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Es war ein großes Familienfest in Estland: das fünfzigjährige Doktorjubiläum von meinem Onkel Hermann in Weißenstein, und von nah und fern war Verwandtschaft und Freundschaft herbeigeströmt, um diesen seltenen Ehrentag unseres geliebten Familienoberhauptes zu feiern. Auch ich war zu diesem Fest gefahren in Begleitung einer lebensfrohen Tante. Es war das erstemal, daß ich ohne die schützenden Flügel meiner Mutter als selbständiger Mensch in die Welt hinausfuhr, achtzehnjährig, voller Erwartungen und Träume, voll Neugier aufs Leben, das mit seinen Wundern auf mich wartete, das Herz voller Freude und die Seele voller Lieder.
Man sah viele Verwandte wieder und lernte neue kennen, begrüßte jubelnd alte Freunde; ich wurde auch so manchem vorgestellt, dessen Namen ich von meinen Eltern aus früherer Zeit hatte nennen hören, und alte Fäden wurden neu geknüpft, neue gesponnen.
Zu diesem Fest war's, wo ich einen Vetter kennen lernte, dessen Namen ich oft und immer mit großer Begeisterung hatte nennen hören, der mir aber bisher noch nicht begegnet war: es war Vetter Theodor, der Pastor aus Theal, der mein junges Herz im Sturm gewann. Er war damals ungefähr Ende der Dreißig, muß mir aber so gewaltig imponiert haben, daß ich ihn zuerst voller Respekt Onkel nannte, was er sich bald energisch verbat. Ich setzte ihn sofort auf den Thron meines Herzens und erklärte ihn für das Ideal eines Mannes. Von hinreißender Lebendigkeit, drastischem Witz, übersprudelndem Humor und großer, scharfer Klugheit war er überall der Mittelpunkt, und das Lachen hörte in seiner Nähe nicht auf. Dabei strömte sein ganzes Wesen so viel Wärme, Liebe und Herzlichkeit aus, daß ein Gefühl starker Zugehörigkeit mich sofort in seinen Bann zog. Er verstand es, mein Zutrauen zu erwerben, denn neben dem sprudelnden Übermut ging ein tiefer Ernst, eine unendliche Begeisterungsfähigkeit für alles Große und Schöne.
»Es ist ein Jammer, daß meine Frau nicht hier sein kann,« sagte er immer wieder, »du müßtest sie kennenlernen! Mit ihr wäre das Fest noch viel schöner gewesen, denn sie hat ein goldenes Herz und ist sehr fröhlich, aber die vielen kleinen Kinder ließen sie nicht fort.«
Zum Abschied mußte ich versprechen, ihn auf der Heimreise auf seinem Pastorat zu besuchen.
»Und wenn es nur ein Tag ist, den ihr bei uns bleibt,« sagte er, »wär's ein Freudentag für unser ganzes Haus. Es ist nur ein kleiner Umweg, den ihr zu machen habt,« fügte er überredend hinzu, »versprich es mir!«
Meine Tante und mein Bruder, mit denen ich die Heimreise machen sollte, waren bald gewonnen, und es wurde ein Wiedersehen in Theal fest abgemacht.
Damals gab es noch keine Eisenbahn in Livland, und man machte die Hunderte von Werst durchs Land mit der Post. Mein Bruder, der wieder nach Dorpat zu seinem Studium zurückgekehrt war, wurde von meiner Tante und mir abgeholt, denn die Weihnachtsferien standen vor der Tür.
Einige Tage dort ließen uns diese kleine Universitätsstadt in ihrem ganzen Zauber kennen lernen. In jedem Balten weckte der Name »Dorpat« die Vorstellung von so viel Freude, Schönheit und Lustigkeit, daß jedes Herz, ob jung, ob alt, bei seinem Klange höher schlug. Schon von unserem Großvater her, dessen alte Augen sich mit jungem Feuer füllten, wenn er von seinen Studentenjahren dort sprach, war diese Stadt für uns etwas Besonderes. Und erst, wenn Onkel Hermann von ihr erzählte! Er sagte nie anders als »mein Dorpat«.
Aus jungem Herzen genoß ich die Herrlichkeiten der Universitätsstadt und alles, was ich von dem Leben dort geträumt, war schönste Erfüllung geworden. Die ganze Schönheit dieses Städtchens, hoch am Embach gelegen, kommt ja wohl erst im Sommer zur Geltung. Die Stadt ist voll blühender Gärten und die ehrwürdigen Ruinen des alten Bischofsdomes blicken durch dichte Laubbäume über wundervoll gepflegte Anlagen weit ins Land hinein.
Aber das studentische Leben, das für die Stadt so sehr charakteristisch ist, steht gerade im Winter auf seiner Höhe. So genossen wir dieses denn auch in vollen Zügen. Wir lernten alles kennen: Kaffees auf Studentenburgen, Besuche in den Konventsquartieren der Korporationen, besichtigten die Universität und genossen interessante Gesellschaften in Professorenhäusern, wo kluge, junge Privatdozenten einen zu Tisch führten und über philosophische Fragen redeten, als ob man ganz erwachsen wäre. Und überall gab es ein Ehrengeleit von bekannten und unbekannten Studenten, das auf jedem Gang lawinenartig anschwoll.
Zuletzt gab es eine große Wettfahrt in verschiedenen Schlitten auf dem Embach, von den Studenten »Krassatenfahrt« genannt. Ich bin nie in meinem Leben so schnell gefahren wie damals, und das Ziel dieser rasenden Jagd war ein Krug, einsam am Ufer des Flusses gelegen. Dort stieg man aus, ließ in der Krugstube ein riesiges Feuer anzünden und aß »Goggelmoggel«, mit Zucker gerührtes Eigelb, das in großen Lehmschüsseln mit Holzlöffeln von den Studenten zu einem herrlichen Schaum verarbeitet wurde. Nie habe ich so viel »Goggelmoggel« beisammen gesehen und nie so viel davon gegessen wie damals.
