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Linnaea

Vor mir liegen Briefe, schon vor etwa fünfzig Jahren geschrieben, aus denen es wie ein Duft aus vergangenen Zeiten steigt. Die Hand, die sie schrieb, ruht längst, aber aus den Blättern spricht eine ungewöhnliche Menschenseele so stark, als wäre sie erst eben aus meinem Leben geschieden. Es war eine seltene Menschenblüte, die früh welken und sterben mußte, von der ich jetzt erzählen will, zu fein und zart für dieses Leben. Es lag immer wie eine ungestillte Sehnsucht über ihr, die Sehnsucht einer Seele, die ihre eigentliche Heimat sucht.

Sie hieß Lina, wir aber nannten sie Linnaea nach der Linnaea borealis, der Blüte des Nordens, die ihre Lieblingsblume war. Wenn der Sommer kam, suchten wir diese gemeinsam in den Dünen am Strande. Welch ein Jubel, wenn wir sie fanden, denn sie blühte verborgen. Wir knieten auf dem Waldboden nieder und pflückten sie vorsichtig, damit wir das zarte Geranke nicht verletzten. Die blaßrosa Glöckchen hingen immer zu zweien am feinen Stiel und dufteten wunderbar nach bitteren Mandeln.

Es ist nicht leicht über Linnaea zu reden, denn sie war wie die Blume, deren Namen wir ihr gegeben hatten: man mußte sie suchen, und wenn man sie gefunden hatte, mußte man nahe zu ihr herantreten und behutsam nach ihrer Seele fassen, deren Blüte und Duft sich nicht jedem erschloß. Man mußte vorsichtig sein, daß man diese feine Natur nicht verletzte, man tat ihr leicht weh.


Ich verbringe einen Sommer am Strande bei meinen Verwandten, meine Mutter und meine Schwester sind im Auslande zur Kur. Wie ein Sturmvogel fuhr ich in die sanfte, stille Lehrersfamilie: ich war von meiner Mutter in großer Freiheit erzogen, steckte voller Pläne und Unternehmungslust und verleitete meine Cousine und meine Vettern zu allerlei Streichen.

Meine Verwandten waren edle Menschen, mein Onkel Johannes der Typus eines Lehrers mit einem frommen, klaren Gesicht und langen, weißen Locken. Er ging immer ein wenig gebückt und sprach nur das Notwendigste, doch lag in seinen wunderschönen schwarzen Augen eine Welt von Güte und Freundlichkeit. Er liebte mein stürmisches Wesen, erinnerte ich ihn dadurch doch an seine Lieblingsschwester, meine Mutter. Seine Frau, Tante Adele, hatte noch im Alter eine eigenartige stille Schönheit, und etwas Weltfremdes und Poetisches lag über ihr. Sie las gern Gedichte und schwärmte für Schumann und Jean Paul. Ich hing mit großer Liebe an ihr, wenn ich auch fand, daß sie etwas komische Ansichten darüber hatte, was junge Mädchen dürften und nicht dürften, worüber wir oft von meiner Seite leidenschaftlich geführte Diskussionen hatten. Sie konnte nach solchen Gesprächen oft traurig sein, einmal sah ich sogar Tränen in ihren Augen.

»Du wirst dir gewiß den Kopf am Leben einstoßen,« sagte sie.

Ihre älteste Tochter Linnaea war ein verträumtes, schönes Menschenkind voll Zartheit und Stärke: zart im Leben, stark im Leiden und Lieben.

Wir hatten eine Freundschaft auf Tod und Leben, schrieben Tagebücher zusammen, lernten stundenlang Heine und Geibel auswendig, unternahmen heimlich allerlei wilde Dinge, schwärmten für Musik und Poesie, für kühne Bootfahrten im Sturm, die aber nie unternommen wurden, und machten nächtliche Ausflüge, von denen wir taudurchnäßt und todmüde heimkamen. Dazwischen machte ich den Vorschlag, die Nacht nicht im Bett, sondern auf dem Fußboden zu verbringen, getreulich lag sie wie ich auf der harten Diele. Oder ich schlug vor, uns einen ganzen Tag das Essen und Trinken zu versagen.

»Es ist gut, sich abzuhärten und von seinem Körper unabhängig zu werden,« predigte ich.

Und blaß und tapfer hungerte und dürstete sie mit mir; ich glaube nicht, daß es der kränklichen Linnaea gut war, viel mit mir zusammen zu sein, ihr zarter Körper hielt nicht immer stand, aber zurückbleiben wollte sie nie. In diesem gebrechlichen Körper und in dieser verträumten Seele war etwas Merkwürdiges, etwas von einem Falken, der plötzlich in die Lüfte steigen mußte mit wildem Schrei nach Freiheit.

Linnaea hatte noch zwei Brüder und eine kleine Schwester. Hans, der ältere, war ein ruhiger, männlicher Knabe, still und zuverlässig wie der Vater, aber Otto, der zweite Sohn, war voller Leben und Witz, und zu allen Streichen bereit. Das jüngste Kind, ein kleines Mädchen, Anning, war sieben Jahre alt. Die arme Kleine führte ein ziemlich mühseliges Leben, denn sie wurde maßlos von uns allen geneckt. Sie hatte eine heiße Sehnsucht, sich uns anzuschließen, doch wurde sie für alle Unternehmungen für zu dumm und zu klein erklärt, was sie mit großem Schmerz erfüllte.

Linnaea und ich hielten aufs treulichste mit den beiden Brüdern zusammen und brachten Tante Adele viel Aufregung, denn sie wußte nie, welch ein heimlicher Plan wieder in unseren Köpfen spukte und zur Ausführung drängte. Wir verkleideten uns, zähmten Schlangen, die wir auf unseren Spaziergängen mitnahmen, fuhren in der Nacht zu Boot, erwarteten Sonnenaufgänge und kochten uns dann in der Nacht plötzlich Kaffee in der abseits liegenden Küche. Doch war Tante Adele gütig und gönnte uns so sehr jede Freude, daß sie uns nie ernstliche Hindernisse in den Weg legte, ihre leisen Klagen verwehten im Winde. Onkel Johannes' dunkle Augen aber strahlten bei unseren Streichen oft in heimlicher Freude, wenn er auch nichts sagte.

»Heute wollen wir den Sonnenaufgang am Meere erwarten,« flüsterte mir Vetter Otto zu. »Es ist Mondschein, wir machen vorher eine Bootpartie, alles ist bereit, aber nur still, daß die Alten nichts merken!«

Wie Verschwörer treffen wir uns noch mehrmals hinter dem Hause und verabreden das Letzte miteinander. Wir freuen uns so auf unser Abenteuer, daß wir uns bei Tisch heimlich anstoßen und lachen. Tante Adelens Argwohn wird wach.

»Die Kinder haben gewiß wieder etwas vor,« sagt sie zu Onkel Johannes, »wenn man nur wüßte, was sie sich ausgedacht haben!«

Aber wir verrieten nichts, früh gingen wir in unsere Zimmer, und bald war das ganze Haus still.

Die Vettern bewohnten auf einer Wiese ein Häuschen ganz für sich. Linnaea und ich hatten ein kleines Stübchen am Ende des Hausbodens.

Um die verabredete Zeit hörten wir einen leisen Pfiff unter unserem offenen Fenster, den wir sofort beantworteten. Über den Boden konnten wir nicht gehen, man hätte unsere Tritte unten im Hause gehört; wir kletterten durchs Bodenfenster aufs Dach der großen Veranda, von der wir dann zu den Vettern hinuntersprangen. Flüsternd und auf den Fußspitzen schlichen wir am Hause vorüber, in größter Angst, daß man uns entdecken und zurückhalten könne.

Nun waren wir im Dünenwalde und gerettet, wunderbar hell lag der Mondschein auf unserem Wege. Zuerst gingen wir auf den kleinen Strandfriedhof, der in den Dünen lag. Wie friedlich die Toten da ruhten unter ihren grünen Rasenhügeln, die vom silbernen Mondlicht umflossen waren. Wir setzten uns auf unseren Lieblingsplatz, einen Hügel, von dem man den Blick aufs blaue Meer hatte und sangen mit leisen Stimmen ein Quartett, denn die stillen Schläfer da unten sollten auch eine Freude haben:

»Unter Lilien jener Freuden
Sollst du weiden,
Seele, schwinge dich empor!«

Wie ein Schauer hatte es unsere jungen Seelen erfaßt: ahnten sie es vielleicht in ihrer geheimsten Tiefe, daß eine von uns auch bald solch ein stiller Schläfer sein würde?

Dann faßten wir uns an den Händen und gingen an den Strand herab, wo unser Boot bereit lag. Die Vettern trugen uns durchs Wasser, hoben uns ins Boot, und wir stießen vom Ufer ab.

In breiten, silbernen Streifen lag das Mondlicht auf dem Meer, es war wie ein schimmernder Weg, der zum Horizont führte, und wir ruderten geradeswegs in diese Straße hinein. Man hörte nur das leise Geräusch der Ruderschläge und das Plätschern des Wassers am Kiel. Das Ufer trat immer mehr zurück, um uns nur Himmel, Wasser und die tiefe Stille.

Da fing Linnaea an zu erzählen. Sie hatte eine eigentümlich bedeckte Stimme, es lag immer wie ein Geheimnis darin, wenn sie sprach. Nur selten konnte sie aus der Tiefe ihrer Seele reden, die eine Fülle von Poesie in sich barg. Sie erzählte von den seligen Inseln, zu denen man käme, wenn man auf der silbernen Straße des Mondes immer weiter dahinführe. Nun schwieg sie.

»Wie lebt man auf den seligen Inseln?« fragte ich leise.

»Da gibt es keine Schmerzen,« sagte sie träumerisch, »keine Sünde und keine Sehnsucht.«

Da kam es über mich wie eine Welle, heiß und stürmisch.

»Ich möchte nicht auf die seligen Inseln,« rief ich, »ich möchte in die Welt und ins Leben! Ich möchte die schöne Erde kennen lernen und das Leben mit seiner Herrlichkeit, in große Städte möchte ich und auf hohe Berge, ich möchte sehen, was die Menschen gebaut, gedichtet und gemalt haben, große Künstler kennen lernen, große Kunstwerke sehen!«

Unsere Wünsche sind uns beiden erfüllt worden. Sie durfte bald zu den seligen Inseln ziehen, wo keine Erdenschmerzen und keine Erdensehnsucht mehr ist. Und ich durfte das Leben kennen lernen mit seiner Schönheit und seiner Schwere. –

Wir wandten unser Boot und kehrten zum Lande zurück. Der Mond war untergegangen, das Morgenrot stieg über den Wäldern empor und färbte den Himmel rosig. Es ging sich prächtig auf dem festen Sandufer. Zur Rechten das Meer, still und silbern, zur Linken die aufsteigenden Dünen, von Wald gekrönt. Wie wunderbar das war in der lichten Sommernacht und dem leise heraufdämmernden Morgenrot!

Wir hatten ein Fischerdorf erreicht, als die ersten Lerchen jubelnd in die Lüfte stiegen. Unser Ziel war ein alter Krug, der am Anfang des Dorfes lag; dort gab es einen heißen Morgenkaffee und heiße Wasserkringel.

