sie aber nicht finden kann. »Ein solches Gefühl der Heimatlosigkeit war in der harten Zeit der Jahre 1810-1820 gewöhnlich in der dänischen Literatur, das ideale ›Dana‹ oder der ›Norden‹ existierte nicht mehr und das neue, ein armes, kleines Land, war noch nicht da. Die Nation war geistig obdachlos.«

Aber Johannes V. Jensen fühlt sich als Jütländer doch nur insofern, als er sich zugleich als eine Art Engländer auffaßt. Und insofern die Engländer Weltherrschaft betreiben, ist er Kosmopolit und Pangermanist. Als ein Gote, der von der jütländischen Halbinsel stammt, hat er sich in einen bewußten Gegensatz zu den nicht-jütländischen Dänen, den dänischen Inselbewohnern, gestellt. Er meint, daß nicht nur Landschaft und Dialekt und geschichtliche Tradition, sondern auch die Lebensanschauung den Jütländer scharf unterscheide vom Bewohner der dänischen Inseln und in fast allen wesentlichen Dingen den Engländern ähnlich mache. Mit dem englischen Imperialismus teile der Jütländer den Sinn für den agrarischen Wert der Erde, der nicht, wie der dänische Inselbewohner stets gemeint habe, vom patriotischen Wert abhängig sei. Im Gegensatz zu dem gefügigen Inseldänen hätte der auf Unabhängigkeit trotzende Jütländer stets in Opposition zur Krone gestanden. Seine Sympathien seien weder norwegisch noch schwedisch noch deutsch, sondern, wenn auch kaum bewußt, englisch: »Der Jütländer stand stets vaterlandslos in Dänemark.« Und wenn die dänischen Inseln einst in Deutschland aufgehen würden, dann werde der Jüte auswandern und sich auf – englischem Gebiete niederlassen.

Vom Standpunkte der jütländischen Vaterlandslosigkeit« hat Johannes V. Jensen in Dänemark die sogenannte »jütländische Bewegung« entfesselt. Man hat darunter eine bestimmte, von jütländischen Schriftstellern eingeschlagene Literaturrichtung zu verstehen. Im Anschluß an seine Theorie des Gotentums behauptet das Oberhaupt allerdings, daß diese Richtung weder ausschließlich literarisch noch jütländisch sei, sondern daß es sich um eine universelle Geistesrichtung handle: um die Erweiterung des Provinzbegriffes Jütland, bis er sämtliche gotischen Völker umfasse. »Mit der jütländischen Bewegung tritt Dänemark in das Kulturniveau ein, das für die ganze Welt gilt, historisch, politisch und literarisch.« Dänemarks Geschichte hätte 1534, als der Bauernstand aus der Herrscherkaste in die der Sklaven sank, ein Ende gehabt. Dänemarks Geschichte sei zum Lande hinaus gewandert und sei in England, Amerika, Australien zu suchen – »insofern als die Geschichte jedes aufgeklärten Menschen die Geschichte seiner Rasse ist ... Die Geschichte unserer Rasse verzweigt sich auch über Deutschland, teilweise über Rußland, Finnland, Frankreich, Italien, Spanien, Afrika, Indien, kurz: über die ganze zivilisierte Welt ... Dänemarks Geschichte ist im Auslande wiederauferstanden ... draußen in der Welt hat die Rasse die große Demokratie etabliert, die nicht nach geographischen Grenzen fragt ... Die jugendfrische amerikanische Republik, die eine Bauernkultur im Großen ist, ein auf der Selbständigkeit jedes einzelnen ruhender Eisenstaat, das gewöhnliche Volk im Blütestand, fügt sich als ein echtes Glied in unsere gesamte Geschichte ein ... Unsere ›Kirchspielgeschichte‹ läßt sich also zur Universalgeschichte der Völker erweitern ...« Politisch gesehen sei die jütländische Bewegung insofern universell, als sie demokratisch sei; und literarisch sei sie es insofern, als sie mit mächtigem Naturgefühl die Instinkte der Rasse behandele, eine Freistatt der Urtriebe sei und die heidnische Majestät der Volksseele stets hinter aller Konvention und Erziehung hervorschimmern lasse.

Für diese Art Poesie findet der Dichter zum Teil noch seinen Stoff bei dem jütländischen Bauernadel, den erbeingesessenen, alten Bauerngeschlechtern auf den einsamen, entlegenen Höfen, wo man zäh an den primitiven Sitten und Gebräuchen der Vorväter hängt, wo dunkler Abenteuerdrang und die eine oder andere Form nordischen Berserkertums oder grotesker Größe sich den Ausgleichungsversuchen moderner Zivilisation entziehen. Den ersten vollständigen, künstlerischen Ausdruck hat diese Welt und dieses Leben in Jensens »Himmerlandsgeschichten« gefunden, einer Sammlung von vierundzwanzig Erzählungen, die in der Heimat des Dichters einen größeren Erfolg als alle seine anderen Werke gehabt haben. Erdgeruch steigt auf aus diesem Lande der Dichterphantasie, die Kindheitserinnerungen, ethnographische und volksgeschichtliche Aperçus treffend und kunstvoll verwertet und über die alltäglichen Gewohnheiten, die rohen, plumpen Sitten, die Unbehilflichkeit, Verschlossenheit und Verschlagenheit der Bauern einen Schimmer der Poesie ausgießt. Das alte Kriegertum der nordischen Völker, ihre Mischung von Trotz und Empfindlichkeit, Gebundenheit und Gewaltsamkeit, ihr heroisches Selbstgefühl und ihre verhaltene Glut, ihr angeborener Lebensernst und ihre sich fast nur komisch äußernde Sorglosigkeit, ihre naive Verschmitztheit und ihre Lebenstüchtigkeit, ihre seelische Verschlossenheit und ihre Leidensgröße, ihr Wandertrieb und ihr Einsamkeitsgefühl – alles schließt sich hier zusammen auf jenem Untergrunde des Gotentums, auf dem Jensens gesammtes Schaffen ruht.

Christiania (Norwegen)
Mens
September 1907


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