Am Abend war man in irgendeiner befreundeten Familie beisammen mit allen bekannten oder verwandten Studenten, denn die Gastfreundschaft in Dorpat war großartig, namentlich für die Studenten, die in ihren Bekanntenhäusern eigentlich zu jeder Tageszeit Zutritt hatten. Dort machte man Musik, las miteinander und spielte geistreiche Schreibspielchen, manchmal wurde auch ein wenig getanzt.
Nun hatte das alles ein Ende, und die Postpferde standen vor der Tür, als wir beim letzten Morgenkaffee saßen. Bis zur Unkenntlichkeit verpackt, so daß man sich kaum fortbewegen konnte, wurden wir in den Schlitten gesetzt und fuhren in den eisigen Wintertag hinaus. Beim Ausgang der Stadt an einer Straßenecke hatten sich Studenten aufgestellt und sangen ein Abschiedslied, das ihnen beinahe in der Kehle einfror. Wir konnten, von unseren Hüllen fast erstickt, ihnen kaum einen vernehmlichen Dank und Abschiedsgruß zurufen.
Vor uns lag die funkelnde Schneewelt, durch die wir einen ganzen Tag fahren sollten. Zum Glück gab es immer einen Aufenthalt beim Pferde- und Schlittenwechsel; man stieg auf den Poststationen aus, trank heißen Tee, erwärmte seine erfrorenen Gliedmaßen an den glühenden Öfen und bestieg dann wieder den Postschlitten, um mutig seine Fahrt in die eisige Winterwelt hinein von neuem zu wagen.
Endlich war die letzte Station vor Theal erreicht – Gott sei Dank, denn auf die Dauer wollte uns ein wenig der Frohsinn vergehen, es war doch eine recht beschwerliche Reise. Nur noch zwei Stunden, dann gab es ein schönes Ausruhen im lieben Verwandtenpastorat. Unterdessen war es dunkel geworden, der kurze nordische Wintertag war zu Ende; träge und langsam bahnten sich die Pferde den Weg durch den tiefen Schnee der Landstraße, die Schlittenglöcklein, die den Tag über in der Sonne so lustig geläutet hatten, klangen eintönig und traurig. Der Postknecht auf dem Kutschbock schwankte hin und her: »Er ist betrunken,« sagte mein Bruder, der Student, sachverständig, »aber die Pferde wissen den Weg auch ohne ihn, wir können ganz ruhig sein.«
Meine alte Tante, die nur Mut hatte, wenn die Sonne schien, fing an sich zu fürchten und weinte leise. Dazwischen donnerte mein Bruder mit einem estnischen Fluch auf den »Postkerl« los, was diesen jedesmal belebte und zu einer etwas rascheren Fahrt veranlaßte, aber trotzdem verging Stunde um Stunde, und wir hätten längst in Theal sein müssen! Es hatte angefangen zu schneien, in dichten Flocken fiel der Schnee vom Himmel, verhüllte den Weg und machte den Schlitten und uns zu einem fahrenden Schneeberg. Nirgendwo ein Haus, nirgendwo ein Licht, keine Spur von Weg mehr zu sehen. Plötzlich bleiben die Pferde stehen, der »Postkerl« klettert vom Bock und legt sich friedlich in den Schnee zum Schlafen hin.
»Jetzt muß er geprügelt werden,« sagte mein Bruder, dem solche Fahrten nicht unbekannt waren. Er kletterte aus dem Schlitten, ergriff die Peitsche und schlug mit ihr erbarmungslos auf den im Schnee liegenden Kutscher los. Bis ihm die Schläge durch seinen dicken Pelz fühlbar wurden, dauerte es; aber als mein Bruder den Peitschenstiel zu Hilfe nahm, erwachte der Mensch, richtete sich auf, aß Schnee, erkletterte schimpfend und fluchend seinen Kutschbock, nahm die Peitsche in die Hand, hieb auf die Pferde ein – mein Bruder hatte kaum Zeit, sich in den Schlitten zu werfen – und in schnellem Trabe, von seinem sicheren Zügel geleitet, ohne Weg und Steg, fuhren wir in die Dunkelheit hinein.
Plötzlich hielten wir vor einem hellerleuchteten Hause, es war das Pastorat. In der geöffneten Tür stand mein Vetter, der Pastor, eine helle Lampe in der Hand haltend, und seine fröhliche, warme Stimme rief uns ein »Willkommen« über das andere zu. Geschäftige Dienstbotenhände halfen uns aus dem Schlitten, schüttelten uns den Schnee aus den Pelzen, führten uns die Stufen zur Veranda empor. Bald erschien auch meine Cousine, die wir noch nicht kannten, ein Bild der Güte und Behaglichkeit, im grauen, schlichten Kleide, mit schwarzem Spitzenhäubchen.
Wir konnten zuerst kaum sprechen, so erstarrt waren wir vor Kälte, Müdigkeit und Angst. Sie hatten uns schon seit Stunden erwartet und waren in großer Sorge gewesen. Aber nun saßen wir geborgen im gemütlichen, schlicht eingerichteten Speisezimmer am runden Tisch. Eine große Kanne heißer Milch hatte uns ein wenig aufgetaut, mehr noch tat das die Sonne der Liebe und Freude, die uns umstrahlte.