Bald saßen wir auf der Veranda. Die Sonne hob sich strahlend aus der See, die Fischer holten ihre Netze, stießen ihre Boote ins Wasser und gingen an ihre Tagesarbeit. Welch ein Glanz lag auf dem Meer, welch ein jubelndes Vogelsingen erklang in den Lüften! Mit den Lerchen um die Wette stieg ein Quartett nach dem anderen von uns gesungen in die Morgenluft.

Dann machten wir uns fröhlich auf den Heimweg. Es war noch eine weite Wanderung, die vor uns lag. Um uns tiefste Einsamkeit! Nur Dünen, Wald und das Meer, und der in der Morgensonne schimmernde Sand.

Es war spät geworden, wir konnten uns nicht mehr unbemerkt in unsere Zimmer schleichen. Wir beratschlagten. Sollten wir als demütige Sünder heimkehren oder als kecke Abenteurer? Wir entschlossen uns zu letzterem, im Falle Onkel und Tante schon auf waren und unsere Flucht bemerkt worden wäre. Doch etwas ängstlich standen wir vor dem Pförtchen. Aus dem Küchenschornstein stieg eine Rauchwolke in die Luft, der Morgenkaffee wurde bereits gekocht, und, o Schrecken, in der geöffneten Tür stand Tante Adele im hellen Morgenkleide, mit weißem Häubchen und sehr strengem Gesicht. Sie, die vornehm erzogene Patriziertochter aus Alt-Riga mißbilligte solche Extravaganzen; sofort beim Aufstehen hatte das Mädchen gemeldet, daß unsere Betten leer waren.

»Nun Sturm,« kommandierten wir und stürzten uns wirklich wie ein Sturmwind über die Ahnungslose, Zarte.

»So was macht man nicht,« fing sie an, »das ist ja unerhört!«

Aber schon hatten wir sie umringt, umarmt, erstickt.

»Das nächste Mal kommst du mit,« rief ich jubelnd, »dann sollst du sehen, daß die Nacht noch viel schöner ist als der Tag.«

Sie mußte doch lachen.

»Wer hat die ganze Sache angestiftet?« fragte sie, und ein vielsagender Blick streifte mein Gesicht.

»Das weiß keiner,« war unsere Antwort, »wir haben es uns alle auf einmal ausgedacht.«

Bald saßen wir um den Kaffeetisch, nahmen unser zweites Morgenfrühstück ein und erzählten von unseren Abenteuern. Tante Adele wollte zuerst tun, als interessierte sie das alles nicht, aber in Onkel Johannes dunklen Augen lag ein Strahlen wie von verstecktem Lachen, das uns sehr ermutigte, und zum Schluß lachte auch Tante Adele.


»Jetzt gibt es zwei Feiertage,« rufe ich, einen Brief hoch in der Hand schwenkend. »Wir sind auf zwei Tage über Sonnabend und Sonntag zu Linnaea eingeladen. Schon Freitag Nachmittag sollen wir hinfahren.«

Meine Schwester Elisabeth, die sich nur mühsam vom Hause rühren kann, hat grade gute Zeiten, und man darf daran denken, sie für ein paar Tage zu den Verwandten zu bringen, eine Abwechslung, die in ihrem stillen Krankenleben für sie ein großes Glück bedeutet. Ich hatte gestern heimlich Linnaea einen Brief geschrieben mit der flehentlichen Bitte, bei ihren Eltern für uns beide eine Einladung für zwei Tage durchzusetzen.

»Wir wollen euer Haus auf den Kopf stellen,« schrieb ich verheißungsvoll. Und nun war die Einladung da!

Wir packten eilig unsere Handtasche, diese enthielt außer den notwendigsten Nachtsachen einige Gedichtbücher und vor allem meine Tagebücher, die gemeinsam in der Nacht gelesen werden sollten. Frohen Herzens fuhren wir ab.

Schon vor der Haustür auf der Straße erwartete uns Linnaea mit ihren beiden Brüdern. Unter Lachen und Stöhnen trugen die Vettern Elisabeth die Treppe hinauf. Wir legten sie sofort zu Bett, damit sie für die zwei Freudentage, die nun folgen sollten, recht viel Kräfte sammeln könnte.

Es war ein sonderbares Haus, das meine Verwandten bewohnten, ein uraltes rigasches Patrizierheim. Von der Straße stieg man zwei Treppen zur Wohnung empor, von der Rückseite kam man gleich in einen schönen großen Garten, der auf den früheren Festungswällen der Stadt entstanden war. Man sah von ihm auf die Anlagen und den Kanal herab. Er war voll alter Bäume, verwildert und schattig.

Liebreich und herzlich empfingen uns Tante Adele und Onkel Johannes, aber drei Hausgenossen gab es, die uns nicht mit besonderen Glücksgefühlen begrüßten. Die eine war Klein-Anning, die wohl wußte, daß verschiedene Plagen auf sie warteten, und die anderen zwei waren Großmama und Tante Lina, die nichts weniger als Freude bei meinem Kommen empfanden.

»Sie werden alle so wild,« sagte Großmama klagend.

Großmama war Tante Adelens Mutter, Tante Lina ihre Schwester. Sie lebten beide im schönsten Zimmer des Hauses, das voller Sonne war und einen prächtigen Blick auf die Anlagen und den Stadtkanal hatte. Aber nur des lieben Gottes Sonne erfüllte dieses Zimmer, weniger die Sonne der Liebe, die nicht aus diesen alten Herzen strahlte.

Seit einem Jahr lebten sie ganz bei Onkel und Tante und trugen nach unserer Meinung nicht gerade viel zum Behagen des Hauslebens bei.

Als ich mit Linnaea in ihr Zimmer trat, um die beiden Alten zu begrüßen, bot sich uns ein wunderhübsches Bild: Großmama saß auf dem breiten Tritt in einem weichen Lehnstuhl am sonnigen Fenster. Weiße Gardinen und blühende Blumen auf dem Fensterbrett bildeten einen feinen Hintergrund zur kleinen, zierlichen Dame. Sie hatte ein schlichtes, schwarzes Kleid an mit einem großen, weißen, gestickten Kragen darüber. Ihr Gesicht war blaß und zart, ihr schneeweißes Haar quoll in dichten Locken unter einem blütenweißen Tüllhäubchen hervor; auf ihren Knien lag ein Gesangbuch, in dem sie las. Sie war ganz taub; mit blauen, etwas wehmütigen Augen blickte sie auf, als ich vor ihr stand und begrüßte mich dann herzlich. Der liebliche Anblick, die freundliche Begrüßung aber rührten mich sehr wenig. Erstens behaupteten wir, daß sie lebende Bilder stellte und sehr gut wüßte, daß sie das Idealbild einer Großmutter im Lehnstuhl vorstellte. Und dann wußte ich ja, daß sie sich über meinen Besuch im Verwandtenhause nie sehr freute, so hielt ich ihre herzliche Begrüßung für Falschheit.

Als ich ihr die Hand geküßt hatte, wandte ich mich zu Tante Lina, die sich von ihrem Platz am anderen Fenster erhob. Ich habe nie in meinem Leben, weder früher noch später, ein so unzufriedenes Gesicht gesehen wie das ihre. Von Trübsinnsfalten war es fast verzerrt, und die Augen blickten streng und melancholisch; man konnte sich nicht vorstellen, daß dieses Gesicht jemals lächeln könnte. Sie war ganz schwarz gekleidet, um die Schultern trug sie ein großes Umschlagetuch. Und wenn sie eilig durchs Zimmer ging, flatterte es auf wie zwei dunkle Rabenflügel. Mit einer Stimme, die wie ein Klageruf klang, begrüßte sie mich und seufzte. Es gehörte schon ein großes Stück Jugendübermut dazu, sich von diesem Trauervogel nicht auslöschen zu lassen. Ich nahm den Kampf mit ihr siegreich auf, was sie mir nie vergab.

Sie hatte immer den Verdacht, daß wir Liebesgeschichten hätten, daß wir mit Studenten heimlich spazieren gingen oder mit ihnen korrespondierten. Die freie Erziehung meiner Mutter, die uns in großem Stil vertraute, weil sie wußte, daß sie es tun konnte, war ihr ein Greuel. Wir behaupteten, als einziger Aufenthalt für junge Mädchen wäre ihr das Zuchthaus denkbar, denn nur hinter Gefängnismauern und -gittern fühle sie Sicherheit vor den Verführungen der Welt.

Nach kurzem Besuch gingen wir aufatmend hinaus.

»Ich habe dir was zu erzählen,« sagte Linnaea flüsternd, »du mußt nur nicht zu glücklich darüber sein! Komme an einen Ort, wo man dich nicht schreien hört.«

Wir zogen auf unseren Lieblingsplatz, eine Bodenluke, die den Ausblick auf den Kanal hatte. Wir setzten uns dort auf eine Kiste, die wir dicht an die Luke heranschoben, und Linnaea erzählte.

»Kannst du dir so was vorstellen, was Großmama mir neulich im Versehen verraten hat! Tante Lina hat sich mit dreizehn Jahren verlobt und zwar mit ihrem Lehrer, und noch dazu mit ihrem Religionslehrer! Alles heimlich, hinter dem Rücken ihrer Eltern. Und denk doch nur, mit siebzehn Jahren hat sie ihn geheiratet!«

Ich wäre fast vor Jubel von meiner Kiste heruntergestürzt.

»So was hat sie getan,« schrie ich immer wieder, »so was! Darum traut sie uns auch nicht über den Weg und hält mich für ein verlorenes Geschöpf, weil ich dich verleite, Fußwanderungen und Bootpartien mit den Vettern in der Nacht zu machen! Dabei haben wir uns ja nicht einmal verlobt, und du bist bald achtzehn Jahre alt. Aber das soll sie büßen, das kriegt sie noch einmal zu hören!«

Als wir uns etwas beruhigt hatten, beratschlagten wir, was wir in den zwei Tagen tun wollten. Für den Sonnabend Vormittag war folgendes ausgedacht: Vetter Georg, unser lustiger Hausgenosse, der Primaner in einer benachbarten Schule war, wollte uns in einer Zwischenstunde besuchen, und zwar auf einem ungewöhnlichen Wege. Er und seine besten Freunde hatten eine Leiter entdeckt, die im Nachbarhofe stand, und die so lang war, daß sie bis an unser Fenster reichte. Die wollten sie in unseren Hof schleppen und zu uns in der Frühstückspause hinaufklettern; die Fenster von Linnaeas Zimmer gingen gerade auf diesen Hof, und ich hatte ihm und seinen Kameraden dafür Butterbrote und eine Flasche Bier versprochen.

Der Sonnabend Vormittag kam. Zu unserem großen Glück war Tante Adele auf den Markt gegangen, wir konnten eine Flasche Bier und die Butterbrote aus der Speisekammer rauben.

Die Fenster zum Hof standen weit offen, Frühlingsluft und Frühlingssonne lachten zu uns herein, wir saßen auf den Fensterbrettern und lugten nach unseren Freunden aus. Klein-Anning war durch Versprechungen und Drohungen so weit willig gemacht worden, daß sie Wache stand, damit Tante Lina uns nicht überraschte.