»Nun aber zu Bett,« kommandierte der Vetter, »damit ihr morgen wieder frisch seid!«
Wir wurden in die Fremdenzimmer geführt und sanken bald, in den weichen Federpfühlen fast vergraben, in einen totenähnlichen Schlaf.
Trippelnde kleine Füße und fröhliche Kinderstimmen weckten uns am Morgen, und auf den warmen Zuruf meiner Cousine hinter der Tür, ob wir schon ausgeschlafen hätten, erhoben wir uns schnell, um vom kostbaren Tage nicht zuviel zu verlieren.
Bald saßen wir am Kaffeetisch, die Sonne schien hell ins Zimmer, aus dem breiten Fenster sah man auf die gegenüberliegende Kirche. Herrlich schmeckte der Kaffee und das frischgebackene Brot. Nun erschienen auch die Kinder, acht an der Zahl, um uns zu begrüßen.
Immer wieder kam mein Vetter eilig aus dem Studierzimmer, immer mit einem Scherz auf den Lippen. Er hatte eine überwältigende Komik und einen drastischen Humor, der von niemand so genossen wurde wie von seiner fröhlichen, warmherzigen Frau.
»Ich war klug,« sagte er, »als ich diese Frau wählte; wenn sie dabei ist, weiß ich, daß ein Witz von mir nicht durchfallen kann, denn eines Lachers bin ich sicher, und zum Glück hat sie ein Lachen, das ansteckt.«
Dann besahen wir nach baltischer Sitte das ganze Haus, es war altmodisch, niedrig, mit Streckbalken an der Decke, die breiten Fensterbretter standen voller Blumen. Schlicht und einfach waren die Zimmer eingerichtet mit alten, gebrauchten Möbeln, aber von den alten Lehnstühlen und den schweren Sofas ging eine Ruhe und ein Behagen aus, daß man immer wieder dachte: hier möchte ich nicht so bald wieder fort.
Im Kinderzimmer herrschte die Kindermagd Wijo, die ihr Haar mit Butter einölte. Sie feierte später ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum im Hause, wo sie das Gnadenbrot bis zuletzt aß.
Die große landsche Küche mit ihrem riesigen Herd war bevölkert von Dienstboten, Armen, die ihre festen Tage hatten, und solchen, die das Gnadenbrot aßen und dafür Kartoffeln schälten. Waren die Einnahmen des Pastorats auch klein, groß war die Liebe und Herzlichkeit, die darin herrschte, und die immer noch für andere etwas übrig hatte.
Wie im Fluge ging der Tag hin. Am Abend, als die Kinder alle schlafen gegangen waren und die geplagte Mutter und Hausfrau etwas aufatmen konnte, saßen wir im Studierzimmer meines Vetters, der uns mit einem Punsch und weihnachtlichen Pfefferkuchen erwartete. In fröhlichen und ernsten Gesprächen flogen die Stunden, und als uns endlich die Mitternacht auseinandertrieb und wir in die Betten gehen mußten, fühlten wir, daß wir zueinander gehörten. War unsere Verwandtschaft auch durchaus keine nahe, so hatten doch einst unsere Großväter als schwärmerische Studenten ihr Blut miteinander gemischt und nach alter Germanensitte Freundestreue geschworen für Kind und Kindeskind. Und diese Treue haben wir einander gehalten.
Am anderen Morgen mußten wir weiter; im Pastoratsschlitten ging es bis zur nächsten Poststation, drei Pferde langgespannt, um leichter durch den tiefen Schnee zu kommen. Und so fuhren wir mit fröhlich läutenden Glöckchen wieder in den Winterschnee hinaus. Wir hatten das feste Versprechen beim Abschied geben müssen, sobald es möglich wäre, im Sommer wiederzukommen.
Wir haben unser Versprechen gehalten: diesem ersten Besuche in Theal in Winterschnee und Kälte sind noch viele gefolgt, sowohl im Frühling als auch im Sommer. Ich sah die Kinder heranwachsen; bei einem Besuch fand ich die Bettchen der zwei kleinen Mädchen leer: der Tod war im Hause eingekehrt. Wir schmückten ihre kleinen Gräber auf dem Friedhof, der mitten in den Feldern und Wiesen lag. Ein Sohn war noch geboren, ein kleiner, drolliger Kerl, der von der ganzen Familie erzogen und verzogen wurde. Das Haar der Eltern war grau geworden unter mancherlei Sorgen, aber warm war die Liebe und hell die Fröhlichkeit, die in diesem Hause das Szepter führten. Und das Schönste war das Eheglück des alten Pastorenpaares, das mit den Jahren immer tiefer und schöner wurde. An dieser Liebe und diesem Glück wärmte sich jeder, der über die Schwelle des Hauses trat.
Meine Cousine war kränklich geworden, sie litt unter quälender Schlaflosigkeit, aber davon durfte keiner etwas merken. Wenn sie am Morgen aus ihrem Zimmer trat, eine Blume vorgesteckt hatte und fröhlich einen Ausflug in den Wald vorschlug, sahen sich die Kinder oft bedeutungsvoll an:
»Heute hat Mutter eine schwere Nacht gehabt,« sagten sie leise untereinander, »aber sie soll nicht merken, daß wir es wissen.«
Das weiße Haus lag friedlich unter seinen dichten Bäumen inmitten eines großen Gartens, eine Riesenlinde breitete ihre Zweige über die Veranda, und der Garten barg Blumen und Beeren in Fülle. Immer gab es Gäste im Hause, wunderliche Pensionäre, die die oft leere Kasse des Pastors ein wenig füllen sollten, und deren Sonderbarkeiten von der fröhlichen Familie mit Humor getragen wurden.