Die Uhr schlug zwölf, mit einem »Hurra« stürzte die Bande auf den Hof, voran Vetter Georg, eine lange Leiter mit sich schleppend. Sie wurde angelegt und reichte gerade bis an unser Fenster. Georg war der erste oben, mit einem Schwung saß er auf dem Fensterbrett. Seine blonden Locken flogen im Frühlingswind, seine blauen Augen strahlten und lachten. Hinter ihm drein kamen seine Kameraden denselben Weg. Sie stürzten sich auf die Butterbrote, die im Nu verschwanden, heischten noch mehr Bier und vollführten einen Lärm, daß uns vor Angst Hören und Sehen verging.

Plötzlich ein aufgeregtes Stimmchen hinter der Tür: »Tante Lina kommt!«

Es war wie im Märchen, wo die todbringende Hexe immer im unrechten Augenblick erscheint.

»Rettet euch!« schrie Linnaea.

Wie der Wind waren unsere Gäste verschwunden. Wie sie die Leiter hinunterkamen, weiß ich noch heute nicht. Linnaea hielt die Tür zu, ich riß eine Kommodenschieblade auf und versenkte das Bierglas nebst der leeren Flasche hinein. Nur der leere Butterbrotteller blieb auf dem Fensterbrett stehen.

»Öffnet,« rief Tante Lina, »was treibt ihr da?«

Linnaea öffnete, und ein friedliches Bild bot sich den entrüsteten Tantenaugen. Ich saß auf dem Fensterbrett in der Frühlingssonne und aß die Krümchen vom Butterbrotteller auf. Nur Elisabeth, die nicht aufhören konnte zu lachen, wenn sie einmal angefangen hatte, saß hilflos lachend im Lehnstuhl.

»Wir feiern einen Frühlingsmorgen,« sagte ich. »Verlobt hat sich bis jetzt noch keine von uns.«

»Leider,« fügte Linnaea hinzu, die einen Löwenmut zeigte, wenn sie mit uns zusammen war.

Tante Lina sprach kein Wort, trat ans offene Fenster und sah hinab in den Hof, der sonnbeschienen, still und einsam dalag. Georg hatte dafür gesorgt, daß kein unheiliger Primanerfuß die stille Stätte mehr entweihte. Tante Linas Gesicht war eine Kummerfalte, als sie schweigend und seufzend das Zimmer verließ. –

Ach, diese Tage voll harmloser Fröhlichkeit, wo das sonst so stille Haus von Lachen und Jubel widerklang! Wir saßen im Garten unter knospenden Frühlingsbäumen, wir schleppten Elisabeth mit vereinten Kräften die Treppe hinauf auf unseren geliebten Platz an der Bodenluke, wir lasen uns gegenseitig unsere Tagebücher vor, lasen Gedichte und sagten sie uns auf, wir machten große Entwürfe, die nichts weniger und nichts mehr enthielten als die Schilderung der Feier unseres zukünftigen Hochzeitstages. Sie waren aufs genaueste ausgeführt, doch spielte merkwürdigerweise der Bräutigam nur eine geringe Rolle dabei. Abends, wenn die Vettern frei waren, fuhren wir zu Boot auf dem Kanal. Weit hinaus ließen wir uns rudern; da, wo es ganz einsam wurde, stiegen wir ans Land, legten uns ins Frühlingsgras und sagten uns Frühlingsgedichte auf. Später saßen wir in unserem Gärtchen, sangen Quartette, und Tante Adele und Onkel Johannes nahmen in ihrer stillen, gütigen Art teil an unserer Freude. Niemand störte uns. Großmama schlief, Tante Lina aber bewachte ihren Schlaf, in ihr schwarzes Tuch gehüllt.

Der Sonntagmorgen kam. Es war gefährlich für Tante Lina, Geheimnisse mit Großmama zu haben. Man mußte so laut mit ihr sprechen, daß wir in unserem Zimmer jedes Wort davon verstanden.

»Wie lange bleiben die Mädchen?« hörten wir Großmama fragen.

»Gott sei Dank, sie gehen morgen fort,« war Tante Linas vernehmlich geschriene Antwort.

»Nun, wir werden ihr diesen Tag noch ordentlich versalzen!« schwur ich.

Alles macht sich zum Kirchgang bereit, Linnaea und ich haben uns die Erlaubnis erbeten, zu Hause bleiben zu dürfen, damit Elisabeth nicht allein bliebe. Wir überreden Tante Lina dringend, auch in die Kirche zu gehen.

»Wir werden schon für Großmama sorgen,« sagen wir verheißungsvoll. Sie aber ist mißtrauisch und will nicht recht.

»Werdet ihr auch eine Predigt mit Großmama lesen?« fragt sie.

»Selbstverständlich,« ist unsere Antwort.

Endlich geht auch sie, und wir sind Alleinherrscher im Hause, was uns mit großer Freude erfüllt. Wir machen uns alle drei auf zu Großmama und wollen sehr brav sein, setzen uns aufs Sofa und freuen uns sogar an dem hübschen Bilde: Großmama im Lehnstuhl am Fenster. Das Zimmer ist voll Sonne, golden liegt sie auf Großmamas schneeweißem Scheitel, auf ihrer weißen Haube und ihren weißen Händen. Nun nimmt sie ihre große Hornbrille, und Linnaea bringt ihr das Predigtbuch von Karl Gerok. Wir haben den ganzen Morgen so viel gelacht, daß wir uns vollständig »eingelacht« haben, wie wir sagen. Wir ermahnen uns gegenseitig zum Ernst für die Predigt. Der Text handelt von Siloah, der Lebensquelle, die vom Berge Kidron ins Land strömt und alle Durstigen tränkt. Die Überschrift der Predigt hieß: »Komm zu Siloah!«

»Die Predigt wird gewiß sentimental sein,« sagte Linnaea flüsternd zu uns.

»Sie wird an die ›Palmblätter‹ erinnern,« sage ich sorgenvoll.

Ich hatte die »Palmblätter« zu meiner Konfirmation erhalten, hatte ein wenig hineingeschaut, sie für sentimental erklärt und ungelesen beiseite gelegt. In unserer Jugend mußten auf jedem Konfirmationstisch die »Palmblätter« liegen, das gehörte sich so. Ob man sie las, war eine andere Sache.

Großmama fing an zu lesen, sie las mit einem überschwänglichen Ausdruck. Sie stammte noch aus der Zeit des Pietismus, in unseren Häusern aber lebte ein fröhliches Tatchristentum, und wir jungen Menschen lehnten uns gegen dieses etwas sentimentale Gefühlschristentum auf, heimlich, denn unsere Eltern liebten keine revolutionären Ansichten auf diesem Gebiet.

Großmamas Lesen wurde immer überschwänglicher, sie »steigerte sich«, wie wir sagten. Immer wieder kam der Ruf in der Predigt vor: »O komm, Seele, komm zu Siloah!«

Als der Ruf zum drittenmal erklang, erhob die sanfte Linnaea die Hand, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief laut:

»Nein, ich will nicht, ich komme nicht!«

»Ich auch nicht, ich auch nicht,« riefen wir anderen dazwischen.

Ein Tumult, ein Lachen brach los, das einfach unerhört war, ahnungslos las Großmama weiter.

»Führt mich hinaus!« schrie Elisabeth. »Ich sterbe, ich ersticke!«

Wir führten sie hinaus, und hinter uns erscholl der Ruf:

»O komm zu Siloah!«

Wir brachten sie ins Nebenzimmer, setzten sie dort in einen Lehnstuhl und ließen sie allein, kehrten zu Großmama zurück und hörten mit einiger Standhaftigkeit den Rest der Predigt an, indem wir mit dem Rücken zueinander saßen und uns nicht ansahen, denn wir hatten uns geschworen, keine Bemerkungen mehr zu machen.

Als Tante Lina aus der Kirche zurückkehrte, hörten wir sie fragen:

»Haben die Mädchen sich gut betragen?«

»Ja,« sagte Großmama, »aber zum Schluß waren nur zwei da, ich weiß nicht, wo die Dritte geblieben war.«

Zum Mittag hatten wir uns etwas Großartiges ausgedacht. Ich hatte eine Art, verfängliche Fragen zu stellen, auf die ich sehr stolz war. Meine Stimme klang dabei klar und kindlich, kein Lachen zuckte über mein Gesicht, und ich sah aus wie eine »glattgescheitelte Taube,« wie die Vettern sagten.

Der Schlachtplan war von uns dreien entworfen, die Rollen verteilt. Tante Lina sollte es diesmal kriegen.

»Onkel Johannes,« fragte ich, »wie alt darf man sein, »wenn man sich verlobt, frühestens?«

Onkel Johannes sah etwas erstaunt von seiner Suppe auf.

»Wie kommst du auf diese dumme Frage?«

»Wir möchten gerne wissen,« sagte Linnaea, »ob man sich schon mit dreizehn Jahren verloben darf.«

»Nein,« sagte Onkel Johannes kurz. Er war ein sehr ernster Pädagoge der alten Schule und machte nicht viel Worte. »Dann macht man seine Schulaufgaben, lernt sein Einmaleins und die Zahlen der Weltgeschichte.«

»Wenn man es aber doch tut,« fragte Elisabeth, »was ist dann?«

»Dann bekommt man die Rute,« sagte Onkel Johannes kurz, denn er war vollständig ahnungslos, daß am Tisch eine saß, die in jungen Jahren dieses Verbrechen auf sich geladen hatte.

»Wann aber kann man heiraten?« fragte Linnaea wieder, »frühestens?«

Onkel Johannes wurde nie zornig, wir sagten, er sei ohne Galle geboren. Auch heute war er nur ein klein wenig ärgerlich. Er war auch gar nicht mißtrauisch.

»Seid nicht albern,« sagte er, indem er die Augen über den Tisch wandern ließ. »Eßt eure Suppe und fragt kein dummes Zeug.«

Nach dem Kaffee hatte Onkel Johannes eine große Freude für uns aufgespart. Er besaß eine alte Pistole, mit der sollten wir unter seiner Aufsicht ins Ziel schießen, und ganz aufgeregt folgten wir ihm in den Garten.

Das Ziel wurde aufgestellt, eine Flasche, die auf einen Stock gestülpt wurde; ein Preisrichter wurde erwählt, Tante Adele war's; und einer nach dem andern bekam die Pistole in die Hand, wurde von Onkel Johannes unterwiesen, wie man zielen müßte, und jeder durfte drei Schüsse abgeben. Wir schossen alle vorbei, immer wieder, da trat Linnaea vor und sollte ihren ersten Schuß tun.

Mit ihren schönen Farben und den herrlichen, dunklen Augen voll Trauer und verborgener Sehnsucht bot sie immer einen lieblichen Anblick; aber wie sie eben dastand mit der erhobenen Pistole in der Hand, den edlen Kopf mit dem reichen, dunklen Haar emporgerichtet, war sie wunderschön. Ihr Blick bekam einen gespannten, leidenschaftlichen Ausdruck, sie zählte und schoß mitten ins Ziel. Wir jubelten ihr zu, sie sollte noch einen neuen Schuß tun. Lächelnd stand sie da, es wurde eine neue Flasche auf den Stock gestellt; sie hob die Waffe und senkte sie noch einmal. Warum sie es tat, wie es kam, wer konnte es sagen? Die Pistole entlud sich, ein Knall – und sie sank in die Knie, lautlos brach sie zusammen.

Es herrschte eine unbeschreibliche Aufregung. Sie hatte sich in den Fuß geschossen, wir trugen sie ins Haus, eine Blutspur bezeichnete ihren Weg, sie war ohnmächtig. Stunden der größten Aufregung folgten, ein Arzt wurde geholt, und bei der Untersuchung zeigte es sich, daß die Kugel glücklich am Knochen abgeglitten war, die Wunde war nicht gefährlich, nur sehr schmerzhaft.

Das fröhliche Haus wurde mit einem Schlage still. Meine Schwester brachte man nach Hause, und ich blieb zur Pflege und Nachtwache da.

Linnaea war stark im Leiden, so zart sie war, konnte sie unendliche Schmerzen tragen. Ich saß an ihrem Bett, hielt ihre fieberheißen Hände in den meinen und kühlte ihre brennenden Lippen.

Plötzlich schlug sie ihre Augen auf und sah mich klar und angstvoll an.

»Glaubst du, daß es die Strafe von Gott ist, weil ich heute über die Predigt gelacht habe?« fragte sie.

»Nein, das glaube ich nicht,« sagte ich schnell, »das glaube ich ganz gewiß nicht! Onkel Hermann sagt immer, unser Heiland liebt frohe Kinder. Lustig sein und lachen ist keine Sünde.«

Sie seufzte erleichtert auf.

»Onkel Hermann ist ein Gotteskind,« sagte sie leise. »Wenn er es sagt, will ich mich nicht weiter quälen.«

Bald hörte ich ihre ruhigen, tiefen Atemzüge, sie war fest eingeschlafen.

Stundenlang saß ich an ihrem Bett und horchte auf jeden Laut, es kam kein Schlaf in meine Augen. Ich grübelte darüber nach, wie verschieden wir doch beide waren, Linnaea und ich. Jetzt weiß ich es, daß ich sie eigentlich trotz meiner großen Liebe nicht verstanden habe, und daß sie gewiß oft darum gelitten hat. Sie lebte schwer, denn ihre Seele war so zart, daß vieles, worüber ich oft nur lachte, wie eine Schuld auf ihrer Seele brannte. Sie sprach sich nur selten aus, denn sie war unsagbar verschlossen. Wie oft habe ich ihr wohl mit meiner Necklust und meinem Übermut weh getan, ohne es zu ahnen. Sie war übergewissenhaft, und ihr Verhältnis zu Gott war schon in jungen Jahren ganz persönlich. Ihre große Empfindsamkeit und Gewissenhaftigkeit waren mir oft unbequem, aber ich liebte sie und hätte ihr freudig jedes Opfer bringen können.

Unser Zimmer war nur durch einen Gang von Großmamas Zimmer getrennt. Durch die Stille der Nacht hörte ich deutlich Großmama fragen:

»Wie mag wohl das Unglück gekommen sein, wer war eigentlich schuld daran?«

»Irgendwie ganz bestimmt, Monika,« war Tante Linas Antwort.

Diesmal aber lachte ich nicht über ihre Worte.

Linnaeas Fuß war geheilt, und ein großes Fest stand uns bevor: die Hochzeit einer Cousine, und das Wunderbare geschah – wir bekamen jede ein neues weißes Musselinkleid zum Fest. Linnaeas Kleid wurde von einer besseren Schneiderin, »außer dem Hause« gemacht. Meins wurde ziemlich geschmacklos von einer Hausschneiderin fabriziert; doch nahm man das damals nicht so genau, freute sich an den vielen Falbeln, die das Kleid hatte, und freute sich aufs Tanzen.

Der große Tag kam heran. Da wir in einer entfernten Vorstadt lebten, durfte ich mich bei meinen Verwandten ankleiden und auch dort die Nacht nach dem Fest zubringen, was das Glück noch erhöhte. Mutter und Tanten mühten sich um uns beide, und nun standen wir fertig geschmückt vor dem Spiegel. Ich hatte zuerst nur Augen für Linnaea, die so eigenartig schön aussah, wie ich sie noch nie gesehen. Das weiße, duftige Kleid umgab wie eine Wolke ihre zarte Gestalt, die braunen Haare lagen in schweren Locken tief in ihrem Nacken, ein voller Kranz von blassen Rosen ruhte auf ihrem dunklen Scheitel, das sonst so stille Gesicht war voller Leben, und die schwermütigen Augen waren strahlend und voller Freude. Sie war mir fast fremd in ihrer Schönheit. Da fiel mein Blick auf meine Gestalt, die neben ihr aus dem Spiegel blickte, und ich sah plötzlich, woran ich nie gedacht hatte: daß ich gar nicht hübsch war. Ich sah, daß mein Kleid plump und ungeschickt gemacht war, und ich sah, daß mein Gesicht farblos war und unjugendlich. Auf die viel zu dicken und langen Flechten, die ungeschickt meinen Kopf belasteten, paßte der Vergißmeinnichtkranz nicht. Eine brennende Trauer, ein heißes Gefühl von Eifersucht – ein Gefühl, das ich bisher nie gekannt – erfüllte mein ganzes Herz, und die Freude erlosch in ihm. Ich kämpfte den ganzen Abend, sah mit Augen, die plötzlich sehend geworden waren, das Staunen und Entzücken, das Linnaea überall erregte. Man hatte sie nie so gesehen, es war etwas Leuchtendes über ihr, eine kindliche Freude an ihrer Schönheit. Ich aber wurde wenig beachtet, denn ich war keine Erscheinung für den Tanzsaal; mit siebzehn Jahren ist das eine bittere Erkenntnis.

Als wir endlich in den Betten lagen, fing ich an zu weinen, heiß und schmerzlich, das schlimmste war, daß ich mich meiner Eifersucht sehr schämte und doch ihrer nicht Herr werden konnte. Linnaea hörte mein Weinen, das so plötzlich über mich kam. Sie richtete sich voller Staunen in ihrem Bett auf.

»Was hast du?« fragte sie erschrocken.

»Ich muß weinen, weil ich häßlich bin und du schön bist, weil du gut bist und ich schlecht bin! Aber am meisten weine ich doch darüber, daß ich unschön bin.«

Da lachte Linnaea, sie hatte ein ganz eigenes Lachen. Ich habe niemanden so lachen gehört: es war nie laut, und es lag immer wie eine leise Trauer darin.

»Wie dumm du eben bist,« sagte sie und lachte wieder. »Es macht mir ordentlich Freude, zu sehen, wie dumm. Ich hätte es dir gar nicht zugetraut! Für mich bist du aber doch die Schönste und die Liebste.«

Ich kletterte aus meinem Bett, kauerte mich auf ihren Bettrand, trocknete meine Tränen und ließ mich von ihr trösten. Linnaea tröstete wie keine: sie war weich und zart und voller Verstehen, und dabei glücklich, trösten zu können, weil sie selbst so oft traurig war und des Trostes bedurfte. Wir schwuren uns ewige Treue und eine Freundschaft, die durch keine Schlechtigkeit getrübt werden dürfe.

Ich war noch sehr kindisch, aber doch fühlte ich, welch eine wunderbare, hohe und reine Menschenseele es war, die zu mir sprach. Sie war zu fein, zu zart für dieses Leben, sie hätte es nicht ertragen.


Im Herbst darauf erkrankte Linnaea schwer an einem Drüsenfieber, sie wurde geschnitten, die Wunde verheilte, aber im Winter brach sie immer wieder auf. Sie litt viel in dieser Zeit, aber unendlich tapfer und klagelos, ja oft mit einem ihr eigenen, feinen Humor. Viel mußte sie entbehren, denn monatelang durfte sie das Haus nicht verlassen und mußte auf alle Jugendfreuden verzichten.

Wir waren zu einem großen Ball gebeten, der in einem Freundeshause zur Feier einer Silberhochzeit gegeben wurde. Der Ball sollte in einem öffentlichen Lokal stattfinden mit Orchestermusik, und wir waren so aufgeregt, daß wir tagelang von nichts anderem mehr sprechen konnten. Linnaea nahm in ihrer sanften, selbstlosen Art daran teil und bat sich aus, daß meine Cousine und ich uns bei ihr ankleideten, damit »sie doch auch etwas vom Ball hätte,« wie sie sagte. Sie schreibt darüber an meine Schwester:

»Nun sind die beiden fröhlichen Balldamen fort, unser Haus ist still geworden, und alles ist zur Ruhe gegangen. Mir ist plötzlich wehmütig ums Herz geworden, und ich würge förmlich an einer Tafel Schokolade, die Mama mir zum Troste schenkte, und die lustigsten Ballszenen tanzen an meinem aufgeregten Sinn vorüber. Ich sah mich selbst in wehenden Locken, mit weißen Rosen bekränzt, durch den Saal schweben, und der Gedanke: »es wäre doch schön gewesen«, ging in verschiedenen Tonarten durch meine Seele. Erst wehmütig und leise, dann immer lauter und zuletzt mit recht großem Geschrei und bitterem Nachgeschmack. Das war nun wohl fatal! Aber ich bat Gott dringend und zuversichtlich, daß er mein Herz stärken möge und nicht schwankend werden lasse, damit ich den einen Gedanken, daß Er's aus lauter Liebe und Fürsorge so gefügt hat, festhalten und mich darüber freuen könnte. Und das geschah auch. Als ich mich dann schlafen legte, war mir so dankbar und selig froh ums Herz, daß ich nicht in meinem Thomas a Kempis weiterlas, sondern die Psalmen aufschlug und mit rechtem Herzensjubel meinen Lieblingspsalm, den 103. las. Dann dachte ich an dich und daran, wie viel, viel mehr du doch entbehren mußt bei deinem lebenslangen Leiden. Und dann fiel mir's ein, wie doppelt herrlich es allen Schwachen und Kranken im Himmel sein wird, wenn sie mit einem Schlage in gesunde, unsterbliche Menschen verwandelt werden.«

 

Einige Tage später schreibt sie wieder als Antwort auf einen Brief meiner Schwester:

 

»Was den Ball anbetrifft, so hast du durchaus nicht nötig, mich zu bewundern. Ich hätte wirklich einen mit Rhinozerosfell überzogenen Verstand haben müssen, wenn ich nicht eingesehen hätte, daß Gott es mit vollem Bewußtsein so eingerichtet hat. Für einen Menschen, der zur Eitelkeit neigt, ist solch ein Ball wahrlich nichts anderes als ein › diner‹ für den alten Adam, der doch von rechtswegen zu Tode gehungert werden sollte. Mit Mühe und Not habe ich ihn nun so weit gebracht, daß er nicht mehr die erste Stimme hat. Wenn ich ihn nun wieder so munter spazierengeführt hätte, wäre es nachher unerträglich mit ihm geworden, denn dann ist er empört, wenn man ihm nicht den Hof macht und kommt einem überall in die Quere. Als ich dir zuerst schrieb, war ich wohl verzagt und traurig darüber, daß der liebe Gott mich wieder einsperrt, aber nun ist das ganz überwunden. Er hat mich fröhlich und zufrieden gemacht und wird's auch so bleiben lassen. Alle Unruhe und Unzufriedenheit in meinem Herzen ist wie draußen die Erde mit warmem, weichem Winterschnee zugedeckt. Es ist still und friedlich, und alle Vorkommnisse des Tages haben ordentlich kleine, lustige Glöcklein angebunden, daß sie mir ganz fröhlich durchs Herz klingeln.«


Ergreifend war die Freundschaft zwischen meiner Schwester und Linnaea. Diese beiden jungen, reichen Menschen wurden durch eine furchtbare Schule des Leidens geführt. Es erschüttert mich, wenn ich jetzt aus ihren Briefen lese, wie sehr sie litten, wie tapfer sie kämpften, sich gegenseitig aufrichteten und trösteten. Wie sie einander immer auf das eine Ziel hinwiesen: gehorsam den Weg zu gehen, den Gott für sie bestimmt hat, mit der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die einmal an ihnen sollte offenbart werden.