Die Kinder waren bis auf den Jüngsten erwachsen und mehrere von ihnen standen schon im Beruf, da kam ein Brief, der mir die Verlobung der einzigen Tochter meldete. Sie war immer mein besonderer Liebling gewesen: ihre große Fröhlichkeit, ihre feine Klugheit machten das Zusammensein mit ihr zu einer Freude. In meinem Hause hatte sie ihren Verlobten kennen gelernt, und nach kurzer Brautzeit sollte zu Ende des Sommers die Hochzeit stattfinden. In die Freude über ihr Glück mischte sich ein bitterer Tropfen, denn ihr Verlobter war Missionar, und sie sollte ihm nach Afrika folgen, was uns eine Trennung fürs Leben schien.
Die Hochzeit soll in großem Kreise von Verwandtschaft und Freundschaft gefeiert werden. Ich bin eine der ersten Gäste und sehe sie alle ankommen, mit Jubel wird jeder Wagen empfangen. Es kommen Verwandte und Freunde, die man seit Jahren nicht gesehen hat, und das Haus ist bis an den Rand gefüllt; die männliche Jugend schläft im Nebenhause im großen Konfirmandensaal.
Es sind goldene Spätsommertage, und eine Herbstklarheit liegt schon in der Luft. Die Blumen im Garten sind von einer wunderbaren Farbenpracht und voll leuchtender Schönheit. Unter der alten Linde vor der Verandatreppe sitzen die Gäste; Lachen, Frohsinn und Gesang schallen durch Haus und Garten. Fast alle Brüder sind aus nah und fern gekommen, um den Ehrentag der Schwester mitzufeiern.
In all dem Sturm und Übermut geht die kleine, blasse Braut still ihrer Wege, ihr Gesicht ist hell, und ein tiefes, herrliches Glück erfüllt sie ganz. Der Bräutigam ist hochgewachsen, blond und hat klare, blaue Augen; ein Mann, auf den das Herz seiner Frau sich verlassen kann für Lebenszeit. Die Eltern wissen ihr liebes Kind wohlgeborgen in seiner Hut.
Der Hochzeitsmorgen ist angebrochen, er scheint uns sonniger und klarer als die Tage vorher. Am Vormittag haben wir uns alle auf der Verandatreppe versammelt, der Brautkranz soll gewunden werden. Inmitten ihrer Freundinnen sitzt die Braut, ihr Schoß ist voller Myrtenzweige; eine der Brautschwestern windet den Kranz, und sie reicht ihr ein Zweiglein nach dem anderen hin. Erst herrscht tiefe, ehrfurchtsvolle Stille, dann stimme ich das alte Lied an: »Wir winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide«. Der ganze Chor fällt ein, und wir singen Vers auf Vers, bis der Kranz fertig ist.
Vater und Mutter stehen Hand in Hand in der Tür und sehen aufs liebliche Bild vor ihnen, Freude liegt auf ihren lieben Gesichtern.
Der Kranz ist beendet, die Freundin setzt ihn der jungen Braut leicht auf den blonden Scheitel. Sie beugt tief ihr Haupt wie in Demut vor dem Großen, das sie erleben soll.
Es ist Nachmittag, die Glocken der kleinen Landkirche läuten, die Schar der Gäste wartet auf der Veranda und vor dem Hause. Der ganze Weg, vom Pastorat bis zur Kirche, ist mit Blumen bestreut.
Da tritt die geschmückte Braut an der Hand ihres Verlobten aus der Haustür, sie geht langsam die Stufen hinab, gefolgt von ihren Brautjungfern und Marschällen. Der Vater wird sie trauen; er stellt sich an die Spitze des Zuges, tiefe Bewegung liegt auf seinem klugen, gütigen Gesicht. Viele Gemeindeglieder sind erschienen und säumen den Weg, an dem der Hochzeitszug vorübergeht.
Nun ist die Kirche erreicht: Die Türen sind weit offen, Orgelklänge vermischen sich mit dem Läuten der Glocken; sie stehen am Altar, und der Pastor spricht zu seinem Kinde in der größten Stunde ihres Lebens, er weiß: wo sie hinkommt, wird sie ein Segen sein.
Der Pastor und seine Frau sind alt und müde geworden, er hat sein Amt in die Hände seines zweiten Sohnes gelegt und ist mit seiner Frau in die benachbarte Universitätsstadt gezogen, und nur der Sommer findet sie wieder im Pastorat, das gar still geworden ist, denn der junge Pastor ist ein Einsamer. Das fröhliche Getriebe von Feriengästen ist nicht mehr so groß wie früher, er lebt nur für seine Gemeinde und sein Amt, die Freude seines Herzens aber ist sein Garten.
Die erste lettische Revolution 1905 machte ihren Vernichtungszug durch unser Land, fast alle Deutschen sind in die Stadt geflohen, nur die Pastoren und Doktoren sind auf ihren Posten geblieben. Das Grausen liegt über dem einsamen Pastorat Theal, aber nebenher geht ein stiller Mut und tapfere Ergebung, die bereit ist zu leiden. Mordende und zerstörende Banden ziehen durchs Land, manch ein Pastor hat seine Amtstreue mit einem Martyrium besiegelt.
Ein Bruder des Pastors in Theal lebt bei ihm. Es ist Abend, der Pastor ist in seinem Studierzimmer, da steht der Bruder vor ihm.
»Sie sind da,« sagt er, »wir müssen fliehen!«
Man hört die Bande toben, sie hat das Haus umzingelt, nur eine Hintertür ist noch frei, durch die kommen die Flüchtenden ungehindert ins Freie. Sie laufen durch den tiefen Schnee der Felder zum Doktorat, wo sie bereitwillig aufgenommen werden; aber die Bande ist auf ihrer Spur und folgt ihnen.