Es war ein Unterschied in dem Leiden der beiden. Daß meiner Schwester Krankheit unheilbar war, wußten wir alle, vor allem sie selbst; doch für Linnaea waren wir voller Hoffnung, wir rechneten damals noch mit ihrer völligen Genesung.

Als der Sommer kam, verlangte Linnaeas Arzt unbedingt eine Reise in ein Jodbad. Sie reiste mit ihrer Mutter, und wir trennten uns unter heißen Tränen. Eine Quelle großer Freuden für uns war eine eifrige Korrespondenz. Linnaea schrieb entzückende Briefe, schilderte Land und Leute, erzählte von den Bergen und sehr amüsant von den Kurgästen, denn überall leuchtete ihr feiner Humor hindurch. Auch von einem jungen Reisenden erzählte sie, der sich ihnen angeschlossen hätte, als sie eine Tour in die Berge machten, und schilderte mit drolligem Humor die Aufregung der Mutter. Auch unsere Aufregung war groß, denn es war ganz klar, daß Linnaea einen Verehrer hatte, der sich zuletzt sogar als Bewerber entpuppte. Als es herauskam, daß der junge Mann ein wohlhabender Handlungsreisender war, wurden wir ganz ruhig.

»Den kann Linnaea doch nicht heiraten,« sagten wir zueinander. »Er hat ja gar nicht in Dorpat studiert und niemals einen Farbendeckel getragen!«

Der ganze naive Hochmut und die Engigkeit der damaligen baltischen Literatentöchter sprach aus uns.

»Er hat keinen Dorpater Farbendeckel getragen,« damit war er gerichtet und kam nicht weiter in Betracht. Ich glaube, daß das stark auch bei Linnaea mitsprach, sie wies den jungen Mann ab.

Es war ihr erstes derartiges Erlebnis, und mit ihrer überzarten Gewissenhaftigkeit litt sie schwer darunter. Aber wir freuten uns, es wäre ja unerhört gewesen, hätte unsere Linnaea einen deutschen Kaufmann geheiratet! Und dann – eine Trennung von ihr für Lebenszeit war ja einfach unausdenkbar. Meine Schwester und ich konnten ihre Heimkehr gar nicht erwarten, wo wir alle diese interessanten Dinge mit ihr durchsprechen wollten.

Aber es kam anders: wie ein Schlag traf uns die Nachricht, daß der Arzt verlangte, sie solle für ein Jahr in den Süden. Und sie ging nach Rom, wo Freunde von uns sie aufnahmen. Es war trotz aller Schönheit Italiens, trotz aller Herrlichkeit Roms eine bitterschwere Zeit für sie. Wohl wurde sie von unseren Freunden geliebt und verstanden, und doch litt sie unsagbar unter Heimweh. Wie eine Wolke lag die Schwermut oft über ihr und machte sie stumm und unempfindlich gegen alle Schönheit, die sie umgab. Mitten aus dem römischen Frühling heraus mit seinen Rosen, seiner Sonne und seinen Düften schrieb sie mir: »Ach, könnte ich nur ein Stückchen Dünensand sehen, den Seewind durch die Dünen rauschen hören und mit dir aufs Meer hinausblicken! Alle Schönheit des Südens gäbe ich dafür her.«

Sie war stets ein frommes Menschenkind gewesen, nun wurde sie immer mehr und mehr ein bewußt lebender Christ. Ihre Bibel wurde ihr liebstes Buch, und das war ihre einzige Rettung gegen ihre Schwermut und Sehnsucht.

Ich setze einige Stellen aus ihren Briefen hierher:

 

Rom, den 2. Februar 1880.

Heute machten wir einen herrlichen Spaziergang, mein Herz ist noch ganz bewegt von den wundersamen Eindrücken. Wir waren auf dem protestantischen Friedhof, der Cestius-Pyramide, auf dem alle Fremden, die in Rom begraben werden, liegen. Grüne Hügel, weiße Marmorkreuze, wunderbare Marmorbilder, dunkle Zypressen, die wie trauernde Wächter dazwischen stehen, und über allem ein Hauch der Poesie, der tiefsten, seligsten Ruhe – es ist nicht zu beschreiben!

Ich ging von einem der weißen Kreuze, der rosenumsponnenen Grabmäler zum anderen und las die Namen der Leiber, die hier der Auferstehung entgegenschlummern, und denen man hier, fern von der lieben Heimat, die letzte Ruhestätte bereitet hat. Da liegen sie friedlich nebeneinander: Deutsche, Engländer, Russen, Amerikaner, Franzosen, ja sogar Japaner und Chinesen. Die bekanntesten Namen findet man hier: Goethes Sohn, Humboldts Kinder, Hirzel, so viele Dichter- und Künstlernamen aus aller Herren Länder. Wie gut kann man sich an den Sprüchen und Monumenten in das Leben der Menschen, die hier ihre Lieben gebettet haben, hineindenken. Da ist eine englische Inschrift, die eine Mutter ihrem einzigen Sohn aufs Grab gesetzt hat, und die ergreifend in ihrer Schlichtheit zu einem sprach.

›Nun kannst du nie mehr zu mir kommen, ich aber komme zu dir.‹

Am tiefsten ergriffen aber hat mich das Monument eines jungen, zwanzigjährigen Mädchens aus Petersburg: auf einem Stein sitzt eine Gestalt aus weißem Marmor, sie selbst – im leichten Gewande, die gefalteten Hände im Schoße ruhend. Das Gesicht ist sehr schön, der Ausdruck wehmütig, die Augen blicken suchend und sehnsüchtig in die Ferne! Einige Stufen führen hinunter ins Gewölbe, dessen Tür nur angelehnt ist. Ihr einer Fuß ruht auf der obersten Stufe. Es war, als könne sie keine Ruhe finden in fremder Erde, als hätte die Sehnsucht sie herausgetrieben aus ihrem Grabe. Dort saß sie nun viele, viele Stunden, achtete des Frühlings nicht, der um sie blühte, und dachte nur immer, immer wieder an das eine, an die ferne Heimat, bis die Sonne unterging und sie wieder hinabsteigen mußte in ihr dunkles Totengewölbe. So müßte ich es auch machen, wenn man mich in fremder Erde begrübe, dachte ich.

Ich konnte mich gar nicht mehr von ihr losreißen, und es war mir zuletzt, als trüge ihr Antlitz meine Züge, und ich sah nur die Sehnsucht in der Gestalt und in den Augen, die nach der fernen Heimat schauten.

Ich mußte mich mit Gewalt von dem Eindruck freimachen, und dann sah ich wieder, daß die Sonne schien, atmete den Duft der Veilchen, hörte die Bäume im Frühlingswind rauschen und einen Vogel leise und süß vom Frühling singen, da verging mir das Grauen!

Ich stieg hinauf bis an die alte Mauer und schaute weit hinaus aufs blühende Land. Es lag so sonnig zu meinen Füßen, die Felder jugendlich frühlingsgrün, die Weinberge frisch bearbeitet und duftend, wie ein Garten im Frühling nach Himmel und Erde, und in der Ferne standen die Berge. Aber über allem der Himmel so wunderbar blau, wie meine Augen ihn noch niemals geschaut.

O, wie ist die Erde so »wunderbar«, so unsagbar schön! Und dann ging es wie ein strahlendes Licht in mir auf: wenn sie, die doch dem Tode geweiht ist, schon so schön sein kann, was wird das droben erst für eine Herrlichkeit sein – unvergänglich und für die Ewigkeit geschaffen.

Ach, wenn ich jetzt hätte singen können! Ich hätte ein Lied gesungen, mächtig und gewaltig, bis mein Herz still geworden wäre; herausgesungen hätte ich alle Traurigkeit, alles, was mich drückt und quält, auch das Heimweh! Und alles das hätte mein Lied auf starken Schwingen hinaufgetragen und es niedergelegt vor Gottes Thron.«


Sie litt unendlich unter ihrer großen Schüchternheit, die sie in Gesellschaft unfrei machte, sie konnte nie »Konversation machen«, und im größeren Kreise vor fremden Menschen war sie vollständig stumm. Sie schreibt darüber:

 

»Ich fühle immer den schneidenden Kontrast zwischen meinem Wollen und Können und gerate dadurch aus einem Zwiespalt in den andern. Ich möchte fliehen vor mir selbst, und doch ist es, als hielte mir jemand einen Spiegel vor, in dem ich mich unaufhörlich erblicken muß. Ich muß mit rastlosem Denken mich selbst zergliedern und mir selbst zur unsäglichen Qual werden. Bin ich in Gesellschaft oder mit fremden Menschen zusammen, so wird es am allerschlimmsten. Ich habe Gott oft gebeten, mich davon zu erlösen und mir zu helfen, aber Er hat es bisher nicht getan. Nur bei ihm allein finde ich in solchen Zeiten Ruhe, und zu ihm flüchte ich mich dann in meiner Angst. Daß nichts sonst mir hilft, ist wohl ein Zeichen, daß ich mich nicht anderswohin wenden soll, als zu Gott.«

 

In Gesellschaften saß sie oft wie versteinert da: schön und lieblich, aber wie ein rätselhaftes Bild, mit dem Fremde nichts anzufangen wußten. Niemand ahnte, welch ein starkes, leidenschaftliches Leben diese zarte Hülle barg. Sie litt unter vielem unnütz, sie hielt sich für ungebildet und urteilslos, und oft muß ich heute lächeln, wenn ich ihre Briefe lese. Mit welcher Klarheit, mit welch feiner Klugheit und mit welchem Humor beurteilte sie Menschen und Verhältnisse. Sie schreibt:

 

»Rom, den 12. April 1880.

Wie seltsam die Menschen sind, namentlich die Deutschen, die herkommen. Sie sind so leicht unnatürlich, sie trauen sich nicht in Rom, Menschen zu sein, sondern sind richtige Kunstprodukte. Sie glauben die Pflicht und das Recht zu haben, ›klug‹ zu sprechen, ›hochgebildet‹ zu sein, und wenn es nur irgendwie angeht, auch noch originell dazu.

Gott bewahre einen in Gnaden vor den Berliner Weibern! Heute besuchte uns eine, eine lange Hopfenstange mit grauen Locken und entsetzlich grellen Augen. Sie ›studiert‹ Rom mit unendlicher Gründlichkeit und scheint sehr klug und gelehrt zu sein. Ich saß eine Zeitlang neben ihr, schweigend wie immer. Da geruhte sie plötzlich mich anzublicken und mich mit ihren Augen zu beunruhigen.

›Sie beschäftigen sich wohl auch wissenschaftlich?‹ fragte sie mich plötzlich mit durchdringendem Gouvernantenblick.

Ich hatte so lange geschwiegen, daß meine Stimme vollständig eingerostet war.

›Ein wenig,‹ stotterte ich heiser und ließ in Gedanken alle Bücher Revue passieren, die auf meinem Schreibtisch lagen. Da waren ›Römische Schlendertage‹ von Allmers, ein reizendes, liebenswürdiges Buch, das ich aber nicht zu nennen wagte, denn der Titel klang bedenklich unwissenschaftlich. Dann war da manches nette italienische Buch, ziemlich viel Storm, Andersen, Heine, Lenau und – aber sehr vergraben unter Gedichtbüchern und sehr verstaubt – ein Band Römische Geschichte von Dittmar und eine kleine, dünne, bescheidene Kunstgeschichte. Letztere war mir wohl ziemlich bekannt, aber in den schrecklichen Dittmar hatte ich nur einmal hineingeschaut und war seitdem von einer unauslöschlichen Hochachtung erfüllt für seine Ausführlichkeit. – Aber da bohrten sich die strengen Augen schon wieder in mich hinein, und es war mir, als müßte ich innerlich ein kleines Gardinchen vorziehen, damit das Geheimnis meiner Unwissenheit und Unwissenschaftlichkeit nicht gar zu rettungslos preisgegeben wäre.

›Dann besuchen Sie wohl fleißig die Galerien?‹ forschte sie weiter.

Es schien wirklich, als hätte sie sich vorgenommen, nicht eher von mir abzulassen, bis sie genau wüßte, womit ich jede Stunde meines Tages zubringe. Noch einige Fragen hielt ich aus, dann gab ich der Hausfrau ein leises, verzweiflungsvolles Zeichen, ihren Platz mit mir zu tauschen. Da hatte denn meine arme, gepeinigte Seele Ruhe.«


Sie kämpfte tapfer gegen die Gefahren ihrer Natur, gegen das Verträumte, Tatenlose, In-sich-Versunkene, das in ihr lag, und das sie vom Leben abschloß. Sie empfand es als Unrecht. »Es macht mich lieblos,« sagte sie.

Sie schreibt an mich:

 

»Rom, den 4. Mai 1880.

Wenn ich an Dein Leben denke, erfaßt mich oft ein schwindliges Gefühl. Du stehst so mitten drin im stärksten Strom, hast Arbeit, praktische und künstlerische. Ein wunderschönes, reiches Leben mit Verwandten und Freunden, ›saure Wochen, frohe Feste‹. Es ist ein ganzes, volles Menschenleben, was Gott Dir zugewiesen hat. Könnte ich nur etwas davon haben, wäre es wohl besser für meine Natur, menschlich gedacht, denn ich führe das Leben eines Einsiedlers. Den ganzen Vormittag sitze ich in meinem Zimmer und unterrichte zwei Kinder des Hauses, schreibe, arbeite und spinne Gedankenfäden um mich her. Nachmittags gehe ich wohl hinaus, aber da gibt es auch nur stille, beschauliche Genüsse: in der Natur, in irgendeinem dunkellaubigen, rosenumsponnenen Garten, wo alles Denken zum Träumen wird, ob man will oder nicht. Oder ich bin in irgendeiner dämmrigen Kirche, wo einem die alten Mosaikbilder aus ihrem Goldgrunde auch so traumhaft entgegenschimmern, leise Orgeltöne und blaue Weihrauchwölkchen durch den Raum schweben und stille Nonnen betend vor dem Altar knien. In den Galerien geht man auch im Schauen auf – kurz, es ist alles darauf angelegt, ganz nach innen hineinzuleben, und Du weißt, was für eine Gefahr das für meine Natur ist.«


Endlich schlug die Stunde der Heimkehr, und glückselig empfingen wir sie frisch und gesund im August in Riga. Wir richteten uns zu einem herrlichen, gemeinsamen Leben ein, wir fingen an, ganz regelmäßig miteinander Kunstgeschichte zu treiben, und ich nahm bei ihr italienische Stunden. Da unsere Wohnungen jetzt ganz nah voneinander lagen, waren wir täglich zusammen. Doch dauerte die Freude nicht lange; mit den Herbstwinden stellte sich das Fieber wieder bei ihr ein.

Ach, die Angst, die manchmal aus ihren dunklen Augen sprach, die heiße Angst, daß sie wieder fort müßte in die Fremde! Und dann kam die Entscheidung des Arztes: sie durfte nicht in der Heimat bleiben, sie mußte in den Süden. Die Freunde in Rom nahmen sie mit Freuden wieder auf, und im Oktober reiste sie ab.

Und es war wunderbar bei diesem jungen Menschenkind, wenn sie einen Weg als von Gott gewiesen erkannt hatte, dann sie ging ihn tapfer und klaglos wie ein Held.

Das zweite Jahr in Rom war auch nicht so schwer wie das erste; sie war nun schon bekannt mit den Verhältnissen, und die Qual des Heimwehs war nicht mehr so groß. Ein Gefühl aber erfaßte immer mehr ihre ganze Seele, beherrschte ihr ganzes Wesen: das war die Liebe zu Jesus. Das Höchste war ihr, ein Christ zu sein und für ihren Heiland leben zu dürfen, dieses Wollen erfüllte sie ganz. Sie wäre wohl am liebsten Missionarin geworden, aber ihr religiöses Leben war so fern von Exaltation, so voll wacher Selbstkritik, daß sie sich nicht einen Augenblick in diesem Empfindungen verlor. Sie sah so klar den Weg ihrer Pflicht vor sich, der sie in den Alltag zu Eltern und Geschwistern führte.

Wie gesund kam sie in diesem Herbst heim: braunverbrannt und heiter und voll überströmender Dankbarkeit!

Die häuslichen Verhältnisse hatten sich auch geklärt: Großmama und Tante Lina waren in ein anderes Verwandtenhaus gezogen; das Leben lag reich und friedlich vor ihr.

Der Herbst war dieses Jahr so besonders schön, so voller Sonne und Stille. Es kam der Oktober heran, und wir planten einen Tagesausflug an den Strand. Wir hatten hart zu kämpfen, bis wir es bei Linnaeas Eltern durchsetzten, daß sie die Erlaubnis dazu erhielt. Aber endlich gelang es uns doch, und ein klarer, kalter Herbstmorgen fand uns auf der Eisenbahn. Außer uns beiden waren noch Linnaeas Brüder mit dabei und Klein-Anning.

Mit einem Jubelgeschrei verließen wir den dumpfen Waggon und stürmten dem Strande zu. Atemlos standen wir oben auf der Düne: klar, kalt und tiefblau lag das Meer zu unseren Füßen. Ich sehe noch Linnaea hoch oben stehen, der frische Seewind hatte zarte Farben auf ihre immer etwas blassen Wangen gezaubert. Sie breitete die Arme aus und stand ganz still. Sie grüßte das Meer wie etwas Lebendiges, dann stieg sie mit uns zum Strande hinunter. Als wir am Ufer standen, bückte sie sich, schöpfte Wasser mit ihrer schmalen Hand und benetzte Stirn, Augen und Mund damit.

»Warum tust du das?« fragte ich sie erstaunt.

»Ich weihe mich mit dem Seewasser für den Winter,« sagte sie ernsthaft. »Meine Stirn, daß sie nur gute Gedanken haben soll, meine Augen, daß sie nichts Unreines sehen, und meine Lippen, daß über sie nie ein böses, liebloses Wort gehen möge.«

Es war ein wunderbarer Tag, den wir am einsamen Strande verlebten, die Luft war still, der Meeresspiegel unbewegt, graue Möwen zogen mit langsamem Flügelschlag darüber hin. Wir wanderten am Strande, wir saßen in den Dünen, wir gingen in den herbstlichen Wald und sangen unsere Quartette, wir plauderten und wir schwiegen.

So kam die Dämmerung sacht heran und legte sich in breiten Schatten aufs Meer. Wir saßen in einem Fischerboot und blickten in die Dämmerung weit übers Meer hinaus. In der Ferne sahen wir den Leuchtturm aufstrahlen und wieder verlöschen. Dann stimmte Linnaea mit ihrer weichen, süßen Stimme ihr Lieblingslied an:

»Laßt mich gehen,
Daß ich Jesum möge sehen!«

Die Stimmen klangen wunderbar über die stille Wasserfläche. – Und dann fuhren wir heim. Zum letztenmal hatte Linnaea das Meer gesehen, an dem ihre ganze Seele hing, aber niemand von uns ahnte das.

In der Woche darauf, am Sonnabend, hatte ich versprochen, zu Linnaea zu kommen und die Nacht auf den Sonntag dazubleiben. Der Abend verging wie immer, wenn wir zusammen waren, fröhlich und genußreich. Wir lasen, schwärmten für die Davidsbündlertänze von Schumann, die wir uns eben vierhändig eingeübt hatten, und gingen schlafen.

In der Nacht weckte sie mich plötzlich.

»Ich habe so furchtbare Schmerzen in der Seite,« sagte sie. »Was mag das wohl sein?«

Als ich das Licht anzündete, erschrak ich über ihr Aussehen: ihr Gesicht war so seltsam grau.

»Weck nur nicht die Eltern,« bat sie. »Es wird vorübergehen.«

Ich machte ihr Kompressen, packte sie warm ein, gab ihr schmerzstillende Tropfen und sie schlummerte wieder ein.

Als wir am Morgen aufwachten, behauptete sie, ihr wäre viel besser, doch wolle sie im Bett bleiben. Sie verlangte dringend, ich solle in die Kirche gehen.

»Du mußt mir doch von der Predigt erzählen,« sagte sie eifrig.

Als ich aus der Kirche kam, trat mein Onkel mir verstört entgegen. Er rang die Hände, ich hatte den stillen, immer gefaßten Mann noch nie so gesehen.

»Sie wird sterben,« sagte er heiser, »du wirst sehen, sie wird sterben.«

Ich war vollständig betäubt vor atemlosem Schreck. Als ich an ihr Bett trat und mich über sie beugte, sah ich, daß der Tod sie schon gezeichnet hatte: ihr Gesicht sah fremd aus.

»Lies mir den 91. Psalm vor,« sagte sie bittend.

Ich nahm ihre Bibel in meine zitternden Hände, setzte mich an ihr Bett und las mit versagender Stimme. Wenn ich aufblickte, sah ich ihre Augen, in denen ein furchtbarer Ernst lag, auf mich gerichtet.

Der Arzt kam und konstatierte eine schwere Bauchfellentzündung.