Sie haben das Doktorat umstellt. Vor jeder Tür stehen Wächter, keiner kann ungesehen das Haus verlassen. Einige von den Mordgesellen sind zu Pferde, sie haben Laternen und Hunde bei sich. Der Doktor ist mutig unter sie getreten und verhandelte mit den Haßerfüllten.
»Was hat der Pastor euch getan?«
»Er muß sterben!« ist die Antwort.
Der Doktor kann den Freund nicht mehr retten, die Bande nicht mehr aufhalten, die Leute dringen ins Haus. Der Pastor und sein Bruder aber haben bereits das Doktorat verlassen, durch die Küchentür mitten durch die aufgestellten Wachen gehen sie in die finstere Nacht hinaus, keiner hat sie angerührt, keiner hat gewagt, sie aufzuhalten. Nachher erzählen die Wächter voller Staunen über sich selbst:
»Wir wollten rufen, aber es war, als hielte uns jemand den Mund zu; wir wollten den Pastor greifen, aber unsere Arme waren wie gelähmt!«
So wanderten die beiden Brüder in das Dunkel hinaus, die ganze Nacht hielten sie sich im Walde verborgen, bis der Morgen kam und sie ihren Weg zur Eisenbahnstation fanden, wo der Zug sie wohlbehalten in die Nachbarstadt brachte, sie waren fürs erste gerettet! –
Weihnachten war vor der Tür, von der geistlichen Behörde war die Weisung an die geflohenen Pastoren gekommen, sie sollten zum Fest wieder zurück ins Amt. Auch der Thealsche Pastor folgte diesem Ruf; die alten, treuen Leute hatten das Pastorat behütet, es war dort nichts zerstört, nichts geraubt worden. Wohl waren die Zeiten noch unsicher, aber er nahm seine Arbeit an der Gemeinde wieder auf, oft unter Lebensgefahr. Doch traf ihn keine Kugel aus dem Versteck auf seinen langen Amtsfahrten, und manch ein böser Anschlag konnte, wie durch ein Wunder, nicht ausgeführt werden.
Auf einer Amtsfahrt zur Filialkirche hatte eine Bande sich am Wege versteckt, sie kannten die Stunde, um die er zum Gottesdienst vorüberfahren mußte – dort lauerten sie ihm mit einem Sack auf, in den er gesteckt und dann ertränkt werden sollte. Doch wie durch eine Ahnung geschützt, war er schon am Abend vorher den Weg gefahren; sie hatten vergebens auf ihn gewartet.
Es war zuletzt fast wie eine abergläubische Furcht über die Bösen gekommen: dem Pastor kann man nichts anhaben, den schützt der Teufel. –
Das Land hat sich beruhigt, es herrscht wieder Frieden und Sicherheit.
Es ist Weihnachtszeit, der Schnee liegt hoch ums stille Haus, da komme ich zu den Weihnachtsferien mit drei jungen Künstlern ins Pastorat; es sind ein Sänger und zwei Sängerinnen, die bei mir ihre Konzertprogramme studieren. Wir wollen uns von dem stürmischen Künstlerleben, das uns in Riga umfängt, für einige Wochen in die Stille retten. Sie sind alle drei aus fernen Ländern gekommen, und es ist eine fremde Welt, in die ich sie führe. Voll stummen Staunens fahren sie, im Schlitten warm verpackt, durch das große Schweigen unserer Winterwelt.
Wir halten vor der Verandatreppe des Pastorats, der Pastor steht in der Tür, die Lampe in der hocherhobenen Hand, und heißt uns willkommen. Ganz so war es vor vielen Jahren, als ich zum erstenmal, auch in Winterschnee und Kälte, dieses Haus betrat. Nur daß es sein Vater war, der uns willkommen hieß, und daß ich damals achtzehn Jahre alt war und voll Staunen den Wundern des Lebens gegenüberstand, die eben anfingen, sich mir zu enthüllen.
Aber meine jungen Freunde lassen mich nicht zu lange in der Erinnerung an alte Zeiten verweilen, für sie ist die Gegenwart da, sie nehmen von ihr Besitz, und sie haben recht.
Tage voll Fröhlichkeit und doch voll unendlichen Friedens folgen. Die drei jungen Menschen erfüllen das ganze Haus mit ihrem lachenden Leben, und der Pastor sieht ihnen beglückt zu.
Weite Spaziergänge in die verschneite Winterwelt bei blankem Frost in der hellen Wintersonne werden gemacht.
Manchmal läßt der Pastor zwei Pferde vor einen breiten Schlitten spannen – unförmig verpackt fahren wir stundenlang durch den verschneiten Wald. Tief gebückt stehen die Tannen unter ihrer Schneelast, kein Menschenfuß ist auf den einsamen Waldwegen sichtbar, hier und da erblickt man eine Hasenspur, die sich im weiten Walde verliert. Ringsum ein großes Schweigen, das nur durch das Klingen unseres Schlittenglöckleins unterbrochen wird.
Dann wieder befindet sich die ganze junge Gesellschaft in der Küche und lernt estnische Wörter von den lachenden und jubelnden Dienstboten, die sich gar nicht vor Entzücken zu lassen wissen, wie drollig ihre Sprache von englischen und süddeutschen Lippen klingt.
Oder wir sitzen im Speisezimmer auf dem breiten Fenstertritt, plaudern und lesen miteinander. Der Blick aus dem Fenster geht auf die gegenüberliegende Kirche, im Ofen brennt ein mächtiges Feuer, und aus der Küche hört man die Stimmen der Leute.