Damals kannte man es bei uns noch nicht, daß man für seine Kranken eine Pflegerin ins Haus nahm. Man half einander und pflegte seine Lieben selbst. Tante Adele konnte in der Pflege nicht viel leisten: sie war sehr zart und außerdem ganz schwerhörig geworden. So siedelte ich denn gleich zu meinen Verwandten über und nahm die Pflege mit Tante Adelens Hilfe in meine jungen, unerfahrenen Hände.

Es war ein Kampf auf Tod und Leben, der nun begann. Zehn Tage kamen Tante Adele und ich nicht aus den Kleidern. Ich schlief nur hin und wieder ein wenig im Lehnstuhl, wenn die Kranke schlummern konnte. Mit unbeugsamem Trotz, mit unzerstörbarem Glauben kämpfte ich um ihr Leben und glaubte an den Sieg. »Sie wird nicht sterben, sie darf nicht sterben,« sagte ich immer wieder. Und mit meiner Zuversicht riß ich immer wieder die Eltern mit mir fort. Ich glaube es auch jetzt noch, daß ich mit meiner Lebensenergie die schwache Flamme ihres Lebens vor dem Verlöschen bewahrte.

Wir hatten einen wunderbaren Arzt, einen der bekanntesten Männer Rigas, Doktor Brauser. Schweigsam und ernst trat seine hohe Reckengestalt über die Schwelle des Krankenzimmers. Nie ist mir ein Arzt begegnet, der sich so mit seiner starken Schulter unter die Krankheit seiner Patienten stellte, sie mit ihnen trug und sie leiden, leben und sterben lehrte. Er sprach nie viel, aber wenn er am Krankenbett saß, war um ihn eine merkwürdige, kraftvolle Stille, die blieb, auch wenn er das Krankenzimmer wieder verließ. Er hatte eine Art, mit seinen großen, ruhigen Händen den Kranken zu betten, immer wieder neue Lagen für ihn zu erfinden, die einem schon das Zusehen zur Wohltat machten. Er kam bei Tag und bei Nacht, oft kam er schweigend und verließ schweigend das Krankenzimmer, aber man wußte seine geliebten Kranken in sorgsamster Hut.

O, diese Nächte, in denen ich wachend am Fuße des Bettes saß, auf jede Bewegung der Kranken achtend, auf jeden Laut horchend. Ich litt ihre Schmerzen und trug ihre Qualen mit ihr, aber ich ließ nie den Mut sinken. Wie ein wunderschönes Bild lag sie in ihren weißen Kissen: das Gesicht fast durchsichtig in seiner Blässe, von dunklen Haaren umrahmt; die Augen, überirdisch schön, waren immer wie in die Ferne gerichtet. Sie war oft ohne Besinnung. Die überschlanken weißen Hände hielt sie meist über der Brust gekreuzt. Nur auf alten Bildern sah ich solche eigentümliche, schmale, spitz zulaufende Finger. Alle Leiden, alle Schmerzen las man in diesen Händen.

Ihre blassen Lippen murmelten unaufhörlich, ihre Seele war weit fort. Dazwischen erwachte sie plötzlich aus den Fieberträumen und war ganz klar. Dann waren es Worte voll tiefer Frömmigkeit, die sie sprach. Es war alles so schlicht, so einfach, wie eine Seele redet, die schon vor Gottes Thron steht.

Dann kam eine Nacht, die die Krisis bringen sollte.

»Heute nacht halten Sie sich tapfer,« sagte der Arzt zu mir, »heute gilt's.«

Ich war ganz allein bei ihr, Tante Adele konnte nicht mehr wachen, sie war völlig zusammengebrochen. Ich sollte sie wecken bei der geringsten Veränderung. Stunde um Stunde verrann, Linnaea warf sich unruhig hin und her. Plötzlich wurde sie still, leise und deutlich hörte ich sie sagen:

»Wirst mich durch des Todes Türen
Träumend führen
Und machst mich auf einmal frei.«

»Jetzt stirbt sie,« dachte ich, und es war mir, als bliebe mein Herz stehen. Da schlug sie die Augen auf und sah mich ernst an. Ihr Blick kam wie aus weiter Ferne zu mir.

»Muß ich sterben?« fragte sie mich. »Sag mir die Wahrheit. Ich sterbe gern, das weißt du, denn das Leben ist zu schwer, es ist so voller Sünde. Aber sag mir's ehrlich: gibt der Doktor Hoffnung auf Leben oder auf Sterben?«

»Er gibt Hoffnung aufs Leben,« sagte ich feierlich. »Aber du mußt auch leben wollen.«

»Das will ich auch,« sagte sie still, »aus Liebe zu euch.«

Dann wandte sie sich zur Seite und schlief ein.

Es war früh am Morgen, noch dunkel, als der Doktor kam. Sie schlief noch immer. Er beugte sich über sie und beobachtete sie lange schweigend. Dann richtete er sich auf und sah mich an. Ich wußte nicht, daß seine ernsten Augen so strahlen konnten.

»Sie ist gerettet,« sagte er.

Ich stand auf, ich wollte etwas sagen und konnte nicht. Ich streckte die Arme aus, sank dann lautlos zusammen. Ich war nicht ohnmächtig geworden, sondern ich war fest eingeschlafen. Ich wachte nicht einmal auf, als man mich auf mein Bett trug und schlief Stunden und Stunden wie eine Tote.

Das war die Krisis gewesen, die Gefahr war vorüber.

Eine wunderbare Zeit begann, denn ich durfte Linnaea weiterpflegen. Mit meinen Büchern, meiner Arbeit hatte ich mich ganz im Krankenzimmer eingerichtet. Es war eine große Stille, ein heiliger Friede, der diesen Raum erfüllte.

Die Adventszeit kam heran, der erste Schnee fiel. Da durfte Linnaea ihr Bett verlassen, sie machte ihre ersten Gehversuche. Die Welt draußen ging ihren Weg, in den Frieden ihres Zimmers drang nichts, was ihn stören konnte. Welch ein reiches Leben führte diese zarte Menschenseele, wie leichtsinnig kam ich mir oft vor, mit ihr verglichen. Aber ich ging mit ihr in die Stille und in die Tiefe, dort sammelte ich mir Schätze, die mein ganzes späteres Leben bereicherten. In unserem Glück, daß sie gerettet war, sahen wir nicht, wie schwach sie war, wie die Kräfte nur so gar langsam wiederkommen wollten. Jeder kleine Fortschritt wurde ein Fest fürs ganze Haus.

Am ersten Advent konnte sie bis ans Fenster gehen. Dort saß sie, warm eingehüllt, und sah hinaus. Weiß und dicht lag der Schnee auf den Bäumen und Sträuchern des kleinen Gärtchens. Eine helle Wintersonne lag funkelnd auf der verschneiten Welt.

Im Zimmer nebenan spielte Onkel Johannes ein Adventslied auf dem Harmonium: »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.«

Ich sah eine Träne nach der anderen langsam über ihre Wangen rinnen. Traurig legte ich meine Stirn auf ihre Hände.

»Warum weinst du?« fragte ich.

»Ich habe Sehnsucht,« sagte sie leise.

Ihre Seele fand sich nicht mehr ganz zurück ins Leben. Sie hatte von ferne an den Toren der ewigen Stadt gestanden, das vergaß sie nicht mehr.


Aus »Meine Weihnachten«. Verlag von Eugen Salzer, Heilbronn.Es war Weihnachten und die Schulstube in Onkel Johannes Haus war still geworden. Die Schüler waren fort, und alle Zeichen des Arbeitslebens waren hinausgetragen: die Schulbänke, die Tische und die Karten von den Wänden, sie war zum Weihnachtszimmer verwandelt, und nichts darin erinnerte mehr an die Arbeit des Werktages. Bilder aus der Biblischen Geschichte schmückten die Wände, die Fensterbretter waren voll blühender Blumen, ein altertümliches Sofa, schwere alte Mahagonitische, Lehnstühle, weiche Teppiche gaben dem Zimmer ein unbeschreiblich behagliches Aussehen. Der bunte Weihnachtsstern hing von der Decke herab, an der einen Wand stand der Weihnachtsbaum, mit purpurnen Äpfeln und vergoldeten Nüssen geschmückt. Das ganze Zimmer war erfüllt von Sonne und Festglanz.

Nun führten wir sie herein, unsere geliebte Kranke, und betteten sie auf ein Lager dem Weihnachtsbaum gegenüber. Sie sah zum erstenmal seit ihrer Erkrankung einen andern Raum als ihr Zimmer, und ihre Augen blickten staunend ins festliche Licht um sie. Die Herrlichkeit eines nordischen Wintertages mit dichtem, funkelndem Schnee schaute aus dem Garten in die Fenster.

Sie lag ganz still, und ich saß auf einem Bänkchen zu Füßen ihres Lagers und blickte auf sie. So hatte ich gesessen Tage und Nächte und hatte ihre Leiden mit ihr gelitten bis in alle Tiefen meiner jungen, stürmischen Seele. Nun hob sie die Hände und hielt sie in die Sonne. Diese Hände, die nicht gelebt, die nur geträumt und gelitten hatten; in den schwersten Leidenstagen hatte ich sie nicht ansehen können. Alle Qualen ihres Leibes, alle Leiden ihrer Seele las ich in ihren Händen. Zwei kleine zahme Vögel flogen im sonnigen Zimmer umher – es waren Meisen, die sich auf den Ästen des Tannenbaumes schaukelten. Die goldenen Nüsse schlugen mit leise klirrendem Laut aneinander. Nun breitete der eine Vogel seine Schwingen aus, umkreiste das Bett der Kranken und ließ sich dann auf ihre blassen Hände nieder. Sie hielt ganz still, der Vogel erhob sein Stimmchen und sang: leise und süß. Dann erschrak er und flog wieder fort. Da lachte sie; es war ein Lachen, ebenso leise und süß wie das Singen des Vogels. Ich hatte sie nie lachen gehört, seitdem sie krank war. Die zarte Vogelstimme und das leise, süße Lachen erinnerten beide an den Frühling, an grüne Wiesen voller Blumen, an Jugend, Gesundheit, Leben und Auferstehen.

»Du wirst leben!« sagte ich, überwältigt von Glück, und die Tränen rannen mir über die Wangen.

Sie schwieg. Sie war ja immer sehr still, auch in gesunden Tagen. Ich glaube, ganz hat sie nie ein Mensch auf Erden verstanden.

»Ich muß dir etwas sagen,« sagte sie mit ihrer leisen, bedeckten Stimme. »Du darfst aber nicht weinen, das würde mir zu weh tun. Dies ist wohl mein letztes Weihnachtsfest auf Erden.«

Ich fuhr empor.

»Du wirst leben,« rief ich außer mir, »denn ich kann nicht leben ohne dich.«

»Du wirst es lernen,« sagte sie still, »und nicht nur dieses, sondern auch viel Schwereres. Ich habe keine Kraft mehr zum Leben, das Leben ist auch zu schwer durch die Sünde, die auf Erden herrscht. Hilf du meinen Eltern, denn du bist jung und stark.«

Wo war die Sonne, die das Zimmer erfüllte; wo war die Weihnachtsfreude geblieben?