Abends wird gesungen, die Türen zum Arbeitszimmer des Pastors stehen weit offen, die jungen Menschenstimmen klingen in seine Weihnachtspredigten hinein und bringen Schönheit und Licht in sein einsames, stilles Leben.
Nun wird der Weihnachtsbaum aus dem Walde geholt, er steht mitten im Wohnzimmer, wir schmücken ihn mit roten Äpfeln und goldenen Nüssen und singen dazu Weihnachtslieder. Den Pastor hält es nicht allein in seinem Studierzimmer, immer wieder kommt er von seiner Arbeit, steht in der Tür, sieht uns lächelnd zu und geht dann wieder an seinen Schreibtisch.
Als die Weihnachtszeit vorüber ist und wir fortmüssen, versinkt das Pastorat wieder in seinen Winterschlaf. Der Pastor geht abends durch seine stillgewordenen Zimmer, wo man nur die Uhr ticken und das Feuer im Ofen knistern hört. Ein Mistelzweig über der Speisezimmertür erzählt allein noch von den fröhlichen Weihnachtstagen.
Er ist ein Schweigsamer, in sich Versponnener, aber seine Seele ist reich und voller Sehnsucht nach Freude und Schönheit, voller Begeisterungsfähigkeit und selbstloser Hilfsbereitschaft und tut sich weit und dankbar auf, wenn die Sonne in sein Leben strahlt. Sein mitleidiges Herz versteht die heimliche Not und die stumme Klage der Menschen, die in seine Nähe kommen, und er hilft, wo er kann. Mir ist es oft schmerzlich, daß sein Leben so einsam ist, daß keine Frau mit sorgender Liebe ihm zur Seite steht, daß kein fröhliches Kinderlachen durch die weiten Zimmer des Pastorats klingt, und ich fürchte immer, daß er ein Sonderling werden und manches in ihm verkümmern könnte.
Es ist Frühling, das Pfingstfest steht vor der Tür. Ich habe eine Konzertreise zum Besten des Deutschen Vereins mit zweien meiner Schülerinnen unternommen: Elschen und Lia. Es geht von einer kleinen Stadt in die andere, überall werden wir mit Freuden empfangen, die Konzertsäle sind gefüllt, der Beifall ist stürmisch. Es ist etwas Sonniges, Fröhliches, was die beiden ganz jungen Sängerinnen umgibt. Sie gewinnen die Herzen ihrer Zuhörer schon von vornherein, sobald sie nur mit ihren blonden Lockenköpfen und den lustigen Augen in ihren weißen Kleidern auf dem Podium erscheinen, richtige Singvögel und die Verkörperung des Gedichts:
»O Jugend, du schöne Rosenzeit.«
Unser Begleiter und Impresario ist mein Neffe Arnold.
Das letzte Konzert findet vor ausverkauftem Hause statt. In der ersten Pause wird die Tür zum Künstlerzimmer stürmisch geöffnet, und völlig unerwartet steht mein Neffe, der Thealsche Pastor, vor uns. Er hat die weite Fahrt gemacht, um das Konzert zu hören; der Stille ist ganz aufgeregt:
»Ihr müßt morgen mit mir nach Theal kommen,« sprudelt er heraus, »und Pfingsten feiern wir zusammen!«
Mit Freuden sagen wir zu. Am anderen Morgen steht ein großer, grüner Postwagen vor unserer Tür, aus dem der Pastor freudestrahlend steigt, um uns abzuholen. Unsere Sachen werden verpackt, vorsorglich übergibt er mir einen Speisepaudel, der mit Butterbroten und Konfekt für die lange Landfahrt gefüllt ist, und wir machen uns auf den Weg.
Die Luft ist warm und voller Lerchensingen, die Bäume sind in zartgrüne Schleier gehüllt, die Wiesen sind noch grau, aber um die Wassertümpel sprießt schon junges Gras. Die Weiden blühen, und im Walde sind die Anemonen da.
Ein Glück, daß kein Konzert mehr vor uns liegt; ich glaube, meine beiden Sängerinnen hätten keine Stimme mehr gehabt, soviel wird unterwegs gelacht und geschwatzt. Nach mehrstündiger Fahrt sehen wir den Kirchturm von Theal vor uns auftauchen, und bald hält der Wagen vor dem Pastorat.
Still liegt das weiße Haus da, die alte Linde breitet ihre knospenden Zweige über die Verandatreppe. Ganz aufgeregt erscheint die Magd in der Tür, sie hat keine Ahnung davon gehabt, daß der Pastor Gäste mitbringen würde.
Die Jugend nimmt fröhlichen Besitz vom ganzen Hause; das Pastorat liegt noch im Winterschlaf, man weiß nichts vom Frühling draußen, in einigen Stunden hat es ein ganz anderes Gesicht, denn der Pastor hat uns volle Freiheit zum Handeln gegeben. Diese Erlaubnis wird sofort ausgenutzt: die Fenster, die noch vom Winter her mit festen Doppelfenstern versehen sind, werden geöffnet, Frühlingssonne, Duft, Vogelsingen strömen in die winterlichen Zimmer.
Durch Erbschaft sind schöne, wertvolle Möbel ins alte Haus gekommen, die werden geschoben und gerückt, bis die Zimmer ein ganz anderes Aussehen bekommen. Nun stürmt man in den Garten und holt knospende Frühlingszweige, die werden in Vasen gestellt, auf jeden Tisch kommt ein Frühlingsstrauß. Der Pastor, der ein leidenschaftlicher Blumenfreund ist, hat eine große Rosenzucht, da blüht schon mancherlei, wir stellen die Rosen in die tiefen Fensternischen.
»Wenn wir fort sind, können Sie wieder alles umstellen, Herr Pastor,« sagen die jungen Mädchen.
Der Pastor lächelt: »Ich glaube, es wird so bleiben.«
Wieder klingt durchs Haus Lachen und Jubel von jungen Menschenstimmen, wie es damals zu Weihnachten vor Jahren war. Abends wird gesungen, denn der alte Flügel ist noch immer da; sein Ton ist noch ein wenig dünner geworden, und die Stimmung will nicht mehr so recht halten, darauf wird aber wenig geachtet. Duette, Soli werden gesungen, aber das schönste bleibt doch das Duett aus »Athalia«, das immer wieder vorgetragen werden muß:
»O wie selig ist das Kind,
Das der Herr in Schutz genommen.«
Ich kann mir dieses Duett gar nicht schöner denken, als von diesen süßen, hohen Sopranstimmen und den unschuldigen Kinderseelen gesungen.
Bis spät in die Nacht hinein sitzen wir auf den Stufen der Verandatreppe, es ist eine helle, nordische Frühlingsnacht, der Himmel ist voller Klarheit, ein Duft von feuchter Erde, Knospen und frischem Gras, von blühenden Weiden und Kalmus liegt zart in der Luft. Dazu die Stille weit und breit, und Freude und Hoffnung, die der Frühling nun einmal für alte und junge Herzen in sich birgt, erfüllen uns alle.
Da fängt der Pastor an zu sprechen, der Schweigsame wird beredt, und er erzählt von sich, was er nur selten tut.
Er erzählt von seinem Leben, von schmerzlichen und schönen Erfahrungen, die er gemacht, von seiner Einsamkeit und seiner Sehnsucht nach Freude. Er geht weiter zurück und spricht von seinem Leben in Rußland in den Kolonien, von dem Frühling in der Steppe, der über Nacht die Welt mit Blüten bedeckt und mit Duft und Herrlichkeit über die Erde zieht, von den glühenden Sonnenuntergängen und der großen, unaussprechlichen Einsamkeit der Steppe, die sein kleines Pfarrdorf umgab. Jetzt ist er plötzlich der Sohn seines Vaters: seine Rede ist voll Glut und Farbenpracht; wir sehen die Bilder einer fremden Welt, eines fremden Lebens vor uns erstehen. Wir sind alle ganz still und hören ihm wie verzaubert zu, da verstummt er plötzlich, es kommt über ihn wie ein Erschrecken.
»Gute Nacht,« sagt er kurz, steigt die Verandatreppe empor und geht in sein Zimmer.
Der Pfingstgottesdienst ist beendet, wir sitzen beim festlichen Mittagessen, da sagt der Pastor:
»Wir wollen Pfingsten besonders feiern, ich habe schon dem Kutscher gesagt, nach Tisch muß er zwei Wagen anspannen, wir fahren in den Frühlingswald, machen ein Feuer und trinken dort unsern Kaffee.«
Mit großem Jubel wird diese Nachricht aufgenommen, eifrig werden nach dem Mittag die Körbe mit Eßvorräten gepackt, der Kaffee wird in Flaschen gefüllt, ein kleiner Kessel zum Wärmen, Tassen und Teller mitgenommen.
Die Wagen stehen vor der Tür, Vorräte und Menschen werden hineingepackt, und fröhlich fährt man ins frühlingshelle Land hinein.
Nun sind wir angekommen, wir schleppen die Vorräte an eine geschützte Stelle, ein Feuerchen wird angezündet, Kissen und Decken auf den noch feuchten Waldboden gebreitet, ein festlicher Kaffeetisch wird gedeckt: auf jedem Platz liegt ein kleiner Frühlingszweig.
Die Vorräte sind verzehrt, der Kaffee getrunken, aber wir wollen noch nicht heim. Der Pastor schlägt einen Spaziergang vor; in der Nähe ist ein Berg, von dem man einen wundervollen Ausblick ins weite Land hat. Unterdessen ist es Abend geworden, die Sonne wird bald untergehen. Wir haben den Aussichtsberg erreicht und setzen uns am Abhang nieder: vor uns liegt eine weite, lichte Ebene, durch die ein kleines Flüßchen still und silbern dahinzieht. Die Sonne ist noch sichtbar, hell ruhen ihre Strahlen auf der weiten Fläche, die grau und leblos, wie im Winterschlaf befangen, sich vor uns breitet. Eine tiefe Stille liegt über der Welt, hie und da nur hört man den Ruf eines verschlafenen Vogels.
Mein Neffe Arnold ist Rezitator, mitten in das Schweigen hinein fängt er an zu sprechen, es ist der »Osterspaziergang«:
»Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings milden, belebenden Blick ...«
er schließt mit dem Sonnenuntergang.
Unterdessen ist die Sonne verschwunden, von der Ebene her weht es kalt; wir erheben uns, unsere Wagen warten, wir müssen heim. Der Frühling und Goethes ewige Worte erfüllen unsere Herzen.
Wir müssen wieder an unsere Arbeit; es ist Abend, unser letzter Tag in Theal ist gewesen, wir haben Abschied genommen und fahren langsam die Landstraße dahin in die weiche Frühlingsnacht hinein.
»Hier ist das Pastoratsgebiet zu Ende,« sage ich, »nehmt nun Abschied von Theal.«
Plötzlich ruft eine Stimme aus der Dunkelheit: »Halt!« Die Pferde stehen, und eiligen Schrittes kommt eine Gestalt auf unseren Wagen zu, wir erkennen den Pastor. Er steigt auf den Wagentritt, seine Hände sind voller Rosen, alle seine Lieblinge hat er abgeschnitten und streut sie über uns.