Das Zimmer war voll grauer Schatten, die Sonne war tot, und auch meine Weihnachtsfreude war gestorben. Da ging die Tür auf, und Onkel Johannes trat ein. Wie schön sah er aus mit seinen weißen Locken, den ernsten, dunklen Augen und dem edlen, bartlosen Gesicht. Er liebte nichts auf Erden mehr als Linnaea, mit der ganzen stillen Innigkeit seiner Seele hing er an ihr. Er beugte sich über die Kranke und legte seine Hand auf die ihre.

»Ich komme eben von draußen aus der Stadt,« sagte er. »Alles ist voller Weihnachtsfreude. Überall werden Tannenbäume durch die Straßen getragen, und um die Weihnachtsbuden drängen sich die Menschen. Wie schön ist das Fest, und du lebst, und das ist doch unser allerschönstes Weihnachtsgeschenk.«

Sie lächelte zum Vater empor.

»Ich freue mich,« sagte sie leise und strich mit der Hand sanft über die seine.


Bis zum Frühling war ich ihre einzige Pflegerin. Man konnte so unendlich viel von ihr lernen. Sie hielt sich in eiserner Zucht und arbeitete unausgesetzt an sich. Einmal war sie, die so unendlich Geduldige, ein wenig ungeduldig gegen mich, weinend bat sie mich um Vergebung. Ich war so unglücklich über ihren Schmerz, daß ich sie auf jede Weise zu trösten versuchte.

»Ein Kranker hat das Recht, auch einmal gegen seinen Pfleger ungeduldig zu sein,« sagte ich zum Schluß.

Da kam eine große Angst in ihren Blick.

»Das war nicht recht, was du eben sagtest,« rief sie erregt. »Wenn du das sagst, bist du kein rechter Freund. Du mußt mir helfen gegen meine Sünde kämpfen und darfst sie nicht beschönigen.«

Mit dem Frühling besserte sich ihr Zustand, und sie sollte für den Sommer in den Wald gebracht werden. Aber für mich war die große Entscheidung meines Lebens gefallen, ich sollte nach Deutschland zur Ausbildung meiner Stimme. Ich hatte nicht anders gedacht, als daß ich mein geliebtes Pflegeamt bis zuletzt ausüben dürfte, das aber erlaubte meine Mutter nicht. Ich sollte mich erholen, und wir reisten nach Estland.

Im Herbst kam dann die große Trennung. Linnaea war dabei die Tapfere von uns beiden.

»Wenn du heimkommst, hole ich dich vom Dampfschiffsteg,« sagte sie mutig, »das wirst du sehen.«

Ein Jahr voll neuen, starken Erlebens lag hinter mir, als ich im Frühling in die Heimat zurückkehrte.

Linnaea konnte mir nicht entgegenkommen, denn ihr Zustand war ein Siechtum geworden. Doch gab der Arzt die Hoffnung noch nicht auf. Mein erster Gang nach meiner Heimkehr war zu ihr, aber ich erlebte etwas unsagbar Schmerzliches, völlig Unerwartetes: sie fürchtete sich vor der Aufregung eines Wiedersehens, und ich wurde nicht vorgelassen. Ganz betäubt ging ich heim. Nach einigen Stunden machte ich wieder einen Versuch, sie zu sehen, aber wieder vergebens. Voller Verzweiflung stand ich hinter ihrer Tür und wußte nicht, was beginnen.

Da kam die Pflegerin mit dem Kaffee, und mir kam ein rettender Gedanke: ich ergriff das Tablett und trat damit ins Krankenzimmer, wie ich's früher unzählige Male getan hatte. So trat ich ganz selbstverständlich an ihr Bett und übernahm mein geliebtes Pflegeamt, als hätte ich sie gestern erst verlassen. Das half uns beiden. Wie schmal war ihr Gesicht geworden, das von kurzem, dunklem Haar umgeben war. Die Augen waren schöner und strahlender als je. Ach, wie angstvoll blickten sie zuerst nach mir hin, bis sie sich beruhigte, zuletzt lachte sie sogar ein wenig.

»Du bist doch immer die Alte,« sagte sie, »du bist so schlau.«

Es kamen wieder schöne, stille Tage. Sie hatte so stark das ganze Jahr mit mir gelebt, und wir hatten so endlos viel zu reden. Es gab ja so vieles nachzuholen, was man nicht hatte schreiben können. Sie war glücklich über die großen Ansprüche, die an mich gestellt wurden, denn oft war sie in Sorge um mich gewesen, daß ich eine zu führende Rolle in meinem Kreise in der Heimat spielte, denn ebenso ernst wie sie für ihre Seele sorgte, wachte sie über der meinen.

Von ihrem Leben sprach sie nicht viel, es war voller Leiden und Entsagung gewesen. Die reichsten Tage erlebte sie, wenn meine Schwester Elisabeth sich wohl genug fühlte und auf einige Zeit zu ihr kommen konnte. Auch sie war ja des Leidens gewohnt von Kindheit an. Mit ihrem starken, großen Geist, der sich an allem Schönen freuen konnte, mit dem heldenhaften Tragen ihrer unheilbaren Krankheit konnte sie einem anderen Dulder viel geben.

Ich hatte noch die große Freude, vor meiner Rückkehr nach Frankfurt Linnaea vorsingen zu können. Sie war sehr glücklich über das, was ich gelernt hatte.

»Du singst so künstlerisch,« sagte sie. »Dein Singen ist jetzt auf eine andere Stufe gekommen, es ist ein heiliger Ernst darin. Ich bin ganz sicher um dich, denn dein Weg ist der rechte!«

Ich reiste mit schwerem Herzen ab, aber mit dem Mut der Jugend glaubte ich ganz fest an ein Wiedersehen.

Im Herbst verschlimmerte sich ihr Zustand, Doktor Brauser gab aber trotzdem die Hoffnung nicht auf, noch immer nicht. Der ernste, schweigsame Mann hatte sie liebgewonnen wie sein Kind, und er wandte alle Kraft seiner Kunst an, sie dem Tode immer wieder abzuringen.

Auf ihre Bitte hielt er sie in beständiger Klarheit über ihren Zustand. Das Laub fiel von den Bäumen, der Herbst war da, da sagte er ihr eines Tages: eine ihrer Nieren wäre erkrankt, wenn die Krankheit die zweite Niere ergreifen würde, müßte sie sterben. Als er das nächstemal wiederkam, lag sie in hohem Fieber; er setzte sich an ihr Bett und sah sie ernst und groß an, sie aber lächelte.

»Jetzt denken Sie etwas, was falsch ist,« sagte sie.

Er aber nahm ihre durchsichtigen Hände in seine ruhigen Helferhände.

»Ich wußte, daß ich mich nicht in Ihnen täuschen würde,« sagte er schlicht.

Da erkrankte mein Onkel plötzlich. Nur wenige Tage litt er, dann ging er heim. Ich glaube, er hat sich den Tod erbetet, und Gott hat ihn erhört, er konnte das Sterben seines geliebtesten Kindes nicht überleben.

Vater und Tochter hatten viel Ähnlichkeit miteinander in ihrer stillen, innerlichen Art.

Und dann kam der Tod auch zu ihr. Es war ein furchtbares Ringen, denn wie mit starken Ketten hielt der zarte Körper die Seele fest auf der Erde, die sich doch so gerne losreißen wollte und in ihre eigentliche Heimat ziehen.

Endlich war es so weit und die harte Arbeit getan. Sie hatte nicht versagt bis zuletzt in ihrem stillen Heldenmut und ihrem unverrückbaren Glauben an Gottes Nähe, dessen Hand sie bis zuletzt hielt.

Meine Schwester hatte sich an ihr Sterbebett tragen lassen und war bei ihr, bis ihr Herz endlich stille stand. Sie lag ganz still da, ihre Schönheit war vergangen, ein kleines, dunkles Greisengesicht, fremd und traurig, lag in den weißen Kissen. Wie erstarrt im Schmerz saß Tante Adele bei ihr Stunde um Stunde.

Am Abend kam Doktor Brauser. Er bat alle, hinauszugehen, auch Tante Adele; er wollte mit der Toten allein sein.

Nie hat der Schweigsame darüber gesprochen, was in dieser Stunde über seine Seele ging. Als er nach Jahren im Sterben lag, hat er in seinen Fieberphantasien immer wieder ihren Namen genannt.

Ich wußte es nicht, daß es mit ihr zu Ende ging, denn in der furchtbaren Not der letzten Zeit hatte niemand daran gedacht, mir zu schreiben. Um die Stunde, in der sie starb, hatten wir bei Professor Stockhausen eine Chorprobe. Wir sangen das Ave verum von Mozart mit Streichquartettbegleitung. Und in den wundersamen Klängen kam plötzlich eine grenzenlose Traurigkeit über mich. Sie steigerte sich so sehr, daß ich weinend die Probe verlassen mußte und schluchzend heimging. Aus meiner großen Traurigkeit heraus schrieb ich ihr, mit der ich verbunden war von unseren Kindertagen an. Ich habe den Brief nie abgeschickt, am anderen Tage erhielt ich ihre Todesnachricht.

Meine Schwester schrieb mir: »Ich habe die Furchtbarkeit des Todes bei diesem Sterben in ihrer ganzen Schwere erlebt. Die Welt ist so einsam ohne Linnaea, und niemand wird diese Lücke mehr ausfüllen, denn sie war eben sie. Und doch, könnten wir sie zurückrufen, selbst zur Gesundheit und zu einem tätigen Leben, wir täten es beide nicht! Diese Menschenseele trug zu tief in sich die Sehnsucht nach der Vollkommenheit. Sie suchte sie in allen Verhältnissen und fand sie natürlich nicht auf Erden. Nun lebt sie dort, wo allein die Vollkommenheit zu finden ist. Sie hätte es auf Erden zu schwer gehabt.«

Sie schickte mir die letzten Zeilen, die Linnaea mir mit zitternder Hand geschrieben hatte, eine Locke ihres Haares und ihre Bibel, so hatte sie es bestimmt.

Ich habe viele Freunde und Freundinnen nachher im Leben gehabt, aber mit niemandem verband mich das, was mich mit Linnaea verbunden. Es waren die tiefsten Wurzeln unseres Seins, die miteinander verwachsen waren. –

Als ich im Sommer darauf heimkam, bedeckten Blumen ihren Hügel. Sie ruhte mit ihrem Vater in einem Grabe. Ich fuhr allein auf den Friedhof hinaus, den Weg, den wir so oft miteinander gemacht hatten. Auf dem ganzen Wege dahin hatte mich ihr Lieblingsspruch beschäftigt: »Dieweil du Gott lieb warst, mußtest du solches leiden.«

Nun saß ich an ihrem Grabe, eine große Stille war um mich und in mir. Stunde um Stunde saß ich da, ganz allein, und ließ ihr Leben an mir vorüberziehen, und es war mir, als säße sie neben mir und tröstete mich.

Hätte ich einen Spruch auf die weiße Marmortafel auf ihrem Grabe schreiben dürfen, wär's der gewesen:

»Was ich jetzt tue, weißt du nicht, du sollst es aber hernach erfahren.«



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