»Gott segne Euch!« ruft er, dann springt er wieder vom Wagen und ist im Augenblick in der Dämmerung verschwunden.
Er war durch seinen Garten gelaufen, hatte dadurch ein Stück Weges abgeschnitten und uns noch einmal erreicht. Auf meine fröhliche Jugend wirkte dieser Abschied so stark, daß sie ganz stumm wurde. Die jungen Herzen fühlten mit tiefer Bewegung, wie reich ihr Leben war und daß sie durch den Reichtum ihrer Jugend und ihrer Kunst Freude in das Leben eines Einsamen gebracht hatten.
Noch einmal im Sommer füllte sich das Pastorat mit vielen Gästen. Die Mutter des Pastors war gestorben; zum letzten Mal im Sarge machte sie die Reise in die Heimat, wo sie auf dem kleinen Landfriedhof ruhen sollte. Ihr Sarg stand in ihrer alten, lieben Kirche, die meisten ihrer Kinder, viele Verwandte waren gekommen, auch die Tochter, deren Mann seinen Missionsposten in Afrika mit einer Arbeit in der Schweiz vertauscht hatte.
Langsam, unter Glockenläuten, von einer endlosen Menschenmenge gefolgt, fuhr der Wagen mit dem Sarge am alten Pastorat vorüber durch Wiesen und Felder zum Friedhof. Kein lauter Schmerz wurde hörbar, es war ein erfülltes Leben, das hier zu Grabe getragen wurde. Sie war ein schlichter Mensch gewesen, aber mit ihrem Herzen voller Liebe und Fröhlichkeit hatte sie ihren Mann unsäglich glücklich und den Kindern das Elternhaus lieb und teuer gemacht und in weite Kreise der Gemeinde durch ihre Herzensgüte Sonne hineingetragen. Viel Arbeit und Mühe war ihr Leben gewesen, nun durfte sie ausruhen, und Liebe und Dankbarkeit folgten ihr nach.
Es ist am Tage nach der Beerdigung; der alte Vater ist verschwunden, keiner weiß, wo er geblieben ist.
»Er wird wohl auf den Kirchhof gegangen sein,« meinen die Kinder.
Ich gehe zur Gartenpforte hinaus und sehe die Landstraße hinunter über die weiten, stillen Felder zum entfernten Friedhof, der mit seinen Bäumen wie eine kleine Oase mitten im flachen Lande liegt. Ich gehe ein Stückchen und setze mich wartend am Wegrande hin. Die Luft ist erfüllt vom Jubel der Lerchen, man sieht sie nicht, man hört nur ihr Lied; es wirkt so körperlos, so losgelöst vom Irdischen, »wie erlöste Seelen,« denke ich.
Da taucht in der Ferne eine Gestalt auf, es ist mein alter Vetter, der vom Grabe seiner Frau kommt. Langsam geht er über die Landstraße, ein wenig gebückt, die Hände auf dem Rücken verschränkt; scharf hebt sich seine Silhouette vom hellen Sommerhimmel ab. Wie er so daherkommt, fühle ich ganz stark die Ähnlichkeit mit meinem geliebten Onkel Hermann, dessen Neffe er ist. Es ist dieselbe gebeugte Haltung, die weißen Locken, das kluge, charakteristische Gesicht. Nun steht er vor mir und faßt still nach meiner Hand; auch in seinen Händen liegt etwas, was an unseren Onkel erinnert, und in dem Druck, mit dem er die meinen festhält. Es ruht eine große Stille über dem sonst so lebensvollen, alten Mann, ein wundervoller Friede.
»Ich war bei meiner Frau,« sagt er, »ich hatte ihr noch so viel zu sagen, für so vieles zu danken; wie reich kann Frauenliebe ein Leben machen!«
Wir gingen langsam heim.
Dann kam der Krieg mit seinem Gefolge von Revolution und dem Grausen der Bolschewikenzeit, die unser liebes Heimatland verwüstete. Viele verließen das Land für immer, zu diesen gehörte der Pastor aus Theal. Mit anderen Flüchtlingen kam auch er nach Riga, um weiter nach Deutschland ins Ungewisse hinein zu gehen. Außer einer kleinen Handtasche mit ein paar Habseligkeiten hatte er nichts mitnehmen können.
Es war Weihnachten, aber über der Stadt lag tötend das Grauen vor den drohenden Bolschewikenhorden.
»Jeder Schritt aus der Heimat ist wie ein Schritt zu meinem offenen Grabe,« sagte er mir beim Abschied.
Er ist nicht mehr wiedergekehrt; Jahre nachher besuchte er mich in Berlin, denn auch ich hatte auf lange Zeit die Heimat verlassen. Ich aber wollte heimkehren, während er seine Arbeit in Deutschland gefunden hatte.
Wir saßen im wunderschönen Heim unserer Verwandten, aber wir sahen nicht all die Schönheit und den Reichtum, die uns umgaben. Vor uns stieg das alte Pastorat auf mit seinen schlichten Zimmern, der Linde über dem Verandadach, dem Garten voll Blumen mit dem Blick aufs friedliche Kirchlein, das, von Birken umgeben, ins Land träumte.
Er erzählte von seiner Arbeit, von seiner Gemeinde, die er auch liebgewonnen hatte, dann schwiegen wir beide. Plötzlich sagte er aus diesem Schweigen heraus:
»Mir träumte vor einiger Zeit, daß ich in Theal war, und mitten im Garten kniete ich nieder und küßte die Erde der alten Heimat.«
Mir ging das Ende eines Liedes durch den Sinn:
»Der ist in tiefster Seele treu, der die Heimat so liebt wie du!«